Verena Birchler Lebensbalance – dir selbst zuliebe!
«Habe dein Schicksal lieb, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele.» Fjodor M. Dostojewski «Wenn mçglich, bitte wenden!» Mein Navigationsgerät
Man muss nicht immer mit oder gegen den Strom schwimmen. Manchmal ist es gut, sich einfach ans Ufer zu setzen und zu schauen, wie alles an einem vorbeifließt.
Die Autorin Die Autorin lebt ein temporeiches Leben. Das tat sie schon immer. Bis ein Moment kam, an dem nichts mehr ging. Erschçpft von der Intensität des Lebens realisierte sie, dass sie Tempo aus ihrem Leben nehmen musste. Und das war gut so. Heute sagt sie: «Ich bin froh, dass ich früh die Erfahrung einer Erschçpfungsdepression hatte. Dadurch hatte ich die Mçglichkeit, meinem Leben eine neue Richtung zu geben.» Als Medienschaffende und Kommunikations-Designerin hat sie auch heute noch ein durchaus respektables Lebenstempo drauf. Aber nicht durchgehend. Ihr persçnliches «Survival-Kit» in Sachen Lebensbalance sind kurze, aber regelmäßige Auszeiten und die Kunst, «Nein» zu sagen. Seit vielen Jahren leitet die Medien- und Kommunikationsfachfrau Seminare, die durch ihren praxisorientierten Ansatz echte Hilfe in Konfliktsituationen vermitteln. Sie coacht çffentliche Persçnlichkeiten für Medienauftritte und ist regelmäßig beim Radiosender «Life Channel» zu hçren. Verena Birchler nennt sich Kommunikations-Designerin, weil sie jeden Menschen für ein Kunstwerk hält, hinter dem Gottes Kreativität steckt. Kontakt: www.talkmotion.ch kontakt@talkmotion.ch
Verena Birchler
Lebensbalance – dir selbst zuliebe! Zwischen Stress und Entschleunigung, zwischen Valium und Adrenalin: Finde den richtigen Weg fßr dich.
Verlag Basel . Giessen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Die Bibelzitate wurden, soweit nicht anders angegeben, der revidierten Hoffnung für alle entnommen: 1983, 1996, 2002 Biblica Inc.TM, hrsg. vom Brunnen Verlag Basel.
2013 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgçns Fotos Umschlag: RTimages, Ramona Heim / Shutterstock.com Foto U4: Lerche & Johnson / Shutterstock.com Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1532-3
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Inhalt Vorwort................................................................................. Das Leben ist zu kurz, um hektisch rumzuhängen ........................... Sitzungen besuche ich nur, wenn sie wirklich Sinn machen ..............
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1. Entschleunigung ist mehr als ein Modewort ........................... Entschleunigung täte auch den Kirchen gut .................................. Achtsamkeit – ein verlorenes Wort ..............................................
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2. Wer vergibt, hat mehr vom Leben ......................................... Die verlorenen Gärten in unseren Seelen....................................... Wie Gott mir, so ich dir ............................................................. Aller Anfang ist schwer ............................................................. Hast du wirklich vergeben? ........................................................
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3. Gesundheitswahn und ewiges Leben ..................................... Dem Leben eine Pause gçnnen ................................................... Das Recht auf Gesundheit.......................................................... Achtsam das Leben gestalten ..................................................... Lebe jetzt – zahle später ........................................................... Das ¾ndern leben..................................................................... Genussfeinde sind ungemütlich ..................................................
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4. Mit Leistung kçnnen wir nicht immer brillieren ..................... Wenn mçglich, bitte wenden!..................................................... «Ich stand gerne im Mittelpunkt» ...............................................
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5. Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.............................. Wie ist das denn nun mit diesen Gottesbildern?.............................
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Mit Gott frçhlich das Leben genießen ..........................................
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6. Burnout – Wundbrand der Seele ........................................... Wir reden oft von Hoffnung .......................................................
