111509

Page 1


Gerlinde und Volkhard Scheunemann Hauptsache: Gef端hrt!


Die Autoren Gerlinde und Volkhard Scheunemann, geboren 1935 bzw. 1934 in Handorf bei Peine bzw. Lübeck, waren Theologen, Missionare, Institutsleiter, Autoren, Heimleiter des «Haus Frieden Hägelberg», WEC-Leiter, Redner und Seelsorger während über fünfzig Jahren. Heute sind sie im aktiven Ruhestand. Sie haben vier erwachsene Kinder und acht Enkel.


Gerlinde und Volkhard Scheunemann

Hauptsache: Gef端hrt! Lebenserfahrungen mit dem lebendigen Gott


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 端ber www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen in diesem Buch wurden entweder folgenden Bibel端bersetzungen entnommen: Revidierte Elberfelder Bibel 1985, 1991, 2008 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten Lutherbibel 1984, 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, oder sie wurden selbst 端bersetzt.

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langg巽ns Bilder Umschlag und Fotos Innenteil: Gerlinde und Volkhard Scheunemann Satz: Innoset AG, Justin Messmer, Basel Druck: Bercker, Kevelaer Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1509-5


Inhalt Teil 1: Erinnerungen von Gerlinde Scheunemann......... 1. Vorwort ....................................................................... 2. Erste Erinnerungen....................................................... 3. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen ...................... 4. Ja, so war das damals!.................................................. 5. Meine Eltern und Großeltern – wo kamen sie her? ..... 6. Unser Zuhause in Handorf .......................................... 7. Das Kriegsende im Mai 1945....................................... 8. «Noch ehe ich dich im Mutterleib bildete …» ............. 9. Das Samstagabendläuten............................................. 10. Mein Weg zur Oberschule........................................... 11. Unter dem Einfluss von Lessing, Goethe und Hesse.... 12. Meine Schreibfreundin Shirley Hyman ....................... 13. Unter Christen............................................................. 14. Volkhard ...................................................................... 15. Wunderbare Verlobungszeit ........................................ 16. Unsere Tübinger Zeit .................................................. 17. Erste Begegnung mit dem WEC International ............. 18. Kiel – die helle Stadt an der Fçrde................................ 19. Die Lübecker St. Gertrud-Gemeinde ........................... 20. Vorbereitung für das MTC in Glasgow ....................... 21. Auf dem WEC Missionary Training College in Schottland................................................................ 22. Als Missionskandidatin in der Londoner WEC-Zentrale.............................................................. 23. Bei den Leitern des WEC in Deutschland .................... 24. Endlich Heiraten!......................................................... 25. Reisedienst in Deutschland.......................................... 26. Aufbruch nach Indonesien........................................... —

5 —

11 13 16 17 20 21 24 27 28 30 36 39 42 46 48 57 59 61 65 67 72 73 80 82 84 85 87


27. Nach sechs Wochen endlich in Indonesien.................. 28. Erste Eindrücke in Batu................................................ 29. Wieder lernen .............................................................. 30. Gunnars Geburt........................................................... 31. Einüben in neue Verhältnisse....................................... 32. Erste Schritte in Verantwortung................................... 33. Erste Konfrontation mit okkulten Mächten................. 34. Besuch aus Ostafrika ................................................... 35. Die erste indonesische Missionskonferenz.................. 36. Ein politischer Umsturz bahnt sich an......................... 37. Die zweite indonesische Missionskonferenz .............. 38. Jahre des Wiederaufbaus ............................................. 39. Gerapi, die erste cityweite Kampagne in Bandung ...... 40. Volkhards Gastgeber Pak Makalewy ........................... 41. Gunnar-Nugroho, Sçnke-Sumadi und Kai-Sutrisno..... 42. Erweckung am Bibelinstitut......................................... 43. Unser erster Heimataufenthalt, März 1968 ................. 44. Zurück nach Indonesien .............................................. 45. Ein Brief aus Holland ................................................... 46. Unsere neue Aufgabe bei der Indonesischen Missionsgemeinschaft ................................................. 47. Einprägsame Erfahrungen mit verschiedenen Gästen.. 48. Die deutsche Missionarskinderschule ......................... 49. Elterlicher Besuch ........................................................ 50. Frauen warten in der Universitätsstadt Malang ........... 51. In Todesgefahr ............................................................. 52. Ehe-Themen in einer asiatischen Kultur ...................... 53. Verstimmungen zwischen uns beiden ......................... 54. Und die eigene Familie?............................................... 55. Deutschland im Jahr 1973............................................ 56. Einschulung unserer drei Jungen auf eine indonesische Schule..................................................... — 6 —

91 96 101 104 105 110 112 115 118 121 123 124 126 129 132 136 141 145 148 151 154 159 162 164 169 173 176 178 180 182


57. Batu wird bekannt ....................................................... 58. Wir mussten bauen...................................................... 59. Auch die Außendienste nehmen zu............................. 60. Die Kraft des Evangeliums im Batakland..................... 61. Gottes Wirken auf Timor ............................................ 62. Trifenas Gebet um einen Ehepartner ........................... 63. Die Begleitung indonesischer Missionare .................... 64. Folgenschwerer Einsatz auf Nias ................................. 65. Die Abendbibelschulen ............................................... 66. Notwendige Krankheit ................................................ 67. Abschied von Indonesien ............................................ 68. Rückkehr nach Deutschland........................................ 69. Wieder einleben in Deutschland.................................. 70. Unser Wiedereinstieg in Deutschland: Eheseminare ... 71. Besuche unserer Missionare auf ihren Feldern............. 72. Aufbruch zu neuen Ufern ............................................ 73. Zehn reiche Jahre im «Haus Frieden»........................... 74. Die Hausgemeinde im Haus Frieden ........................... 75. Die Folgen okkulter Belastung in der Eheseelsorge...... 76. Die wohl letzte Station: Winterberg im Hochsauerland............................................................. 77. Und ein letztes Kapitel ................................................

189 190 195 196 200 201 204 208 211 214 216 216 218 220 224 239 241 246 248

Teil 2: Erinnerungen von Volkhard ................................. 78. Aus meinem Blickwinkel............................................. 79. Auch Eltern sind eine Gabe Gottes.............................. 80. Kriegs- und Nachkriegserlebnisse ................................ 81. Meine Jugendjahre....................................................... 82. «Geschaffen in Christus Jesus» .................................... 83. Frühe Sehnsucht .......................................................... 84. Erste Schritte als Christ................................................ 85. Theologiestudium .......................................................

265 266 268 269 272 274 275 278 279

7 —

250 253


86. Auslandsvikariat in der Schweiz ................................. 87. Die «zuvor bereiteten Werke» ..................................... 88. «Verkaufe, was du hast!» – Ausgesandt ohne Geldbeutel ................................................................... 89. «Verkaufe alles, was du hast» ....................................... 90. «Der Schatz im Himmel»............................................. 91. Zwanzig Jahre Indonesien – «der Sommer seiner Gnad» .......................................................................... 92. Unterricht im asiatischen Kontext ............................... 93. Der Studentenchor des Instituts .................................. 94. Ein kirchenübergreifendes Gesangbuch entsteht......... 95. Adelshofen und Batu – es war ein Geben und Nehmen....................................................................... 96. Ich setze mich hin, um zu schreiben ........................... 97. Indonesier fühlen sich verantwortlich für die Großfamilie ................................................................. 98. Wenn ich an Deutschland denke ................................. 99. Wider den Mainstream der sexuellen Überflutung ...... 100. Zehn Jahre Eppsteiner Missionshaus ........................... 101. Volle Bibelschulen, volle Missionshäuser .................... 102. Berufung in die Leitung des WEC International in Deutschland ................................................................ 103. Der WEC – ein internationales Missionswerk............. 104. Reichlich gefordert in Eppstein.................................... 105. Leiderfahrungen .......................................................... 106. Ausblick: Sturmzeichen am Himmel der Mission ....... 107. Zehn Jahre «Haus Frieden Hägelberg» ......................... 108. Die Entstehung des Hauses ......................................... 109. Haus Frieden und seine Gäste...................................... 110. Die Hausgemeinde ...................................................... 111. Haus Frieden und die Weltmission .............................. 112. Das Schniewind-Haus in Schçnebeck an der Elbe....... — 8 —

286 289 291 295 296 301 302 313 314 315 317 321 327 330 332 333 334 337 341 343 346 348 349 352 354 355 357


113. Abschließende Gedanken............................................ 359 114. Menschen, die mich geprägt haben ............................. 361 115. Menschen der Sehnsucht bleiben! …........................... 364 Anmerkungen.............................................................. 368

9 —



Teil 1 Erinnerungen von Gerlinde Scheunemann Für den immer gegenwärtigen besten Freund und Vater in Ehrfurcht und tiefer Dankbarkeit für seine Gnade und viel Vergebung. Für die vielen Treuen, die unser Leben und unseren Dienst mit ihrem Gebet und ihren Gaben begleitet und ermçglicht haben: Danke! Und: Vergelt’s Euch Gott! Für unsere geliebten vier Kinderfamilien, für die ich mit dem Schreiben begann. Gott vergelte Euch, dass Ihr uns mit so vielen Menschen geteilt habt. Und für meinen wunderbaren Mann, dessen Liebe und Treue, Geduld und Unterstützung mir ein Leben lang Geborgenheit und Freude waren – und noch sind.



1. Vorwort Erst im Alter von 22 Jahren, als meine Eltern sich mit meinem Wunsch, die Frau eines zukünftigen Pfarrers zu werden, auseinandersetzen mussten – in ihren Augen damals ein Beruf ohne Zukunft –, erfuhr ich aus dem Mund meiner Mutter das Geheimnis der Gnade, die auf meinem Leben lag: «Ich kann ja nicht Nein sagen», erläuterte sie mir. «Als ich mit dir schwanger war, habe ich, wie wohl jede Mutter für ihr werdendes Kind, darüber nachgedacht, was ich für dich wünschen sollte: Reichtum, Schçnheit oder eine gute Partie? Begabung? Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Und so habe ich schließlich gedacht: Ich übergebe dieses Kind Gott.» Obwohl ich das erst so spät erfuhr – ich wuchs in einem Elternhaus auf, in dem Gott zu der Zeit keine besondere Rolle spielte –, hatte dieser doch von klein auf sein Eigentumsrecht an mir wahrgenommen und die Weichen gestellt für ein Leben in der Nachfolge. Nun leben wir, mein geliebter Mann und ich, nach 54 Jahren gemeinsamer Wanderschaft in Winterberg im Hochsauerland, dem wohl letzten uns von Gott zugewiesenen Ort auf seiner schçnen Erde. Als wir mit fast siebzig Jahren «in den Ruhestand» gingen, wünschten wir uns, das Lebensende in der Nähe eines unserer Kinder verbringen zu kçnnen. Dass wir aus dem sonnigen Südwesten Deutschlands mit seinen warmherzigen Menschen in diese rauere Gegend kamen, konnten unsere neuen Nachbarn gar nicht verstehen. Aber meinem Mann war in seinem Fragen nach unserem Alterssitz zweimal das Wort begegnet: «Wenn du alt wirst, wird ein anderer dich gürten und führen, wohin du nicht willst» (Johannes 21,18). —

13 —


Als er mir davon erzählte, sagte ich spontan: «Hauptsache: Geführt!» Das kçnnte als Motto über all den Stationen unseres Lebens stehen – und keine müssen wir bereuen! Am Tag, an dem wir uns auf den Weg machten, um unsere neue Wohnung zu erkunden, stand im Wort zum Tag im Losungsbüchlein: «Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land!» (Psalm 16,6). Und das war nicht zu viel versprochen. Wir haben die herbere Schçnheit des uns vorher vçllig fremden Sauerlandes lieb gewonnen, es tut uns wohl, und seine Menschen tun es auch. Das erste Lied, das wir in unserem ersten Gottesdienst hier sangen, war: «Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist …» Und mit uns ging eine Verheißung, die eine liebe Beterin mir zum Abschied aus dem lieb gewonnenen Hägelberg gab: «Meine Gnade soll nicht von dir weichen, spricht der Herr» (Jesaja 54,10). Und sie sagte: «Dieses Wort wird als Verheißung und Zusage über eurem weiteren Weg stehen.» Dem Herrn sei Dank! Dennoch sehe ich, trotz der großen Segenslinie, auch die Mangelhaftigkeit meines Lebens; oft so mangelhaft an treuem Horchen auf die leisen Impulse des Geistes und an augenblicklichem Gehorchen, mangelhaft an Demut des Herzens. In schlaflosen Nächten steht es mir vor Augen. Und ich kann nur um Vergebung flehen vor Ihm, der gerne mehr getan hätte durch ein vçllig Ihm ausgeliefertes Leben. Seine große Treue und Gnade bis in unser Alter bewegt mich: «Sind wir untreu, so bleibt Er treu, Er kann sich selbst nicht verleugnen» (2. Timotheus 2,13). Alles ist Gnade.

— 14 —


«Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert; das zähl ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat’s nie begehrt. Nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit.» Philipp Friedrich Hiller PS. Am Anfang schrieb ich meinen Lebensbericht allein für unsere Kinder und Enkel. Zur Verçffentlichung drängten immer wieder Frauen, denen ich als unseren Gästen im Haus Frieden Beispiele daraus erzählte. In wiederholten Anfechtungen, ob meine so persçnlichen Erfahrungen es wert wären, der Fülle guter Bücher ein weiteres hinzuzufügen, antwortete Gott mir mit einer Seite vom 10. Februar aus C. H. Spurgeons Kleinoden gçttlicher Verheißungen über Apostelgeschichte 22,15: «Jeder von uns soll nach seinem Maß Zeuge dessen sein, was der Herr uns offenbart hat, und es ist gefährlich für uns, wenn wir die gçttliche Offenbarung verbergen. Zuerst müssen wir sehen und hçren, sonst werden wir nichts zu erzählen haben; aber wenn wir das getan haben, müssen wir begierig sein, unser Zeugnis abzulegen. Es muss persçnlich sein: Du wirst Zeuge sein. Es muss für Christus sein. Du wirst für ihn Zeuge sein … Unser Zeugnis darf nicht vor wenigen Auserlesenen abgelegt werden, die uns freudig zustimmen, sondern vor allen Menschen, vor allen, die wir erreichen kçnnen. Denn der vorliegende Spruch ist ein Gebot und eine Verheißung, derer wir eingedenk sein müssen: ‹Du sollst mein Zeuge sein.› – ‹Ihr werdet meine Zeugen sein›, spricht der Herr.»

15 —


2. Erste Erinnerungen Meine früheste Erinnerung reicht vor den Beginn des Zweiten Weltkriegs, ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein. Wir machten einen Ausflug mit dem Opel P4, den mein Großvater – Bauer und Viehverkäufer, dazu leidenschaftlicher Heger und Jäger auf dem sandigen Boden und in den Fçhren- und Kiefernwäldern der Letzlinger Heide in der Altmark – seinem Schwiegersohn, dem armen Lehrer, geschenkt hatte. Der Weg führte an einer Kaserne vorbei. Da sprengte von den hçher gelegenen Häusern ein Reiter auf schwarzem Pferd auf uns zu. «Es gibt sicher bald Krieg!», sagte daraufhin mein Vater. Dieser Krieg überschattete dann sieben Jahre meines Lebens. Vom ersten bis zum letzten Tag war mein Vater Soldat, Mutti war allein mit ihren beiden Tçchtern, abgesehen von Vatis kurzen Urlauben, an die ich mich kaum erinnere. Nur als Mutti den blauen Feldpostbrief in ihren Händen hielt und weinte: «Vati ist verwundet!», und wir ihn später in Hildesheim besuchen konnten, wo er seine Genesungszeit verbrachte, das steht mir noch deutlich vor Augen. Wir waren bei einer katholischen Hauswirtin untergebracht, und in unserem Zimmer stand ihr dunkelbrauner Betstuhl. Für mich – Kind evangelischer Eltern, die dem Glauben damals noch fern, dafür der Ideologie des Dritten Reiches näher standen – eine fremde Welt, die einen Eindruck hinterließ. Hildesheim, damals noch in seiner unberührten, mittelalterlichen Pracht: das beeindruckende «Knochenhauer Amtshaus», der «Zuckerhut», der 1000-jährige Rosenstock … Das alles ging später im Bombenhagel und im Feuer unter und blieb doch im Herzen fotografiert. Der Dom und die Michaeliskirche interessierten wohl damals die Eltern nicht. Sie sah ich erst Jahrzehnte — 16 —


nach dem Krieg, zusammen mit meinem Mann, bestmçglich restauriert. Die Stadt wurde nicht wieder das, was ich als achtjähriges Mädchen gesehen hatte.

3. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen Verglichen mit dem, was andere erlitten – Verlust von Ehemännern und Vätern, von Haus und Hof, von Heimat, Hab und Gut –, kamen wir glimpflich durch den Krieg. Vom Bombenhagel blieb unser kleines Dorf verschont. Wir sahen die in der Sonne blinkenden Schwärme von Flugzeugen, die ihre Tod und Verderben bringende Bombenlast über den Städten entluden, hoch über uns am Himmel vorbeiziehen. Und in den Bombennächten leuchtete der Horizont hochrot über Hannover, Braunschweig und Hildesheim um uns herum. Bei uns landeten wohl mehr aus Versehen zwei Bomben im Feld am Dorfrand und hinterließen tiefe Krater. Wir sahen sie fallen und sausten aus dem ersten Stock in den Luftschutzkeller, in dem sich bei Luftalarm außer uns dreien auch Nachbarn einfanden: Opa Schaperjahn und der alte Onkel Ernst, der mit Vati am gleichen Tag Geburtstag hatte und es sich nicht nehmen ließ, ihm jedes Mal selbstgebackenen Junggesellen-Pflaumenkuchen zu bringen – die hell gescheuerten Dielen seines alten Hauses wurden zur Feier jedes Sonntags mit weißen Heidesandkringeln bestreut –, dazu Oma Wittneben, die wir, weil unsere eigenen Großeltern zu weit entfernt wohnten, «adoptiert» hatten. Bald gehçrten auch Flüchtlinge dazu, die aus Kçln den Bomben hatten weichen müssen: Frau Engel mit ihren zwei kleinen Kindern, auch ihr Vater war im Krieg, und gegen Ende des Krie—

17 —


ges noch ein Großvater aus Schlesien mit seinen vier erwachsenen Tçchtern, von denen die eine ihre vier Kinder bei sich hatte, die andere drei. Die Väter waren beim Einmarsch der russischen Armee erschossen worden. Sie alle fanden Platz in der einen Lehrerwohnung über dem Klassenraum der neuen Schule, wo mein Vater vor dem Krieg unterrichtet hatte. Auch in der alten Schule gegenüber war nur ein Klassenzimmer, in dem der Kollege unterrichtete. Der Zustrom von Flüchtlingen machte bald nach dem Krieg den Anbau eines dritten Klassenraumes an die alte Schule notwendig. Meiner Mutter mit uns beiden Tçchtern blieb das große Wohnzimmer in der neuen Schule. Es war die gute Stube für Feiertage und Besuch gewesen, selten benutzt. Mit seiner weinroten Tapete, Blumengirlanden und Goldsprenkeln darauf, und den schweren altrosa-grauen Sesseln und dem passenden Sofa, einem Stilllebendruck mit Früchten und einem toten Rebhuhn in schwerem Rahmen war es ein festlich-feierlicher Raum. An heißen Sommernachmittagen hatte ich mich als Kind auf den Teppich unter den Esstisch gelegt und die Kühle im abgedunkelten Raum genossen. Nun wurde auch das Schlafzimmer darin untergebracht. Dazu hatten wir einen drei mal drei Meter kleinen Raum hinter der Küche, der nach Vaters Heimkehr Kinderzimmer wurde, nebst der großen Küche mit ihrem kalten, rot gefliesten Fußboden. Nur hier wurde im Winter geheizt. Ja, weil die Fußkälte nicht zu ertragen war, hängten wir die Holztür des Holzstalles ab und legten sie als wärmenden Fußboden vor den Herd. Ich liebte den weiten Ausblick aus dem breiten Küchenfenster. Über den Grashof mit drei Pflaumenbäumen, Hühnern, Gänsen und Enten, den Gemüsegarten, der lebensnotwendig war – daneben bewirtschaftete meine fleißige Mutter noch drei weitere Gärten, um uns durchzubringen –, schweifte der Blick — 18 —


über die Wiesen des Nachbarn, durch die ein Bächlein floss, und über fruchtbare Felder. Er endete an der Landstraße, auf der wir später die Panzer der siegreichen Engländer und Amerikaner einfahren sahen. Unsichtbar dahinter lag der Mittellandkanal. Dort wurde Kohle transportiert zur Versorgung der Ilseder Hütte, der kriegswichtigen Eisenindustrie. In den letzten kalten Kriegsjahren tauschte Mutti am Hafen selbst angebauten, fein geschnittenen oder zu krummen Zigarren gerollten Tabak gegen große Brocken Steinkohle oder auch einmal gegen einen großen Sack voller Zucker. Das alles schob sie dann auf ihrem Fahrrad heim. Unser Opel P4 war ja schon zu Beginn des Krieges für die Armee requiriert worden. Die Eisenwerke mit ihren aus der Landschaft ragenden Hochçfen waren natürlich in Bombengefahr. Das bekamen schon wir Schulkinder mit. Denn weil unsere Lehrer zum Militär eingezogen waren, mussten die Handorfer Kinder durch den Wald nach Bülten zur Schule gehen, etwa zwei Kilometer. In diesem Wald aber waren Ölfelder angelegt, die nachts brannten, um die Bomber von den Stahlwerken abzulenken. Darum erhielten schon wir Erst- und Zweitklässler Erste-Hilfe-Unterricht und trugen jeden Tag außer unserem Tornister mit Schiefertafel, Lese- und Rechenbuch und der Frühstückstasche, in der unser Pausenbrot steckte, noch eine Tasche mit Verbandsmaterial und Dreieckstuch bei uns. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass uns das besonders bedrückt hätte. Der Schulweg durch den Wald war viel zu interessant dazu.

19 —


4. Ja, so war das damals! Bewundernswert ist, was die Frauen und Mütter jener Zeit leisteten, um ohne ihre Männer, ja mit ständigem Bangen um deren Leben, an der Kriegsfront ihre Kinder aufzuziehen. Sowohl Lebensmittel als auch Kleidung wurden immer knapper und waren schmal rationiert. Was man auf Lebensmittelkarten bekam, reichte kaum aus. Das Bestellen von Gärten, das Einwecken, das Trocknen von Früchten und Gemüse, das Sammeln von Eicheln und Bucheckern zum Austausch gegen Öl, das Stoppeln und Nachlesen von Weizen-, Roggen- und Haferähren, das Ausgraben von Zuckerrüben im kalten November und deren mühsame Verarbeitung zu Sirup, das Gewinnen von Stärke aus Kartoffeln … alles war sehr zeitaufwendig und mühsam. Es gab auch noch keine Waschmaschinen. Die große Wäsche war immer ein voller Arbeitstag. Er begann schon am Vortag mit dem Wassertragen. Im Sommer trocknete unsere Pumpe auf dem Hof aus, und Wasserleitungen gab es auf dem Dorf noch nicht. Die große, lange Wanne musste zum nächtlichen Einweichen der Wäsche gefüllt werden. Übrigens wurde diese Wanne im Winter aus dem Keller in die warme Küche im ersten Stock getragen zum Wochenendbad von Klein und Groß. Auch der große Waschkessel im Keller wollte gefüllt sein, damit am frühen Morgen angeheizt werden konnte. Nachdem die Wäsche gekocht war und noch im Kessel gestampft, wurde sie im Holzbottich auf dem gewellten Waschbrett einzeln gerubbelt, in zwei Wannen gespült und auf dem Hof oder bei Regen und im Winter auf dem Wäscheboden im zweiten Stock aufgehängt. Was für eine Schlepperei! Dass wir früh darauf zu achten hatten, uns nicht unnçtig schmutzig zu machen, und der Mutter schon einmal die Hand — 20 —


ausrutschte, wenn uns das nicht gelungen war, ist nur allzu verständlich! Schließlich blieb ihr allein der grçßte Anteil am Wasserschleppen, und den ganzen Waschtag lang konnte man sie in der Waschküche voller Briet1 nur wie durch dichten Nebel erblicken. Die Abende waren ausgefüllt mit Flicken und Stopfen, Stricken und Nähen. Dass meine Mutter sich neben all der Plackerei aber noch die Mühe machte, auf Leibchen und Taschentuchtäschchen des gelben Kleides, das sie mir aus einem alten Kleid von sich selbst nähte, mit einigen bunten Fäden Blumen zu sticken, ebenso auf die schlichte Passe einer grauen Strickjacke, die sie mir aus aufgeribbelten Scheuertüchern mit aufwendigem Lochmuster strickte, daran erinnere ich mich bis heute mit warmem Herzen. Ja, sie fand noch Zeit, mich früh Lesen und Schreiben zu lehren, damit ich meinem Vater im Krieg eigenhändig Grüße senden konnte. Sie fuhr schließlich sogar mit meinen Schreibheften zum Schulrat, und der ließ sich überzeugen, dass ich ein Jahr vor der Zeit eingeschult werden durfte, weil ich ja schon schreiben und lesen konnte.

5. Meine Eltern und Großeltern – wo kamen sie her? Große Mühe machte meiner Mutter, dass sie als Lehrersfrau die Leitung der Frauenschaft im Dorf übernehmen musste. Sie war ja als Zugezogene eine Außenseiterin, und wegen ihrer abgebrochenen Schulbildung innerlich unsicher. Ihr Vater, der seinen wohlhabenden Schwiegereltern mit Erfolg imponieren wollte, aber kurz vor dem Kauf eines grçßeren Bauernhofes durch die Inflation sein Erspartes verloren hatte, —

21 —


forderte seine vier Kinder (Mutti war die ¾lteste) übermäßig. Er stand mittags schon ungeduldig wartend an der Haustür, duldete kein Bummeln auf dem Heimweg von der Schule, trieb sie zu schnellem Essen und danach zur Arbeit auf dem Feld oder im Wald an. Mutti erzählte mir, wie sie oft schon in der Schule die Englisch-Vokabeln oder andere Aufgaben auf Zettel schrieb, die sie in der Schürzentasche mit sich nahm, um beim Unkrauthacken zu lernen. Wie gern hätte sie die interessante Schule zu Ende besucht. Aber der Vater duldete es nicht. Immerhin hat sie dort meinen Vater kennen gelernt, der als junger arbeitsloser Lehrer an der Privatschule auf dem Letzlinger Schloss für ein Taschengeld Anstellung gefunden hatte. Für ihn, der als zweiter Sohn eines Kleinbauern, vormals Wassermüllers aus der Gçttinger Gegend, einen Beruf erlernen musste, war diese Schule eine wunderbare Horizonterweiterung. Ich kann nur mit innerer Bewegung an die Erzählung meines Großvaters in Landolfshausen denken, den ich als Studentin von Gçttingen aus auf seinem Sterbebett pflegte: Eines Tages hatte der Lehrer seines Sohnes ihn zu sich gerufen. Auf dem Rand des Stuhles habe er gesessen und seine Mütze zwischen den Knien in seinen Händen gedreht, als der Lehrer ihm mitteilte, sein zweiter Sohn sei zu begabt, um einen Handwerksberuf zu erlernen. Der müsse Lehrer werden. Ja, und weil der Lehrer es meinte, habe er ja zustimmen müssen. Aber schwer war es! Nach der Volksschule musste Vati also auf die so genannte Präparandie, eine Vorbereitungsstufe in Northeim, dreißig Kilometer von zu Hause entfernt. Dort wurde ihm von seinem älteren Cousin das Plattdütsch ausgetrieben, und jedes Wochenende radelte er heim, um auf dem Hof und dem Feld zu helfen und damit seine Ausbildung zu verdienen. — 22 —


Die Privatschule auf dem Letzlinger Schloss, einem ehemaligen Jagdschloss der preußischen Kçnige, gehçrte zu einer Gruppe pädagogischer Neuaufbrüche. Unter der Leitung eines begabten Juden sammelten sich Kinder von Forschern und Entdeckern, Schauspielern und anderen vielreisenden Eltern in diesem Internat, um neben der schulischen Ausbildung ein Handwerk zu erlernen. Auch einige Dorfkinder waren zugelassen. Theatergruppen, ein Orchester, Ausflüge in der Umgebung, Begegnung mit den interessanten Eltern und deren Erfahrungsbereich schufen einen weiten Bildungsrahmen. Für meinen Vater war die Anstellung dort gewiss ein «Quantensprung». Wie gern wäre auch ich an diese Schule gegangen! Aber da das Lehrergehalt zu gering war, um eine Familie zu ernähren, musste mein Vater sich vor seiner Heirat nach einer Stelle an einer staatlichen Schule umsehen. Er fand sie in Eberholzen bei Alfeld, bei den Sieben Bergen, wo ich geboren wurde. Wenig später musste der jüdische Direktor fliehen, und das Schloss wurde vom NS-Staat zu seinen Zwecken umfunktioniert. Letzlingen aber blieb uns vertraut, weil Mutti alle Ferien mit uns beiden Mädchen bei ihren Eltern verbrachte, um auf dem Bauernhof zu helfen. Ich erinnere mich gern an das Paddeln auf dem Wassergraben, der das Schloss umgab, an sein Schwanenpaar und an die Ausflüge mit Sybille, dem Kind von Berliner Eltern, die in einem der beiden Hotels, in denen vorwiegend Gäste aus der Hauptstadt wohnten, ihre Ferien verbrachten. Als einmal Sybilles kleine Schildkrçte über unserem Spielen verloren ging, gab es eine tränenreiche Suche im Sand der Heide unter Fçhren und Birken.

23 —


6. Unser Zuhause in Handorf Wir lebten inzwischen längst in Handorf. Die Mini-Lehrerwohnung in Eberholzen war für Familienzuwachs zu klein geworden. So war mein Vater froh, im flachen Hannoverland, fünf Kilometer von der Kreisstadt Peine entfernt, eine neue Stelle zu finden. Das Schulhaus mit der geräumigen Lehrerwohnung im ersten und zweiten Stock, im großzügigen Stil des beginnenden 20. Jahrhunderts gebaut, war eine riesige Verbesserung. «Wenn der Kaiser von China Handorf besucht, müsste er bei euch wohnen!», sagte später ein Schulfreund zu mir. Die Lage am Dorfrand, zwei Gärten – vorn Obst und Blumen, hinten Gemüse –, ein weiter Grashof hinter dem Haus mit zweistçckigem Stall für Hühner, Gänse, Enten, Kaninchen, ein Schwein und für Holz und Heu, ein Klohäuschen für uns und die Schüler: Alles war großzügig und nach damaligem Maßstab komfortabel. Das Plumpsklo draußen, ohne Wasserspülung und Licht und im Winter ziemlich kalt und zugig, war damals noch allgemein üblich auf den Dçrfern. Für uns Kinder war es nur unangenehm, wenn wir im Dunkeln das Örtchen aufsuchen mussten, mit Taschenlampe oder, wenn es keine Batterien gab, auch mit einer Kerze bewaffnet. Im Sommer konnten uns auch zuweilen ein angriffslustiger Hahn oder unsere zischenden Graugänse den Weg versperren. Dann brauchte man einen Stock, um sich Respekt zu verschaffen. An Handorf knüpfen sich die meisten meiner Kindheitserinnerungen. Herrliche Spielzeit! Wir brauchten wenig Spielzeug. Ein paar Bauklçtze und die Figuren von Mensch-ärgere-dichnicht, Halma, Mühle und Dame zum Bauen im Winter. Meine — 24 —


schçne Puppe Eva-Maria, die leider im Gardinenreste-Brautkleid vom Tisch auf unseren Steinfußboden stürzte und sich ihre Porzellanfüße brach, reparierten wir notdürftig mit Hansaplast. Im Sommer waren Wiesen und Wälder und der herrlich verwilderte Nachbargarten, wo wir unter ausladenden Holunderbüschen wohnten und in verrosteten Blechdosen aus Stçcken, Blättern und Steinchen die leckersten Gerichte «kochten», unser weites Reich. Wir mussten nur aufpassen, wenn der uralte Heinrich-Bauer mit seinem schwarzen Harald kam, dass wir uns schnell genug vor dem Hund durch das Loch im Zaun auf unseren Hof retteten! Dort konnten wir auf dem von Asphalt und Pflaster verschonten Boden überall Ritzen auskratzen zum Stockschlagen oder Kuhlen für unser Murmelspiel. Die asphaltierte Hauptstraße war fast autofrei, und so trieben wir stundenlang Kreisel, meist selbst gebastelt und bemalt, mit unseren Peitschen darüber hinweg. Im Sommer durften wir Ziegen, Schafe und Kühe hüten in den Fuhsewiesen, die im Winter überschwemmt und vereist waren, herrlich zum Schlittschuhlaufen! Dabei konnte es auch zu schmerzlichen Erfahrungen kommen. Einmal vergaßen wir meine kleine Schwester Giesela (das zusätzliche «e» war ein Schreibfehler des Standesamtes!) auf der Wiese. Sie besaß eine uns damals sehr willkommene Fähigkeit. Sie konnte jederzeit einschlafen. Wenn die Kleine uns Großen also lästig wurde, spielten wir Vater, Mutter und Kind und legten unser folgsames Kind bald schlafen. Dann konnten wir uns freier bewegen – und vergaßen abends beim Heimgehen, dass wir sie mitgenommen hatten. Was für ein Schreck, als die Mutter nach ihr fragte! Ich bekam einen kräftigen Hosenboden voll und wurde zur Strafe in den Keller gesteckt, wovor ich große Angst hatte. Ein weiteres Mal wurde ich an meiner kleinen Schwester —

25 —


schuldig. Über den Oppergraben zwischen Pfarrhaus und Kirche führte eine kleine Brücke. Das Geländer, ein glattes Eisenrohr, eignete sich wunderbar zum Kobolzschlagen. Die dreijährige Giesel wollte uns Großen nicht nachstehen. Jemand hob sie an die Stange. Sie hielt sich aber nicht richtig fest und landete kopfüber im Bach, ja schlimmer: steckte mit dem Kopf im morastigen Grund. Zu meiner Scham: Nicht ich war es, die hineinwatete und sie herauszog, sondern einer der grçßeren Jungen. Schlamm tropfte aus ihren Haaren, Augen und Ohren. Die gute alte Nachbarin, Frau Dohr, steckte sie in eine große Waschschüssel, und so war sie wieder ansehnlich, als Mutti auf dem Fahrrad von Peine zurückkam. Auch da gab es einen tüchtigen Hosenboden voll, weil ich nicht besser auf meine Schwester geachtet hatte. Diese Strafe habe ich ebenso wenig vergessen wie die Haue, die meine ärgerliche Mutter mir verpasste, als ich zum x-ten Male, trotz wiederholter Ermahnung, den zusammengefegten Schmutz unter den Teppich gekehrt hatte. Ach, noch ein weiteres Mal ist mir in Erinnerung. Am großen Waschtag sollte ich schnell etwas Vergessenes einkaufen – und verspielte mich unterwegs. Mutti war so ärgerlich, dass es gleich was hinter die Ohren gab. Damals war kçrperliche Strafe noch nicht so verpçnt wie heute. Und geschadet hat sie mir offenbar nicht. Ich habe auch die Liebe meiner Mutter niemals angezweifelt. Sie lebte und arbeitete ja für uns und gab ihr Letztes, um es uns an nichts fehlen zu lassen. Und wie sehr war sie gefordert! Ich habe es ihr gar nicht genug danken kçnnen.

