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Der Generation, die als Salz und Licht die kommenden Jahrzehnte mitprägen wird.

Der Autor Dr. Markus Müller, Jahrgang 1955, war von 2001 bis 2012 Direktor der Pilgermission St. Chrischona in Bettingen bei Basel. Dort war er schon seit August 1999 Dozent mit dem Hauptauftrag «Aufbau und Leitung des Fachbereichs Diakonie». Zuvor absolvierte er das Studium der Heilpädagogik, Erziehungswissenschaft und Anthropologie. Drei Jahre arbeitete er am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie in München. Er promovierte 1986 in Behindertenpädagogik an der philosophischen Fakultät in Fribourg/Schweiz. Danach arbeitete er zehn Jahre im vollzeitlichen Dienst des CVJM München. Es folgten drei Jahre als Dozent an der Hçheren Fachschule für Sozialpädagogik in Zizers/Igis (Stiftung Gott hilft). Seit April 2012 arbeitet Markus Müller als Heimpfarrer der Heimstätte Rämismühle bei Winterthur (Schweiz). Er ist verheiratet mit Doris, die aus dem Schwarzwald (Deutschland) stammt. Die beiden haben vier Kinder.


Markus M端ller

Trends 2021: Es wird anders werden Die neue Nachdenklichkeit: Werden wir scheitern? Haben wir Chancen? Kommt es am Ende gut?

Verlag Basel . Giessen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns Foto Umschlag: sellingpix, Shutterstock.com Satz: Bertschi & Messmer AG, Basel Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1529-3


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Inhalt

Inhalt Vorwort .........................................................................

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Trends 2021: Überzeugungen – und wie dieses Buch aufgebaut ist ....

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Die fünf Überzeugungen................................................

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Der Aufbau dieses Buches..............................................

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Teil I: Die Zukunft wird geboren...........................................

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1. Leben in der Geschichte: Die Zukunft lieben ..................

36 36 49

1.1 Gott ist ein Gott der Geschichte ...................................... 1.2 Gott gibt Verheißungen ................................................

2. Damit Dinge nicht bleiben, wie sie sind......................... 2.1 Wo Christen sind, verändern sich Dinge .......................... 2.2 Ohne Christen wäre Europa nicht, was es ist .................... 2.3 Christen: Salz und Licht dieser Welt ................................

3. Unser europäisches Erbe ...............................................

53 53 55 61

3.1 «Die Große Erzählung» von Europa ................................. 3.2 Fünf Dinge, die uns anvertraut sind ................................ 3.3 Vom mündigen Umgang mit dem Erbe............................

64 64 70 78

Teil II: 65 Jahre Friedenszeit – Eine Bilanz ............................

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4. Von wunderbaren Errungenschaften .............................

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4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Technische Hçchstleistungen ........................................ 84 Einzigartiger Wohlstand ............................................... 89 Tragfähiger Staat ........................................................ 92 Jede Menge Optionen und Erlebniswelten........................ 96 Fazit......................................................................... 100


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Inhalt

5. Was unsere Gesellschaft nicht gut gelernt hat ................ 103 5.1 Mündig mit Wachstums- und Wohlstandsbegrenzung umgehen .................................................................. 5.2 Nein sagen, um Ja sagen zu kçnnen................................ 5.3 Umgang mit eigenen ethischen Vorgaben ........................ 5.4 Umgang mit Komplexität und Spannung ......................... 5.5 Die Pflege der Innenseite unserer Welt ............................ 5.6 Nicht nur anfangen, sondern weitermachen..................... 5.7 Umgang mit çffentlichen Verantwortungsträgern .............. 5.8 Umgang mit der kostbaren Gnade ..................................

104 106 108 110 112 114 115 118

6. Trümmer wie 1945 – bloß anders .................................. 121 7. Was fehlt: Eine Theologie des Scheiterns ....................... 130

Teil III: Die sich anbahnenden Dynamiken ........................... 137 8. Was war los im Jahr 2011? ............................................. 140 8.1 2001 und 2008: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Erschütterungen........ 8.2 2011: Die Schlagzeilen überstürzen sich .......................... 8.3 Frühling, Herbst oder Winter ........................................ 8.4 Ehe und Familie – auf dem Weg in die Beliebigkeit? ........... 8.5 Der Staat – kann er misslingen? ..................................... 8.6 Globale Verschiebungen von Gleichgewichten................... 8.7 Fazit.........................................................................

140 145 149 152 157 163 164

9. Mit Begrenzung und Scheitern umgehen: der Trend 2021 167 9.1 Demographische Umbrüche ......................................... 167 9.2 Die Brüchigkeit im Bereich Ressourcen und Ressourcenpflege 170 9.3 Die gebrochene Identität von Gemeinschaft und Gesellschaft 174 9.4 Die gebrochene Kraft im Umgang mit Migration und Integration ................................................................ 178 9.5 Fazit zum Trend 2021 .................................................. 182


Inhalt

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10. Einblicke in nicht mehr existierende Gesellschaften ...... 184 10.1 Vom Scheitern der Weltreiche ....................................... 185 10.2 Mçgliche Schlüsse, und was wir uns merken sollten ........... 190 11. Hoffnungsspuren........................................................... 193 11.1 Die Shell-Studie 2010................................................... 193 11.2 Opaschowski: Kein Schwarzmalen ................................. 197 11.3 Matthias Horx: Wider den Untergangsmythos .................. 200 11.4 Fazit......................................................................... 203 12. Das Denken in Szenarien............................................... 204

Teil IV: Damit aus Trümmern Schçnes werde ....................... 211 13. Die Megatrends – oder was es zu bewältigen gilt ........... 214 14. Acht Prinzipien, die unsere Zukunftsliebe fçrdern ......... 220 14.1 Im Kleinen leben, was im Großen gelingen soll ................. 220 14.2 Bewährtes leben statt Richtiges behaupten ...................... 224 14.3 Immer zuerst die Person, dann die Sache und das System ... 227 14.4 Zuerst die Bedürftigkeiten erkennen ............................... 229 14.5 Ausgangspunkt Himmel: Der Himmel ist einfach anders..... 232 14.6 In den Verheißungen Gottes verankert ............................ 237 14.7 Identität im Unvollkommenen genügt............................. 250 14.8 Vom Herzen her gebildet .............................................. 253 15. Herzensuniversität: Von der Verheißung her leben ........ 257 15.1 Mit dem Herzen denken – eine angefochtene Angelegenheit . 257 15.2 Was Herzensuniversität nicht ist, aber sein kçnnte ............ 260 15.3 Worum es an Herzensuniversitäten geht.......................... 263 15.4 Herzensuniversität: Die Chance für ein künftiges Europa .... 269 16. Eine Theologie des Scheiterns entfalten ........................ 272 17. Das Bild von uns im Jahre 2021 ..................................... 283


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Inhalt

Teil V: Übungsfelder – Stark im Scheitern............................. 291 18. Einen mündigen Umgang mit dem Scheitern lernen ..... 294 18.1 Scheitern ist Wirklichkeit.............................................. 295 18.2 Die erkannten Prinzipien anwenden............................... 298 18.3 Fallen, in die wir nicht tappen sollten .............................. 303 18.4 Praxis einer Kultur des mündigen Scheiterns .................... 307 19. In entscheidenden Lebensfeldern Breschen schlagen.... 311 19.1 Gut mit dem ¾lterwerden umgehen ................................ 313 19.2 Vom gelingenden Miteinander mit Menschen aus andern Kulturen und Religionen............................................... 19.3 Wir werden mit begrenzten Ressourcen umzugehen haben: Askese wird elegant sein ............................................... 19.4 Die Liebe zur kleinen Zelle: Von der Unverzichtbarkeit des verbindlichen Miteinanders .......................................... 19.5 Verfügbar machen, was sich bewährt: Vom konkreten Tun ....

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20. Die Welt im Blick – über Europa hinaus ......................... 345 20.1 Afrika – mit den Menschen statt gegen sie........................ 346 20.2 China – statt Mitleid, Bewunderung und Belehrung einen Weg auf gleicher Augenhçhe suchen ............................... 351 20.3 Schlussfolgerungen: Mission im 21. Jahrhundert ............... 361

21. Vom Vorletzten zum Letzten .......................................... 364 21.1 Hçren auf den Gott, der redet ........................................ 364 21.2 Christen sind die Zukunftserzähler ................................. 367 21.3 Ausblick und Aufblick: Wir werden ihn sehen.................... 370 Nachwort....................................................................... 373 Literaturverzeichnis....................................................... 375 Anmerkungen ............................................................... 379


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Vorwort

Vorwort

Die Welt ordnet sich neu. Und wir sind dabei.

Zukunft bewegt: Was wird sein, wenn wir, die wir heute 20, 45 oder 65 sind, einmal 50, 70 oder 90 Jahre alt sein werden? Oder: Was wird das Ergebnis all der Veränderungen von Lebensstilen, von Denkweisen und von der Art, wie wir Menschen uns selber verstehen, sein? Im Jahr 2021, im Jahr 2040, im Jahr 2070? Und: Was kann heute beflügeln, was muss beängstigen? Und vor allem: Was stiftet Hoffnung in all den Umbrüchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Zukunft bewegt. Jeden Menschen. Jeden mehr oder weniger deutlich, jeden mehr oder weniger bewusst. Zukunft muss bewegen. Zwar erscheint uns unsere Zeit oft wie ein Gefängnis in der Gegenwart. Die Wucht der Veränderungen legt lahm und droht, jede Lust und Freude auf Zukunft zu ersticken. Vom «weggewischten Horizont» redet man dann, also von einer Welt ohne Bild der Zukunft. Im gleichen Atemzug wird festgestellt: Wo sich das Bild der Zukunft verwischt und die Liebe zur Zukunft erkaltet, da wird auch die Vergangenheit zunehmend ohne Bedeutung. Und wo weder Zukunft noch Vergangenheit leben, da entwertet sich auch das Leben in der Gegenwart. Man sagt: Es «verkocht» in der Gegenwart. Trotzdem: Es liegt so etwas wie eine Wiederentdeckung der Zukunft in der Luft. Es gibt Zukunftskongresse. Die deutsche Bun-


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Vorwort

deskanzlerin hat vom Mai 2011 bis Juli 2012 mit den Bürgerinnen und Bürgern des Landes «einen Dialog über Deutschlands Zukunft» geführt. Die Organisation «Swissfuture» legte eine Studie zum Thema «Wertewandel in der Schweiz 2030» vor. Birgit Gebhardt verçffentlichte in Zusammenarbeit mit dem «Trendbüro» ein Buch mit dem Titel 2037 – unser Alltag in der Zukunft. Landauf-landab finden Vortragsreihen und Podiumsgespräche zum Thema Zukunft mit Top-Persçnlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Bildung und Kirche statt. Zukunft bewegt. Die große Frage: Werden Christen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten etwas zu dieser Zukunft zu sagen haben? Haben sie etwas dazu beizutragen? Worin wird ihr Beitrag bestehen? Gibt es Voraussetzungen, damit die Beiträge bedeutungsvoll sind? Was müssen Christen wissen und verstehen, um nicht zu den «Ewiggestrigen», aber auch nicht zu den «Idealisten des Übermorgens» gezählt zu werden? Wir haben Hoffnung. Wird z. B. die Wirksamkeit der Christen im 3. und 4. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem untergehenden Rçmischen Reich oder im 17. und 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung des (Sozial-)Staates oder nach dem Ende des 2. Weltkriegs im Zusammenhang mit dem deutschen Grundgesetz oder der Sozialen Marktwirtschaft betrachtet, so scheint es geradezu in der Luft zu liegen: Ein elementarer Beitrag aus christlichem Hintergrund ist mçglich und geradezu greifbar nah. Gott hat durch Christen gerade in (europäischen) Krisenzeiten Entscheidendes in das gesellschaftliche Ganze eingebracht. Wieso nicht auch im 21. Jahrhundert? Die vergangenen 65 Jahre – sprich die Zeit seit 1945, also dem Ende des 2. Weltkriegs – waren Jahre des Aufbaus, des Wachstums, der Zunahme von Wohlstand, des technischen Fortschritts


