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Der Autor

Alfred Goetz, Jahrgang 1929, verheiratet und Vater von fünf Kindern, war 19 Jahre lang Pastor in Colmar, Frankreich. In dieser Kulturstadt entdeckte er 1971 den weltbekannten Altar, den er in einem tieferen Verständnis erleben durfte. Als anerkannter Führer des Isenheimer Altars im Unterlinden-Museum in Colmar und profunder Kenner dieses Wandelaltars weiß er ihn in eindrücklicher Weise zu interpretieren und dessen Botschaft in kunsthistorischer und theologischer Sicht zu aktualisieren. Auch seine Vorträge zum Thema «Kultur und Evangelium» in mehreren Ländern Europas ließen merkliche Segensspuren zurück.

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Alfred Goetz

Der Isenheimer Altar Geschichte – Deutung – Hintergründe

Brunnen Verlag • Basel und Gießen

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden der Lutherbibel (1999, mit neuer deutscher Rechtschreibung) entnommen.

© 2011 by Brunnen Verlag Basel Umschlag und Konzeption: Brunnen Verlag Basel Mitarbeit: David Grau, Vera Hahn, Christian Meyer, Miriam Schulz, Brunhilde Walter Fotos Umschlag sowie Groß- und Detail-Aufnahmen des Altars im Innenteil: Musée d’Unterlinden, 1 rue d’Unterlinden, F-68000 Colmar Restliche Fotos im Innenteil: siehe Seite 81 Druck: Finidr Gedruckt in der Tschechischen Republik ISBN 978-3-7655-1112-7

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Inhalt Der Autor Alfred Goetz Vorwort des Autors Der Isenheimer Altar und sein kunsthistorischer Kontext Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarroti Matthias Grünewald Die Anordnung der Altartafeln Schema der drei Schauseiten Der Ursprung des Altars Die erste Schauseite (Der offene Altar) Die Skulpturengruppe Erläuterungen zu den Gemäldetafeln der ersten Schauseite Zwei Eremiten begegnen sich Die Versuchung des Antonius Die zweite Schauseite Advent Weihnachten Das Engelskonzert Zeugen der Vorzeit Der Himmel steht offen Karfreitag Ostern Der Allherrscher Die dritte Schauseite (Der geschlossene Altar) Jesus, der Gekreuzigte Sie standen am Kreuz: 1. Johannes der Täufer 2. Maria unter dem Kreuz 3. Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger Johannes Die Predella Die zwei Zeugen: Antonius und Sebastianus Eine biografische Ergänzung Meister Mathis, der Maler, genannt Grünewald Literaturverzeichnis Bildnachweis

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Vorwort Der Altar wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch die geniale Hand des Meisters Mathis mit dem Ziel gemalt, ein klares biblisches Verständnis zu wecken. Möge der vorliegende Bildband dem Leser ebenfalls zu dieser biblischen Sicht verhelfen. Dann wird der Isenheimer Altar kein bloßes Kunstobjekt mehr sein, sondern eine Proklamation des Evangeliums, wie es am Anfang der Fall war. Damit soll das bedeutende Wort «Kunst» nicht entwertet werden, sondern es soll, neu eingeordnet, im Dienst der Evangeliumsverkündigung stehen.

Über den weltbekannten Isenheimer Altar wurden viele Schriften und Bücher veröffentlicht, von denen die meisten aus ganz unterschiedlichen Gründen und auch aus einer anderen Perspektive geschrieben worden sind. In dem vorliegenden Bildband möchte ich diese verschiedenen Verständnisse nicht berühren, sondern einen Weg aufzeichnen, der uns zum ursprünglichen Anliegen des Kunstwerkes hinleiten soll. In früheren Zeiten nannte man nämlich den Altar: «Die Bibel der Armen». Das war von höchster Bedeutung. Die meisten Menschen des scheidenden Mittelalters und der anbrechenden Renaissance beherrschten die antiken Sprachen nicht, in denen die damaligen Bibelausgaben vorlagen. Um ihnen aber trotzdem die biblischen Wahrheiten zu erschließen, haben ihnen geniale Künstler wie Matthias Grünewald und andere die rettende Botschaft des Evangeliums in verständlichen Darstellungen vor Augen gemalt. Auf diese Weise konnte auch das einfache Volk davon profitieren. Ihnen wurde buchstäblich «Jesus Christus vor die Augen gemalt» (Galater 3,1). Für sie wurden solche Gemälde Heilsverkündigungen im künstlerischen Gewande, die leicht zu erfassen und zu verstehen waren.