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7. Bedrohliche Lebenskrisen – die Botschaft richtig verstehen .... Die Phasen der Krise................................................................. Hilfreiche Einstellungen, Haltungen oder Handlungen .....................
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8. In Krisen sich selber begegnen ............................................ Neun Punkte zur Krisenbewältigung ............................................ Proaktivität als Lebensstil .........................................................
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9. Leistung am Limit .............................................................. Wertvoller als eine Medaille ....................................................... Vom Fettabsaugen und Botoxspritzen .......................................... Hochkonjunktur für Kçnigshäuser – Daily Soaps für Jedermann ......... Botox für die Seele .................................................................. Hormonbehandlungen und die Kraft der Grufties ............................ Junge sind anders – Alte auch.................................................... Falten sind cool – vor allem Lachfalten ........................................ Ich glaub, das Leben mag mich .................................................. Mutig dem Leben eine neue Richtung geben..................................
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10. Eigentlich wär ich ganz anders – ich komm nur so selten dazu Wie viel Ressourcen habe ich, um mein Leben zu gestalten?............. Anders werden, als ich bin – aber wer bin ich? .............................. Nach Fehlverhalten hilft nur die Wahrheit..................................... Warum lügen wir überhaupt?...................................................... Weniger ist manchmal mehr ....................................................... Leben oder gelebt werden.......................................................... Nie zu spät, das Leben mit neuen Augen zu sehen..........................
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Inhalt
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Jesus liebt uns nicht eigentlich – sondern wirklich......................... 130 Wie sieht Ihre Life-Balance aus? ................................................. 131 11. Was macht eigentlich Gott den ganzen Tag? ......................... Gott arbeitet den ganzen Tag ..................................................... Gott liebt den ganzen Tag ......................................................... Gott vergibt den ganzen Tag ...................................................... Der Mensch und diese Welt ........................................................
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12. Vom Winterschlaf zur Frühjahrsmüdigkeit............................ Verbanne die Hektik aus deinem Leben ........................................ Jesus hatte die Fähigkeit, sich abzugrenzen.................................. Jesus hatte die Fähigkeit, allein zu sein ....................................... Jesus hatte die Fähigkeit, Ruhe zu ertragen .................................. Jesus hatte die Fähigkeit, sich selbst zu lieben..............................
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13. Stille in einer lauten Welt.................................................. Kontemplation ist keine Weltflucht ............................................. Schweigen als neue Lebensqualität.............................................. Kontemplation und Aktion......................................................... Sieben Tipps für ein kreatives Pausenmanagement..........................
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14. Die Stille gestalten: Unterwegs sein.................................... Shoppingmeile statt Kreuzweg.................................................... Wenn’s uns dreckig geht, hilft auch Disneyland nicht ...................... Wege sind da, um sie zu gehen ................................................... Bereiten Sie sich auf Ihren «Pilgerweg» vor .................................. Pilgern und wandern ................................................................ Welchen Weg soll ich nehmen? ...................................................
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15. Resilienz: Erfolgreich Krisen bewältigen .............................. 203 Und plçtzlich ist das Leben anders .............................................. 204
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Gesunder Glaube...................................................................... Die sieben Resilienzfaktoren ...................................................... Stress und Resilienz ................................................................. Gehen Sie gelassen an die Konflikte heran .................................... Proaktivität praktisch gelebt...................................................... Mehr Souveränität und Gelassenheit ............................................ Balance im Leben: Drei Dreiklänge, um besser zu leben ................... Zum Schluss noch dies ..............................................................