Vorwort

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und des Friedens. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts allerdings wächst die Überzeugung: Die kommenden 65 Jahre werden und kçnnen nicht sein wie die vergangenen 65 Jahre. Zweifelsohne werden wir mit Scheitern, Versagen und Niedergang u. a. von Organisationen, Ideen, Konzepten und Systemen konfrontiert sein. Unausweichlich werden wir eine Grundfähigkeit entwickeln müssen, mündig mit Zerbrechlichkeit, mit Schwäche, mit Unzulänglichkeit und mit Brüchen umzugehen. Das Hoffnungsstiftende dabei: Christen sind Menschen, die an einen Gott glauben, der das Schwache bejaht, in den Schwachen – wie die Bibel sagt – mächtig ist und gerade in Gebrechlichkeit und Zerbrochenheit die Chance zu Ungewçhnlichem und Großem sieht. Das gibt die einzigartige Aussicht zur Ahnung, dass Christen Vorreiter sein werden – gerade in einer hochgefährdeten und hochriskanten Zeit wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dr. Markus Müller



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Trends 2021: Überzeugungen – und wie dieses Buch aufgebaut ist Wer die Gegenwart gestalten will, muss die Zukunft gewinnen. Wer die Zukunft gewinnen will, muss die Vergangenheit kennen. Und wer die Vergangenheit kennt, wird die Zukunft lieben.

Die fünf Überzeugungen Drei untrennbare Fragen sind es, die offenkundig im Raum stehen, wenn wir über die Zukunft reden und die Zukunft gewinnen wollen: &

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Was ist heute, sprich im 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, auffällig und wahrnehmbar, und welche Entwicklungen lassen sich für die kommenden Jahre und Jahrzehnte daraus erahnen und voraussagen? Wohin soll die Reise gehen bzw. zu welchem Ziel sollen die Wege uns als Menschen, die bei der Zukunft unentrinnbar dabei sein werden, führen? Wie bzw. auf welche Art werden und wollen wir dahin gelangen, wo wir gerne hinmçchten?

Diese drei Fragen nach dem Was, dem Wohin und dem Wie gehçren unauflçslich zusammen. Wir wollen und kçnnen diese


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Trends 2021: Überzeugungen – und wie dieses Buch aufgebaut ist

Fragen nicht voneinander trennen. Alle drei Grundfragen müssen im Zusammenhang bedacht und bearbeitet werden: Was ist und wird sein? Wohin soll es gehen? Und wie kann es gelingen? Fatal, wenn wir ziellos nur um gute und weniger gute Einschätzungen der Gegenwart und Zukunft wissen. Fatal genauso, wenn wir nur Ziele, nicht aber Wege kennen und beschreiben. Und ebenso fatal, wenn wir zwar über hçchste Kompetenz in der Gestaltung von Wegen verfügen, aber nicht mehr wissen, auf welches Ziel hin wir leben und wirken. Jede dieser drei Fragen bedarf – ohne Loslçsung von den anderen – der hçchsten Behutsamkeit des Nachdenkens, ja, der liebevollen Sorgsamkeit im Reflektieren. Weil es unzweifelhaft ist, dass die kommenden Jahrzehnte nicht sein werden wie die vergangenen Jahrzehnte, ist – ohne schwarzzumalen – ein Trend mit Sicherheit auszumachen. Unübersehbar ist der Trend 2021, dass es um ein Weniger gehen wird. Ein Weniger an Gelingen, ein Weniger an Wachstum, ein Weniger an Selbstverständlichkeiten, ein Weniger an Wohlbefinden, ein Weniger an … Dementsprechend wird es darum gehen, mündig mit zunehmender Zerbrechlichkeit, Schwäche und Unzulänglichkeit umzugehen. Diese Fähigkeit wird von uns Westeuropäern – speziell von uns Christen – angesichts der in der Luft liegenden Dynamiken und Entwicklungen in Zukunft gefordert sein. Wir kommen nicht darum herum zu erkennen, & &

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was dieser Grund- oder Megatrend ist und sein wird, worin unser Wollen – und Nicht-Wollen – in diesem Zusammenhang besteht, und welche Wege wir gerade auch diesbezüglich für zukunftsträchtig halten.


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Alle diese Fragen betreffen Christen genauso wie Menschen, die dem christlichen Glauben eher skeptisch gegenüberstehen. Und vor allem ist die Frage nach dem, was auf uns zukommt, nicht eine Frage nur von und für Spezialisten. Die Zukunftsfrage steckt wesensmäßig in jedem Menschen. Und jeder Mensch hat also auch eine Verantwortung für den Umgang mit ihr. Christen kçnnen nicht nur, sondern sie müssen mitreden, verfügen sie doch über ein «Manifest der Hoffnung» in Form des Alten und des Neuen Testaments.1 Die Folgenden fünf Überzeugungen liegen den hier gemachten Ausführungen zugrunde.

Überzeugung 1: Die Zukunft ist absehbar – unsere Chance

Wer Vergangenheit und Gegenwart beobachtet, entdeckt Zusammenhänge und Entwicklungslinien. Zukunft ist nicht fremdbestimmtes Schicksal. Und sie erscheint nicht aus heiterem Himmel. Jedes Ereignis hat eine «Inkubationszeit» (Beck in seinem Buch Weltrisikogesellschaft). Es gibt «Kontinuitäten» und eine «hçrbare Melodie», die Vergangenheit und Zukunft verbindet (Horx 2010, S. 10). Zukunft ist Ergebnis der Vergangenheit. Vergangenheit zeugt die Zukunft. Letztere ist, was die Vergangenheit angestoßen und ermçglicht hat. Wer die Vergangenheit kennt, wird die großen Linien der Zukunft absehen kçnnen. Ganz grob lassen sich solche Entwicklungslinien graphisch folgendermaßen abbilden:


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Kurzer Abriss der letzten 65 Jahre

Die Graphik verdeutlicht das Zusammenwirken von Kräften und Dynamiken insbesondere in den vergangenen 40 Jahren. Einige dieser Entwicklungslinien haben sich wesentlich mehr und stärker ausgewirkt, als jemals abzusehen war. Beispiele solch erfolgreicher Dynamiken sind die Macht der technischen Perfektionierung, die Macht der Hinterfragung bisheriger Eheund Familienkonzepte und die Macht uns bisher fremd und unbedeutend erscheinender Religionsentwürfe. Demgegenüber stehen Brüche von Selbstverständlichkeiten, die noch vor 40 Jahren als sicher galten und zweifelsfrei geglaubt wurden. Diese haben plçtzlich massiv an Wirkkraft verloren. Beispiele: Der Kapitalismus, die wachsende Wirtschaft, der Rechtsstaat oder die Armee. Diese und andere gesellschaftliche Gegebenheiten und Institutionen waren nicht hinterfragte und nicht hinterfragbare Grçßen unserer westlichen Gesellschaft.


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¾hnliches gilt in Europa für das Christentum. Eigentlich haben – so war man fest überzeugt – das Christentum sowie das christliche Weltverständnis und das christliche Menschenbild eine unwidersprochene Vorrangstellung. Oder auch: Die Ehe zwischen Mann und Frau galt, so dachte man, trotz aller auch vorhandenen Kritik, als unaufgebbar privilegierter Lebensentwurf. Hier wie dort haben sich die Dinge fundamental verschoben. Wo Sicherheit war, herrscht plçtzlich Unsicherheit vor. Es ist absehbar, in welche Richtung sich die Dynamiken in diesen Lebensfeldern entwickeln werden. Sie treffen uns wie viele andere Entwicklungen nicht aus heiterem Himmel. Unsere Überzeugung: Zukunft ist weder Schicksal, noch passiert sie aus heiterem Himmel. Es gibt beobachtbare Entwicklungslinien. Wer genau hinschaut, wird sich bezüglich großer Linien wenig wundern, auch wenn konkrete Ereignisse und deren Zeitpunkt, wie etwa Erdbeben oder Tsunamis, nicht kalkulierbar sind.

Überzeugung 2: Die Zukunft lieben, weil Gott sie liebt

Gott schuf Raum und Zeit. Raum und Zeit sind nicht wegzudenkende Kernmerkmale der Schçpfung. Was Gott geschaffen hat, liebt er. Nach Sündenfall und Sintflut hat er nicht aufgegeben. Zwar mutet er dem Menschen viel zu, aber er will, das verspricht er in 1. Mose 9,9 in Form eines Bundesschlusses, das Geschaffene erhalten, bewahren und lieben.


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Die Welt gehçrt Gott, und von Gott ist sie geliebt. Weder Schräges noch Ungewisses kann diese Liebe hindern. Gott liebt. Gott liebt diese Welt als asiatische, als afrikanische, als amerikanische und als europäische, als çstliche und westliche, als nçrdliche und als südliche Welt. Gott liebt diese Welt gestern wie heute. Und: Gott liebt diese Welt auch morgen. Die Zukunft lieben: Tun wir dies, so tun wir nur, was Gott auch tut. Seine Liebe gilt der ganzen Erdkugel, und sie gilt von Anfang bis Ende – also der ganzen Zeit. Nicht umsonst gibt Gott den Menschen einen Auftrag. Zu Beginn dieser Welt bestand dieser darin, die Erde zu bebauen und zu pflegen. Dann sandte Gott seinen Sohn, und wie dieser Sohn gesandt war, so sendet er uns (so Johannes in seinem Evangelium in Joh. 17,18 und 20,21). Das Ziel ist klar: Dass sein Name geheiligt werde, dass sein Reich komme, dass sein Wille geschehe – wie im Himmel, so auf Erden. Gott ringt um die Zukunft. In dieses liebende Ringen treten wir ein – um Gottes und der Menschen willen. Unsere Überzeugung: Nicht nur der ganzen Welt, nicht nur der Vergangenheit, auch nicht nur dem Übermorgen – also wenn «Himmel und Erde» vergangen sein werden – gilt die Liebe Gottes, sondern genauso sehr dem Morgen in Raum und Zeit: dem zweiten, dem dritten, dem fünften oder dem neunten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Bis zum Ende dieser (vergänglichen) Welt.