So hat sich mir der Wandelaltar im UnterlindenMuseum zu Colmar vor mehr als 35 Jahren erschlossen, und seither hat sich diese Einstellung zum Kunstwerk noch wesentlich vertieft. Diese Erkenntnis durfte ich in den zurückliegenden Jahren in Hunderten von Führungen am Altar und durch öffentliche Vorträge einer aufmerksamen Hörerschaft weitervermitteln. Aus den Reihen dieser vielen Zuhörer kam immer wieder der Wunsch, diese griffige Auslegung des Grünewald-Altars einem noch breiteren Publikum vorzulegen.

Volgelsheim im Elsass Alfred Goetz

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Der Isenheimer Altar und sein kunsthistorischer Kontext Der Isenheimer Altar, ein Juwel der oberrheinischen Kunst, stellt eine Botschaft dar, die in der Zeit um 1500 wieder ganz neu entdeckt wurde. Es war die Zeit gewaltiger Umwälzungen auf allen Gebieten der damaligen Gesellschaft. Das Mittelalter ging zu Ende, die Renaissance brach sich Bahn; unaufhaltsam drang die Neuzeit durch, eine neue Ära feierte ihren triumphalen Einzug. Das Rittertum musste abtreten. Die bis dahin bekannte Welt erweiterte sich durch die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492. Auf dem kulturellen Gebiet öffnete sich ein breites Tor durch die Wiederentdeckung und die Neugestaltung der antiken Kunstgesetze und Maßstäbe. Wie sie in früheren Zeiten skulptierten, malten und darstellten, wurde in der Zeitenwende um 1500 für die Künstler zum Vorbild und bestimmte hinfort den Geist der neuen Bewegung. Im gleichen Zug drang auch die heidnische Lebensweise der alten Völker durch und brachte in jener Zeit eine Befreiung, nach der man sich geradezu sehnte. Diese Renaissance-Bewegung erschütterte weithin den an so viele Rituale gebundenen Glauben des Mittelalters. Dadurch verlor die bislang mächtige Kirche an Einfluss. Der aufkommende Humanismus pflegte die Persönlichkeitsentfaltung im Sinne der Antike. Es ging um die Kultur, die Kunst, die Literatur. Es ging um den Menschen und seinen befreiten Geist. Der frei denkende Mensch wurde inthronisiert und gefeiert. Diese Inthronisie-

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rung setzte sich in der Folge auf Kosten des Religiösen durch und wurde in der Zeit der Aufklärung bestätigt. Fast parallel zur humanistischen Entwicklung lief eine andere geistliche Bewegung ab, die der Reformation. Auch sie hatte eine lange Vorgeschichte, die sich schon im frühen Mittelalter zeigte. Doch diese Reformbewegungen wurden fast immer im Keim erstickt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber erweckte Gott in Europa Zeugen der Wahrheit, Männer voll Glaubens, die die Fackel des Evangeliums hochhielten, um neues Licht in die müde gewordene Christenheit zu tragen. Die Reformation, die in Wittenberg am 31. Oktober 1517 ausgelöst wurde, gründete auf den vier Hauptpfeilern der Bibel: sola scriptura – sola gratia – sola fide – sola CHRISTO (allein die Schrift – allein die Gnade – allein der Glaube – CHRISTUS allein). Sie hielt, festgegründet in der biblischen Lehre, gegen alle Anläufe der Institutionen stand. Dabei ging es um die apostolische biblische Botschaft, die, damals neu entdeckt, jetzt wieder verkündigt wurde. Die Bewegung ging wie ein Lauffeuer durch die Länder Europas. Sie brachte Regen auf die dürren Felder und viel Frucht und Segen in späteren Jahren. Sie darf mit vollem Recht «die Revolution des geistlichen Lebens» genannt werden. Die neue Erkenntnis über das Planetensystem begann ebenfalls mit der Renaissance durch zwei Gelehrte und Erforscher des Weltalls:

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Nikolaus Kopernikus (1473–1543) Er bewies die zweifache Bewegung der Planeten um sich selbst und um die Sonne. Einige Monate vor seinem Tode publizierte er seine Forschungen in seiner berühmten Schrift «De revolutionibus orbium coelestium, Libri VI». Sie wurde von der Kirche auf den Index gesetzt.