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Anmerkungen ........................................................................ 221
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Vorwort Das Leben ist zu kurz, um hektisch rumzuhängen Mit 26 Jahren entschied ich mich für ein Leben, das sich nach dem christlichen Glauben orientiert. Dies war keine logische Schlussfolgerung des Bisherigen. Denn bis dahin lebte ich ein intensives, spannendes Leben. Zu jener Zeit war es allerdings definitiv zu intensiv. Der Tag begann morgens um fünf Uhr. Das erste Pferd musste geritten werden. Dann arbeitete ich bis zwçlf Uhr und ritt während der Mittagspause das zweite Pferd. Dann arbeitete ich wieder im Büro bis 17 Uhr, dann kamen die nächsten zwei Pferde dran. Pünktlich um 20 Uhr begann das Aikido-Training, das bis 22 Uhr dauerte. Danach fiel ich todmüde ins Bett. Die Wochenenden waren ausgefüllt mit Reitturnieren oder AikidoTraining. Einige Jahre lang hielt ich dieses Tempo durch. Erst im Nachhinein realisierte ich, wie viel ich durch diesen minutengenauen Lebensablauf verpasst hatte. Keine Ferien, immer das genau gleiche Umfeld, keine neuen Erlebnisse und Erfahrungen. Zwei Ereignisse brachten mich dann etwas ins Nachdenken. Mein damaliger Partner hatte die Mçglichkeit, in Monte Carlo ein renommiertes Aikido-Zentrum zu übernehmen. Doch dazu war ich nicht bereit. Mein Herz schlug damals zu stark für den Reitsport und meine Pferde. Dadurch kam es zur Trennung, die ich dann als Entspannung erlebte. Ich beendete, nach dramatischen Meditationserfahrungen im Zusammenhang mit der asiatischen Sportart, auch mein in-
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tensives Aikido-Training. Die gemeinsame Aikido-Schule hatten wir beim Weggang meines Freundes ohnehin aufgelçst. In jenen Tagen begegnete ich Christen, und ich begann auf die Sehnsucht in mir zu hçren. Sehnsucht nach Ruhe, nach Verlässlichkeit, nach Werten, die allen Lebensstürmen standhalten konnten. Ich glaubte, dies in Jesus gefunden zu haben. Und so begann ich regelmäßig eine Freikirche zu besuchen. Selbstverständlich, meinem Typ entsprechend, engagierte ich mich sehr schnell. Es dauerte nicht lange, und ich hatte verschiedene Aufgaben «am Hals». In dieser Zeit war ich im Transportwesen einer großen Verteilerfirma angestellt und hatte einen richtigen «Schokoladen»-Job. Morgens um zehn Uhr hatte ich eigentlich mein ganzes Pensum bereits erledigt. Und so dümpelte ich an meinem Arbeitsplatz, wie mir schien, sinnlos durch die Stunden meines noch jungen Lebens. Irgendwann wurde mir das dann doch zu bunt. Ich sah, wie viel Arbeit es in der Gemeinde gab, und fand es nicht richtig, meine Zeit an einem langweiligen Arbeitsplatz zu verplempern. Also kündigte ich und begann bald darauf in dieser christlichen Gemeinde zu arbeiten. Es war eine wirklich spannende Zeit. Und genauso wie ich mich in meinen jungen Jahren in den Reit- und Kampfsport investierte, gestaltete ich mein christliches Leben. Jugendarbeit, Politik, Ausbilderin bei «J+S» (Jugend+Sport) und dem «BESJ» (Bund Evangelischer Schweizer Jungscharen), Projektorganisation bei städtischen und nationalen Events – und vieles mehr. Ich fand immer, das Leben sei zu kurz, um sinnlos in der Gegend rumzuhängen. Aber irgendwann ging das nicht mehr. Es begann mit Bandscheibenproblemen. Später kamen Migräne-Attacken dazu. Und meine Bandscheiben waren mit der Zeit in einem ähnlichen Zustand wie meine Seele. So wie die Bandscheiben
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Vorwort