Überzeugung 3: Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche – aber nicht im Schema dieser Welt


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Einer der bis heute meistzitierten Briefe im Neuen Testament ist der Rçmerbrief. In diesem Dokument des Apostels Paulus gibt es wie kaum in einem andern neutestamentlichen Brief so etwas wie eine alles entscheidende Scharnierstelle. Ohne diese Stelle gibt es keine funktionierende Tür in den Raum des gestalteten und verantworteten Lebens. Die Stelle lautet: «So richtet euch nicht nach dieser Welt, sondern lasst euer Denken erneuern …!» (Rçm. 12,2). Wçrtlich heißt es: «Lasst euch in eurem Denken, Sinnen und Trachten nicht in das Schema dieser Welt pressen.» Oder noch deutlicher: «Schematisiert euch nicht nach dieser Welt!» Fraglos: Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, immer auch Kinder unserer Zeit. Bewusst und meist unbewusst übernehmen wir Denkweisen, Denkmuster und Denkschemen, Logik und Selbstverständlichkeiten unserer Zeit. Durch die Brille dieser Muster und Schemen betrachten wir unsere Welt. Paulus setzt, wenn er diesen Scharniervers von Rçm. 12,2 formuliert, den Hebel genau an dieser entscheidenden Stelle an. Es ist recht, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu sein (so Paulus etwa in Gal. 3,28), doch es ist nicht recht, im Schema dieser Welt, also im Denken und den Selbstverständlichkeiten dieser Welt, verhaftet zu bleiben und den Menschen aus diesem Verhaftetsein heraus zu begegnen. Es gibt ein unübertreffliches und gleichzeitig unverzichtbares anderes Schema, nach dem sich unsere Begegnungen mit den Menschen und dieser Welt zu richten haben. Es ist das «Schema des Himmels», das «christuszentrierte Schema», das «erneuerte Schema», das Paulus uns lieb machen will. Wo diese Erneuerung des Denkens und damit des Sehens und Wahrnehmens stattgefunden hat, da lassen sich lebensstiftende moralische und ethische Maßstäbe entfalten, was Paulus dann


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auch ab Rçm. 12,3 tut. Ethik ist gut, jedoch nur vor dem Hintergrund erneuerten Denkens. Fehlt dieses, fehlt der lebbaren Ethik und Moral ein fruchtbarer Boden. Dies betrifft den Umgang mit dem Schwachen genauso wie den Umgang mit Besitz, den Umgang mit Unfrieden genauso wie den Umgang mit Armut und Hunger, den rechten Umgang mit dem Staat genauso wie die unmittelbare Fürsorge füreinander (siehe Rçm. 12,3–15,21). Unsere Überzeugung: Vor allem Einfordern und Proklamieren moralisch und ethisch richtigen Verhaltens bedarf es der Sorgfalt im Umgang mit unserem erneuerungsbedürftigen Denken und unserer überprüfenswerten Mentalität. Nur so kçnnen wir «Juden und Griechen», Westeuropäern und Zugewanderten, Inländern und Ausländern, Starken und Schwachen mutig und wirkungsvoll begegnen.

Überzeugung 4: Was uns fehlt – das große Narrativ

In der Zeit, die sich gerne Postmoderne nennt, ist uns vor allem eines abhanden gekommen: Die Große Erzählung. Die Große Erzählung handelt von den Ursprüngen großer Gedanken, berichtet über die Entwicklung großer Ideen und ordnet alles Aktuelle in ein grçßeres Ganzes ein. Solche Erzählungen lassen hinter den Vorhang schauen und erklären jenseits von täglicher Routine, von Zahlen und Fakten den Grund und Sinn unseres bewussten Tuns und Lassens. Solche großen Erzählungen sind das, was uns in einer immer schneller und komplexer werdenden Welt grund-legend – im buchstäblichen Sinne – immer mehr aus dem Blickfeld entweicht.


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Die «große Erzählung» von der großen Idee

Jeder Faden ist ein Handlungsfeld; jedes Handlungsfeld braucht eine «große Erzählung», und alle Handlungsfelder zusammen brauchen «die Große Erzählung».


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Beispiel Sozialstaat: In Unkenntnis der ursprünglichen Idee und aufgrund unterschiedlichster Ansprüche wird ununterbrochen an verfeinerten Regeln und Gesetzen gestrickt. Das Kleingedruckte wird umfassender und wirkt zunehmend bedrohlicher, während wir gleichzeitig nicht mehr imstande sind, menschlichen Notsituationen unmittelbar und selbstverständlich zu begegnen. Offensichtlich ist: Nicht Systemperfektionierung und auch nicht Systembekämpfung tut not, sondern die Weitergabe des großen sinnstiftenden und sinngebenden «Narrativs» – der Großen Erzählung. Diese Erzählung würde Systeme politischer, wirtschaftlicher und auch christlicher Art (Gemeinden und Organisationen) gerade in ihrer oft ungebändigten Wucht einordnen, ihnen Rahmen geben und ihnen den ihnen tatsächlich zustehenden Platz anweisen und zuweisen. Die Bibel – das stiftet unsagbare Hoffnung – ist voll solcher «Großen Erzählungen». Unsere Überzeugung: Das Erzählen ist nicht bloß Sache von Opa und Enkelkind. Erzählen will alters- und standesunabhängig neu gelernt sein. Unsere Kultur bençtigt, falls sie Bestand haben will, Kenntnis ihrer großen Ursprünge und Grundideen. Fakten und Zahlen sind darin enthalten, werden aber nie selber grund-legende Funktion haben kçnnen. Notwendig sind heute ganz neu Geschichten-Erzähler – nicht nur Inhaber von Know-how und dessen Umsetzer.

Überzeugung 5: Nicht das Große kritisieren, sondern im Kleinen das zukunftsträchtige Denken und Tun entfalten


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Die vergangenen 65 Jahre haben es den Menschen unserer Zeit leicht gemacht, sich auf einen Hochsitz – ein Begriff aus der Lebenswelt der Jäger – zu begeben und von oben herab zu sagen, was recht und unrecht, gut und bçse, schçn und unschçn ist. Die Welt allerdings, oft haben wir es kaum bemerkt, lechzt nicht nach Beurteilung, sondern nach Modellen und anschaubaren Handlungsweisen, die in Zukunft Leben ermçglichen, Lebensräume schaffen und Orte des Leben-Lernens gestalten. Wir glauben, dass es in Zukunft entscheidend wichtig ist, dass Menschen sich finden. Nicht mit der Absicht, die Welt zu beurteilen, sondern mit dem gemeinsamen Ziel, Modelle des Lebens in unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern im ganz Kleinen zu wagen und entsprechend dasjenige zu experimentieren, das sich auch im grçßeren Zusammenhang als zukunftsträchtig weisen kçnnte. Zwei Beispiele: &

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Umgang mit Geld und Besitz: Lernen Christen, aufrichtig über Geld und Besitz zu reden, Transparenz im Umgang damit einzuüben und Erfahrungen zu sammeln, kçnnte sie dies ermächtigen, auch vom grçßeren Zusammenhang zu reden, das Gefundene für das Grçßere verfügbar zu machen und gegebenenfalls dann, jedoch erst dann, einzufordern, was politisch und gesellschaftlich unverzichtbar zu tun oder eben zu lassen ist. Dabei werden sie nicht müde herauszufinden, von welchen Prinzipien sie sich selber leiten lassen wollen. Die Frage der Migration: So wie unser Gesellschaftssystem sich täglich mit dem Umgang mit uns Fremdem konfrontiert sieht, so stoßen auch Christen im Umgang mit anderem Denken nur zu oft an Grenzen, und wenn es nur unsere Gottesdienstformen betrifft. Als Christen kçnnen wir nicht ruhen, be-


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vor wir Leitlinien und Grundprinzipien entdeckt haben, die sich unter uns im Umgang mit anderem, uns mçglicherweise zunächst fremd erscheinendem Denken bewähren, sich also in diesem Sinne als wahr erweisen. Das wäre die Basis, in grçßerem Zusammenhang wirkungsvoll mitreden zu dürfen. Unsere Überzeugung: Wie sich die große Welt auch unter uns – stets als Kinder unserer Zeit – abbildet, so kann auch im Großen nur Geltung bekommen, was sich im Kleinen bewährt. Lügen haben kurze Beine. Was sich aber als wahr erweist, wird sich Bahn brechen, gerade in einer Welt, die nach Echtheit, Authentischem, Integrem lechzt und es satt hat, mit Worten belehrt zu werden, die nicht vom Leben gedeckt sind. Erste Priorität darf nicht haben, das Fragwürdige und Kritische in dieser Welt zu beurteilen. Erste Priorität muss haben, Modelle der Zukunft im Kleinen zu entdecken, diese zu leben und entsprechend Bewährtes verfügbar zu machen. Es gibt eine Chance, dass sich solches auch im Großen als tauglich erweist. Warum auch nicht?!

Der Aufbau dieses Buches Es ist ein Vorrecht, vor solchem Hintergrund das zu entfalten, was im Hinblick auf die kommenden 10 oder 30 oder 60 Jahre in der Luft liegt. Trends 2021 ist eine Fortsetzung des Buches Trends 2016. Vieles aus Trends 2016 gilt unvermindert. Es wird im Folgenden nicht wiederholt, vielmehr wird ergänzt, wo sich klarere Konturen des Kommenden abzeichnen. 2021 ist bald. Auch wenn wir im alltäglichen Leben angesichts vielerlei Nebelschwaden gut daran tun, «auf Sicht zu fahren», so


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kçnnen wir doch den Horizont nicht weit genug stecken. Nicht nur Fundament, sondern auch Firmament sind in einer sich rasant entwickelnden Welt unverzichtbar. Gut, wenn wir Fixsterne im Blick haben. Nicht nur der privat-persçnliche, sondern auch der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Alltag wird erträglicher. Christen haben eine ungebrochene Chance. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in fünf Teile. Wer von vornherein und primär an der Praxis christlicher Weltgestaltung interessiert ist, darf sich ohne schlechtes Gewissen erlauben, mit präzisem Lesen direkt in die Teile III, IV und V einzusteigen. Teil I und II konzentrieren sich auf Hintergründe, auf Grund-Legendes und auf die Bilanz der vergangenen 65 Jahre. Die Teile im Einzelnen: Teil I: Die Zukunft wird geboren. Weder schicksalshaft noch vçllig überraschend wird sie da sein. Gott ist ein Gott der Geschichte. Er schuf nicht nur Raum, sondern auch Zeit. Und in dieser Zeit liebt er nicht nur das Gestern und das Heute, sondern auch – um der Menschen und um seiner selbst willen – ganz besonders das Morgen. Teil I liefert die Grundlage zu dieser Liebe zum Morgen. Thema ist, wie Gott zur Geschichte steht, welche Dynamiken diese Geschichte kennzeichnet, warum Europa interessant ist und welche Verantwortung wir darin tragen. Teil II: 65 Jahre Friedenszeit – eine Bilanz. Hinter uns liegen 65 einzigartige Jahre der «Nach-Kriegszeit». Europa, in besonderer Weise Mitteleuropa, ist durch unübersehbare Errungenschaften gekennzeichnet: was die wissenschaftlichen und technischen Mçglichkeiten betrifft, was Wohlergehen und Wohlstand betrifft, was Freiheit und Sicherheit im Staat betrifft und was die Lebens-


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optionen von Einzelnen und von Gemeinschaften betrifft. Klar: Nçtig ist ein Blick auf Dinge, die wir im Hinblick auf lebenswerte Zukunft ungenügend gelernt haben. Auf acht solche eher notvolle Felder wird ein Blick geworfen. Fazit (Kap. 6): Wir leben in einer äußerlich glanzvollen, innerlich aber dürren Zeit. Not-wendig ist eine konstruktive, mündigmachende und zukunftsorientierte Theologie, die eine Ahnung davon hat, wie in Reife mit Erfolg und Misserfolg in unterschiedlichsten Lebensfeldern umgegangen werden kann (Kap. 7). Teil III: Die sich anbahnenden Dynamiken. Unglaublich spannend, was das erste Jahrzehnt im 21. Jahrhundert gebracht hat, was sich im «Schwellenjahr 2011» zugetragen hat und was sich im «entscheidenden Jahr 2012» anbahnt. Ist es Frühling? Man redete im Jahr 2011 viel vom «arabischen Frühling». Oder gleicht unsere Zeit mehr dem Sommer oder dem Herbst? Oder bahnt sich gar ein kalter Winter an? Sicher ist: Begrenzung, Umbruch und Scheitern liegen in der Luft. Demographie, Identität, Integration, Ressourcen: All dies sind hochbrisante und hochdynamische Themen. Aufschlussreich sind Entdeckungen im Zusammenhang von untergehenden Gesellschaften und Weltreichen, aber genauso auch die Hoffnungsspuren, die sich in den Jahren 2009 bis 2012 entdecken lassen. Teil IV: Den Rahmen schaffen, damit aus Trümmern Schçnes werde. Eine Reihe der in der Literatur vorzufindenden Megatrends werden zusammenfassend dargestellt und erklärt. Im Anschluss daran werden acht Prinzipien erläutert, die den Nährboden bieten, auf dem sich konstruktiv und mündig mit den Herausforderungen 2021 – speziell dem Scheitern – umgehen