Nikolaus Kopernikus, Kupferstich von Theodor de Bry, 1597

Galileo Galilei (1564–1642) Er führte das Werk seines Vorgängers fort, wurde aber von der Kirche der Ketzerei verdächtigt und musste widerrufen. Doch auf seinem Sterbebett bestätigte er seine astronomische Forschung mit dem Bekenntnis: «… und sie bewegt sich doch!» Damit kam das geozentrische Planetensystem ins Wanken und das heliozentrische drang siegreich durch.

Galileo Galilei, Gemälde von Justus Sustermans, 1636

den tiefen Inhalt des Evangeliums den «Bedürftigen» zugänglich zu machen, eben als «Bibel der Armen». Durch diese hohe Kunst in der Darlegung der Frohen Botschaft bekam das Volk einen echten Zugang zur Bibel. Sie wurde ihm vor die Augen gemalt, gut leserlich und verständlich. In diesem Sinne gedenken wir, mittels dieses Bildbandes die Botschaft des Isenheimer Altars zu entdecken. Sie ist die Botschaft des Lebens zum Leben.

Dies ist ein straffer Rückblick auf jene Zeitenwende, in der sich sowohl politische, kirchengeschichtliche, naturwissenschaftliche wie auch kulturelle und kunstbedingte Umwälzungen nebeneinander abwickelten. Im Zuge dieses geistigen und geistlichen Umbruchs entstand der heute weltweit bekannte Isenheimer Altar. Es ging dabei um Kunst, wobei durch sie die biblische Botschaft transparent werden sollte. Bei allem künstlerischen Können verfolgte Matthias Grünewald das Ziel,

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Die bedeutendsten Renaissance-Künstler Es ist die Zeit von Leonardo da Vinci (1452–1519), einem vielseitig begabten Menschen. Er ist Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Wohl der genialste Renaissance-Mensch. Sein Hauptwerk «Das letzte Abendmahl» war ursprünglich ein Wandgemälde im Refektorium der Dominikanerkirche Santa Maria delle Grazie in Mailand.

Leonardo da Vinci, Selbstbildnis, Rötelzeichnung, etwa 1510–1515

Michelangelo Buonarroti (1475–1564), ebenfalls Maler, Bildhauer, Architekt und Dichter. Seine Hauptwerke: Die Kolossalstatue des David und die monumentale Malerei auf dem Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle in Rom mit insgesamt 343 Gestalten.

Michelangelo Buonarroti, Kupferstich von Antonio Capellan, 18. Jh.

Da Vinci und Michelangelo verkörpern beide den Geist der neuen Ära.

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Matthias Grünewald (1455–1528) Mit vollem Recht darf der Maler Meister Mathis Gothart Nithart (MGN), wie er auch heißt, den bedeutendsten Renaissance-Malern zugerechnet werden. Er gehört zu ihnen als eine hervorragende Künstlergestalt in der Zeitenwende um 1500. Am Ende dieses Bildbandes werden wir den Meister noch ausführlicher betrachten.

Selbstporträt des Meisters; wird aber heute von manchen angezweifelt.

Lassen wir aber zuerst und vor allem den Isenheimer Altar zu uns sprechen, das Hauptwerk des genialen Meisters. Zusammen mit seinen Gehilfen schuf er in den Jahren 1512–1515 dieses expressive Monument der Kunst im AntoniterKloster zu Isenheim, etwa zwanzig Kilometer südlich von Colmar.

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Die Anordnung der Altartafeln

Steht der Besucher im Unterlinden-Museum vor dem Isenheimer Altar, so sieht er vor sich drei Schauseiten, die in einer gewissen Distanz voneinander in der gotischen Kapelle des Museums aufgestellt sind. Der Freiraum zwischen den Schauseiten erlaubt es vielen Besuchern, ungestört die Altartafeln, die beidseitig bemalt sind, auf sich wirken zu lassen.