kaum mehr wirklich die Belastungen des Kçrpers auffangen konnten, war meine Seele nicht mehr in der Lage, mein Lebenstempo zu verarbeiten. Es endete damit, dass ich mich plçtzlich in einer Reha-Klinik wiederfand. Offiziell ging es um die Bandscheiben. Aber eben – meiner Seele ging es genauso übel. Sechs Wochen war ich in der Klinik. Allein. Allein! Allein mit meinen Gedanken, mit meinen Gefühlen, mit meiner Geschichte. Allein, auch ohne Jesus. Irgendwie war er mir in meinem frommen Engagement abhandengekommen. Mein Leben mit allen krummen Linien lief immer wieder vor mir ab. Ich fokussierte mich nur noch auf meine Schwächen. Und meine Schwächen machten mich depressiv. Nein, so jemanden wie mich konnte man nicht lieben. Und so jemand konnte schon gar nicht von Gott geliebt werden. Ich kam mir vor wie ein Auto, das bei Tempo 120 plçtzlich in den Rückwärtsgang geschaltet wurde. Trotz allem – irgendwie packte ich diese Zeit der Erschçpfungsdepression. Heute weiß ich, dass ich einen hohen Resilienzfaktor (Kapitel 15) habe. Dadurch rappelte ich mich immer wieder auf. Es dauerte zwar Jahre, bis ich wirklich wieder vollständig genesen war. Aber diese Jahre hatten auch etwas Gutes an sich. Sie gaben mir einen realistischeren Blick auf mich selber.
Sitzungen besuche ich nur, wenn sie wirklich Sinn machen Während dieser Jahre wechselte ich meine Arbeit und begann meine journalistische Ausbildung bei «ERF Medien» und bei Privatradiosendern. Ich funktionierte auch in dieser Zeit perfekt – nach außen. Aber innerlich waren unwahrscheinlich viele
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Zweifel und Schwächen vorhanden – Erschçpfung pur. Erst mit der Zeit realisierte ich, was eigentlich mit mir los war. Zu jener Zeit war «Burnout» noch kein Begriff, man gab auch nicht zu, dass es einfach nicht mehr geht. Meine Migräne-Attacken zwangen mich dann jeweils zur Ruhe. Langsam, aber sicher wurde mir bewusst, dass an meinem Leben, an meinem Lebenstempo etwas nicht stimmte. Meine Gesundheits- bzw. Krankheits-Symptome waren überdeutlich. Und so fing ich an, Schritt für Schritt mein Leben umzugestalten. Als Erstes trat ich aus fast allen ehrenamtlichen Gremien aus. Ach, all diese meist schlecht geleiteten Sitzungen: Stundenlang saß ich gefangen in Räumen, während draußen das Leben stattfand. Blumen blühten, frisch gemähtes Heu verbreitete wunderbare Düfte, und die Sonne verzauberte Landschaften, die ich in den unzähligen Sitzungszimmern nie zu Gesicht bekam. Ich sagte mir: Hätte Gott gewollt, dass wir unser Leben mit Sitzungen verbringen, hätte er uns einen Stuhl an den Hintern wachsen lassen. Aber Gott hat uns Beine gegeben, damit wir nicht statisch immer nur rumsitzen. Unterwegs sein wollte ich, neugierig Neues entdecken. Und dabei – das wurde mir in der Zwischenzeit ebenfalls klar – wollte ich ein einigermaßen strukturiertes Leben gestalten. Übrigens, meine Abneigung gegen Sitzungen hat sich bis heute nicht mehr verändert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Sitzungen a) nicht nçtig, b) zu wenig gut vorbereitet, c) zu lang und d) mit den falschen Leuten abgesessen werden. Wenn sich Verantwortliche im Anschluss an eine Sitzung jeweils die Frage stellen würden: «Was hat diese Zeit jetzt für das Unternehmen, die Organisation oder gar für das Reich Gottes gebracht?», müssten ehrlicherweise viele Sitzungen in Zukunft gar nicht, kürzer oder mit anderer Besetzung gestaltet werden. Ich behaupte, dass viele Sitzungen von Leuten besucht wer-
Vorwort