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lässt. Herzensuniversität ist der Begriff, der den Lernort charakterisiert, um kommenden Dynamiken gut zu begegnen. Eine Theologie des Scheiterns wird skizziert, bevor – nochmals und präzisiert – das «Bild 2021» gemalt wird. Teil V: Übungsfelder: Stark sein im Scheitern. Die beiden ersten Kapitel dieses Teils widmen sich der inneren Befindlichkeit von Europa. Die Fragen: Wie wird ein mündiger Umgang, falls ein solcher denn nçtig ist, gelernt? Und: Was sind die Schlüsselfelder, in denen sich die Weichen über eine lebenswerte Zukunft in Europa stellen? Konkret: Was ist wie in diesen Schlüsselfeldern zu tun? Diesen beiden Kapiteln folgen zwei Weitblicke in die afrikanische und in die chinesische Welt. Zu beiden Welten muss sich Europa um seinetwillen und um der globalisierten Welt willen definieren. Dies wiederum mündet in die letzte Gedankenschleife innerhalb dieses Buches: vom Vorletzten zum Letzten. Christen sind die Hçrenden, denn sie glauben an einen Gott, der redet. Und Christen sind Zukunftserzähler: Sie erzählen, was sie von der Zukunft wissen. Und zuletzt: Sie sind die Sehenden. «Wir werden», so Johannes in seinem ersten Brief, «ihn sehen.» Das ist das Finale der Weltgeschichte. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist erreicht, wenn erkannt werden kann, &

welch großartige Verantwortung uns Gott im Hinblick auf den Gang der Weltgeschichte anvertraut hat. Ein Blick in die vergangenen 2000 Jahre lässt uns staunen, wozu Gott Christen genutzt hat. Das muss in den kommenden Jahrzehnten nicht anders sein;


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dass es im 21. Jahrhundert eine bessere Rolle und Aufgabe gibt als Zuschauer oder Schiedsrichter zu sein. Das Wort Gottes lädt uns ein, als Salz und Licht im besten Sinne des Wortes innerhalb der kommenden Welt Mitspieler zu sein; dass Christen nicht die von gestern, sondern die von morgen sind. Wo sie leben, gibt es Orte der Hoffnung, Orte der Wahrheit und Orte der Barmherzigkeit. Solche Orte gilt es zu entdecken, vorzudenken und zu entfalten.

Bevor wir uns auf das Abenteuer näheren Nach- und Vordenkens einlassen, danke ich herzlich: &

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All denen, die Fragen gestellt haben, Fragen stellen und nicht aufgeben werden, weitere Fragen zu stellen. Antworten auf aktuelle Herausforderungen liegen nicht einfach so in der Luft. Sie müssen hervorgelockt und errungen werden. Fragen sind die beste Art, zu diesem Prozess beizutragen. All denen, die sich auf ein gemeinsames Suchen und Forschen einlassen. Es ist das eine, sein eigenes Denken zu verfeinern. Es ist ein anderes, dieses Denken in ein grçßeres Ganzes einzubringen und korrektur- und ergänzungsbedürftig zu bleiben. Nur das kçnnte über das Private hinaus Bedeutung haben. All denen, die auch mir und uns, die wir am Zustandekommen dieses Buches mitgewirkt haben, geholfen haben. Nicht zuletzt ein großes Danke an den Brunnen Verlag, der u. a. in der Person von Christian Meyer unermüdlich ermutigt, Wege ermçglicht und mit hoher Wertschätzung mit all dem Unfertigen umgeht, mit dem so ein Buch in unterschiedlichen Stadien zusammenhängt.


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Wir starten eine Reise. Das Abenteuer, wenn auch nicht in Form einer Bettlektüre, geht los. Klippen werden, hoffentlich klug, umschifft. Im Zusammenhang von Fragen, die heute nicht oder nur ungenügend beantwortbar sind, verbleiben wir im Respekt und Wissen, dass eines Tages mehr Einsicht da sein wird und Licht auf all das fällt, was wir heute noch nicht wirklich deutlich sehen. Nach-, Vor- und Weiterdenken werden nçtig bleiben! Das wirkliche Sehen wird einer späteren Zeit vorbehalten sein.



Teil I: Die Zukunft wird geboren



Schwangerschaften, das kennen wir aus dem ganz normalen Leben, haben etwas Schçnes und Bewegendes an sich. Betroffene und weniger Betroffene wissen: keine Geburt ohne vorhergehende Schwangerschaft. In soziologischen Zusammenhängen wird zwar nicht von Schwangerschaft, jedoch von Inkubation bzw. «Inkubationsphase» gesprochen (u. a. Beck in seinem Buch Weltrisikogesellschaft). Die Behauptung: Was gesellschaftlich sichtbar und mçglicherweise plçtzlich vor Augen steht, hat bereits eine mehr oder weniger lange Inkubationszeit hinter sich, also eine Zeit, in der sich das plçtzlich sichtbare Faktum oder Ereignis heran- und ausgebildet hat. Zukunft wird geboren. Längst vor dieser Geburt wurde sie gezeugt, und längst bevor darüber gesprochen wird und man Genaueres weiß, wächst sie heran. Wer künftige Entwicklungen und Trends benennen will, wird sich unweigerlich mit diesem oft unbemerkten Entstehen und Heranwachsen beschäftigen müssen. Das Jahr 2011 scheint ein besonderes Jahr mit besonders viel bemerkenswerten Ahnungen zu dieser Schwangerschaft bzw. zu dieser Inkubationszeit gewesen zu sein. Unterschiedliche Menschen ahnen Unterschiedliches und doch Vergleichbares. Beispiele: Roman Herzog, früherer deutscher Bundespräsident: Die Welt, so sagt er, «bildet sich in einer dramatischen, aufregenden Weise um». Die Ahnung: Es geht etwas zu Ende, auch wenn noch sehr unklar ist, was am Entstehen ist. Als sicher gilt: Wir tun gut daran, uns auf etwas Neues, Andersartiges einzustellen. Thomas Mirow, Präsident der Europäischen Zentralbank: «Die Staaten haben sich verausgabt. Es ist kaum mehr trockenes Pulver übrig.» Die Ahnung: Die bisherigen Mittel und Wege insbesondere


staatlicher Art werden nicht genügen, um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Es braucht, wollen wir kommenden Anforderungen angemessen begegnen, künftig eine neue Zugangsweise mit neuen Ressourcen. Der Staat allein kann es nicht leisten. Alexander Kluge, Schriftsteller und Filmemacher: Wir leben in «ausgesprochen fragiler Zeit … Der Augenblick ist so gewaltig … als befänden wir uns in einer vorrevolutionären Zeit». Der Alltag «sei zwar noch intakt – der Bäcker çffnet ja seine Türen tagtäglich zur gleichen Zeit. Doch die bange Frage: Entgleist das Jahrhundert? Es ist eine Situation wie 1912». Die Ahnung: Die unreflektierte Fortführung des «Experiments Moderne» ist riskant. Der gute Ausgang ist nicht gesichert oder gar garantiert. Dunkle Wolken sind zumindest am Horizont. Eine Entgleisung muss vermieden werden. Jan Roß (Autor des Buches Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft): «10 Jahre nach 9/11 – der 11.9.2001 war das ultimative Drama, doch es war bloß ein Vorspiel». Die Ahnung: Der beschworene und abgestrittene Kampf der Kulturen ist nicht einfach zu Ende. Weder Einmischung noch Rückzug, etwa im Fall Afghanistan oder Irak, scheinen sich zu bewähren. Was dann? Unsichtbar, meist bloß zu erahnen, bahnt sich irgendetwas einen Weg, das wir noch nicht wirklich kennen und verstehen. Sicher ist allerdings: Etwas ist im Kommen. Und dieses Kommende ist anders als das bisher Gekannte. Weitere Zitate und Deutungen unserer Zeit dazu lassen sich leicht finden, etwa: «Überall auf der Welt fordern junge Leute die Politik heraus. Es ist die grçßte Revolution seit 1968» (DIE ZEIT, 18.8.2011).


Oder: Die Finanzkrise «verlangt von uns über viele Jahre hinweg eine Reise entlang tçdlicher Klippen» (DIE ZEIT, 11.8.2011). Dann: 2011 ist «in den Medien ein spezielles Jahr. Es brachte die hçchste News-Dichte seit dem 2. Weltkrieg». Deshalb die Frage: Wie gehen wir mit dem «Täglichen Nachrichten-Tsunami von 2011» um (DIE WELTWOCHE, 11.8.2011)? Oder: «Wir leben im falschen System. Die modernen Zeiten überfordern uns» (DIE ZEIT, 25.8.2011). Diese und ähnliche Ahnungen und Einschätzungen regen unweigerlich und unmittelbar zu einer Nachdenklichkeit an, wie sie kaum tiefgreifend genug sein kann. Das «Vor-Denken», wie es notwendig erscheint, setzt ein «Nach-Denken» voraus. Im Folgenden deshalb ein Blick auf das Phänomen Geschichte und Leben in der Geschichte, auf die Veränderung und auf Feststehendes in der Geschichte sowie auf das, was wir heute für das Morgen bewahren sollten. Zukunft wird geboren. Wir sind dabei. Was sollten wir dazu, zumindest im Hintergrund, wissen?


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Kapitel 1 Leben in der Geschichte: Die Zukunft lieben Geschichte ist nicht die Fachdisziplin, die von uns heutigen Menschen besonders geliebt wird. Es ist die Gegenwart, die uns mit ihren kaum zu bewältigenden Herausforderung packt. Dementsprechend konzentrieren wir uns auf brauchbare und anwendungsorientierte, unmittelbar verwertbare Informationen. Diese schätzen wir, denn wir glauben, dass sie es sind, die uns die alltäglichen Hürden in Gegenwart und Zukunft meistern lassen. Offensichtlich ist (leider): Nicht Geschichten über das Gestern suchen und wollen wir, sondern jenes Know-how, das im Heute hilft, die vor unseren Füßen liegende bedrohte Gegenwart zu bewältigen. Ausschließlich so zu denken und zu leben ist allerdings riskant – und besonders auch aus der Sicht Gottes kein Kçnigsweg. Darauf wird als Erstes einzugehen sein.