— 26 —


7. Das Kriegsende im Mai 1945 Im April 1945 stand ich in unserem dritten Garten am westlichen Dorfrand. Plçtzlich kamen Panzer aus dem Wald, circa anderthalb Kilometer entfernt. Ich stürzte hinter eine alte Scheune in Deckung, so erschreckt, dass ich nicht auf die Kuhfladen auf der Straße achtete und mit meinen Sçckchen, die Holzpantinen hatte ich schon verloren, mitten in einen hineintrat. Alle Häuser flaggten weiß, bereit zur Kapitulation. Mutti wurde noch gescholten, weil sie das nicht mitbekommen hatte. Unser hohes Schulhaus am Rand des Dorfes war ja weithin sichtbar. So hängte auch sie schnell weiße Bettlaken aus den Fenstern. Später sahen wir lange Schlangen amerikanischer Panzer auf der Reichsstraße vor dem Kanal Richtung Peine und Braunschweig rollen. Ein letztes deutsches Flugzeug im Tiefflug über unserem Dorf wurde von ihnen beschossen – und wir gingen in Deckung, um später die Munitionssplitter auf dem Hof zu sammeln. In der Schule wurde dann stolz die Beute verglichen: Wer hatte den grçßten Splitter gefunden? Gott sei Dank war keiner verletzt worden! Mein viertes Schuljahr fiel zusammen mit dem Kriegsende und der Heimkehr meines Vaters. Unvergesslich bleibt mir dieser Augenblick. Wir Kinder spielten unter der großen Eiche vor der Kirche. Von dort aus sah man die Dorfstraße bis zum Ausgang des Dorfes hinauf. Und plçtzlich – ein Soldat, der auf uns zukam: mein Vater! Wir konnten es kaum glauben. Es war ihm gelungen, sich mit ein paar Kameraden durchzuschlagen, bis nach Hause. Die gefährlichsten Tage zwischen Krieg und Frieden hatten sie in einer Molkerei in Schleswig-Holstein überlebt, mit Käse, aber ohne Brot. —

27 —


Es war ein Wunder, dass sie nicht gefangen genommen worden waren und ganz ohne Kriegsgefangenschaft davonkamen.

8. «Noch ehe ich dich im Mutterleib bildete …» Wie konnte es geschehen, dass ich aus einer Familie, die Gott nicht persçnlich kannte, ihn doch finden und erkennen durfte? Brach da ein lange unterirdisch verborgener Gnadenstrom wieder ans Licht? Ich war über fünfzig Jahre alt, als eine Cousine meiner Mutter mir mitteilte, was ihre Familie auf der Suche nach ihrem Stammbaum herausgefunden hatte: Meine Ur-Urgroßmutter war eine Hugenottin gewesen, eine geborene Hector. Ihre Familie stammte aus Südfrankreich und war, um ihres Glaubens willen vertrieben, ins Land der preußischen Kçnige gekommen, die ihr armes, rückständiges Land mit Hilfe der Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Österreich zur Blüte brachten. Das war die Erklärung für den olivfarbenen Teint meiner Großmutter mütterlicherseits und für ihre großen dunklen Augen. Der verkarstete Boden über dem verborgenen Gnadenstrom wurde aufgebrochen durch die Not der Kinderlosigkeit einer Tante meiner Mutter, die auch ihre Patentante und Vertraute wurde. Sie muss ins Herz meiner Mutter ein Samenkorn des Glaubens gelegt haben. Obwohl es unter dem Einfluss des Nationalsozialismus später verschüttet wurde, war es doch so weit aufgegangen, dass Mutti uns Kindergebete lehrte: «Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.» — 28 —


Und das Abendgebet: «Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide ¾uglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an. Deine Gnad und Christi Blut machen allen Schaden gut. Alle, die mir sind verwandt, Gott, lass ruh’n in deiner Hand. Alle Menschen groß und klein sollen dir befohlen sein.» Es tut mir leid, dass der Eiserne Vorhang uns von den Verwandten in Letzlingen so lange trennte, dass wenig Austausch geschah. So weiß ich auch nichts Genaueres über den Ursprung des Jesusglaubens bei der Patentante meiner Mutter, Tante Frieda. Jedoch ist mir aus einer kurzen Begegnung ein Satz in Erinnerung geblieben: «Auf Jesus allein kommt es an!» In meiner Familie starb der Glaube. Mein Vater war geprägt von der humanistischen Freigeistigkeit der Letzlinger Schule, danach war er Mitläufer des Nationalsozialismus. So gab es damals daheim weder Bibel noch Gebet noch Kirchenbesuch, obwohl die Handorfer Kirche in direkter Sichtweite jenseits des Schulhofs stand. Nur an Heiligabend ging die Familie zum Gottesdienst – jedenfalls später, als Vati aus dem Krieg heimgekehrt war. Ich erinnere mich, dass er vor Ende der Christmette heimlief, um die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden, die wir dann schon beim Herauskommen aus dem Kirchenportal durch die hohen Fenster unserer Wohnung leuchten sahen. —

29 —


Doch der Herr selbst ergriff die Initiative, um mein Leben zu sich zu ziehen.

9. Das Samstagabendläuten Es war an einem Samstagnachmittag im Sommer. Ich hatte im Garten gespielt, barfuß, in dem gestreiften Hängekleidchen, das Mutti mir aus Matratzenstoff genäht hatte, spielschmutzig … da läuteten die Glocken den Sonntag ein. So deutlich war es in meinem Herzen ein «Komm, komm, komm, komm!», dass ich, so wie ich war, hinüberlief in die Kirche. Acht oder neun Jahre alt mag ich da gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern, was mir dort geschah, aber von da an ging ich regelmäßig in den Kindergottesdienst, der nach dem Hauptgottesdienst angeboten wurde. Pastor Hans Brandes, mein späterer Konfirmator, leitete den liturgischen Eingangsteil, dann wurde die kleine Kinderschar in zwei Gruppen geteilt: Die Großen unterrichtete er selbst, die Kleinen, zu denen auch ich gehçrte, durften Tante Elise zuhçren. Tante Elise war eine Ohofer Schwester, trug das hellblauweiß gestreifte Diakonissenkleid mit dunkler Schürze und war schon damals uralt. Sie war eine kleine, zierliche Person mit liebem Gesicht, die uns Kinder liebte. Durch irgendein Unglück hatte sie ein Bein verloren und trug eine Prothese, die nicht mehr war als ein armdicker Stab, der an den Stumpf des Oberschenkels angeschnallt war. Denke ich zurück, so kann ich heute noch das «Tock, tock, tock» ihrer Schritte hçren, wenn sie vom Kirchenportal her durch den langen Gang bis zu uns Kindern nach vorn kam, die im Querschiff rechts vor den Augen der wenigen Gottesdienstbesucher still zu halten waren. — 30 —


Gegenüber auf der linken Seite des Ganges saßen die Vorund Hauptkonfirmanden unter den Augen des Pastors, direkt vor der Kanzel, die damals vor der Renovation der Kirche noch mit Gipsrepliken der Fischer-Apostel geschmückt war. Auf unserer Seite hing über dem Taufstein ein großer, schwebender Engel, der erhalten blieb. Um den hohen Altar mit seinen «Marmorsäulen» war es nicht schade. Heute ist die Kirche viel lichter geworden. Tante Elise – ja, sie säte Gottes Wort kindgemäß in unsere Herzen. Wie hat sie uns lieb gehabt! Im Sommer humpelte sie mit uns in den Wald am Südwestrand des Dorfes, die Mühsal nicht achtend. Sie ließ uns Verstecken, Fangen und Bäumchenwechsel-dich spielen, bis wir müde waren. Dann saßen wir auf herumliegenden Baumstämmen, aßen und tranken, was unsere Mütter uns eingepackt hatten, und Tante Elise erzählte Jesusgeschichten und Missionsgeschichten … bis zum Heimgehen. Danke, liebe Tante Elise! Vergelt’s dir Gott! Während unseres ersten Heimataufenthalts nach fünf Jahren in Indonesien wollte ich ihr noch einmal persçnlich danken. Wir hatten gehçrt, dass sie – fast 100-jährig – noch im Ohofer Schwesternheim lebte. Sie war seit langem bettlägerig. Ob sie das Rosensträußchen und meine Worte noch wahrnahm? Ich weiß es nicht. Die pflegenden Schwestern aber nannten sie «unser Engelchen». Nach ihr war Pastor Brandes Gottes Sprachrohr zu meiner Seele. Zuerst durch die Krippenspiele, die er mit uns Kindern einübte. Der lange Weg durch den Pfarrgarten bis zur Kirche, vor Kälte zitternd im Engelchen-Nachthemd, das mit Gold- und Silbersternen benäht war, oder als Kind, das mit seiner Laterne andere zum Stall führte, dann auch als Maria mit aufgelçstem Haar … so erhielt Weihnachten seinen Sinn, über die Freude an Geschenken hinaus. —

31 —


Der zweijährige Konfirmandenunterricht eine Stunde pro Woche legte dann feste Grundlagen. Bis heute bin ich dankbar für die vielen auswendig gelernten Choräle und Bibelverse. Ja, auch große Teile aus Luthers Katechismus mit den Erklärungen mussten wir auswendig lernen. Damals keine große Freude, aber ein Schatz fürs Leben! Und zwei Prüfungen waren am Ende vor der Konfirmation zu bestehen: zuerst vor dem Superintendenten in Oberg, zu dem wir mit unserem Pastor den sieben Kilometer langen Weg radelten, dann vor der Gemeinde. Bei der feierlichen Konfirmation bebte ich unter der segnenden Hand des Konfirmators. Ich spürte Gottes Gegenwart. Der von Pastor Brandes für mich gewählte Konfirmationsspruch war das Jesuswort an den ungläubigen Thomas: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben» (Johannes 20,29). Ich war derart ergriffen von der Wahrheit des Evangeliums, dass ich es so gern weitersagen wollte. Ich erinnere mich an eine Szene im Milchladen. Die lose Milch wurde mit unterschiedlichen Maßen – ein Liter, ein halber Liter, ein viertel Liter – in die mitgebrachten Kannen gemessen. Und in meinem Herzen das Drängen: Sag es den Leuten, sie müssen an Jesus glauben! Aber mein Mund çffnete sich nicht. Es fehlte die Kraft. Hätte es mir weitergeholfen, wenn wir gelehrt worden wären, wie man ein Eigentum Jesu wird? Die Frage, wie man ein Jünger Jesu würde, beantwortete unser Pastor: «Es ist zu hundert Prozent Gottes Werk und zu hundert Prozent das des Menschen.» Erst sechs Jahre später in England wurde ich weitergeführt. Aus der Christenlehre – ein Jahr Pflichtbesuch der Gottesdienste nach der Konfirmation mit anschließender Unterweisung der Konfirmierten – haftet, was uns Pastor Brandes mit selbst gemalten Bildern einprägte. Zum Beispiel die Jahreszahl von Martin Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg, auf das Dach einer Kirche gemalt, Vorläufer der — 32 —


später so stark entfalteten «visual aids» als Anschauungsunterricht. Diese persçnliche Erfahrung stand hinter meiner Unterstützung von Ruth Läufers Ausbildung von Kindergottesdiensthelfern später in Batu, Indonesien. Mit welcher Liebe beschaffte sie das Bildmaterial für ihre Sonntagsschulhelfer! Die Jugendstunde bei Pastor Brandes war von frçhlichem Spiel begleitet: Tischtennis und Versteckspiel im weiten Pfarrgarten, Ausflüge und Zeltlager prägten die erste Zeit nach der Konfirmation. Ach ja – das Zeltlager in Meinersen an der Aller um 1948/49, noch im Zeichen des Nachkriegsmangels! Wir schliefen in ausgedienten Wehrmachtszelten auf Stroh, je zehn oder zwçlf Mädchen oder Jungen in einem Zelt. Pastor Brandes und Superintendent Schneider, sein Freund, zu zweit in einem kleinen Zelt, das wir eines Nachts über den Schnarchenden abbauten. Sie verstanden Spaß! Schwierig muss es gewesen sein, die Verpflegung zu beschaffen. Gekocht wurde in großen Tçpfen auf offenem Feuer. Kein Wunder, dass die kçstliche Schokoladensuppe, mit der die müde und hungrig auf Fahrrädern eintreffende Jugend empfangen werden sollte, hoffnungslos angebrannt war. Aber anderes gab es nicht. Wir mussten sie lçffeln! Und der Sojabrei am nächsten Tag, ungewohnte Kost aus amerikanischen Armeebeständen, ging allen Geschmacksnerven verquer und wollte nicht rutschen – mit dem Ergebnis, dass wir ihn am nächsten Tag noch einmal, aufgewärmt und leicht angesäuert, bekamen. Der Hunger trieb’s rein! Und trotzdem war es eine herrliche Zeit! Singen, Spielen, Bibelstunden, Plantschen im flachen Wasser der Aller … wir waren nicht verwçhnt. Es war noch nicht die Zeit des Tourismus. Überhaupt von zu Hause fortzukommen, und wenn es sich nur um dreißig Kilometer handelte, war schon ein Erlebnis. Meiner —

33 —


Mutter wurde die Woche zu lang. Nach drei Tagen radelte sie hinter uns her, um nachzuschauen, ob es der Tochter gut ging, und radelte, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, beruhigt zurück. Ein folgenreiches Erlebnis dieser Jahre war die Erfahrung eines Missionsberichtes. Zwar hatte unser «Opfergroschen» im Kindergottesdienst schon immer den Kopf eines Afrikaners zum dankbaren Nicken bewegt. Aber was Mission bedeutete, wurde mir erst durch diesen speziellen Vortrag bewusst. Und doch habe ich den Inhalt nicht mehr im Gedächtnis. Nur die schçne Radtour nach Rosenthal, zurück am lauen Maienabend unter Maikäferschwärmen. Aber seit diesem Vortrag war mir klar, dass ich einmal einen Pastor oder einen Missionar heiraten würde! Hinzu kam ein mehrmals wiederholter Kindertraum, der einzige, den ich behielt: Mit einer Schar kleiner, brauner Leute rettete ich Menschen aus Seenot, später aus brennenden Häusern. Diesen braunen Menschen begegneten wir später in Indonesien, und das Bild zeichnete sehr genau unsere Tätigkeit dort – geheimnisvolle Spuren Gottes, Vorahnungen unseres künftigen Weges! Unvergessen sind die Jugendabende im Pfarrhaus. Für die konfirmierte Jugend gab es in jeder Woche einen geselligen Abend, der mit Bibelarbeit begann und mit Spielen endete. Im Sommer Tischtennis und Verstecken im weiten Pfarrgarten, der mit Bäumen und Büschen bestanden war. Daran nahmen oft auch die teil, die als Flüchtlinge im Pfarrhaus Zuflucht gefunden hatten: der Sohn einer Mennonitin, ein Student, sie setzten bald ihren Weg nach Kanada fort, und «Onkel Rohr», gestrandeter Jurist und Junggeselle, der sonn— 34 —


tags die Orgel spielte. Er war ein Original und gewann beim Tischtennis oft, weil seine komische Figur – mit unterschiedlichen Socken, mit Schuhen, die er zu binden vergessen hatte, und mit unnachahmlichen Grimassen – den Gegner durch Lachen ausschaltete. Als ich nach Jahren hçrte, er habe eine Frau gefunden und arbeite in hoher Position im Ruhrgebiet, konnte ich es kaum glauben. Zur Ökumene im Pfarrhaus gehçrte auch ein Ehepaar, das einer Pfingstgemeinde angehçrte. Herr Bender verdiente sein Brot als Herrenfrisçr von Haus zu Haus und gebrauchte die Gelegenheit, um seine Kunden zu evangelisieren – etwas sehr Ungewçhnliches in einem niedersächsischen Dorf und zu einer Zeit, in der Glaube schon «Privatsache» war. Aber die Kirche war sonntags gut gefüllt in dieser Nachkriegszeit, vor allem mit den vielen Flüchtlingen, die der Krieg in unser Dorf gebracht hatte. Auch meine Eltern gingen nun oft in den Gottesdienst, meine kleine Schwester in ihrer Mitte an den Händen haltend. «Unser Platz war in der vierten Bank von hinten an der rechten Seite!», erinnerte sie mich. Zwei Jahre nach meiner Konfirmation ließ Pastor Brandes sich versetzen. Sein Nachfolger hatte keine so gute Hand mit der Jugend. Dass seine Frau einmal äußerte: «Ich bin froh, dass er zum Gottesdienst einen Talar anzieht. Dann ist er ein anderer Mensch!», machte ihn nicht glaubwürdiger vor kritischen Jugendlichen. So driftete ich allmählich von der Kirche fort. Eine große Rolle spielte dabei der humanistische Einfluss der Oberschule.