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den, die zu faul zum Arbeiten sind. Deshalb setze ich Sitzungen gerne um 11 und um 16 Uhr an. Da mçchten die Leute gerne zum Mittagessen oder nach Hause, und Langredner, Selbstdarsteller, Besserwisser und Neunmalkluge werden dann plçtzlich enorm effizient. Das Fazit aus meiner Erschçpfungsdepression lautete: Ich bin nicht so stark, wie ich erscheine und selber von mir glaube. Wenn ich mein Lebenstempo meinen Fähigkeiten und meinen seelischen Ressourcen anpasse, brauche ich keinen überhçhten Preis zu bezahlen. Ich weiß heute, dass ich einen einigermaßen regelmäßigen Lebensrhythmus brauche. Achte ich darauf, geht es mir gut. Immer dann, wenn ich mich selber wieder aus den Augen verliere, bezahle ich mit Migräne-Attacken. Ich bin nicht so belastbar, wie ich aussehe. Deshalb nehme ich mir viel Zeit für meine Beziehung mit Gott. Ich genieße es unwahrscheinlich, wenn ich draußen in der Natur ganz allein unterwegs bin. Und das bin ich wirklich viel. Nur im Gespräch mit Jesus. Einfach so. Ohne Ziel, ohne Notizbuch, ohne Leistungsauftrag. Diese Zeiten machen mich stark und haben mir bis heute meine Freude an meiner Arbeit erhalten. Ich fasse zusammen: Für unser Leben gibt es keinen Tempomat. Wir sind selber dafür verantwortlich, wie wir es gestalten. Wenn wir permanent ein zu hohes Tempo gehen, bezahlen wir mit Erschçpfung, gesundheitlichen Problemen und geistlicher Einsamkeit. Vielleicht wäre es gut, auf das Navigationsgerät zu hçren. Denn dies sagt richtigerweise immer dann, wenn ich einen falschen Weg einschlage: «Wenn mçglich, bitte wenden!» Aber es gibt auch ein «zu langsam». Deshalb geht es in diesem Buch nicht um Entschleunigung. Auch nicht darum, «aktiv das Leben zu gestalten». Es geht vielmehr um die richtige Balance zwischen den Polen «zu viel» und «zu wenig».
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1. Entschleunigung ist mehr als ein Modewort Immer mehr Prominente machen Schlagzeilen mit ihren Burnouts. Jungstars kommen mit ihrem frühen Erfolg nicht klar. Da ihnen mit ihren verdienten Millionen alle Türen offen stehen, gehen sie auch durch alle hindurch. Wir passen unser Lebenstempo den Mçglichkeiten an, nicht dem, was Sinn macht. So ist es beispielsweise kein Problem, mit 120 Stundenkilometern durch eine Dreißiger-Zone zu rasen. Alles ist machbar. Gut, wer dabei erwischt wird, ist den Führerschein los und trägt auch sonst noch länger an den Folgen. Aber haben Sie schon mal darauf geachtet, wie Sie auf Dreißiger-Zonen, auf geschlossene Bahnschranken, auf Lichtsignale und Staus reagieren? Dies sind Momente, in denen sich zwar alles für einen kurzen Moment entschleunigt, aber die meisten regen sich in diesen Phasen auf. Vor einigen Jahren habe ich mich entschieden, mich im Straßenverkehr nicht mehr zu ärgern. Freunde meinten zu diesem Entschluss lakonisch: «Das klingt jetzt aber doch sehr theoretisch.» Im Prinzip ja. Aber heute kann ich sagen, dass es mir zu achtzig Prozent gelingt. Kurz bevor ich diese Zeilen geschrieben habe, habe ich an einer Tankstelle erlebt, wie mir einer vor die Kühlerhaube gefahren ist. Er hat mich einfach nicht gesehen. Wir konnten beide rechtzeitig stoppen. Mit großen Augen schaute er zu mir und hat wahrscheinlich erwartet, dass ich wild drauflos fluche. Ich habe mir angewçhnt, in solchen Momenten zu lachen, irgendwie mit den Händen zu fuchteln und eine «Duck-undweg»-Haltung einzunehmen. Das Resultat: Alle Beteiligten müs-