1.1 Gott ist ein Gott der Geschichte Wenn uns erfahrene Historiker oder langjährige Politiker sagen (etwa Christian Graf von Krockow in: Die Zukunft der Geschichte – Ein Vermächtnis, oder Jean-Claude Juncker angesichts seines Rücktrittes als Vorsitzender der Euro-Gruppe innerhalb der Europäischen Union), wie geschichtsvergessen wir doch heute sind,


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mag das gegebenenfalls noch wenig erstaunen und notfalls akzeptabel sein. Eher schon überraschend ist es, wenn bezüglich Theologie, die doch den Auftrag des Hirtendienstes in der Gemeinde hat, von einem «Misstrauen gegenüber der Geschichte» und von einer «Geschichtsfremdheit» die Rede ist.2 Sollte dies so sein, dann leben wir gefährdet – als Gesellschaft und als Gemeinde. Der Mensch lebt in Raum und Zeit. Schçpfung außerhalb von Raum und Zeit ist nicht denk-bar. Jede Pflanze hat einen Ort, jedes Tier hat seinen Raum, und jeder Mensch hat seinen Platz. Und nicht nur das: Alles, was heute ist, hat, in welcher Form auch immer, ein Gestern und ein Morgen. Ob wir wollen oder nicht, ob uns das bewusst ist oder nicht: Wir leben in der Geschichte, und zwar in vergangener und in kommender Geschichte. Diese Geschichte kann hingenommen, genossen oder erlitten werden. Sie kann aber auch gestaltet und beeinflusst werden. Folgende fünf Grundfakten im Zusammenhang mit Gott gilt es zu beachten, wenn kommende Geschichte nicht einfach hingenommen, sondern mitgestaltet werden soll: Faktum A: Gott schafft Zeit und Raum – er will gestaltete Orte und will gestaltete Geschichte «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.» So lautet der erste Satz der Bibel. «Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan …!» So lesen wir etwas später über den Auftrag, den Gott dem Menschen gegeben hat (1. Mose 1,28). Der ewige Gott schafft Raum und Zeit. Genau hier ist der von ihm erwünschte Platz, an dem er seiner Liebe Ausdruck verleihen und an dem diese sich ereignen und entfalten kann. Eine beson-


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dere Wesensart Gottes besteht darin, dass er Neues schaffen will. Raum und Zeit sollen in ihrer Begrenztheit nichts Statisch-Feststehendes, sondern etwas hçchst Dynamisches, in Entwicklung Begriffenes, Gestaltetes sein. In dieses dynamische, sich entwickelnde und gestaltete Geschehen nimmt Gott den Menschen hinein, gibt ihm Aufträge und traut ihm zu, mit diesen Aufträgen mündig umzugehen. Darin besteht die Würde des Menschen: Er wird an der gçttlichen Absicht beteiligt, und zwar im Hinblick auf die Gestaltung von Raum (etwa von Familie, Schule oder Arbeitsplatz) und auf die Gestaltung von Zeit (etwa der kommenden 10 oder 30 Jahre), von konkreten Orten und von konkreter Zukunft – bis Jesus wiederkommt. Faktum B: Gott offenbart sich in Raum und Zeit Gott hat sich seit Beginn des Experimentes mit der Schçpfung Menschen ausgesucht, durch die er sprechen konnte, durch die er sich zeigen konnte und durch die er mitteilen konnte, was ihm wichtig ist. Nachdem er, so lesen wir eingangs des Briefes an die Hebräer, viele Male und auf vielerlei Weise durch die Propheten geredet hat, spricht Gott «am Ende» durch seinen Sohn Jesus. Auf dieses Reden sollten wir achten, um «nicht etwa am Ziel vorbeizugleiten» (Hebr. 2,1). Gott begibt sich selber in Raum und Zeit. «Das Wort ward Fleisch» (Joh. 1,14). Unüberbietbar wird Gott, der durch sein Wort Himmel und Erde geschaffen hat, selber Teil der von ihm kreierten Historie. Er beugt sich hinein in diese von ihm gewollte und geschaffene Geschichte. Als Mensch wird Jesus, der Sohn Gottes, geboren. Wie ein Mensch, ganz «als Menschensohn», wächst er auf. Darin besteht die Würde dieser Welt. So sehr hat er sie geliebt.


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Aufgrund des Misslingens des Miteinanders von Gott und Mensch gibt Jesus sich hin, strebt nach Dienerschaft statt Herrschaft, und ist gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Hier trägt er die Sünde als Fehlausrichtung und Zielverfehlung des Menschen. Er nimmt die Strafe auf sich. Durch ihn «sind wir geheilt» (Jes. 53,5). Die Geschichte bekommt eine neue Chance. Denn Gott hat mit und in seiner eigenen Person innerhalb der von ihm geschaffenen Wirklichkeit von Raum und Zeit gesprochen, gehandelt und Neues ermçglicht. In diesen Fußspuren dürfen wir gehen – geschichtsgestaltend. Faktum C: Die Zeit soll genutzt werden «Siehe, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen» – so fasst Jesus sein Kommen zusammen (Mark. 1,15). Dies geschah, «als die Zeit reif war» (Luk. 9,51). Jetzt darf und soll das Neue geschehen. Schon früh in seinem çffentlichen Auftreten nimmt Jesus ausgewählte Menschen mit auf den Weg. Sie erfahren, was Reich Gottes ist, und sie werden beauftragt, an der Ausbreitung dieses Reiches mitzuwirken, also das Gleiche zu tun, was Jesus lebte und tat. Auch schwierigste Umstände bei den Gefährten und Jüngern Jesu konnten diesen Jesus nicht daran hindern, die Jünger auszusenden, um das lebensschaffende Wort zu verkünden und Zeichen der Herrschaft Gottes und damit der neuen Zeit zu setzen. Die Zuspitzung dieses Auftrages lautet: «Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch!» Beim Evangelisten Matthäus heißt es ganz schlicht: «Gehet hin!» Konkret meint dies nichts anderes als das Übernehmen und Weiterziehen der Sendung Jesu in dieser Welt. Die neue Zeit soll – durch Menschen wie Dich und mich – fortgesetzt werden.


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Leidenschaftlich ringen die verschiedenen Apostel in der Folgezeit darum, diese Sendung zu erläutern und in je unterschiedlichen Umständen Anweisung zu geben, wie dem Evangelium gemäß zu leben ist. Ziel etwa des Apostels Paulus: Dass das Kreuz Christi nicht entwertet werde, also in der Wirksamkeit im Hinblick auf die kommende Geschichte nicht etwa eingegrenzt wird (1. Kor. 1,17). Die durch Jesus vollbrachte Erlçsung soll sich entfalten. Und wenn davon die Rede ist, die Zeit doch «auszukaufen» (etwa Eph. 5,16 oder Kol. 4,5), wird die Dramatik deutlich, dass eben nicht beliebig viel Zeit vorhanden ist. Die Zeit, und mit ihr die Geschichte, ist begrenzt. Es gilt, sie zu nutzen. Faktum D: Das Gute ist umkämpft Gott umwirbt sein Volk. Dazu hat er alles gegeben. Das Drama aber: Das, was sich durch den Sündenfall in das Leben des Menschen und der Schçpfung eingeschlichen hat, hat überall Auswirkungen, wo der Mensch denkt, spricht und handelt. Besonders drei Einladungen spricht Gott aus, um dem Bçsen in den Menschen und in ihrem Umfeld Einhalt zu gebieten: &

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Wir sollen erzählen und lehren, was Gott getan hat. Im Alten Testament finden wir diesbezüglich etwa in Psalm 78 (vor allem Vers 1–7) konkrete Anweisungen, wie dies gehen kçnnte. Das Ziel: Vermeiden, dass sich eine «widerspenstige Generation» heranbildet. Wir sollen Feste feiern, also handeln. Feste dienen zur Erinnerung an das, was Gott Gutes getan hat. Bei den Juden sind dies etwa das Passahfest, das Laubhüttenfest und das Purimfest. Christen kennen Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmel-


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fahrt und Pfingsten. Es ist fatal, diese Jahreshçhepunkte jeweils nur unter dem Aspekt von Freizeit oder von çkonomischen Interessen zu sehen. Wir sollen im und mit dem Heiligen Geist leben. Mit Pfingsten kommt der Heilige Geist in die Geschichte und über «alles Fleisch». In der Folge führt er nicht aus der Geschichte heraus, sondern in die Geschichte hinein. Der Geist bleibt im Muster der Fleischwerdung Jesu. Als solches schafft er Geschichte, nicht zuletzt in Gründung und Erhaltung der Gemeinde. Genau hier dürfen wir dabei sein.

Konkret mahnt Petrus dazu, «alle Bosheit, allen Trug, alle Verleumdung» abzulegen und stattdessen hinzuzutreten zu dem «Eckstein, dem lebendigen Stein». In das «geistliche Haus» sollen wir uns «als lebendige Steine einbauen lassen», um als solches Menschen zu Gott und Gott zu den Menschen zu bringen (siehe 1. Petr. 2,1–9). Von hier geht gute Macht aus, Geschichte unter Vermeidung von Zielverfehlung zu verändern und zukunftsträchtig zu gestalten – geistlich und menschlich, ringend und kämpfend. Faktum E: Alles hat ein Ende Die Geschichte hat einen Anfang, sie hat aber auch ein Ende. «Und dann wird das Ende kommen», sagt Jesus in den sogenannten Endzeitreden (Matth. 24,14). Himmel und Erde werden vergehen. Was bleibt, ist sein Wort. Eindringlich redet dieses Wort vom Ende und wie Gott selber von Süden und Norden, Osten und Westen Menschen sammeln wird, um sie an seinem Tisch Platz nehmen zu lassen und mit ihnen das «Hochzeitsmahl des Lammes» (Luk. 13,29; Off. 19,7–9) zu feiern.


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Bei dieser Feier dabei sind die Menschen, mit denen zusammen Gott vor dem Ende der Geschichte die jeweils gegenwärtige Zeit gestaltet hat. Geladen werden jene Menschen sein, die in Raum und Zeit das Liebesangebot Gottes ernst genommen, ihr Leben hingegeben, riskiert oder gar verloren haben. Raum und Zeit werden dann nicht mehr sein. Das ist das Ende der Zeit. Gut, wer weiß, dass er beim Hochzeitsmahl dabei sein wird. Fazit: Gott will Geschichte – Gott ist Liebhaber der Geschichte. Wir tun gut daran, uns in diese Liebe zur Geschichte und damit zur Zukunft einzuklinken. Geschichtslose Existenz gibt es im Heute nicht. Wir stehen lediglich vor der Wahl, diese Geschichte entweder in Vergangenheit und Zukunft beiseitezuschieben und gering zu achten oder aber sie ernst zu nehmen und zu gestalten. Was kommt, soll und braucht nicht nur erlitten, erduldet oder bejammert zu werden, sondern darf – in den Fußspuren Jesu – mitgeprägt und mitbeeinflusst werden. Klar: Es ist und bleibt Gott, der Geschichte macht. Wir aber dürfen dabei sein – bis ans Ende. Das wiederum ist nicht nur Chance des Menschen, sondern seine einzigartige Würde. Dynamiken der Geschichte Gott will Geschichte. Gott begibt sich in die Geschichte. Gott wird Teil der Geschichte. Und Gott führt Geschichte zum Ziel. Der Mensch? Ihm scheint das Unterwegssein in der Geschichte eher schwerzufallen. Bereits Petrus hätte bekanntlich auf dem Berg Tabor lieber Hütten zum Bleiben gebaut, als die Mühe des Hinabsteigens ins Tal auf sich zu nehmen. Die von Gott gewollte und geschaffene Geschichte ist und bleibt Herausforderung. Die persçnliche Geschichte ist wie die