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Ursprünglich gehörten sie einer logisch geordneten Konzeption an. Mittels der Schemadarstellung auf der nächsten Seite soll dem Leser diese frühere Anordnung zugänglich gemacht werden. Sie ist von unten nach oben zu lesen, um die Ur-Anordnung zu erfassen.

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Schema der drei Schauseiten III Sebastianus

Jesus,

der Gekreuzigte

Antonius

Grablegung

II Verkündigung

Nativität

AuferMaria stehung mit dem Jesu Christi Jesuskind

Engelskonzert

Grablegung

I Skulpturengruppe

Hochaltar und Predella Antonius und Paulus, HieroAntonius die Einsiedler Augusnymus tinus

Versuchung des Antonius

Jesus und die Apostel – Das Abendmahl –

So stellen wir fest, dass die gesamte Komposition im dritten Bild ihren Abschluss findet und damit hinweist auf Jesus Christus, den Gekreuzigten. Die Botschaft des Apostels Paulus hatte dieses klare Sendungsziel, wie es in 1. Korinther 2,2 steht: «Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.»

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Der Ursprung des Altars

Die Skulpturengruppe, der eigentliche feste Körper des Altars, bildet den Ausgangspunkt. Sie wurde im Kloster Isenheim schon um 1490 errichtet. Sie ist das Werk des Bildhauers Nikolaus von Hagenau, genannt «Hagenauer», der den Hochaltar baute, und des Colmarer Schnitzers Desiderius Beychel, der die Predella, den Unterbau des Hochaltars, schuf. An den skulptierten Schrein, der fest steht, brachte Meister Mathis mittels Scharnieren beidseitig bemalte Tafeln an. Diese konnten je nach den Festen des Kirchenjahres geöffnet oder geschlossen werden und so alle auf die Skulpturengruppe «gewandelt» werden. Durch diese Anordnung erhöhte Matthias Grünewald den bestehenden «Holzaltar» zu einem Wandelaltar, auf dem er als echter Renaissance-Maler den wahren Inbegriff des Evangeliums in einer einmaligen Weise darstellen konnte. Diese Botschaft brannte in seinem Herzen und floss durch seine geniale Hand auf die gehobelten Bretter aus Lindenholz. Das ist der Isenheimer Altar.

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Die erste Schauseite (Der offene Altar)

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Die erste Schauseite

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Die Skulpturengruppe Sie bildet den Einstieg in das Meisterwerk des Malers Matthias Grünewald. Wie verstehen wir diese Schnitzereien, die aus Holz gefertigt sind, polychromiert wurden und so viel beinhalten? Nikolaus von Hagenau, ein anerkannter Bildhauer, schuf im Auftrag von Jean d’Orlier (um 1425–1491), des Vorstehers des AntoniterKlosters zu Isenheim, den Hochaltar, der Antonius dem Einsiedler (um 251–356) geweiht wurde. In diesem geschnitzten Schrein bildet dieser die zentrale Figur. Antonius, der Ägypter, entstammte einer reichen Kaufmannsfamilie. Nachdem er sich für Jesus Christus entschieden hatte, verzichtete er auf allen Reichtum seines Vaterhauses und zog in die ägyptische Wüste, wo er eine Einsiedlergemeinde führte. Er gilt als der Begründer des Mönchstums. Auf dem Hochaltar thront er wie ein Kirchenfürst unter einem Baldachin. Prächtig geschnitzt und elegant herausgehoben sind seine Gesichtszüge, das gelockte Haar, der wallende Bart, das in vielerlei Schattierungen fallende Gewand – eine wahre Autoritätsperson, Patron des Antoniter-Ordens. In seiner Rechten hält er den Ordensstab in Form eines griechischen Buchstabens, dem Tau, Zeichen des Kreuzes, und in seiner Linken die Ordensregeln. Über ihm erkennen wir die Symbole der vier biblischen Evangelisten. Links den Stier, in der Mitte den Adler über dem Menschen und rechts den Löwen.