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sen jeweils lachen, und so fahren alle ohne negative Gefühle weiter. Ich mache das auch, wenn ich schuld bin. Zur «Duck-undweg»-Haltung kommt dann noch ein treuherziger Hundeblick. Funktioniert bestens. Es geht nicht darum, Fehler nicht einzugestehen. Es geht vielmehr darum, aus Stresssituationen die Spannung herauszunehmen. So habe ich mir ebenfalls angewçhnt, dass ich çfters nicht die Autobahn nutze. Ich plane dann zwar eine halbe Stunde mehr Fahrzeit ein, dafür komme ich durch wunderbare Gegenden und bin entspannt an meinen Seminar- oder Vortragsanlässen. Auch die Rückreise gestalte ich so. Bewusst entscheide ich mich, nur die rechte Fahrspur zu nutzen. (Außer ich habe einen extrem meditativen Fahrer vor mir.) Mit dem Resultat, dass ich mich nicht erst daheim entspannen muss, sondern bereits in diesem Zustand ankomme. Entschleunigung ist für mich kein Modewort, sondern vielmehr ein Lebensstil. Menschen, die immer Termine haben, mit denen man hçchstens ein halbes Jahr im Voraus etwas abmachen kann, habe ich aus meiner Kontaktpflegeliste gestrichen. Während ich diese Zeilen geschrieben habe, hat eine Nachbarin bei mir an der Tür geklingelt. Es ging um nichts Wichtiges, aber wir kamen ins Gespräch, und da es ein lauer Sommerabend war, lud ich sie auf ein Glas Wein ein. Einige Minuten später schaute die nächste Nachbarin vorbei. Am Schluss haben wir eine Stunde zusammengesessen – und es war schçn. Hätten wir das vorher abgemacht, es wäre nie so gemütlich gewesen. Und eine Stunde später konnte ich weiterarbeiten. Zufrieden. Entspannt. Entschleunigt leben heißt, sorgsam mit sich und mit Beziehungen umzugehen. Für mich bedeutet es auch Freiheit.
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Ich habe in meinem Beruf wirklich viel Druck. Eine Hauptaufgabe besteht darin, Finanzmittel für ERF Medien Schweiz zu beschaffen. Das sind jährlich immerhin rund sechs Millionen Franken. Dazu kommen noch alle anderen Aufgaben. Aber die sechs Millionen Franken entscheiden über Gehälter, Arbeitsplätze, Sendemçglichkeiten, Programme und vieles mehr. Manchmal spüre ich diesen Druck. Natürlich trage ich diese Verantwortung nicht allein. Ich habe das Vorrecht, mit einer wirklich tollen Geschäftsleitung unterwegs zu sein. Zudem leite ich ein Team, in dem alle ihr Bestes geben. Und gemeinsam kçnnen wir Sorgen an Gott abgeben. Vor kurzem erst haben wir so eine Art «Abteilungsspruch» kreiert. Immer dann, wenn wir wieder vor schwierigen Momenten stehen, sagen wir uns: «Wir tun alles, was wir kçnnen. Den Rest kçnnen wir ‹gsorget geh›.» «Gsorget geh» kommt aus dem Berner Dialekt und bedeutet: diese Sorgen kçnnen wir Gott übergeben. Uns hilft das. Während Sie diese Zeilen lesen, kommen Ihnen vielleicht eigene Stressmomente in den Sinn. Situationen, in denen Sie auch gerne Ihre Herausforderungen unbesorgt abgeben wollen. Tun Sie es. Entschleunigen Sie Ihre Sorgen. Lehnen Sie sich zurück, nachdem Sie alles, was in Ihrer Macht stand, getan haben. Was tun Sie, wenn Sie nach Hause kommen? Viele erledigen dies und jenes. Noch schnell Wäsche waschen, Haus putzen, Rechnungen erledigen. Dann kommen ja schon bald die Leute vom Hauskreis. Und … und … und. Ich erinnere mich gerne an eine meiner Lieblingsparodien von Loriot: Er sitzt gemütlich im Wohnzimmer, sinniert vor sich hin. Einfach so, maximal entschleunigt. Im Hintergrund arbeitet die Frau und läuft hektisch hin und her. Plçtzlich kommt die Frauenstimme aus der Küche:
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«Hermann?» «Ja?» «Was machst du da?» «Nichts.» «Nichts? Wieso nichts?» «Ich mache nichts.» «Gar nichts?» «Nein.» «Überhaupt nichts?» «Nein, ich sitze hier.» «Du sitzt da?»