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Weltgeschichte ein Ringen in Wachstum und Niedergang, in Stärke und Schwäche, in Zunehmen und Abnehmen, in Werden und Vergehen, in Anfang und Ende. Nicht nur Menschen kommen und gehen, auch Reiche und Vçlker kommen und gehen. Geschichte entfaltet sich. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Manchmal ist – persçnliche und gesellschaftliche – Geschichte so, wie wir es uns wünschen, und manchmal so, wie wir es uns gar nicht wünschen. Was wir bezüglich künftiger Geschichte wissen kçnnen, das sollten wir festhalten. Es waren in den vergangenen Jahren vor allem zwei Personen, die sich maßgeblich zur Dynamik von Geschichte und zum Geschichtshandeln Gottes geäußert haben. Es war dies zum einen der Theologe Karl-Heinz Michel 1992 im Büchlein Wenn ihr dies alles seht und vertieft nochmals 2004 in Die Wehen der Endzeit. Von der Aktualität der biblischen Apokalyptik. Und es war zum andern Hartmut Schmid im Zusammenhang mit dem theologischen Arbeiten des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen. Karl-Heinz Michel beschreibt vier Grundmerkmale der Geschichte Gottes mit dieser Welt3: Grundmerkmal 1: Es wird immer wieder zu ähnlichen Ereignissen in der Geschichte der Welt kommen, in gesteigerter Form, bis zum Ende. Nicht um Einzelereignisse geht es dabei, sondern um Typisches, das sich stets neu wiederholt, zwar nicht als Kopie, aber doch in einer gleichen Logik. Das Bçse setzt, so Karl-Heinz Michel, immer weiterreichende Maßstäbe. Wann solche analogen Grundmuster wieder erscheinen, ist nur eine Frage der Zeit. Beispiel: Der 1. Weltkrieg etwa war im Vergleich zum Dreißigjährigen Krieg in den Jahren 1618 bis 1648 keine grundlegend neue Form der Auseinandersetzung zwischen den Vçl-


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kern, sondern nur eine noch scheußlichere Weise dieser Konfrontation. Grundmerkmal 2: Die ganze Weltgeschichte bewegt sich auf ein Ziel zu – auf Weltgericht und Weltvollendung durch Gott. Das Entscheidende: «Der Gerichtsgedanke ist nie das letzte Wort in der Bibel».4 Gericht heißt Scheidung und Unterscheidung. Immer, im Kleinen und im Großen, geht es darum, dass Untaugliches ausgeschieden wird, damit Taugliches Raum bekommt. So kommt es zur Weltvollendung. Grundmerkmal 3: In den sich steigernden apokalyptischen Ereignissen reift beides zur vollen Gestalt aus – das Bçse und die Gemeinde Jesu Christi. In Matth. 13,24–30 beschreibt der Evangelist dieses Ereignis anhand des Gleichnisses vom Weizen und vom Unkraut. Das Bçse, aber auch «die gute Saat», reifen aus. Wir werden ermahnt, dies zuzulassen. Das Entscheidende: Dass wir sehen und wahrnehmen, wie Gott seine Gemeinde heranreifen lässt. Auch wenn das Bçse, wie wir aus nahezu beliebig vielen Situationen wissen, eine Faszination ausübt, so ist die Entwicklung der Gemeinde Jesu um ein Vielfaches faszinierender. Dies sollte in unserem Urteilen über den Gang der Welt Beachtung finden. Grundmerkmal 4: Die Entfesselung des Bçsen ist den Absichten Gottes «eingeordnet» und muss der Vollendung der Gemeinde dienen. «Geduld der Heiligen» ist notwendig. Sicher aber ist die Absicht Gottes, dass «die Braut» für «die Hochzeit des Lammes» zubereitet wird. «Selig», so zitiert Karl-Heinz Michel den Seher Johannes, «die Menschen, die zum Hochzeitsmahl des


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Lammes geladen sind» (Off. 19,9). Dies vor Augen zu haben, heißt im besten Sinne des Wortes Durch-Blick zu haben. Neben Karl-Heinz Michel ist es vor allem Hartmut Schmid, der gemeinsam mit dem Dozentenkollegium des Albrecht-BengelHauses in Tübingen einen Beitrag zur Schrift zum Thema «Worauf kçnnen wir hoffen? Die Zukunft der Welt und die Verheißung des Reiches Gottes» geleistet hat.5 Schmid geht von der Tatsache der «Erschaffung der Zeit» aus. Zunächst unterscheidet er zwischen der Prägung der Geschichte durch «zyklische Abläufe» (der Tag, die Woche, das Jahr laufen nach der von Gott gesetzten Ordnung ab) und der Prägung der Geschichte durch «lineare Abläufe» (die Zeit schreitet stetig fort und erreicht ein stets neues Stadium; das 9. Jahrhundert ist nicht das 12., und das 12. Jahrhundert nicht das 21. Jahrhundert). In diesen beiden Grunddynamiken ereignet sich das konkrete Geschichtshandeln Gottes. Dabei gilt: a) Gottes Handeln ist zielgerichtet, nicht nur bezüglich des ganz großen Zieles, sondern auch bezüglich der «Etappenziele», mit denen Gott die Geschichte lenkt. (Beispiele: Die Urgeschichte zielt auf die Berufung Abrahams. Oder: Das Alte Testament zielt auf die Erfüllung in der Sendung Jesu.) b) Als Herr der Zukunft sagt Gott an, was kommen wird. An unterschiedlichen Stellen der Bibel lesen wir: «Siehe, es kommt die Zeit …» c) Verheißung und Erfüllung liegen in Spannung zueinander. Es gibt ein «Schon-Jetzt» (Jesus ist bereits gekommen), ein «ZumTeil» (Erneuerung findet statt) und ein «Noch-nicht» (Himmel und Erde sind noch nicht vergangen). d) Gott gibt Verheißungen, die sich verschiedenartig ereignen. Erstens kçnnen sie sich nacheinander jeweils anders in meh-


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reren Schritten erfüllen. (Beispiel: Abraham und die «zahllosen Kinder»; dies erlebte er selber. In Jesus aber erfüllte sich die Verheißung um ein Vielfaches deutlicher.) Und zweitens kçnnen sich Verheißungen vielfältig an verschiedenen Orten und in verschiedenen Personen erfüllen. (Der Prophet, der Mose folgen soll, ist sicher Josua, dann bestimmt aber auch Elia, und mit Sicherheit Jesus.) Für Schmid wie auch für Michel ist klar, dass Geschichte gleichzeitig Heils- und Unheilsgeschichte ist. Das Hoffnungsstiftende: Gott schafft durch sein Handeln in der Geschichte inkl. allen Unheils stets die entscheidenden Voraussetzungen zur Verwirklichung des Heils. Gott tut alles, damit der Mensch aus allen vergangenen und kommenden Geschichtsepochen Zugang zum Heil hat. Es liegt in der Freiheit des Menschen, diesen Zugang zu nutzen. Im säkularen Bereich werden zur Beschreibung der konkreten Ereignisse andere Worte, Begriffe und Kategorien benutzt. Hier ist zum Beispiel, wenn das Ende einer Weltmacht beschrieben wird, ganz schlicht von «Verfallsfaktoren» die Rede (etwa Demandt in seinem Buch Das Ende der Weltreiche). Aufstieg und Fall sowie die Auseinandersetzung zwischen Gut und Bçse werden genauso als Kampffeld beschrieben und interpretiert. Beides, Werden und Vergehen von Vçlkern, verfügt über bestimmte Kernmerkmale. Anzeichen von Verfall beispielsweise sind: Schwinden einer umfassenden systemtragenden Hoffnung; Erlahmung von Leistungswillen angesichts vorhandenen Wohlstands; die Unfähigkeit, mit Spannungen umzugehen; Akzeptanz von Teilreichen mit eigener Gesetzgebung; Nachlassen von Integrationsbemühungen.


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Es ist gerade für Christen hochinteressant, solche Faktoren zur Kenntnis zu nehmen, drohen doch nicht selten auch in christlichen Projekten und Werken durchaus vergleichbare Tendenzen. Beachtenswert aber erscheint in besonderer Weise: Nicht nur die Frage nach Wachstum, nach dem Grçßerwerden und nach der Zunahme von Bedeutung wird von Seiten des säkularen Denkens als spannend empfunden, sondern auch die Frage des Wenigerwerdens, des Niedergangs und des Abnehmens von Einfluss und Bedeutung. Mit Blick auf unsere heutige Zeitepoche zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Frage nicht mit Leichtigkeit zu beantworten, in welcher zeitlichen Phase wir uns als westliche und als gesamte Welt geschichtlich – und heilsgeschichtlich – gerade befinden: einer Zeit der Erstarkung und Entstehung von Neuem? Oder in einer Zeit der Schwächung und des Niederganges des Gewordenen? Sicher ist, dass viel darauf hindeutet, dass Gewordenes eher Merkmale von Verfall als Merkmale zunehmender Erstarkung aufweist. Zwei bereits vor 60 Jahren erahnte Phänomene: &

Der «Verlust der Mitte»: Es war Hans Sedlmayr, der 1948 das mittlerweile in 17. Auflage erschienene Buch Verlust der Mitte verfasste. Ein Verlust der Mitte war das, was er damals als Grundgefährdung der kommenden, nicht näher definierten Zeit umschrieb. Matthias Horx bestätigt diese Ahnung in seinem Buch Future Fitness. Horx spricht von der «toten Mitte» und verstärkt das mit der Aufforderung, doch «die tçdliche Mitte zu verlassen».6 In jedem Aufbau von Gesellschaften – Analoges gilt für Gemeinschaften im Kleinen – muss aufgepasst werden, dass angesichts all des äußeren Perfektionie-


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rens von Auf- und Ausbau nicht die Mitte, also das, was ursprünglich Sinn- und Hoffnungsperspektive war, aus den Augen verloren wird. Die «Macht über die Technik». Es ist Romano Guardini, der – wie Sedlmayr unmittelbar im Anschluss an den 2. Weltkrieg – bereits 1948 in seiner Schrift «Die Macht der Technik» die Sorge und Frage beschreibt, wer oder was die Herrschaft über die Technik ausübt. Guardini weiß, dass der Mensch Herr über die Technik sein muss – niemals umgekehrt.

Die Frage bleibt: Wie definiert man das erste und zweite Jahrzehnt im 3. Jahrtausend? Klar ist nach den bisherigen, einleitenden Gedanken u. a. dies: & &

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Unsere Zeit ist eine Zeit des Umbruchs. Unsere Zeit ist eine Zeit, die sich mit einem Weniger auseinanderzusetzen hat. Unsere Zeit ist eine Zeit, in der sich Ahnungen, die zu Beginn der vergangenen 65 Jahre formuliert worden sind, bewahrheiten. Wir sollten solchen Ahnungen – im Unterschied zu plumpen Drohungen – Hochachtung entgegenbringen. Biblisch gesprochen würde dies heißen, dem Prophetischen Raum zu geben.

Innerhalb des genannten Geflechtes von Dynamiken finden Einzelentwicklungen statt. Dazu gehçren etwa: zunehmende Parallelitäten von Menschen und von Systemen, zunehmende Komplexität und rasant beschleunigte Geschwindigkeiten, zunehmende Loslçsung von Gewordenem aus dem Rahmen der ursprünglichen Idee, zunehmende Mangelszenarien und Ressour-


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cenknappheiten, zunehmende Überreizung von Personen und Gruppen und damit zusammenhängendes Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Überzeugungssystemen. Geschichte unterliegt einer bestimmten Gesetzmäßigkeit und Logik. Dazu gehçrt, dass Zukunft geboren wird, dass das Morgen Frucht vom Heute ist, dass unterschiedlichste Kräfte miteinander im Wettstreit liegen und dass es aufbauende und zerstçrende Faktoren gibt. Das Trostvolle und Haltgebende: Die Geschichte entgleitet dem, der sie geschaffen hat, nicht. Das war in der Vergangenheit so, und das wird auch in der Zukunft so sein.

1.2 Gott gibt Verheißungen Gott ist Liebhaber der Geschichte. Und Gott will, dass Geschichte gelingt. Grund-legend im wçrtlichen Sinn hat Gott in diese Welt und Geschichte seinen Sohn gegeben. Einen andern Grund, so Paulus, kann niemand legen (1. Kor. 3,11). Gott nun scheint den Menschen, was dessen Haltung im Hinblick auf die Zukunft betrifft, zu kennen. Er weiß: Wenn der Mensch sich aus sich selber heraus Gedanken dazu macht, was werden soll, ist die Gefahr für abwegige Ideen groß. Dies ist Grund genug, dass Gott selber sagt, was sein wird, und selber sagt, was er tun mçchte. Gott gibt die Verheißungen. Diese Verheißungen sollen die Ideenwelt des Menschen prägen und ausrichten. Durch sie werden menschliche Vorstellungen im besten Sinne des Wortes relativiert. Verheißungen Gottes sind einzigartiger Nährboden für qualifiziertes Nachdenken über Gegenwärtiges und Zukünftiges.