35 —


10. Mein Weg zur Oberschule Als ich in der vierten Klasse unserer zweiklassigen Volksschule war – herrlich, immer schon dem interessanteren Unterricht der ¾lteren nebenbei folgen zu kçnnen, denn das 1. und 2. Schuljahr und dann das 3. bis 8. wurden zusammen unterrichtet –, fragte eines Tages der Lehrer: «Wer von euch will die Oberschule in Peine besuchen? Die Anmeldungen zur Prüfung müssen eingereicht werden.» Spontan meldete ich mich an, ohne zuvor meine Eltern gefragt zu haben. Aus unserem Dorf war ich das erste Mädchen, das zur Oberschule ging und Abitur machte – eine Entscheidung, die für mein Leben Weichen stellte. Aber die Aufnahmeprüfung! Meine Mutter drängte den Vater, mich darauf vorzubereiten. Er war kurz zuvor aus dem Krieg heimgekehrt, war aber wegen der Entnazifizierung noch nicht wieder als Lehrer eingestellt worden und verdiente den Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter mit Holzfällen im Harz und bei einer Eisenfirma in Peine. Aber – mich durch die Prüfung pauken? Nein! Dazu hatte er zu viele Eltern erlebt, die ihre Kinder über deren Begabung hinaus fçrdern wollten, aus persçnlichem Ehrgeiz, und ihren Kindern untragbare Lasten auferlegten. «Wenn sie auf die Oberschule gehen will, muss sie die Prüfung allein schaffen.» Ich schaffte es! Und willig trugen meine Eltern die zusätzlichen finanziellen Belastungen. Denn Schulgeldfreiheit gab es noch nicht. Jedes Buch musste selbst bezahlt werden, über die dreißig DM monatliche Schulgebühr hinaus. Das war damals viel Geld. Dazu kamen noch die Transportkosten. Zum Glück waren die fünf Kilometer mit dem Fahrrad gut zu bewältigen. Aber woher bekam man in dieser Zeit, 1946, ein Kinderfahrrad? Schließlich trieben die Eltern eines auf, ein Jungenfahrrad — 36 —


zwar, mit Stange, aber das machte nichts aus. Schwieriger war, dass die Schläuche nichts mehr taugten. Oft reichte die Luft bis zur Schule, aber beim Heimweg war der Reifen platt, und ich musste heimwärts schieben oder zu Vaters Firma am entgegengesetzten Ende der Stadt, damit er schnell den Reifen reparierte. Im schneereichen Winter musste ich andere Mçglichkeiten suchen. Der Bus war übervoll, wenn er in unserem Dorf, der letzten Station vor der Kreisstadt, ankam. Also zur Kleinbahn nach Klein Ilsede, zwei Kilometer Fußmarsch durch die Wiesen! – auf dem Rückweg abgekürzt, indem wir etliche hundert Meter vor dem Bahnhof aus dem fahrenden Zug sprangen, unseren Schultornistern hinterher, die wir vorher abgeworfen hatten. Es war nicht ungefährlich und verboten, aber keinem geschah etwas. Eine andere kostenlose Mçglichkeit gab es, indem wir mit dem Milchtrecker fuhren, der die großen Milchkannen der Bauern aus Handorf zur Molkerei nach Peine brachte. Dazu musste man flink und gelenkig sein, denn der Fahrer nahm keine Rücksicht auf uns Kinder. So hieß es schnellstens auf- und absteigen, solange er die Milchkannen auflud. Dann saßen wir oben auf den Kannen auf dem offenen Anhänger, passten auf, dass wir unsere Beine nicht zwischen den schweren Gefäßen einklemmten und zogen gegen Regen, Schnee und Sturm unsere Kapuzen tief ins Gesicht. Meist war das die Lçsung für den Hinweg, während wir für den Rückweg die Bahn nach Klein Ilsede bevorzugten. Die Klassen waren übervoll zu jener Zeit. Am Lyzeum, der Oberschule für Mädchen, gab es drei Parallelklassen zu Beginn, mit je über fünfzig Schülerinnen – zum Abitur waren wir aus allen dreien noch ganze elf. Etliche Familien waren weggezogen, aber es wurde auch sehr gesiebt! Ich erinnere mich, dass unsere Franzçsischlehrerin in der 13. Klasse zu uns sagte: «Nun gehçrt ihr zur Elite Deutschlands!» —

37 —


Die Anzahl der Abiturienten zu jener Zeit lag bei fünf Prozent meines Jahrgangs, wobei die Mädchen wiederum weniger als ein Fünftel davon ausmachten. Wir waren an unserem Lyzeum überhaupt die erste Klasse, die bis zum Abitur geführt wurde. Mädchen, die vor uns in Peine Abitur gemacht hatten, mussten an die Oberschule für Jungen wechseln, das waren dann kaum mehr als drei bis fünf Mädchen pro Jahrgang. Als erste Abiturklasse des Lyzeums bekamen wir besonders viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Natürlich wollten Schulleitung und Lehrer gut dastehen und den Weg in die Selbständigkeit des Lyzeums mit guten Leistungen bestätigt sehen. Mein erstes Zeugnis an der Oberschule war jedoch ein Schock! War ich vorher daran gewçhnt, immer die Beste zu sein, so trübten plçtzlich eine ganze Anzahl Vierer («ausreichend») die Freude. Es brauchte wohl doch eine große Umstellung von der gemütlichen Dorfschule in die Stadt mit der Konkurrenz der Besten aus dem ganzen Kreis. Aber es dauerte nicht so lange, bis die Vierer verschwanden und auch die Dreier («befriedigend») immer weniger wurden. Das Abitur konnte ich als Zweitbeste ablegen. Von klein auf interessierte mich alles. Eines der frühesten Fotos zeigt mich als Dreijährige auf der Schulbank mit ernstem Gesicht über einer Fibel. Die Dorfbibliothek verließ ich beim wçchentlichen Büchertausch stets mit einem ganzen Arm voller Bücher, die dann in Stçßen auf meinem Nachttisch lagen. Es konnte geschehen, dass ich eine ganze Nacht hindurch las und nur schnell, wenn ich die Mutter morgens hinunterkommen hçrte, noch das Licht lçschte und mich schlafend stellte. Und wenn ich später meine Bücher aus der Leihbücherei in Peine bezog, kam es wohl vor, dass ich auf halbem Weg vom — 38 —


Fahrrad stieg und, neugierig im Straßengraben sitzend, zu lesen begann. Lesen, lesen, lesen – das war fast eine Sucht geworden. Und ich las einfach alles, besonders gern Entdecker- und Abenteuergeschichten, die mir fremde Welten und Kulturen erschlossen. Das vermittelte mir zwar ein breites Allgemeinwissen und einen guten Stil in meinen Aufsätzen, aber oft stahl diese Sucht mir auch die Zeit und Treue gegenüber den erteilten Aufgaben und Pflichten, so dass ich nicht das mir mçgliche Beste erreichte. Im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren fielen mir ständig Gedichte ein. Es konnte geschehen, dass ich mitten im Abtrocknen das Geschirrtuch fortwarf, um die Verse aufzuschreiben. Und natürlich war es ein erhebendes Gefühl, als unsere Zeitung ein Frühlingsgedicht unter meinem Namen abdruckte! Als sich daraufhin ein «Dichter» bei mir meldete und mit grüner Tinte lange Briefe mit seinen Gedichten und Kompositionen schrieb, die mit rotem Siegellack versiegelt waren, war ich schwer beeindruckt. Doch als er mich besuchen wollte, wehrte ich ab – sicher eine Bewahrung.

11. Unter dem Einfluss von Lessing, Goethe und Hesse Von der Mittelstufe an geriet die Lehre des Humanismus, die besonders im Deutschunterricht durch die Lektüre von Lessings Ringparabel in «Nathan der Weise» und den Goethe verehrenden Deutschlehrer an uns herangetragen wurde, in Konkurrenz zu meinem christlichen Glauben. Zwar hatte ich mich einer kleinen Schülergruppe angeschlossen, die sich unter der Leitung eines frommen Abiturienten all—

39 —


26. Aufbruch nach Indonesien Dann standen wir Mitte Februar 1963 auf dem Lübecker Hauptbahnhof. Es war ein trüber, kalter Wintertag. Mitten im morgendlichen Menschengetümmel eine kleine Schar Treuer, die uns verabschiedeten, darunter auch David Batchelor, der aus Eckenfçrde angereist war. Wir sangen miteinander die vierte Strophe aus dem altbekannten Missionslied «Einer ist’s, an dem wir hangen»: «Heiland, deine grçßten Dinge beginnest du still und geringe, was sind wir Armen, Herr, vor dir? Aber du wirst für uns streiten und uns mit deinen Augen leiten, auf deine Kraft vertrauen wir. Dein Senfkorn, arm und klein, wird endlich, ohne Schein doch zum Baume, weil du, Herr Christ, sein Hüter bist, dem es von Gott vertrauet ist.» Unter dem Singen, so erzählte uns Volkhards Mutter später – sie gab nun auch ihren zweiten Sohn in die Mission, nicht ohne Schmerzen –, schenkte Gott ihr eine Vision: Sie sah plçtzlich hinter uns eine große Menge brauner Menschen mit strahlenden Gesichtern. Es war eine trçstende Verheißung für das Opfer, das sie ihrem Herrn brachte. Zunächst ging es zu Freunden nach Rotterdam. Tina van der Gaag, die mir am MTC in Glasgow begegnet war, hatte uns zu ihrer Familie eingeladen. Unsere erste Erfahrung mit hollän—

87 —


dischen Sitten: Bohnenkaffee kurz vor dem Schlafengehen. Sie begleitete uns am nächsten Tag nach Amsterdam, wo die MS Braunschweig startbereit im Hafen lag. Im Wasser schwammen Eisschollen, der Himmel grau. Wie gut, dass unsere Eltern nicht mitgekommen waren. Der lange Abschied von den Winkenden am Kai, während das Schiff langsam ablegte und seinen Weg nahm, wäre herzzerreißend gewesen. Ade, Europa! Mit einem Frachtschiff zu reisen hat besondere Reize. Die ganze Zeit speisten wir beide und eine Dame im besten Alter, die täglich in neuer Garderobe erschien, am Tisch des Kapitäns und des Steuermanns. Drei katholische Priester, die einzigen anderen Passagiere, saßen beim Schiffsingenieur. Kapitän Eichholz, zu dem sich ein herzliches Verhältnis entspann, nahm uns in jedem Hafen, wo wir anlegen und Fracht lçschen oder laden mussten, in seinem Auto mit auf interessante Touren: von Port Said nach Kairo zu den Pyramiden, von Aden in die Wüste des Südjemens, in Ceylon (heute: Sri Lanka) hinauf nach Kandy, und von Belawan, der brütend heißen Hafenstadt Nordsumatras, nach Medan – ein Riesenbonus, den unser Vater im Himmel sich für uns ausgedacht hatte. Später besuchte uns der Kapitän in Batu, um sich zu überzeugen, wie wir wohnten. Zunächst aber bekamen wir, was ich mir schon immer gewünscht hatte – aber eine solche Erfahrung reicht fürs Leben! –, in der Biscaya einen ordentlichen Sturm. Unser Schiff, das keine schwere Fracht in den Laderäumen hatte, dafür aber schwere Glasfässer mit Ameisensäure für die Kautschuk-Produktion auf Sumatra an Deck, schwankte von einer Seite zur anderen. Nun verstand ich, warum die geräumige Kajüte mit eigenem Bad eine Notwendigkeit war. Man schaffte es sogar nicht immer bis dahin, wenn man sich übergeben musste. Drei Tage und Nächte blieb ich im Bett, hielt mich krampfhaft an beiden Seiten — 88 —


fest und schaute einer Weinbeere zu, die zum Bullauge rollte, wenn es fast in die rollende See tauchte, und auf die andere Seite des Raumes, wenn nur Himmel zu sehen war. Volkhard konnte zu den Mahlzeiten gehen, wobei Tische und Stühle am Boden befestigt wurden, Teller und Gläser nur halb gefüllt, damit nichts rutschen oder überschwappen konnte. Ich konnte nichts essen. Erst als wir durch die Meerenge von Gibraltar ins Mittelmeer eingebogen waren, beruhigte sich mein Magen. Ich erinnere mich heute noch – nach gut vierzig Jahren – daran, wie mir die erste Schwarzbrotschnitte mit Butter danach mundete. Volkhard neckte mich lange: «Drei Tage lang hast du mich überhaupt nicht angesehen!» Doch dann standen wir fasziniert am Bug des Schiffes. Über der afrikanischen Küste, die wir zum ersten Mal sahen, breitete sich ein zartgrüner Hauch von Frühling aus. In der Nähe von Kreta, wo Paulus in Seenot geriet, noch einmal bewegte See: «O bitte, nicht noch einmal Sturm!» Es blieb erträglich. Port Said am Eingang des Suezkanals. Ein halbes Jahr nach unserer Durchfahrt wurde er gesperrt. Wir konnten ihn noch passieren, eine große Bereicherung! Unser Schiff musste bunkern, und weil gerade ein großer islamischer Feiertag war und im Hafen nicht gearbeitet wurde, kamen wir zu einem unverhofften Aufenthalt. «Habt ihr ein Glück!», sagte Kapitän Eichholz. «Ich bin diese Route schon etliche Male gefahren, aber noch nie konnte ich hier an Land gehen!» Wir wurden zusammen mit den anderen Gästen eingeladen, die Gelegenheit zu nutzen und nach Kairo und zu den Pyramiden zu fahren. Welch ein Vorrecht! Entlang den Seitenkanälen des Nils, von denen das Wasser auf die Felder geschçpft wurde, so dass fruchtbares Grün uns begleitete – und auf der anderen Seite Wüste. —

89 —


Wir standen ergriffen vor den Pyramiden, die wahrscheinlich von Tausenden von Sklaven in harter Fronarbeit erbaut wurden, kraxelten in ihrem Innern in die leeren Grabkammern und standen später im Museum von Kairo vor den Mumien der Pharaonen. Volkhard ließ es sich nicht nehmen, ein Kamel zu besteigen, wovon mir wegen meiner Schwangerschaft abgeraten wurde – leider! Verleidet wurde mir der sonst so fesselnde Aufenthalt durch die Zudringlichkeit der bettelnden Araber und ihre Betrügereien. Einfache Steine vom Wegesrand boten sie uns schreiend zu teuren Preisen an. Briefmarken, die Pfennige wert waren, ließen sie uns teuer bezahlen. Später habe ich es verstehen und entschuldigen kçnnen. Wie hart sind ihre Lebensbedingungen! Aber damals erlitt ich einen Kulturschock, den ich noch nicht überwunden hatte, als wir später auf Ceylon zu einem berühmten buddhistischen Tempel, in dem der Zahn Buddhas angebetet wurde, mitgenommen werden sollten – ich ließ es mir entgehen. Kairo dagegen nicht mit seinen vielen Moscheen, vorbei an der Al-Aksa-Universität, dem Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, die Luft erfüllt vom hallenden Gebetsruf von Hunderten von Minaretten! Unvergesslich bleibt die Fahrt durch den Suezkanal. Die Sonne ging auf über dem Sinai, am nahen Ufer ritt ein Beduine auf einem Esel, seine baumelnden Beine berührten fast die Erde: wirklich kein erhebender Anblick, dieser Ritt auf einem Lasttier, auf dem einmal der Herr aller Herren in Jerusalem einzog! Unser nächster Stopp: Aden. Wieder war Zeit zu einer Ausfahrt in die Wüste. Ein Beduinenzelt, umgeben von Schafen, Ziegen, Menschen in wollenen Gewändern, eine junge Frau trieb mit einem Stecken eine Ziegenherde über den kargen Sand – Jahrhunderte alte Abläufe, unverändert! — 90 —


Nach dem Golf von Aden empfing uns die unendliche Weite des Indischen Ozeans. Tagelang nur Wasser, tags tiefblau und nachts tausende funkelnde Leuchtalgen in den schwarzen Wogen, die am Bug hochschäumten. Darüber wçlbte sich ein herrlicher Sternenhimmel. «Wie groß bist DU!» Irgendwann kam uns ein anderes Hapag-Lloyd-Schiff entgegen, Hupen und Winken von Schiff zu Schiff. Wir spüren das Heimweh des Ersten Offiziers nach seiner Frau und seinen Kindern: «Die da drüben sind bald zu Haus.» Er trug sich mit dem Gedanken, nach dieser Fahrt einen längeren Landurlaub einzulegen. Danach Ceylon: ein Juwel. Über eine sich den Berg hinaufwindende Straße, vorbei an Bäumen, in denen Kolonien von Flughunden (große Geschwister unserer Fledermäuse) kopfunter hängend den Tag verschlafen. Endlich Kandy und sein weltberühmter Park mit seltenen exotischen Pflanzen. Auf seinen gepflegten Wegen Singhalesinnen in ihren leuchtend roten, gelben, blauen und grünen Saris lustwandelnd. Ein bezauberndes Bild!