Sie ist immer noch in der Küche und wuselt die ganze Zeit hin und her. Er: Sie: Er: Sie: Er: Sie: Er: Sie: Er: Sie: Er: Sie: Er: Sie: Er:
«Ja.» «Aber irgendwas machst du doch.» «Nein.» «Denkst du irgendwas?» «Nichts Besonderes.» «Es kçnnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest.» «Nein, nein.» «Ich bringe dir deinen Mantel!» «Nein danke.» «Aber es ist zu kalt ohne Mantel.» «Ich geh ja nicht spazieren!» «Aber eben wolltest du doch noch.» «Nein, du wolltest, dass ich spazieren gehe.» «Ich? Mir ist es doch vçllig egal, ob du spazieren gehst.» «Gut.»
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«Ich meine nur, es kçnnte dir nicht schaden, wenn du mal spazieren gehen würdest.» «Nein, schaden kçnnte es nicht.» «Also, was willst du denn nun?» «Ich mçchte hier sitzen.» «Du kannst einen ja wahnsinnig machen.» «Ach.» «Erst willst du spazieren gehen, dann wieder nicht. Dann soll ich deinen Mantel holen, dann wieder nicht. Was denn nun?» «Ich mçchte hier sitzen.» «Und jetzt mçchtest du plçtzlich da sitzen.» «Gar nicht plçtzlich. Ich wollte immer nur hier sitzen.» «Sitzen?!» «Ich mçchte hier sitzen und mich entspannen.» «Wenn du dich wirklich entspannen wolltest, würdest du nicht dauernd auf mich einreden.» «Ich sag ja nichts mehr.» «Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht.» «Ja.» «Liest du was?» «Im Moment nicht.» «Dann lies doch mal was.» «Nachher. Nachher vielleicht.» «Hol dir doch die Illustrierten.» «Ich mçchte erst noch etwas hier sitzen.» «Soll ich sie dir holen?» «Nein, nein, vielen Dank.» «Will der Herr sich auch noch bedienen lassen, was? … Ich renne den ganzen Tag hin und her.
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Du kçnntest wohl einmal aufstehen und dir die Illustrierten holen.» «Ich mçchte jetzt nicht lesen.» «Mal mçchtest du lesen, mal nicht.» «Ich mçchte einfach hier sitzen.» «Du kannst doch tun, was dir Spaß macht.» «Das tu ich ja.» «Dann quengel doch nicht dauernd so rum! … Hermann? … Bist du taub?» «Nein, nein.» «Du tust eben nicht, was dir Spaß macht. Stattdessen sitzt du da.» «Ich sitze hier, weil es mir Spaß macht.» «Sei doch nicht gleich so aggressiv.» «Ich bin doch nicht aggressiv.» «Warum schreist du mich dann so an?» «ICH SCHREIE DICH NICHT AN!»