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Jesus selber war Kenner der Verheißungen. «Heute», so sagt er beim (Vor-)Lesen einer alttestamentlichen Verheißung, hat sich «dieses Schriftwort vor euren Ohren erfüllt» (Luk. 4,17–21). Was Gott durch den Propheten Jesaja 800 Jahre vor Christus angesagt hat, ist jetzt Wirklichkeit geworden – vor den Ohren und Augen konkret lebender Menschen. Jesus kannte und wusste dies. Er konnte den richtigen Bezug herstellen. Er hat weder am Wort noch an sich gezweifelt. Es lohnt sich, sowohl im Alten wie im Neuen Testament jene Stellen zu markieren, die den Verheißungston in sich tragen. Nicht selten sind wir auch beim Bibelstudium zu ausschließlich daran interessiert, einerseits viel von dem zu wissen, was ist und was die Bibel über ganz bestimmte, oft sehr spezielle Dinge aussagt, und andererseits stark wahrzunehmen, was wir alles tun sollten. Eher zweitrangig kommt in unseren Gesprächen und Predigten all das vor, was Gott verheißt und womit er unsere Gedankenwelt über Zukünftiges nährt und ausrichtet. Dies ist korrekturbedürftig. Fraglos: Wir kennen eine Reihe von Verheißungen. Meist betreffen diese allerdings primär unser persçnliches Ergehen und unseren individuellen Rahmen. Dass Gott mit uns ist, dass uns nichts aus seiner Liebe reißen kann und dass er uns auch im Leiden nahe ist, gilt unwidersprochen. Etwas weniger geübt sind wir im Umgang mit Verheißungen, die jenseits des individuellen Rahmens liegen. Beispiele: Dass tatsächlich «Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Rebmessern geschmiedet werden» und dass «der Krieg nicht mehr gelernt wird» (Jes. 2,4), dass «Himmel und Erde vergehen, sein Wort aber bleibt» (Matth. 24,35), dass «alle Tränen von den Augen abgewischt und kein Leid, kein Schmerz und


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Leben in der Geschichte: Die Zukunft lieben

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kein Tod mehr sein wird» (Off. 21,4): All diese Worte lesen wir selten als konkrete Verheißungsworte, viel eher als Beschreibung einer jenseitigen Welt, die mit der jetzigen Welt kaum etwas zu tun hat. Natürlich sprengen solche Verheißungen den Horizont unserer Vorstellungen. Dies jedoch sollte nicht verhindern, ihnen entscheidende weltgeschichtliche Bedeutung zuzumessen – nicht nur irgendwann, sondern bereits im Hier und Jetzt. Genau an dieser Stelle besteht der Ausgangspunkt für die Annahme, dass von Christen in den kommenden Jahrzehnten grundlegende Wirkung ausgeht. Für die «Väter des Pietismus», also beispielsweise Spener, Zinzendorf oder Francke, war es nur schwer erträglich, wenn sie sahen, wie zwar ein Bewusstsein der Bedeutung von Karfreitag oder des Jüngsten Gerichtes in der Bevçlkerung vorhanden war, dies jedoch mehr zu «kleinbürgerlicher Zufriedenheit» als zu einem Leben aus dem Glauben führte. Insbesondere Philipp Jacob Spener spricht deutlich von der «Hoffnung zukünftig besserer Zeiten». Es gilt, Hand anzulegen. «Wach auf, du Geist der ersten Christenheit …», so mahnt eines der damals gedichteten Lieder. Ein Interpret, M. Schmidt, spricht deshalb davon, dass durch diese neue Sicht «eine ungeahnte Geschichtsfreudigkeit entbunden worden ist».7 Gott gibt Verheißungen. Nicht nur für das Leben nach dem Tod, sondern auch für das Leben vor dem Tod; nicht nur individuell, sondern gemeinschaftlich. Verheißungen nähren unsere Vorstellung von dem, was kommt. In den Verheißungen Gottes wurzelt zutiefst unsere Hoffnung. In ihnen ahnen wir, was von Gott her heute und morgen mçglich ist. Durch sie werden wir gereizt, den «betrübten Zustand» (Spener) zu überwinden. «Die Zeit», so


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Egelkraut, «der großen Taten Gottes liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Gott hat sein Wort gegeben.» Diese Zukunft beginnt nicht irgendwann. Sie beginnt jetzt, heute, mit uns.


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Kapitel 2 Damit Dinge nicht bleiben, wie sie sind Welt ohne Christentum – was wäre anders? So lautet der Titel eines Buches, dessen Autor Hans Maier ist, Professor für politische Wissenschaft und ehemaliger Kultusminister in Bayern. Einleitend fragt er, wie denn die Welt ohne Christentum aussähe: Wäre sie besser? Wäre sie schlechter? Darüber «wird man lange spekulieren kçnnen». Sicher ist: Sie wäre «anders» (S. 9). Dieses Anderssein soll im Folgenden aufleuchten – immer um Schwung zu holen, den Bedrängnissen unserer aktuellen und künftigen Zeit gut und «mündig» (siehe Eph. 4,11–15) begegnen zu kçnnen.

2.1 Wo Christen sind, verändern sich Dinge Der Apostel Paulus schämte sich des Evangeliums nicht (explizit etwa in Rçm. 1,16). Sein Bestreben war es, dieses Evangelium bis an die Enden der Welt zu bringen. Es sorgte für Aufruhr: Aufruhr in Kleinasien, Aufruhr in der griechischen Welt und Aufruhr im Rçmischen Reich. Immer traf das Evangelium eine wunde Stelle des damaligen Denkens und der damaligen Kultur. Das Evangelium provozierte. Es bewirkte Entscheidung. Nur ein Dafürsein oder ein Dagegensein kam in Frage. «Lauheit» bzw. das «Sowohlals-auch» war im Hinblick auf das Evangelium destruktiv. Sicher ist: Wo Paulus war, waren die Dinge nicht mehr wie zuvor.


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Aus eigener Erfahrung werden viele Menschen bestätigen kçnnen: Es war in der Regel ein ganz konkreter Mensch, der dazu inspiriert hat, das eigene Leben zu hinterfragen. Nach der Begegnung mit bestimmten Menschen, vielleicht auch mit ihrer Lebens-, Glaubens- und Denkweise, war es bei uns nicht mehr so, wie es vor dieser Begegnung war. Die Begegnung hinterließ Spuren. Sie veränderte. Die Kirchengeschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, wie Herzensveränderungen von Menschen Auswirkungen in das unmittelbare Umfeld hatten. Zahllose Biographien zeugen davon, wie das Evangelium, zunächst ganz schlicht durch Menschen bezeugt und weitergesagt, Kreise zieht: in Familie, Nachbarschaft, Schule, im Krankenhaus, in der Firma und im Rathaus. Wo Christen sind, verändern sich die Dinge. Das Evangelium kann nicht ohne Wirkung sein. Es gilt: Nie ist Christsein bloß eine innere, beim Einzelnen stehen bleibende Angelegenheit. Auch wenn das Individualistische heute vorherrscht und wenn es sich nicht geziemt, andern Menschen in ihre Angelegenheiten hineinzureden, so ist Christsein, wenn es echt ist, immer eine überindividuelle Angelegenheit und als solche stets kulturell wirksam. Nie verändert sich bloß die Innenwelt eines Menschen. Glaube hat und wird Kultur. Glaube verändert Gesellschaft. Eigentlich gilt, in Anspielung auf Paul Watzlawik: Christsein kann nicht nicht kultur- und gesellschaftsverändernd sein. Das ist die Chance – für Christen, für unsere Dçrfer und Städte, für unsere Länder und unsere Welt.


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2.2 Ohne Christen wäre Europa nicht, was es ist Ohne Christentum, das ist zweifelsohne so, wäre Europa heute anders. Beispiele: Unsere Stadtbilder (immer noch geprägt und attraktiv durch die in längst vergangener Zeit gebauten Kathedralen), unsere Staatsform, unsere (mitteleuropäischen) Verfassungen, unsere Gesetzgebung, unser Zeit- und Geschichtsverständnis, unsere Auffassung von Arbeit und Besitz, unser Menschenbild, unser Verständnis von Schçpfung – dies alles wäre anders. Das verschiedenartige Kulturgut von Staaten und Ländern aus ganz anderem Wurzelgrund (Beispiel China) bietet hinreichend Mçglichkeiten, solche Vergleiche anzustellen. Gott gefällt es, bestimmte Menschen und Gemeinschaften zu rufen, sie zu beauftragen und mit ihnen ein Stück Wegs zu gehen. Warum nicht einmal denken, dass dies auch im grçßeren Kontext so sein kçnnte? Zumindest lässt sich sagen: Irgendwie – geheimnisvoll – muss es Gott gefallen haben, die Sache des Evangeliums zuerst und immer wieder neu in Europa anzugehen und deshalb mit Europa einen entsprechenden Weg zu gehen. Erstes Anzeichen für diese Absicht war ein Traum. Hier hat Paulus die Stimme eines «mazedonischen Mannes» vernommen, doch herüberzukommen und zu helfen: «Komm herüber und hilf uns», lautete die unmissverständliche Aufforderung (Apg. 16,9). Von Asien – konkret von der heutigen Türkei – her sollte Paulus hinüber nach Europa gehen. Sicher, von Jerusalem aus wären auch Asien/Indien oder aber Afrika eine Variante gewesen, als Wiege des Evangeliums zu dienen. Doch Gott hat es gefallen, Europa zu wählen, obwohl er es mçglicherweise mit Asien oder Afrika leichter gehabt hätte, damals wie heute.


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Gott hat es gefallen, in und mit diesem Europa Geschichte zu machen. Dieses Europa war, in aller Zerbrechlichkeit, während der vergangenen 2000 Jahre immer wieder neu der Ort, an dem sich das Evangelium in seiner vielfältigen Form ereignen und entfalten konnte. Spannend zu sehen ist es, wie Gott im Laufe der europäischen Geschichte in jeder noch so krisenhaften Zeit Antworten auf Bedrohungen und Gefährdungen hatte. Trotz teilweise abscheulichem Verhalten von Menschen hat Gott seine Hand nie von diesem Kontinent abgezogen. Immer wieder hat er sich mit Impulsen und Perspektiven eingemischt und Neues geschaffen. Eine kleine Übersicht soll das in aller Bruchstückhaftigkeit veranschaulichen: Kulturgeschichte

Antwort Gottes

Chaos im ausgehenden Rçm. Reich

Ù

Klçster (im Mittelalter)

Krankmachende Machtstrukturen im Rahmen der Staatskirche

Ù

Gnade (der Reformation)

Zerstçrungswut im 30-jährigen Krieg und Entmündigung Gottes in der Aufklärung

Ù

Allgemeines Priestertum und Gemeinschaftsbewegung (im Pietismus)

Privatisierung des Glaubens im Zuge der Industrialisierung

Ù

Verstärkte Ausgießung des Geistes Gottes (in der Heiligungs- und Pfingstbewegung)

Veräußerlichung im Wiederaufbau der Nachkriegszeit

Ù

Charismatische Erneuerung

Umbrüche der Postmoderne

Ù

??? (Unsere Ahnung: Es ist Hoffnung.)