27. Nach sechs Wochen endlich in Indonesien Und wieder Indischer Ozean, tagelang, bis wir uns Sumatra nähern. Die ersten Fischerboote mit indonesischen Menschen tauchen auf. Mein Herz, mein Geist wird überflutet mit einer Welle der Liebe: «Dieses ist nun mein Volk!» Von da an habe ich mich in Indonesien nie fremd gefühlt. Eine kostbare Erfahrung! Vor Medan lagen wir zehn lange Tage weit außerhalb des Hafens vor Anker, zusammen mit vielen anderen Schiffen, die Fracht lçschen wollten. Es gab nur einen Kai und überalterte —

91 —


Kräne, viel Menschenpower war zum Entladen nçtig. Heiß, heiß, heiß! Wir waren ja fast am ¾quator. Und dazu Windstille und hohe Luftfeuchtigkeit. Wegen meiner Schwangerschaft war mir besonders heiß, oft konnte ich keinen Faden auf mir ertragen und legte mich im Evaskostüm auf den kühlen Fußboden unserer Kajüte. Die Tage dehnten sich. Wann ging es endlich weiter? Es war eine Erlçsung, als wir endlich, endlich den Hafen anlaufen konnten. In Medan hatte unser Kapitän Freunde. Sie luden uns mit ein in ihre Villa; er Deutscher, verheiratet mit einer wunderschçnen Frau mit holländischem und indonesischem Blut. Und an ihrer Schlafzimmertür der Reim: «Auch bei dreißig Grad im Schatten darf die Liebe nicht ermatten!» Es gab eine festliche Reistafel, viele, viele kleine Schalen mit unbekannten Kçstlichkeiten. Eine wurde mir zum Verhängnis, ich hielt den Inhalt für zarte, grüne Bohnen und führte einen Lçffel voll zum Mund. Hui, war das scharf! Unhçflich wollte ich nicht sein und schluckte das Zeug hinunter. Mir war, als schlügen Flammen aus meinem Mund: grüne Peperoni! Damals in Deutschland noch kaum bekannt. Den Rest der Mahlzeit konnte ich nichts mehr schmecken. Unser nächster Hafen war Singapur, schon damals aufstrebende Handelsstadt. Wir staunten über modernstes Spielzeug und über die Sauberkeit der Straßen. «Schaut sie euch noch einmal gut an», sagte unser Kapitän, «das sind für euch die letzten gepflegten Straßen mit europäischem Standard.» Die Fahrt nach Singapur, vorbei an den Riau-Inseln, hatte uns ahnen lassen, welch ein Inselreich wir ansteuerten. Das Land der über 13.000 Inseln, grçßere und kleine, mit tropischem Wald und weißen Stränden, viele unbewohnt, geheimnisvoll und verlockend. Hier überquerten wir den ¾quator. Und natürlich gab es für alle, die das zum ersten Mal machten, die ¾quatortaufe. — 92 —


Ein großes Spektakel, die jungen Matrosen wurden hart rangenommen. Eine der Mutproben: durch einen halb mit Wasser gefüllten Schlauch von circa sechzig Zentimetern Durchmesser hindurchkriechen, in den auch noch hineingespritzt wurde. Für die Passagiere ging es humaner zu. Aber alle mussten zur Taufe auf einem Bild des Meeresgottes Poseidon niederknien und auf seinen Namen getauft werden, um dann eine Taufurkunde aus der Hand des Kapitäns zu empfangen. Ich schäme mich bis heute, dass wir das mitmachten, um keine Spielverderber zu sein – im Grunde eine unverzeihliche Feigheit. Wir sind sehr dankbar, dass Gott es während der Erweckung ans Licht brachte, um uns davon zu reinigen und zu lçsen. Doch davon später. Endlich Jakarta, die Hauptstadt unserer neuen Heimat! Eigentlich sollten wir hier das Schiff verlassen und mit dem Flugzeug nach Surabaya fliegen, um die Jahreskonferenz des WEC nicht zu verpassen, auf der wir unsere künftigen Mitarbeiter von den verschiedenen Inseln hätten kennen lernen kçnnen. Aber in Jakarta hçrten wir, dass keine Flugzeuge in Surabaya landen konnten, weil gerade der Vulkan Gunung Agung auf Bali ausgebrochen und die Luft so voller Asche war, dass keine Sicht war. Also blieb uns nur übrig, mit dem Schiff nach Surabaya weiterzufahren. Um die für uns deponierten indonesischen Rupiah für das Flugticket abzuholen, mussten wir ein Taxi in die Stadt nehmen, unsere erste Erfahrung mit der Hilflosigkeit sprachunkundiger Neulinge. Der Taxifahrer kurvte und kurvte herum, bis es Volkhard zu dumm wurde und er an einer Kreuzung aus dem haltenden Wagen sprang. Endlich fand der Fahrer das Ziel – aber die Fahrt kostete uns ein Gutteil des Flugpreises. —

93 —


Die andere Erfahrung war positiver. Wir genossen einige Tage die liebe- und verständnisvolle Gastfreundschaft des Ehepaars Lavalata, während das Schiff die Ladung lçschte und die Reise fortsetzte. Jakarta, feuchtheiß um dreißig Grad. Kaum hatte ich mich ein wenig erfrischt mit der indonesischen Dusche – aus einem gemauerten Becken im Badezimmer, in dem das Wasser aufgefangen wird, solange es läuft, begießt man sich mit einem Schçpfer von oben bis unten –, war ich während des Ankleidens schon wieder schweißnass und hätte am liebsten wieder von vorn begonnen. Ja, das Badezimmer wurde mein Lieblingsort. Endlich ging es weiter. Semarang war der nächste Stopp. Wir verzichteten auf den Landgang und hçrten uns das Schwärmen unserer Mitpassagierin von den smaragdenen Reisfeldern in der Gewissheit an: Hier würden wir ja bleiben. Gewiss konnten wir es später nachholen. Allmählich fieberten wir unserem Ziel entgegen: Surabaya. Wer würde uns abholen? Vom hohen Bug schauten wir auf den Kai hinunter, auf dem sich eine Menschenmenge drängte. Braune Menschen; aber nicht nur ihre Kçrperfarbe erweckte den Eindruck von Dunkelheit, mehr noch der Ausdruck ihrer Gesichter. Und dann plçtzlich sahen wir unsere Abholer, mitten in der dunklen Menge drei Gesichter, die uns strahlend anlächelten und heraufwinkten: Pak Octavianus und Pak Djami2, unsere künftigen indonesischen Mitarbeiter, und unser Bruder und Schwager Detmar. Die beiden Indonesier waren ebenso braun wie die anderen Menschen um sie herum und doch irgendwie hell. Vom ersten Anblick an verbanden uns Vertrauen und Liebe. Es dauerte noch Stunden, bis uns erlaubt wurde auszuschiffen. Unsere Kisten blieben beim Zoll. Und dann sollte es noch Wochen dauern und — 94 —


viele vergebliche Autofahrten zwischen Batu und Surabaya brauchen, bis sie endlich freigegeben wurden. Doch nun fuhren wir mit unseren drei Brüdern die neunzig Kilometer bis Batu durch unser neues Land. Es wurde schnell dunkel, wir befanden uns ja auf dem siebten Breitengrad unter dem ¾quator, wo die Dämmerung nur kurz ist. Wenig Beleuchtung in den Dçrfern, durch die wir fuhren, zumeist nur Öllampen. Auch in den kleineren Städten nur hier und da Öllaternen als Straßenbeleuchtung. Umso heller leuchteten die Sterne. Viel unterhalten konnten wir uns auf der Fahrt nicht. Die paar Brocken Indonesisch, die wir uns während der Schiffsreise angeeignet hatten, reichten nicht weit, und ebenso gering waren die Englischkenntnisse unserer Begleiter. Ein Satz kehrte immer wieder: «Yes, he is a spiritual man», wenn wir auf Freunde zu sprechen kamen. Es gab damals noch keine Indonesischkurse in Deutschland, und Detmar hatte uns geraten, mit dem Erlernen der Sprache erst im Land zu beginnen, um uns nicht falsche Aussprache und Betonung anzugewçhnen. Im Herzen dankten wir laut dem Herrn: am Ziel! In unserem Land und unter unserem Volk! Gisela, unsere Schwägerin, empfing uns auf dem dunklen Schulkomplex und lud uns in ihre Wohnung ein. Die Studenten, die den ganzen Tag bereit gestanden hatten, uns zu empfangen, waren auf ihre Zimmer gegangen. Es war ja ungewiss, wann und ob wir an diesem Tag noch ankommen würden. Es war lange vor der Zeit der Handys, und auch das Telefonieren klappte nur, wenn man Glück hatte und verbunden wurde bzw. die Person am anderen Ende verstehen konnte. Aber da waren wir endlich, alle übermüdet, so dass sie uns nach kurzer Erfrischung auf unser Zimmer brachten: das Gästezimmer der noch nicht lange erweiterten Schule, spärlich mçbliert. Aber für uns waren jetzt nur die Betten wichtig. Sie —

95 —


waren feuchtklamm, wir waren aus der feuchtwarmen Ebene achthundert Meter in die Hçhe gefahren. Das kühlere Klima hatte uns angenehm überrascht. Die Abkühlung in der Nacht lernten wir bald zu schätzen, denn wenn die Sonne aufging, konnte es schnell heiß werden.

28. Erste Eindrücke in Batu Unser erster Morgen in Batu – unvergesslich! Sonnenaufgang hinter dem nahe gelegenen Vulkan Arjuno bei Tretes, ein leuchtendes Morgenrot über frischen, smaragdfarbenen Reisfeldern und einigen hohen Palmen. Bald würde die schnelle Sonne über den Arjuno steigen, immerhin 3360 Meter! Es war gerade sechs Uhr in der Frühe. Von den hçher gelegenen Feldern, auf denen Holländer während der Kolonialzeit europäische Gemüsesorten eingeführt hatten, kamen zierliche, aber zähe Männer in federndem, fast tänzerischem Laufschritt. Auf ihrer Schulter an einer wippenden Bambusstange schwere Kçrbe mit Mçhren und Kohl. Von der anderen Seite aus dem Dorf ein Bauer mit seinen weißen Zebukühen. Sie trugen Glçckchen am Hals, die zu uns heraufklangen. Wir tranken diese ersten Eindrücke mit staunenden Augen, am großen Fenster des Gästezimmers im ersten Stock stehend: diese Farben! Diese Stimmung! Unweit vor und unter uns floss ein Flüsschen, in der Regenzeit später erlebten wir seine tosende Flut, momentan war es nur ein Bach. Der Bauer hielt an und wusch darin seine kostbaren Kühe. Ein wenig später tauchten die Gemüsebauern an derselben Stelle ihre Kçrbe ein und besprengten deren Inhalt, damit die Mçhren und der Kohl leuchtender und frischer auf dem Markt ankamen, der nur noch zwei — 96 —


Kilometer entfernt war. Bis zu zwçlf Kilometer hatten die Träger mit ihren schweren Lasten schon hinter sich. Und dann wurde derselbe Platz zum Zähneputzen und zum Erledigen notwendiger menschlicher Geschäfte benutzt! – Ich muss gestehen, dass ich in den nächsten Tagen ein wenig Mühe hatte, das Gemüse zu essen, aber durchaus keine Mühe zu verstehen, dass Salate zuerst in einer Lçsung aus Kaliumpermanganat gebadet werden mussten. Detmar holte uns ab zum Frühstück. Sie wohnten – er war ja inzwischen Rektor des Instituts – in einem Haus hinter der Kirche, vor Jahren einmal Kirche der Holländer, die in Batu ihre Ferien verbrachten. Im Unabhängigkeitskrieg war sie zum Teil zerstçrt und zu einer Lagerhalle für Holzkohle geworden, und sogar Ziegenstall. Bis Heinrich (Heini) German-Edey, Schweizer WEC-Missionar, sie dann auf der Suche nach einem hçher gelegenen Standort für seine in der staubigen Kediri-Ebene von Asthma geplagte Frau gefunden hatte. Sie waren dann zunächst in ein Haus in der Nähe gezogen, von wo aus Heinrich vor allem Literaturarbeit betrieb. Indonesien lernte soeben lesen. Die Holländer hatten nur eine kleine Bevçlkerungsschicht geschult, gerade so viel, wie sie für ihre Regierungsbeamten bençtigten. Die breite Masse waren Analphabeten geblieben, dazu in viele Regionalsprachen zersplittert. Doch seit der Unabhängigkeit 1945 hatte Indonesien zwei große Errungenschaften ausgebaut: eine gemeinsame Sprache für alle und Schulen in jedem Dorf. Ein Riesenprojekt, mit enormer Opferbereitschaft und Patriotismus betrieben! Natürlich kam man mit der Lehrerausbildung kaum nach, und Lesematerial für so viele Wissbegierige gab es kaum. Das war die große Zeit der Literaturmission, die immer stärker die davor betriebene Schallplattenmission ablçste. In —

97 —


einem Schuppen lagerten noch Hunderte von Platten in verschiedenen indonesischen Sprachen, hergestellt von Gospel Recordings, einer bewundernswerten amerikanischen Mission. Sie wurden auch noch mit einfachsten Plattenspielern, von Hand betrieben, von den Bibelschülern bei ihren Einsätzen gebraucht. Aber jetzt begann die Zeit der neuen Leser. Heini German war ein Visionär, immer am Ball, und einer, der in großem Maßstab arbeitete. Traktate wurden tonnenweise eingeführt und nicht nur einzeln verteilt, sondern auf Fahrten durch das Gebirge oder in anderen Ortschaften bündelweise abgeworfen. Jung und Alt stürzte sich auf das Lesematerial. Da diese Aussaat mit viel Gebet begleitet wurde, brachte sie in den Jahren darauf Frucht: erste Gläubige, bald Gemeinden und Kirchen an den viel befahrenen Straßen entlang. Die Bibelschüler konnten bei ihren Wochenendeinsätzen und Praktika die junge Saat pflegen und begießen und nach wenigen Jahren, als Gott Erweckung schenkte, schon eine große Ernte einbringen. Inzwischen sah Heinrich German eine neue Aufgabe. An seinem Familientisch hatte er ein paar Studenten, die in Malang zu einem lebendigen Glauben an Jesus gekommen waren. Nun halfen sie ihm bei der Literaturarbeit, und er unterwies sie auf ihr Drängen hin jeden Morgen in der Bibel. Es wurden mehr, die sich Gott zur Verfügung stellten und eine Ausbildung brauchten. So hatte Heini German sich schließlich um die Kirchenruine bemüht und sie mit einem Stück Land pachten kçnnen. Auf dem Grundstück hinter der Kirche baute er ein einfaches Langhaus, halbhoch mit selbst gebrannten Backsteinen, darüber aus gespaltetem Bambus geflochtene Mattenwände, deren Ritzen mit Kalkweißung verschmiert waren. Ein Wohnraum, eine Handvoll Schlafzimmer, dahinter eine Küche. — 98 —


Die Kirche wurde wiederhergestellt als Klassen- und Andachtsraum und Schwager Detmar, der als Bibellehrer in Mitteljava an die Neukirchner Mission ausgeliehen war, zur Mithilfe herbeigerufen. Im Jahr vor unserer Ankunft hatte sich die Zahl der Studierenden auf 65 verdoppelt. Mehr Wohnraum und grçßere Klassenzimmer waren nçtig geworden. Hinter der Kirche waren sie mit Unterstützung von «World Vision» gebaut worden. Dazu Lagerräume für Literatur und Kassetten und das Lehrerhaus, in dem wir nun mit Detmar und Gisela frühstückten. Heini German hatte die Leitung der Schule Detmar übergeben und sich mit seiner Organisationsgabe World Vision zur Verfügung gestellt, das gerade anfing, sein großes Hilfsprojekt für die Opfer des Vulkanausbruchs auf Bali zu entwickeln. Die Mahlzeiten bei Detmar und Gisela wurden unsere inoffizielle Einführungszeit in Land und Leute und in unsere Aufgaben. Wir hatten sie bitter nçtig, denn zu Hause gab es noch keine Einführung in «Crosscultural Communication». Den ersten Schock mit seinen neuen, unerfahrenen Mitarbeitern erlebte Detmar nach der ersten Mahlzeit. Die Studenten wollten uns begrüßen und empfingen uns in der Kirche mit einem Lied, das sie in deutscher Sprache einstudiert hatten. Wir waren zu Tränen gerührt. Welche Liebesmüh stand dahinter! Pak Oktav sprach wegweisend zu uns über die Grundlage unseres Arbeitens: «Jesus Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit!» (Kolosser 1,21). Danach das obligatorische Gruppenfoto vor der Kirche. Volkhard legte seinen Arm um meine Schultern. Detmar bekam fast einen Schlag. Da kamen die neuen Lehrer und führten sich bei ihren zukünftigen Schülern mit etwas kulturell Unmçglichem ein! Nicht einmal Händchenhalten war zu jener Zeit in der Öffentlichkeit üblich. Ehepaare auf den Dçrfern gingen nicht ne—

99 —


beneinander, sondern die Frau immer einen Schritt oder mehr hinter ihrem Mann. Vierzehn Tage lang wohnten wir im Gästehaus und aßen bei Detmar und Gisela, lernten von ihnen, was nçtig war, um selbständig weiterzukommen. Dann konnten wir in ein Mitarbeiterhaus ziehen, das gerade frei geworden war, weil das kanadische WEC-Ehepaar sich einer Arbeit in Mitteljava anschließen wollte. Einen Teil ihrer Mçbel hatten sie noch nicht mitnehmen kçnnen – eine große Starthilfe für uns. Ein eigenes Bett, das Detmar und Gisela uns als ihr Hochzeitsgeschenk hatten bauen lassen, stand schon im Schlafzimmer. Als endlich unsere Kisten angekommen waren, konnten wir aus dem mitgebrachten Matratzenstoff eigene Matratzen anfertigen lassen. Da wir den uns gegebenen Rat: «Lasst sie gut mit Kapok füllen!», an den Hersteller weitergegeben hatten, presste er so viel Kapok hinein, wie der Stoff halten wollte. Wir erhielten eine derart schwere Doppelmatratze, dass wir sie nur mit Mühe anheben konnten. Die harten Hügel, die sich zwischen den Knçpfen erhoben, machten mir in den letzten Wochen der Schwangerschaft doch sehr zu schaffen. Aber erst nach Monaten sahen wir ein, dass unsere Erwartungen, die Hügel allmählich weichliegen und einebnen zu kçnnen, vergeblich waren. So brachten wir die Matratze zum Hersteller zurück und baten ihn, wieder etwas Kapok herauszunehmen. Das überschüssige Material war genug für eine zwei mal einen Meter große Matratze, die auch noch reichlich gefüllt war!