[Niederschrift nach youtube.com: «Loriot: Feierabend (einfach hier sitzen)»]
Entschleunigung täte auch den Kirchen gut Viele Christen fühlen sich unglaublich ausgebrannt. Sie rasen sehenden Auges in ein Burnout. Natürlich geben sie sicherheitshalber mal dem Arbeitgeber die Schuld. Denn wer würde sich trauen, die vielen «geistlichen» Aktivitäten in Kirchen und Gemeinden für Überforderungen und Ausgebranntsein verantwortlich zu machen? Fakt ist: Gemeinden verbreiten einen unglaublichen Stress. Egal, ob sie konservativ oder progressiv sind. Die einen kämp-
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fen bewahrend für das Bisherige. Die anderen kämpfen aktivistisch für Erneuerung. Und dabei vergessen beide Seiten, dass es im Evangelium nicht um konservativ oder progressiv geht. Der Abt des Klosters Einsiedeln, Martin Werlen, hat in seinem Heft zum Thema «Miteinander die Glut unter der Asche entdecken» prägnant beschrieben, worum es wirklich geht: «Das Ohr am Herzen Gottes und die Hand am Puls der Zeit!» Uns werden also weder alte Choräle und Kirchenlieder noch die Kletterwand in der Kirche noch das «Power-Worshippen» näher zum Himmel bringen. Sondern das tiefe, das gepflegte Leben mit Gott. Unsere Gemeindeverantwortlichen brauchen den Mut zur Entschleunigung. Nicht erst kurz vor dem Knall, besser frühzeitig. Ich sehe hier einen Teufelskreis. Die Vollamtlichen sehen, was man alles machen kçnnte. Allerdings fehlen Geld und Zeit, um alle Ideen anzureißen. (Unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind.) Also müssen die Gemeindemitglieder her. Diese sollten aber auch in ihren Berufen und Familien viel leisten. Sie machen mit, solange sie kçnnen. Wenn es nicht mehr geht, müssen die Vollzeiter wieder ran. Die suchen sich dann wieder Gemeindeglieder … eine Negativspirale, die nur mit viel Mut zu weniger Aktivitäten durchbrochen werden kçnnte. Ist denn wirklich alles so wichtig? Warum gibt es heute bereits Sehnsucht nach stillen, ruhigen Gottesdiensten? Es muss doch nicht jeder Gottesdienst die Qualität eines professionellen Musicals haben. Und nicht jede Predigt muss die Qualität aufweisen, dass sie einen Rhetorikpreis gewinnen kçnnte.
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Achtsamkeit – ein verlorenes Wort Achtsamkeit ist ein altmodisches Wort. Eines, das heute nur wenige noch gebrauchen. Acht geben wir nur noch auf wenig und auf wenige. Weder auf die Schçpfung noch auf unsere Familien, auch nicht auf unsere Werte und schon gar nicht auf unsere Seele. Und die wichtigste Achtsamkeit verlieren wir in Bezug auf Schuld in unserem Leben und gegenüber dem Leben anderer. Kaum etwas lçst so viel Stress aus wie ein unversçhntes Leben. Wir haben verlernt, Frieden zu schließen, versçhnt zu leben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und dieser Stress bindet unglaublich viel Energie. Geistlich genauso wie mental und physisch. Deshalb mçchte ich hier gerne ein paar Gedanken zu diesem Thema ausführen. Fazit: Das Ohr am Herzen Gottes und die Hand am Puls der Zeit bewahren uns davor, unsere Energie im Streit zwischen progressivem und konservativem Denken zu verbrauchen.
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Ich erhebe mich heute durch die Kraft Gottes, die mich lenkt. Gottes Macht halte mich aufrecht, Gottes Weisheit führe mich, Gottes Auge schaue für mich, Gottes Ohr hçre für mich, Gottes Wort spreche für mich, Gottes Hand schütze mich. Er ist die Kraft. Er ist der Friede. Nach dem irischen Mçnch und Bischof St. Patrick
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