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Wo immer Fehlentwicklungen innerhalb unserer Gesellschaft mehr oder weniger offensichtlich waren, hat Gott gesprochen: durch den Ruf in das gemeinsame Leben, durch die Erinnerung an die Gnade, durch die Verheißung des Heiligen Geistes. Beispiele zu obiger Skizze: &

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Das Chaos im Rçmischen Reich: Das dritte, vierte und fünfte Jahrhundert nach Christus gilt als Zeit des Verfalls des Rçmischen Reiches. Die Welt wurde zusehends zu einer Bühne: «Verkleide dich und spiel deine Rolle – und verbanne jeden ernsthaften Gedanken …». So lesen wir in einem Gedicht. Die Bauern würden «das Land verlassen», die Händler «die See» und die Soldaten «das Lager».8 Das Christentum war seit dem Jahr 324 staatlich anerkannte Religion, doch die Zerfallserscheinungen waren auch da allgegenwärtig. Die Antwort Gottes: Klçster. Missbrauchte Macht und krankmachende Machtstrukturen in der damaligen Weltkirche: Die Schwarze Pest 1348 war Hçhepunkt der «inneren Erkrankung» der damaligen Zeit.9 Sie signalisierte definitiv, dass im ausgehenden Mittelalter grundlegende gesellschaftliche Veränderungen notwendig waren. «Gnade», entdeckt im Rahmen der Reformation, war die Antwort Gottes. Die Gnade wiederum war lebensermçglichende Grundlegung einer «neuen» Welt – der «modernen», scheinbar zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Ende gehenden Welt. Sie war Sprungbrett für die enorme Leistungsbereitschaft und Leistungswilligkeit innerhalb der auf das 15. und 16. Jahrhundert folgenden 500 Jahre. Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648 und die Aufklärung mit der Betonung der Ratio: Europa war 1648 ein Trümmerfeld.


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Zerstçrungswut hinterließ unsägliche Not. Sie und die allgegenwärtige «Armut» war ein «Schandfleck unseres Christentums» (Johann Arndt, 1555–1621, einer der damals wichtigsten nachreformatorischen Theologen). Nachdem dies derart offensichtlich war, lag eine Antwort nahe. Gott hat sie in Form des frühen Pietismus gegeben. Christen schlossen sich unter Anleitung von Philipp Jacob Spener, dem «Vater des Pietismus», zu «Sozietäten» zusammen. Dies kam nicht nur den Christen selber, sondern umfassend der Gesamtgesellschaft zugute, wurde doch die Armenpflege neu geordnet und der «Bettelplage» beispielsweise in Berlin ein Ende gesetzt. Die bis heute wirkende Form des Pietismus, etwa was Gemeinschaft und Verbindlichkeit betrifft, wurde geboren. Und damit hatte Gott auch die Antwort auf die später folgende Aufklärung mit ihrem Motto gegeben, die Vernunft zur obersten Instanz des Lebens zu machen. Industrialisierung mit der massenhaften «Auswanderung von zu Hause»: Industrialisierung bedeutete nicht nur den Auszug des Handwerks in Fabriken und Industriegebäude, sondern auch den Auszug der Männer von zu Hause und damit weg von Ehefrau und Kindern. Das vçllig neuartige Umfeld war nicht mehr gleichzeitig der Ort des Glaubens. Vielmehr waren es andere weltanschauliche und ideologische Konzepte, die hier das Denken prägten. Der christliche Glaube erlebte einen ersten großen Schub der Privatisierung. Nicht umsonst stießen Marx und Engels im 19. Jahrhundert auf ein derart positives Echo, trafen sie doch auf so etwas wie ein weltanschauliches Vakuum. Gott hat auch hier eine Antwort gegeben – mçglicherweise jene Antwort, die wie kaum eine andere unter Christen zu Beginn


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des 20. Jahrhunderts vom Bçsen angegriffen und in ein umkämpftes Feld hineingezogen worden ist. Interessant ist, dass die Pfingstbewegung bis heute weltweit gerade in der arbeitenden Bevçlkerung stark verwurzelt ist. Veräußerlichung im Wiederaufbau in der Zeit nach 1945: Wachstum, Leistung und Wohlstand waren das Motto der Nachkriegszeit. Auf den «Verlust der Mitte» (Sedlmayr) und die Frage nach der «Macht über die Technik» (Guardini) wurde bereits hingewiesen. Die charismatische Erneuerungsbewegung war seit rund 1960 nochmals eine starke Antwort Gottes auf die Veräußerlichung des Menschen bzw. des brüchig gewordenen Miteinanders von Menschen. Zur Überwindung dieser Brüchigkeit bedarf es des Heiligen Geistes als Trçster und Bevollmächtiger.

Neben diesen sehr holzschnittartigen Breschen europäischer Geschichte gibt es eine Reihe weiterer, nicht zu übersehender Errungenschaften, die ohne das Christentum nicht denkbar gewesen wären. Beispiele: &

Die Universitäten seit 1088 (Gründungsdatum der Universität Bologna): Die Universitäten sind aus dem Raum der Anbetung und der Kirche entstanden. Ohne das Grundstreben, dass der Glaube auch das Denken beherrschen soll (etwa nach dem Leitspruch von Anselm von Canterbury: Fides quaerens intellectum – der Glaube strebt nach der Einsicht bzw. will in das Denken) und dass der Glaube in die natürlich-sichtbare Welt will, hätte kein Bedarf nach hçheren Schulen bestanden. Dieser doppelte Drang aber führte zu den in Europa nicht mehr wegzudenkenden Universitäten.


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Die Menschenrechte: Die Menschenrechte gründen im Begriff der Menschenwürde. Diese wiederum ist nicht vorstellbar ohne den Bezug zum Selbstverständnis des Menschen, als unantastbares und unverfügbares Gegenüber Gottes geschaffen zu sein. Die dem Menschen innewohnende Würde hatte das Eintreten für unverfügbare, universal geltende Menschenrechte zur Folge. Das deutsche Grundgesetz 1949: Ohne die in christlichem Denken verankerten Werte wäre das Deutsche Grundgesetz – in Kraft seit dem 23.5.1949 – zum einen nicht derart selbstverständlich und zum andern nicht derart schnell entstanden. Vordenker waren u. a. Männer und Frauen aus dem christlich motivierten Widerstand. Unverzichtbare Koordinaten des menschlichen Miteinanders waren für diese Menschen aus nachvollziehbaren Gründen offensichtlich. Soziale Marktwirtschaft: Wenngleich die Wurzeln des Sozialstaates im frühen Pietismus zu suchen sind, so geht doch der Entwurf der expliziten Sozialen Marktwirtschaft auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg zurück. Bereits während des Krieges gab es den sogenannten Freiburger Kreis, zu dem etwa Leute wie Alfred Müller-Armack gehçrten. Letzterer war in der christlichen Soziallehre gedanklich verwurzelt, schrieb 1948 das Buch Das Jahrhundert ohne Gott und wurde zum Wegbereiter von Ludwig Erhard, dem Herausgeber des Buches Wohlstand für alle (der «Bibel» der Sozialen Marktwirtschaft).

Unzählbar sind die Männer und Frauen, die im Laufe der vergangenen knapp 2000 Jahre Beiträge gegeben haben, dass das Gesicht Europas heute so ist, wie es ist. Natürlich waren es Männer


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und Frauen wie Augustinus von Hippo, Benedikt von Nursia, Thomas von Aquin, Teresa von vila, Martin Luther und Johannes Calvin, August Hermann Francke, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Johann Hinrich Wichern, Eva von Tiele-Winckler, Christian Friedrich Spittler, Dietrich Bonhoeffer und viele andere. Ganz wesentlich waren es aber stets auch die zahllosen Weggefährten, die vielen Unscheinbaren und nicht zuletzt die unzählbaren «Stillen und still Betenden im Lande», von denen weder Medien noch Bücher berichten. Sie sind nicht weniger Teil des Gesichtes eines hoffnungsvollen, zukunftsorientierten Europas. Die Preisfrage, die auf der Hand liegt: Was wird die Antwort Gottes in der Zeit sein, die wir in der Regel «Postmoderne» nennen? Unsere Ahnung: Es wird Hoffnung sein. Wir glauben, dass Hoffnung in einer geschichtslos werdenden Zeit jenes Gut ist, das Gott ins Bewusstsein ruft und dieser Welt neu schenkt. Der Ruf nach Orten der Hoffnung, also nach Orten, an denen Hoffnung ein Gesicht bekommt, an denen Hoffnung getankt werden kann und an denen Hoffnung über das Individuelle hinaus gestiftet wird, ist unüberhçrbar. Uns scheint, dass so etwas am Entstehen ist – als Antwort auf die Not der Postmoderne.

2.3 Christen: Salz und Licht dieser Welt Das Wort vom Salz und vom Licht – es stammt aus einer der ersten Reden Jesu (Matth. 5,13–16) – ist bekannt. Dieses Wort vom Salz und vom Licht drückt aus, in welcher Art das Evangelium die Welt, in der es gelebt wird, verändert. Zwei Dynamiken im Zu-


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sammenhang mit diesem Wort sind in besonderer Weise hervorhebenswert: a) Dass dieses Wort eben ausgerechnet im Anschluss an die sogenannten Seligpreisungen steht. In den Seligpreisungen erläutert Jesus die Art, wie sich das Evangelium in dieser Welt zeigt und artikuliert. «Selig» sind nicht jene Menschen, die die Dinge beherrschen, die stets im Vordergrund stehen und die Dinge (scheinbar) im Griff haben. Selig sind vielmehr jene Menschen, die «geistlich arm» sind, die «Trauer» haben, deren Grundgesinnung in «Sanftheit» besteht, die «hungern und dürsten nach Gerechtigkeit» (diese also nicht selber herstellen wollen), die «barmherzig» und «reinen Herzens» und «friedfertig» sind, die «um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden» und die sich «schmähen» lassen. Dies scheinen die «himmlischen Qualitäten» zu sein. Und diese Qualitäten sind es, die als Salz und Licht Wirkung haben – mehr Wirkung als all jenes Tun, bei dem der Mensch selber versucht, die Angelegenheiten dieser Welt in die Hand zu nehmen. b) Und dass Salz wirkungslos werden kann. Das Salz ist dann mit der Wirkung vergleichbar, die vorliegt, wenn über ein Licht eine lichtundurchlässige Abdunkelung gelegt wird. Dies aber ist nicht die Idee des Evangeliums. So wie Licht jede Dunkelheit zu überwinden vermag, so wird «scharfes Salz» in allen Umständen Veränderung bewirken. Scharfes Salz hat Wirkung – merklich und unmerklich, bewusst und unbewusst, beabsichtigt und unbeabsichtigt. Die vergangenen 2000 Jahre sind voll von Beispielen, in denen die Wirkung von Salz und Licht deutlich wird. Viel zahlreicher


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noch sind die Beispiele, die uns nicht einmal überliefert sind. Dazu gehçrt, was sich schlicht unbemerkt ereignet hat, und all das, dessen Bedeutung erst Generationen später erkannt worden ist. Die Tradition des Christentums enthält ein nahezu unübersehbar vielfältiges Repertoire an Mçglichkeiten und Varianten, die praktiziert werden und werden kçnnen, damit das Salz scharf bleibt. Beispiele aus diesem Repertoire: Auf Gott hçren, sein Wort weitersagen, Maßhalten, tapfer tun, was Gott spricht, die «Gemeinschaft der Heiligen» nicht verlassen. Dies sind nur einige wenige Dinge, die in der Vergangenheit erprobt wurden und in der Zukunft unverzichtbar sein werden. Sie alle bewirken, dass Salz und Licht ihre Wirkung nicht verfehlen.


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