— 100 —


29. Wieder lernen Wir waren Lernende in jeder Beziehung! Ein Handwerker in Deutschland hätte uns bei einem Auftrag einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Hier tat man, was der weiße Herr, die weiße Frau wollte. Sie «wussten ja ohnehin alles besser» – oder meinten es jedenfalls. Es war noch die Zeit, in der man zu den Europäern aufsah, wenn auch zuweilen in einer Art Hassliebe. Die älteren Menschen schienen noch durchaus positiv auf die Zeit der holländischen Kolonialherrschaft zurückzublicken. Manch einer hatte als Gärtner oder als Kçchin oder in anderen Diensten eine sichere Einnahmequelle gehabt und war danach in Armut gesunken. Von ihrer Seite trafen uns freundliche, ja manchmal ehrerbietige Blicke. Anders die Kinder! In den Schulen wurde die Kolonialzeit, die durch die Revolution beendet wurde, negativ dargestellt. Da rief schon einmal ein Kind oder Jugendlicher: «Londo, Londo!», hinter uns her, wie Holländer im Slang genannt wurden. Aber wirkliche Ablehnung oder gar Feindschaft begegnete uns kaum. An der Bibelschule wurden wir von den indonesischen Lehrerkollegen und Studenten überaus freundlich, ja mit Liebe und einem großen Vertrauensvorschuss angenommen. Zunächst war das Sprachstudium unsere Hauptaufgabe. Für die noch junge indonesische Sprache gab es keine Lehrbücher für Ausländer, sie war ja noch in der Entwicklung begriffen. Auf dem Handels-Malayischen, das an den Küsten der Inseln gesprochen wurde, aufbauend, entstand durch Anreicherung aus dem Javanischen und Sanskrit ein neues handliches Idiom, das es uns Deutschen sehr leicht machte: Die Klangfarben der Vokale waren identisch mit denen in unserer Sprache, eine einfache Grammatik mit nur drei Zeiten, lateinische Schrift. — 101 —


Dazu «erbten» wir eine fähige Lehrerin, Ibu Soeti Rahayu3, die schon vor uns Missionaren Sprachunterricht gegeben hatte und nach uns allen Neuen half. Eine gebildete, feine Christin, die wir sehr verehrten. Allerdings musste ich nach fünf Unterrichtsstunden aufhçren. Wir mussten zu ihr nach Malang hinunterfahren. Die zwanzig Kilometer waren derart mit tiefen Schlaglçchern gespickt, dass wir um unser Baby fürchten mussten. Ich war inzwischen im siebten Monat meiner Schwangerschaft. So fuhr Volkhard allein mit dem Unterricht fort. Ich versuchte zu Hause aus seinen Mitschriften klug zu werden und dachte mir eine mir passende Methode aus, die Sprache zu erlernen. Zunächst legte ich meine deutsche Bibel fort und machte meine Stille Zeit mit der indonesischen. Bekannte Texte erleichterten das Verstehen. Darüber hinaus nahm ich mir vor, jeden Tag drei Lieder aus dem kleinen indonesischen Gesangheft zu übersetzen, das an der Schule in Gebrauch war. Eine brauchbare Methode, um die geistliche Sprache zu erlernen! Und drittens ging ich jeden Morgen zur Andacht der Studenten und hçrte mich ein in den Klang und die Sprachmelodie. Wçrter, die ich identifizieren konnte, wurden notiert und zu Hause nachgeschlagen, und jeden Morgen wuchs die Freude über schon bekannte Vokabeln. Volkhard war neben dem Sprachelernen vielgefragter Chauffeur der Schule, auch an Wochenenden unterwegs zu Einsätzen der Bibelschüler und in der Woche zu notwendigen Besorgungen. In der ersten Zeit fuhr er auch immer wieder nach Surabaya, um unser Gepäck aus dem Hafen zu bekommen. Es war ein mühsames Geschäft, denn wir waren nicht bereit, Korruption zu unterstützen und Schmiergelder zu zahlen. Das hatte viele vergebliche Fahrten zur Folge, ehe es endlich gelang. — 102 —


Eine andere Schikane erlebten wir bei dem Vertreter des Religionsministeriums, bei dem wir uns bald vorstellen mussten. Pak Rasyid war zwar selbst Christ, aber das hinderte ihn nicht, uns dreimal von Batu nach Surabaya zu zitieren und zweimal stundenlang in seinem Büro warten zu lassen, um uns dann doch unverrichteter Dinge wieder heimzuschicken. Es waren jeweils zwei Stunden Fahrt für die neunzig Kilometer, morgens noch in erträglicher Hitze, dann nach Stunden des Wartens im Stehen oder auf einem unbequemen Stuhl im vollen Büro, wo die Schreibtische der Religionsbeamten der verschiedenen Religionen nebeneinanderstanden, bei gegen Mittag zunehmend schwül-heißer, stickiger Luft. Und ich war mit Gunnar im siebten Monat. Schließlich wurde uns geraten, so früh loszufahren, dass wir Pak Rasyid vor den Bürostunden in seinem Zuhause anträfen. Er çffnete uns im Schlafanzug, ließ uns warten, frühstückte im Nebenraum ausgiebig und hatte dann endlich Zeit für uns. Jetzt erklärte er uns auch seine Handlungsweise. Erstens wäre das die Methode der Holländer gewesen, Antragsteller warten zu lassen und zu schikanieren, und zweitens wolle er neue Missionare prüfen, ob sie demütig seien. Wer eine solche Behandlung nicht ertrage, der kçnne ebenso gut wieder nach Hause fahren, der tauge nicht zu einem Dienst in Indonesien. Wir lernten, das zu akzeptieren, und beschlossen bei uns, den Demutsweg Jesu nachzugehen, bereit zum stellvertretenden Leiden, wo andere Weiße früher Wunden geschlagen hatten. Diese Haltung hat uns manches Herz geçffnet und Vertrauen gewinnen lassen.

— 103 —


30. Gunnars Geburt Drei Monate nach unserer Ankunft in Indonesien nahte die Zeit meiner Niederkunft. Das Missionskrankenhaus der amerikanischen Southern Baptists wurde uns empfohlen, und das bedeutete fast drei Stunden Fahrt über Gebirge und kaputte Straßen, so dass wir uns «unnçtige Wege» zu einer Voruntersuchung natürlich gespart hatten. Im letzten Augenblick war diese Reise aber auch nicht zu schaffen. So waren wir dankbar, dass australische WEC-Kollegen uns einluden, ein paar Tage Wartezeit bei ihnen in Kediri zu verbringen. Sie bewohnten eine alte, geräumige Villa neben einem islamischen Friedhof – kein anziehender Ort für Indonesier. Solche Häuser konnte man sehr preiswert mieten. Und WEC-Missionare schwammen ja durchaus nicht im Geld. Auch wir hatten acht Tage vor der Geburt noch nichts für den Krankenhausaufenthalt zurücklegen kçnnen. Aber dann drückte mir ein WEC-Kollege 8000 Rupiah in die Hand. Das reichte für den Aufenthalt im Krankenhaus. Der Missionsarzt selbst nahm von Missionaren kein Geld für seine Arbeit. Nur drei Tage mussten wir in Kediri warten. Gunnar kam pünktlich. Die Geburt jedoch war nicht leicht. Neunzehn Stunden intensivste Wehen, und es ging nicht voran. Volkhard harrte treu neben mir aus und litt mit mir. Unter den Schmerzen zeigte der Heilige Geist mir Sünde. In meinem Herzen war ich stolz geworden, weil ich die ganze Schwangerschaft so problemlos gemeistert hatte, einschließlich Reisedienst noch in Deutschland, Schiffsreise um die Welt und der Umstellung auf unser neues Leben mit seinen Härten. War es nicht alles Gnade und Gottes unverdiente Güte gewesen? Worauf sollte ich da stolz sein, ja mich über andere erheben, die es schwerer gehabt hatten? Ich — 104 —


musste es bekennen, und wir nahmen zusammen Gottes Vergebung in Anspruch. Nun wurde auch kein Kaiserschnitt nçtig. Die Anästhesistin Dr. Kathleen Jones schlug eine Rçntgenaufnahme vor, die das Hindernis zeigte: Unser Sohn saß in mir fest, das weiche Hinterteil statt des Kçpfchens hatte die Öffnung des Geburtsweges nicht geschafft. Aber plçtzlich kam doch Bewegung in die Sache. Schnell in den Kreißsaal! Man gab mir Lachgas zur Betäubung, und ich muss laut gejubelt haben. Für Volkhard war das zu viel. Er hatte ja auch die vielen Stunden kaum gegessen und getrunken. Als er zu schwanken begann, befahl die resolute Anästhesistin: «Auf den Boden setzen, den Kopf zwischen die Knie!» Dann wurde unter den kundigen Händen des Missionsarztes unser erstes Kind geboren, ein Sohn, Gunnar Nugroho, «Gnadengabe». Als wir nach einer Woche mit ihm über das Gebirge heimfuhren, überwältigte uns tiefes Glück. Wir weinten beide Freudentränen.

31. Einüben in neue Verhältnisse Große Überraschung beim Heimkommen! Inzwischen hatten unsere Vorgänger, deren Mçbel wir gebrauchen durften, diese abgeholt. Unsere Teller, Tassen und Tçpfe standen auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Tischchen, Korbsessel und ein paar Stühle hatten unsere Mitarbeiter zusammengetragen, um unseren Schock zu mildern. Zum Glück waren endlich unsere Kisten aus dem Hafen angelangt. Vier der grçßeren Kisten waren so gebaut, dass wir sie als Schränke verwenden konnten. Ein lieber ehemaliger Mitstudent in Tübingen hatte sie in der Schreinerwerkstatt seines Va— 105 —


ters mit aufklappbaren Türen und widerstandsfähiger Eisenumrahmung gebaut. Einfachere Kisten stellte Volkhard hochkant auf und baute die Deckel als Zwischenbçden ein. Bunte Vorhänge waren schnell genäht und auf Draht gespannt und dienten als Sichtschutz für den Inhalt. So bekam ich Küchenmçbel. Sie passten sehr gut zum rauen Betonfußboden. Auf einer anderen Kiste stand unser Herd: ein mit Kerosin gespeister Blechkocher, er hatte zwei Kochstellen mit je circa sechzehn Dochten. Diese zu pflegen war eine aufwendige Routine. Dazu hatten wir meist nächtliche Gäste: Wenn ich morgens die Küchentür çffnete, sprintete eine Schar Ratten an der Holzwand empor und durch das breite Fenster, das nur mit weitmaschigem Zaundraht verschlossen war, ins Freie. Ich war dankbar für mein von den Großeltern geerbtes bäuerliches Blut, das mir half, mit solchen Haustieren ohne große Abscheu zusammenzuleben – und für Gottes wunderbaren Schutz, dass wir uns keine Krankheiten einfingen. Wir hatten ja auch noch eine Reihe anderer nicht besonders hygienischer Mitbewohner, wie Kakerlaken und tjetjaks, eine Art Eidechsen, die mit ihren Haftfüßen an Wänden und Decken herumkrochen und sich nützlich machten, indem sie die Moskitos dezimierten. Dazu Ameisen, ganz kleine, die man praktischerweise übersehen konnte, und große, wie unsere roten Waldameisen. Die Füße des Schranks, in dem Zucker und Marmelade aufbewahrt wurden, standen deshalb in mit Kerosin gefüllten Schälchen. Aber wehe, wenn man Süßes oder andere Lebensmittel auf dem Tisch stehen ließ! Und dann gab es noch Termiten, die in Massen im Boden unter unserem Haus lebten. Von dort aus bemühten sie sich, uns zu besuchen. Nachts bauten sie durch Ritzen im Zementfußboden des Flurs fingergroße Türmchen, die wir nicht übersehen und leicht zerstçren konnten. Hinterlistiger waren ihre Anstren— 106 —


gungen, unsere Fensterrahmen zu verzehren. Dabei ließen sie die grüne Ölfarbe unbeschädigt, so dass man von ihnen nichts merkte, zumal sie nachts arbeiteten. Erst wenn sie schon grçßere Lçcher gefressen hatten, brach die Ölfarbe ein und wir sahen die Bescherung. Den grçßten Schreck jagte uns eine fast handtellergroße Spinne ein, die sich ganz zu Anfang im Moskitonetz über unseren Betten eingerichtet hatte. Was tun? Sie konnte ja giftig sein. So kochten wir Wasser, gossen es in einen Eimer, den Volkhard vorsichtig unter sie hielt, und ich schlug von oben auf das Netz – da fiel sie ins heiße Wasser und gab ihren Geist auf. Unsere Wasserleitung war sehr unzuverlässig. Oft fiel sie ganz aus, dann mussten wir uns Wasser ins Haus tragen lassen. Ein großes gemauertes Becken im Badezimmer wurde dann gefüllt und ein kleineres in der Küche. Der grçbere Schmutz setzte sich am Boden des Beckens ab. Das Trinkwasser musste abgekocht werden. Für das tägliche Bad unseres Sçhnchens war das zu teuer und aufwendig. Mir blieb, da in der Regenzeit auch noch das Wasser aus dem Wasserhahn braun wurde, nichts anderes übrig, als ihn in kaffeebraunem Wasser zu baden. Dass es ihm nicht geschadet hat, erstaunt mich heute noch. – «Die Hand unseres Gottes lag auf uns und beschützte uns.» Seit wir nach den ersten vierzehn Tagen in unser eigenes Heim gezogen waren, hatten wir eine Haushilfe. Viel lieber hätte ich ja meinen kleinen Haushalt selbst besorgt, beugte mich aber dem Rat der erfahrenen Missionarsfrauen, dass es ohne sie nicht ginge. Allein das tägliche Einkaufen auf dem Markt erforderte mit dem langen Weg und dem notwendigen Feilschen mindestens zwei Stunden. Gemüse, Fisch und Fleisch mussten ja täglich frisch besorgt werden. Auch das Kochen ohne Konserven und Fertiggewürze war — 107 —


eine Zeit raubende Angelegenheit. Ich staunte über die bis zu zwçlf Gewürze, die zu javanischen Gerichten bençtigt wurden und täglich frisch auf einer Handreibe aus porçsem Vulkangestein mit viel Geduld fein gerieben wurden. Auch die täglich notwendige Wäsche ohne Waschmaschine und Waschmittel außer Kernseife sowie das Bügeln ohne Strom mit Holzkohle-Bügeleisen kosteten Stunden. In die Wohnung blies täglich Staub hinein, weil der Hitze wegen Fenster und Türen meist offen standen. Alles brauchte seine Zeit, denn: Javaner «rennen» nicht. Erst als ich Jahre später, nach einem überstandenen Herzinfarkt, langsamer gehen musste, hçrte ich lobende Zustimmung aus dem Mund meiner älteren Haushilfe: «Jetzt gehst du so, wie es uns gefällt.» Nicht leicht zu begreifen und zu akzeptieren war auch das Standessystem, in das wir hineinkamen. Als ich gleich bei ihrem Arbeitsbeginn eine freundliche Beziehung zu Mbok Sadi, meiner ältesten Hilfe, schaffen wollte und sie zu mir winkte, um ihr die Fotos meiner Familie zu zeigen, kniete sie neben mir nieder und war nicht zu bewegen, auf einem Stuhl neben mir zu sitzen. Es fiel mir sehr schwer, mit diesem Konzept der Unterwürfigkeit umzugehen. Es war auch unmçglich, sie an unseren Familientisch einzuladen. Nein, dann schmecke es ihnen nicht! Sie seien es gewohnt, mit den Fingern zu essen, allein für sich, dann fühlten sie sich frei. So richteten wir in jedem der Häuser, die wir nacheinander bewohnten, immer ein Zimmerchen neben der Küche ein, in dem unsere Hilfen ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Auch eine Liege stand darin, auf die sie sich in ihrer Pause legen konnten. Von Anfang an legten wir Wert darauf, indonesisch zu essen. Deshalb brachte ich meinen Haushilfen keine deutschen Ge— 108 —


richte bei. Während Mbok Sadi wusch und das Haus putzte, schickte ich Supiah, unsere geschickte junge Kçchin, auf den Markt und sagte ihr: «Koch, was ihr gewçhnlich esst, und kauf dafür ein.» Wenn wir mittags die Deckel von den Schüsseln nahmen, hatte ich oft das Verlangen, ein zweites Dankgebet zu sprechen, so einladend und raffiniert sahen die unbekannten Gerichte aus! Erst Jahre später wurden wir über unseren Irrtum aufgeklärt: Eine indonesische Mitarbeiterin, die als Direktorin einer Oberschule schon in Europa gewesen war, hatte die tief sitzende Hemmung, Weiße zu korrigieren, überwunden. Durch sie erfuhren wir, dass unsere Mahlzeiten gar nicht so indonesisch waren, wie wir dachten. Supiah hatte sich bei Kçchinnen früherer holländischer Kolonialherren erkundigt, was den Weißen denn schmeckt, und hatte ihren eigenen Mix kreiert. Jedenfalls waren die Ergebnisse lecker. Wir hatten ja auch das Vorrecht, neben dem vielfältigen Angebot indonesischer Gemüsesorten auf dem Markt Kohl, Bohnen, Erbsen und Mçhren kaufen zu kçnnen, die von den Holländern eingeführt worden waren und auf den fruchtbaren vulkanischen Hängen über uns wuchsen. Tahu und Tempe (Soja-Produkte), getrockneter, sehr salziger Fisch, manchmal auch Fleisch und Eier waren die Proteinquellen. Reis wurde zur Grundnahrung. Dieser musste täglich sorgfältig verlesen und gereinigt werden, sonst konnte man leicht auf Steinchen beißen. Dazu wurde er hart gekocht, um länger im Magen vorzuhalten. Volkhards Magen rebellierte anfänglich. Aber er war fest entschlossen, diesen Reis essen zu lernen. Wie sollten wir sonst unserem Volk nahekommen, wenn wir ihre Hauptnahrung ablehnten? So nahm er monatelang Schmerzen in Kauf, bis sein Magen sich an die neue Kost gewçhnt hatte. — 109 —


Reis am Morgen war uns dann aber doch zu viel. Man konnte weiches Weizenbrot kaufen, das aber keinen Nährwert hatte. So begann ich schon recht früh, unser eigenes Brot zu backen, was ich bis heute gerne tue. In den Dorfhütten rundherum erklang zu jener Zeit schon um 4.30 Uhr das Stampfen der schweren Holzstangen, mit denen die indonesischen Hausfrauen den Reis für die erste Mahlzeit von seinen Spelzen befreiten. Viele Bauern nahmen allerdings morgens nur ein Glas Kaffee mit viel Zucker zu sich oder kauften am Wegrand Tape, gegorene Süßkartoffel. Lecker!

32. Erste Schritte in Verantwortung Der Mangel an Mitarbeitern in der schnell wachsenden Schule zog uns Neulinge schon bald in die Arbeit. Schon vor der Geburt von Gunnar hatte meine Schwägerin Gisela mich gebeten, ihr die Buchführung für die Finanzen der Missionare abzunehmen. Hatte ich mir nicht die erste Englandreise, auf der ich zum Glauben fand, mit der Buchführung für unser Bäckerei- und Kolonialwarengeschäft verdient? So war ich doch nicht ganz unerfahren – dachte ich. Und außerdem wollte ich die Aufgabe aus Dankbarkeit dem Herrn gegenüber gern übernehmen. Doch worauf hatte ich mich da eingelassen! Wir hatten in jener Anfangszeit ausländische Mitarbeiter aus sechs Nationen (später wurden es zwçlf): Neuseeländer, Amerikaner, Kanadier, Engländer, Deutsche und Schweizer. Jede Nation mit ihrer eigenen Währung, die in Rupiah umgerechnet werden musste. Damit nicht genug: Die indonesische Währung befand sich im freien Fall. Die Inflation veränderte die Umtauschrate von Woche zu Woche. Bald fasste kein Portemonnaie mehr die täg— 110 —


lich bençtigte Summe. Wir wurden alle Rupiah-Millionäre! Doch was das für mich in der Buchführung bedeutete, dazu ohne Rechenmaschine, nur mit Papier und Schreibstift ausgestattet! … Ich war wohl noch zu jung für graue Haare, sonst hätte ich bestimmt welche bekommen! Die Sprache lernen, das erste Baby, unerfahren im so andersartigen Haushalt und daneben diese unendlichen Spalten von Zahlen – ich muss gestehen, der Monatsabschluss war mir immer ein Graus. Nicht selten stimmte die Bilanz nicht. Aus Mangel an Zeit und Kräften habe ich oft aus der eigenen Tasche draufgelegt und ausgeglichen, jedoch nie genommen, wenn ich zu viel in der Kasse hatte. Und dann kam der Hammer: Unser neuseeländisches Ehepaar, das die Verantwortung als Hauseltern für das Studentinnenwohnheim trug, musste aus Krankheitsgründen in die Heimat zurück. Nur wir konnten und mussten folglich einspringen, sechs Monate nach unserer Ankunft in Indonesien. Zugleich musste Volkhard anfangen zu unterrichten. Er übernahm den letzten Teil der Heilsgeschichte (Eschatologie) und den ersten Teil der Dogmatik, dazu den Studentenchor. Seine Unterrichtsstunden bereitete er mit seiner Sprachlehrerin Ibu Soeti vor, die ihrerseits davon profitierte. Ich hatte die Studentinnen im Asrama, dem Wohnheim, zu betreuen. Es waren etwa dreißig junge Frauen, die älteste sogar ein wenig älter als ich. Sie kamen von Java, Mittel- und Nordsulawesi, Südsumatra, von Ambon, Alor, Timor und Sumbawa, dazu eine Reihe Chinesinnen aus der großen chinesischen Bevçlkerung Indonesiens, die weithin den Handel dominierte. Wie wir es im WEC-College erlebt hatten, wo die Nationalitäten in den Schlafräumen zwecks Charakterformung bewusst gemischt wurden und wo gegen alle Klüngelei die jeweiligen Nationalsprachen verboten waren, so handhabten wir es auch hier. — 111 —


Doch die kulturellen Spannungen zwischen den Volksstämmen der verschiedenen Inseln waren noch viel gravierender, vor allem zwischen Indonesiern und Chinesen. Timoresinnen (so nannten wir sie) waren gewohnt, dass alles im Haus allen Hausbewohnern zur Verfügung stand, wie Eimer, Pantoffeln, Schuhe oder Seife. Chinesen dagegen waren sehr eigentumsbewusst, Konflikte somit vorprogrammiert. Eine ältere Chinesin mit reichen Eltern hatte Mühe damit, ihre Hausaufgaben zu erfüllen. Das hatten bei ihr daheim ja nur indonesische Angestellte getan, auf die man herabsah. Da half nur, neben ihr das Klo zu putzen oder zusammen von unserem Hofhund Laddy die Läuse abzulesen: Wenn die weiße Missionarin das tat, konnte man sich leichter zu solchen «niedrigen Arbeiten» bequemen. Jene verwçhnte Tochter aus reichem chinesischen Hause wurde später eine treue Mitarbeiterin. Es ging uns ja um Charakterformung, nicht nur um theoretische Wissensvermittlung wie an den Universitäten. Wie dankbar wurde ich, dass ich die fünf Monate am Missionary Training College (MTC) in Glasgow erlebt hatte! In die seelsorgerlichen Gespräche ging ich wegen meiner noch mangelhaften Sprachkenntnisse nur mit Zittern und Zagen. Verstand ich das Anliegen überhaupt? Und konnte ich mich ausreichend verständlich machen?

33. Erste Konfrontation mit okkulten Mächten Total überfordert fühlten wir uns, als kurz nach der Übernahme des Mädchen-Asramas eine Krise entstand. Gegen die Prinzipien der Schule hatten wir einige ungläubige Mädchen auf— 112 —


genommen. World Vision wollte ein Waisenheim auf der Insel Sumba erçffnen, hatte aber vor Ort keine passenden Kräfte gefunden und die Schule gebeten, einige junge Frauen von dort auszubilden. Die wurden merkwürdigerweise nachts gestçrt, hçrten Schritte, oder es wurde an ihrer Bettdecke gezogen. «Ach, Mitstudentinnen spielen euch einen Streich!», versuchte ich zu beruhigen. «Nein, nein! Das sind bçse Geister, die uns belästigen – bitte, bitte nicht das Licht ausmachen!» Schulregel war, das Licht um 22.00 Uhr zu lçschen, da der Tag um 4.45 Uhr morgens begann. «Bçse Geister! Ihr habt daheim zu viele Gruselgeschichten gehçrt!» Mein aufgeklärtes Denken wollte diese Wirklichkeit noch nicht wahrhaben. Plçtzlich fiel eines der Mädchen im Badezimmer in Trance, wiegte sich dann ohne Wachbewusstsein auf ihrem Bett sitzend hin und her. Endlich fingen Volkhard und ich an, um Klarheit zu beten. Da erçffnete uns unser Nachbar: O ja, das Wohnheim der Studentinnen sei zuvor das Haus des Dorfoberhauptes gewesen. Der habe zu seinem Schutz dort einen Geist «angepflanzt», in der Nähe des Badezimmers. Als das Haus leer stand, habe er selbst dort gebadet, und der Geist habe seiner Hand die Schçpfkelle entwunden. Sogar den Namen des Geistes gab er uns weiter: Pagar (Zaun). Indonesier kçnnten in dem Gebäude nicht wohnen, sie würden krank oder erlebten Bçses. Nun verstanden wir auch den günstigen Kaufpreis dieses Hauses! Wie gut, dass wir schon in Deutschland von dämonischen Mächten gehçrt hatten. Nein, nicht in der theologischen Vorlesung, da wurde ja die Bibel durch das Sieb des Rationalismus von Wundern und anderem Übernatürlichen «gereinigt». Aber ein alter Evangelist hatte in Schwiegervaters Lübecker Gemeinde den in Norddeutschland und unter vielen Flüchtlingen — 113 —


praktizierten Okkultismus angesprochen, und viele Menschen waren in seiner Seelsorge von dem Anspruch der finsteren Mächte befreit worden. So riefen wir Detmar zur Hilfe, und zusammen mit Pak Octavianus und anderen indonesischen Mitarbeitern beteten wir in der weiträumigen Küche des Asramas nahe den Badezimmern um Befreiung von diesem Geist, dessen Namen wir erfahren hatten. Als Detmar im Namen Jesu dem Geist gebot, das Haus zu verlassen, wurde er am Hals gewürgt, und als Petrus Octavianus danach zu seiner nahen Wohnung ging, spürte er eine unangenehme Präsenz, die ihm in sein Haus folgen wollte. Er wehrte sich mit dem Namen Jesu. Aber danach war – Gott sei’s gedankt! – Ruhe im Hause. In manchem konnte ich von den Studenten lernen, etwa wenn Rukmiati vor dem Besuchsdienst im Dorf im Gebet versunken dastand und sich ihrem Herrn anbefahl. Oder von Dora, einer sehr begabten Chinesin, die zur Weihnachtszeit ein fesselndes Schauspiel in fünf Akten schrieb. Sie war zum Beispiel auch bereit, während einer Praktikumszeit, in der alle anderen ihre Einsätze in Gemeinden auf Java und anderen Inseln leisteten, allein zurückzubleiben und Tag für Tag hinter den Handwerkern herzuputzen, die gerade das Mädel-Asrama unter Volkhards Regie umbauten. Dora, die am Anfang zu scheu war, mir in die Augen zu schauen, weil eines ihrer Augen von Geburt an entstellt war, wuchs mir besonders ans Herz. Sie entschloss sich nach dem Studium, einen begabten Klassenkameraden, einen Batak, zu heiraten, dem wir gern später die Leitung des Bibelinstituts übergeben hätten. Mit großem finanziellen Einsatz sandten wir ihn deshalb zur Fortbildung nach Manila auf die Philippinen. Aber nur kurz konnte er der Schule hinterher dienen. Ein unheilbares — 114 —


Nierenleiden raffte ihn früh dahin und ließ Dora mit zwei Sçhnen zurück. Welche Zeiten und Jahre des gemeinsamen Hoffens und Bangens, Betens und Ringens! Die von seiner Schwester, einer Mutter von neun Kindern, gespendete Niere wurde abgestoßen. Ein so großes Opfer – vergeblich. «O Herr, warum?» Ebenso schmerzlich war der plçtzliche Tod zweier unserer begabtesten und hingebungsvollsten Studenten, auf die wir große Hoffnungen setzten: Deak Sigalingging und Petrus Aryoso, die beide ihre junge Frau und je zwei kleine Kinder hinterließen. «Nur Du, Herr, hast die Antwort auf unsere Fragen.» – Doch die Erinnerung ist mir wieder vorausgeeilt …

34. Besuch aus Ostafrika Im täglichen Miteinander blieben Spannungen im Wohnheim der Studentinnen nicht aus. Zu verschieden waren die Kulturen auf den einzelnen Inseln. Es gab viel Gelegenheit, Liebe einzuüben und Respekt vor dem Besitz und der Art des anderen zu entwickeln. Die dünnhäutigen, hochkultivierten Javanerinnen hatten Mühe mit der derberen Ausdrucksweise der Bataks. Die Lebensweise und Gewohnheiten von Großstadtmädchen waren vçllig anders als die von solchen, die auf dem Lande aufgewachsen waren. Und doch wollten wir lernen, als Glaubensgeschwister zusammenzuleben. Die indonesische Staatsphilosophie war eine erste Hilfe: «Bhineka tunggal ika» – «Einheit in Verschiedenheit». Aber im täglichen Leben gehçrt viel Vergebungsbereitschaft dazu, und der offene Umgang miteinander, den die Bibel «Wandel im Licht» nennt (vgl. 1. Johannes 1,5–9), ist enorm wichtig. — 115 —


Schon im ersten Jahr unseres Dienstes half uns Gott durch den Besuch eines Teams aus der ostafrikanischen Erweckungsbewegung, diese geistliche Lebensregel besser zu verstehen. Aus Ruanda kamen unser geliebter schwarzer Bruder William Nagenda und Roy Hession, der englische Erweckungsprediger, nach Indonesien und brachten den Funken. Oder besser gesagt: Durch ihre Lehre vom Wandel im Licht initiierten sie eines der Hauptthemen der späteren indonesischen Erweckung. Auf Java und Bali hielten sie Konferenzen für Pastoren, als Übersetzer diente Pak Lalujan, Studienrat und daneben Lehrer an der Bibelschule. Sie nannten ihn Pak Hallelujah. Er starb wenige Jahre später mitten in seinem Unterricht bei uns und hinterließ drei junge Kinder. Seine Witwe war eine glaubensvolle Beterin. Jeden Morgen, wenn ihre Kinder zur Schule gegangen waren, schloss sie ihre Tür, um mit ihrem Herrn Gemeinschaft zu pflegen und ihm die persçnlichen Nçte anzubefehlen, aber auch den Lauf des Evangeliums in ihrer Umgebung und im Land. William Nagenda und Roy Hession kamen nach Batu zu einer Freizeit für unsere Bibelschüler und Studenten der nahen Universitätsstadt auf dem Gelände der Schule. Unvergesslich ist mir ihr Dienst am Morgen des dritten oder vierten Tages. Roy Hession sollte sprechen. Aber er zçgerte. Dann kam ein persçnliches Bekenntnis, das ihn etwas kostete: «Bevor ich das Wort Gottes verkündigen kann, muss ich euch etwas bekennen. Der Heilige Geist hat mich überführt, dass ich gestern neidisch war, als mehr von euch Seelsorge bei meinem afrikanischen Bruder suchten als bei mir. Ich habe den Herrn um Vergebung bitten müssen und will es auch euch wissen lassen. Dem Herrn sei Dank, dass sein Blut mich rein wäscht!» Dann folgte eine Predigt in Klarheit und Vollmacht. — 116 —


Schon bald musste ich vor meinen Mädels praktizieren, was ich gelernt hatte. Das Stillen von Gunnar unterbrach meine Nächte und oft auch die Mittagsruhe. Unser Tag begann früh um 4.45 Uhr. Als der Wecker wieder einmal viel zu früh für mein Schlafbedürfnis klingelte, stand ich nur kurz auf, um Licht zu machen, und legte mich wieder hin. Das Licht sollte signalisieren, dass ich mich an die Schulordnung hielt. Wir wollten Vorbilder sein. Als ich das ein paar Mal praktiziert hatte und am Samstag an der Reihe war, die Frühandacht zu leiten, ließ der Heilige Geist mir keine Ruhe: «Du warst nicht ehrlich. Bekenne dich dazu!» – «Aber Herr, dann ist meine Autorität doch futsch!» – «Meinst du, du hättest auf diese Weise Autorität?» Es musste sein. Stockend erzählte ich den Studentinnen, was ich getan hatte, und bat um Vergebung – und unsere Beziehung vertiefte sich. Ja, es bewegte mich sehr, dass auch Studentinnen, die älter waren als ich, mich voll als Hausmutter akzeptierten. Die praktischen Arbeiten zum Instandhalten des Asramas einzuteilen war eine meiner Aufgaben. Oft legte ich selbst mit Hand an, vor allem, wenn Herkunft und Vorurteile im Wege standen. An meine Grenzen kam ich, wenn meine Mädchen krank wurden. Das Problem: Sie wickelten sich dann in ihre Bettdecken, zogen sie auch über den Kopf und waren weder zu bewegen, mich anzuschauen oder mir zu antworten, noch dazu, aufzustehen und zum Unterricht zu gehen. Mich packte die Panik, und so bat ich Volkhard, den Schulbus zu nehmen, packte die «Kranken» hinein und fuhr zum Missionskrankenhaus nach Turen, jenseits von Malang. Dr. Clark, ein alter englischer Missionsarzt, der zusammen mit seiner Frau eine circa vierzig Kilometer entfernte Klinik betrieb, war zwar Spezialist für Kropfoperationen, wozu Kranke aus weitem Umkreis ihn aufsuchten, aber auch Allrounder. — 117 —


Er hatte eine bemerkenswerte Methode, die Anamnese zu machen: In kleiner Runde saßen circa sechs bis acht Patienten nebeneinander um seinen Schreibtisch, und er befragte einen nach dem anderen nach seinen Beschwerden. Dann arbeitete er diese Gruppe ab, vom Zahnziehen bis zur Einweisung in ein Krankenbett. Als ich das zweite Mal mit meinen Mädchen zu ihm kam, schaute er mich über den Rand seiner Brille hinweg an: «Do you come again with a car full of neurotics?» –«Kommst du wieder mit einem Wagen voller Neurotiker?» Es war eine gute Kur für mein Überbesorgtsein! In Zukunft schaute ich meine kranken Mädchen zuerst in ähnlicher Weise an, bevor ich mir Sorgen machte, ob sie sterben würden. Ich fand heraus, sehr oft war der Grund ihrer Krankheit einfach Heimweh. Dr. Clark und seine liebe Frau, die ihm bei Operationen assistierte, vom Sterilisieren seines OP-Bestecks im Reiskochtopf bis zur Überwachung der Anästhesie, waren Jahre später meine Lebensretter. Ich erlitt während eines dreimonatigen Dienstaufenthalts von Volkhard in Deutschland eine Fehlgeburt. Dr. Clarks Bereitschaft, mir mitten in der Nacht, noch im Schlafanzug, die notwendigen Infusionen zu geben, bewahrten mich vor dem Kollaps meines Kreislaufs.

35. Die erste indonesische Missionskonferenz in Nongkodjadjar Ende März 1964 trafen sich zum ersten Mal indonesische Vertreter einiger Kirchen, denen die Ausbreitung des Evangeliums auf den Inseln Indonesiens ein Herzensanliegen war, mit der Leitung des Bibelinstituts Batu in den Bergen Ostjavas. Leslie — 118 —


Brierly, der Beauftragte des Internationalen WEC-Büros für Forschung und Information, war unter uns. Früher hatte Tan Ik Wan, Mitglied des Vorstands des Bibelinstituts sowie Unternehmer und Besitzer einer Lederfabrik, das Gebiet um Nongkodjadjar zum Jagen genutzt. Als er zum lebendigen Glauben an Jesus fand, bekam er ein Herz für die vernachlässigte Bergbevçlkerung, richtete eine Grund- und Mittelschule mit den dazu gehçrenden Gebäuden ein und sorgte für die nçtigen Lehrer, die in Batu den evangelistischen Schliff bekamen. Auch ein kleines Freizeitzentrum war entstanden. Dort konnte die Konferenz in aller Ruhe und Abgeschiedenheit stattfinden. Elektrizität hatte das Bergdorf noch nicht erreicht. Aus Südsumatra war ein alter Batak-Evangelist mit der Bitte um Hilfe zu uns gekommen. Dem Führer des Serawai-Stammes war Gott begegnet. Er hatte sich auf der Suche nach einem besseren Weg für sein Volk den Kommunisten geçffnet und ihre Kaderschule besucht. Auf einem der Fortgeschrittenen-Kurse war gelehrt worden: «Kommunismus ist Atheismus. Es gibt keinen Gott.» Das konnte er nicht schlucken. Das konnte nicht der richtige Weg für seinen Stamm sein. Auf dem Rückweg von der Provinzhauptstadt Palembang war er zur Weihnachtszeit in Bengkulu vorbeigekommen. Eine der wenigen christlichen Kirchen dort feierte das Fest. Vom Singen der Gemeinde angezogen, trat er in die Kirchentür und hçrte von dort der Predigt zu. Was er vernahm, ließ ihn nicht mehr los, er bewegte es in seinem Herzen während seiner Fahrt südwärts nach Hause. Von dort schrieb er dann einen Brief: «An das Indjil in Bengkulu». Das Wort Indjil (Evangelium) hatte er auf dem Auto der Gemeinde, das vor der Kirche geparkt war, gelesen und sich gemerkt. Und dieser Brief kam an! Er enthielt eine Einladung, seinen Stamm mit dem Evangelium bekannt zu machen. — 119 —


Pak Tobing, ein ¾ltester dieser Gemeinde, machte sich auf den Weg und fand heraus: Da waren offene Türen für das Evangelium, eine von Gott gewirkte Gelegenheit, die nicht ungenutzt verstreichen durfte. Er bemühte sich bei den Kirchen der Region um Mitarbeiter, aber niemand wollte sich in das entlegene Gebiet aufmachen. So war er zu dieser Konferenz gekommen, hatte die weite Reise von etwa 1500 Kilometern per Bus auf sich genommen, um sein Anliegen vorzutragen: die Bitte um Mitarbeiter für die offenen Türen im Serawai-Stamm. Neben Südsumatra wurden auch die wenig erreichten Gebiete in Westjava, Lombok und Sumbawa als Arbeitsziele aufs Herz genommen. Das Bibelinstitut in Batu hatte die bençtigten Mitarbeiter, da das vierte Jahr der Ausbildung als praktisches Jahr geplant war. Es passte alles zusammen. Es wurde die Geburtsstunde der Indonesischen Missionsgemeinschaft IMG/YPPII. Gott schenkte den indonesischen Brüdern beim Wachen in der Nacht die Zusage aus Jesaja 45,2–3 und Jesaja 42,10: «Ich will vor dir hergehen … ich will die ehernen Türen zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrechen und will dir heimliche Schätze geben und verborgene Kleinode, damit du erkennst, dass ich der HERR bin, der dich beim Namen ruft, der Gott Israels. … Singet dem HERRN ein neues Lied, seinen Ruhm an den Enden der Erde, die ihr auf dem Meer fahrt, und was im Meer ist, ihr Inseln und die darauf wohnen!» Leslie Brierly, der von der internationalen Leitung des WEC unter uns weilte, hatte dasselbe Wort aus Jesaja 45 auf dem Herzen. So kam er als zweiter Zeuge hinzu. Alle spürten Gottes Gegenwart und den Wind des Aufbruchs. — 120 —


Zur Praktikumszeit machte sich dann Pak Octavianus zusammen mit zwei Praxisstudenten unter Begleitung von Pak Tobing auf den Weg nach Serawai. Bei diesem Einsatz kamen der Stammesführer und ein Imam einer Moschee, dessen Hçrvermçgen Gott wiederherstellte, zusammen mit etwa dreihundert Erwachsenen zum Glauben an Jesus Christus und ließen sich taufen. Der Grundstein der Serawai-Kirche war gelegt. Auch nach Westjava brachen Studenten auf, und nach Lombok und Sumbawa, Frauen wie Männer. Wir segelten im Wind des Heiligen Geistes. Die Betreuung der jungen Serawai-Gemeinde ging später an die Zweigbibelschule in Tanjung Enim über. Aus der Mitte der erweckten Jugendlichen in Serawai kamen die ersten Studenten, um sich für ihr Volk ausbilden zu lassen.

36. Ein politischer Umsturz bahnt sich an Es war 1964. Ich wurde bald zum zweiten Mal schwanger. Daneben fand eine beunruhigende politische Entwicklung statt. Präsident Sukarno, der Vater der Nation, wollte den aus der ehemaligen britischen Kolonie neugegründeten Nachbarstaat Malaysia nicht akzeptieren und stand in einem drei Jahre dauernden Konflikt – der «Konfrontasi» – dem jungen Land feindlich gegenüber. Sukarno hatte sich, vom Westen verlassen, immer stärker dem kommunistischen China geçffnet. Indonesien war unter der Inflation verarmt, es gab kaum noch etwas zu kaufen, selbst Zucker war in dem Rohrzucker produzierenden Staat nicht mehr zu haben. Das Volk war unzufrieden, der richtige Boden für kommunistische Agitatoren. — 121 —


Wir hatten von Anfang an gespürt, dass etwas in der Luft lag. Jetzt wurden häufig Männer und Frauen zusammengetrommelt und militärisch gedrillt. Auch unsere javanischen Angestellten wurden dazu verpflichtet. Dann wurde marschiert, barfuß und mit Stçcken statt Gewehren über den Schultern. Aber man merkte, dass es kein Spiel war, sondern jederzeit in bitteren Ernst umschlagen konnte. Die Lautsprecher des Dorfes, gewçhnlich für kommunale Ankündigungen oder an Festen für laute Übertragungen von Wayang-Spielen genutzt, brüllten nun kommunistische Propaganda in die Welt, Stunde um Stunde, oft bis spät in die Nacht. Es wurde schwierig zu schlafen. Ich geriet in tiefe Anfechtung. Ein Jahr zuvor waren bei den Simba-Aufständen im Kongo WEC-Missionare ermordet worden. Was würde mit uns geschehen? War es verantwortlich, in diese Situation hinein Kinder zu gebären? Was würde mit ihnen geschehen, wenn wir sterben würden? In meinem Herzen schrie ich meine Fragen zum Herrn. Noch einmal wurde mir, ähnlich wie damals, als ich in Glasgow um das Schriftverständnis rang, eine Antwort gegeben: «Sorge dich nicht um die Länge ihres Lebens in dieser Welt, es sind ewige Seelen!» – Selbst wenn sie früh sterben müssten, sie würden ewig leben. Als dann der Aufstand wirklich losbrach – der Putschversuch der Kommunisten, bei dem indonesische Generäle grausam umgebracht wurden, und der ebenso grausame Gegenschlag der Moslems, bei dem eine halbe Million Indonesier umkamen und wir selbst täglich vom Tod bedroht waren –, hielt uns Gott in seinem Frieden, der hçher und tiefer reicht als Vernunft und Gefühl. Es ist mir bis heute eine wunderbare Erfahrung. «Der Name des Herrn ist eine feste Burg; der Gerechte läuft dorthin und wird beschirmt» (Sprüche 18,10). Endlich erfuhren wir auch, wozu in Nachbars Garten, direkt vor unseren Schlafzimmerfenstern, die merkwürdigen Gruben — 122 —


ausgehoben worden waren. Das sollten unsere Gräber werden! Doch nun saß die Nachbarin, eine vom kommunistischen Kader, in deren Garage junge Männer Waffen gehämmert hatten, zitternd und die Rache der Moslems fürchtend in unserem Haus. Die Kämpfe wogten noch Wochen hin und her. Welche Seite siegen würde, war noch nicht ausgemacht. Zwar wurden in unserem Ort immer mehr Kommunisten interniert und im Morgengrauen auf Lastwagen zur Exekution ins Gebirge transportiert, aber in Mitteljava behielten die Kommunisten noch über längere Zeit die Oberhand. Und zugleich ging an unserer Schule der Unterricht unter vermehrtem Gebet in Frieden weiter.

37. Die zweite indonesische Missionskonferenz 1965 in Batu Genau in diesen turbulenten Tagen fand in Batu die zweite Missionskonferenz statt, dieses Mal mit weltweiter Perspektive. Allerdings konnten Vertreter der verschiedenen Kirchen, denen die Ausbreitung des Evangeliums in Indonesien am Herzen lag, wegen der unklaren Verhältnisse nur beschränkt teilnehmen. Dafür war aber wieder Leslie Brierly in unserer Mitte. Er saß sprichwçrtlich bei uns fest, wohnte bei uns als Familie und hatte sich wieder das wegweisende Wort für die Konferenzteilnehmer vom Herrn geben lassen. Detmar nahm auf einem Feldbett liegend teil. Wie das Serawai-Team war auch er gerade heimgekehrt. Während ihres evangelistischen Einsatzes auf den Inseln Timor und Rote mit einem Team von Bibelschülern und in Begleitung von Frau Octavianus als timoresischer Vermittlerin hatte Gott mächtig ge— 123 —


wirkt. Menschen waren frei geworden von Aberglauben, Fetischen und Zauberei. Die Saat war gelegt, aus der die große Erweckungsbewegung entstand, eine Bewegung hin zu Jesus Christus, zuerst in den christlichen Gemeinden, wo Menschen bekannten: «Ich war Christ ohne Christus» – oder in ihrer Bildersprache: «Ich war wie eine Flasche mit Coca-Cola-Etikett, aber ohne Coca-Cola-Inhalt.» Das Team hatte die Anfänge der Erweckung erlebt. Doch nun musste Detmar krank heimgeflogen werden, litt während der umstürzlerischen Tage im Krankenhaus in Malang an einer bçsen Leberentzündung mit furchtbarem Jucken, aber an dieser Konferenz mit ihrer Blickerweiterung über Indonesien hinaus war er doch, wenn auch leidend, in unserer Mitte und maßgeblich beteiligt. Die dreimonatige Rekonvaleszenzzeit nutzte er, um das Regelwerk für die Indonesische Missionsgemeinschaft im Entwurf niederzuschreiben. Die Grundordnung (AD) galt nach draußen vor der Regierung, die Hausordnung (ART) nach innen. Leslie Brierly sorgte durch seinen Beitrag dafür, dass nicht nur die Inselwelt Indonesiens, sondern die Kontinente der Erde in den Fokus und Blick der missionarischen Verantwortung dieses jungen Missionswerkes kamen.

38. Jahre des Wiederaufbaus Die tiefe Erschütterung des Volkes durch den gescheiterten Putsch und den maßlosen Gegenschlag der islamischen Kräfte brachte große Veränderungen. Präsident Sukarno, der Gründervater der Nation, wurde wegen seiner großen Verdienste um Indonesien nicht verurteilt, sondern in einer Villa — 124 —


ehrenvoll unter Hausarrest gestellt. General Suharto, der das Gelingen des Putsches vereitelt hatte, indem er in schneller Reaktion den Flughafen und die zentrale Radiostation besetzte, wurde sein Nachfolger. Unter seiner Präsidentschaft nahm das total heruntergewirtschaftete Land einen rasanten Aufstieg. Zunächst wurde in großen Kampagnen das Volk in seinen Führungseinheiten auf die «Pancasila», die fünf Säulen (Prinzipien) des Staates, eingeschworen. Sukarnos Idee «Nasakom», die Nationalismus, Religion (Agama) und Kommunismus vereinigen wollte, hatte ausgedient, und die Staatsidee der «Pancasila» wurde wiederbelebt. Danach verpflichtet sich jeder Indonesier gemäß des ersten Grundsatzes bzw. der ersten Säule, an Gott zu glauben. Religion sollte als Immunisierung gegen den atheistischen Kommunismus wirken. Der Schock des misslungenen Putschversuchs ging so tief, dass jahrelang kein Kommunist çffentliche ¾mter bekleiden durfte. Es herrschte eine regelrechte Kommunismusphobie. Jeder musste nachweisen, wir einbezogen, dass er frei von der Bewegung des 30. September war. Das hieß auf Indonesisch: Bebas G-30-S. Ich fühle mich bis heute an den Tag erinnert, weil er mein Geburtstag ist und dazu noch meine Namensinitialen trägt. Fünf Religionen wurden staatlich anerkannt, und es war jedem Bürger freigestellt, ob er sich für den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus oder für die katholische oder christliche Religion (diese Unterscheidung wurde so gemacht!) entschied. Alle diese Religionen wurden staatlich unterstützt. So mussten wir weder Grundsteuer noch Pkw-Steuer bezahlen und hatten volle Freiheit, das Evangelium zu verkünden und Gemeinden zu bauen. Das konnte nur ganz im Sinne des Staates sein. — 125 —


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.