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Erläuterungen zu den Gemäldetafeln der ersten Schauseite Der feststehende Skulpturenschrein gab Meister Mathis die Möglichkeit, an ihm seine beidseitig bemalten schwenkbaren Gemäldetafeln anzubringen. Die beiden ersten davon gehören zur ersten Schauseite. Sie offenbaren in klarer Bildsprache etwas vom Leben der beiden Einsiedler Antonius und Paulus von Theben.

Zwei Eremiten begegnen sich Meister Mathis nimmt Antonius aus seiner Autoritätsstellung auf dem Hochaltar weg, um ihn in zwei ganz verschiedenen Lebenslagen «auftreten» zu lassen. Zunächst treffen wir auf ihn zu Besuch beim Einsiedler Paulus von Theben (228–341), seinem ägyptischen Zeitgenossen. Worüber sie sich austauschen, entzieht sich unserer Erkenntnis. Der Legende gemäß unterhielten sie sich darüber, wer von ihnen der beste oder erste Eremit wäre, und über sonstige geistliche Anliegen … Wer aber sorgfältig beobachtet und in dem Gemälde zu lesen lernt, der erkennt in der Darstellung der beiden Eremiten wesentliche Züge ihres Lebens. Ziehen wir eine senkrechte Linie über die weit ausgestreckte Hand des Paulus, dann wird der Hintergrund in zwei ganz verschiedene Landschaftsbilder geteilt.

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Die Versuchung des Antonius

Beachten wir, dass sich der Bedürftige zum innerlich Reichen aufmacht. Dann erhält die Darstellung einen echt biblischen Charakter, den wir im tiefsten Sinne als «biblische Seelsorge» bezeichnen. Der Reiche teilt mit dem Armen, der von oben Empfangende mit dem Bittenden. Seine ausgestreckte Hand empfängt Gaben, die er mit gütiger Geste weiterreicht. Die Hand bleibt offen, der Beschenkte ist Empfänger und Geber zugleich. In dieser Haltung teilen sie brüderlich, keiner wird dabei zu kurz kommen. Auf diese Weise geschieht biblische Seelsorge.

Der rechte Gemäldeflügel offenbart den leidenden Antonius in seinen allerschwersten Versuchungen. Die unsichtbare Dämonenwelt, die sich in allerlei Tieren und Vögeln gestaltete, mobilisierte sich gegen ihn, um sich mit unbändiger Wucht auf ihn zu stürzen. Wird Antonius sich in diesem Ansturm der Geisterwelt bewähren? In der Heiligengeschichte heißt es von Antonius: «Da erschienen die Dämonen ihm in Gestalt von wilden Tieren und zerrissen ihn wieder aufs Grausamste mit ihren Zähnen, Hörnern und Krallen. Aber da zeigte sich plötzlich ein wunderbarer Lichtglanz und jagte alle Dämonen in die Flucht.» Da begriff er, dass Christus da war, und rief, was auf dem Pergament rechts unten zu lesen ist:

Heilkräuter im Vordergrund

Als Abschluss gestatten wir uns noch einen sozialen Hinweis. Im Vordergrund dieses Gemäldes erkennen wir einige Heilkräuter. Und zwar Eisenkraut, Breitwegerich, Klatschmohn, Enzian und noch zehn andere Kräuter. Sie dienten den Mönchen zur Bereitung von Salben und Elixieren. Die therapeutische Betreuung der Kranken geschah damals noch fast ausschließlich in und aus den Klöstern. Paracelsus (1493–1541), der Begründer und Bahnbrecher der Medizin, verhalf der Heilkunst in dieser Zeit der Renaissance zur weiteren Entwicklung.

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«Ubi eras, ihesu bone, ubi eras? Quare non affuisti, ut sanares vulnera mea!» «Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum warst du nicht da, um meine Wunden zu heilen?» Der Herr antwortete ihm: «Antonius, ich bin immer da gewesen, aber ich wollte deinen Kampf sehen; nun aber hast du tapfer gekämpft.»

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andere mit ihnen wurden in Klöstern gepflegt und fürs Sterben vorbereitet. Das Kloster in Isenheim kam seiner sozialen Berufung nach, indem es als Hospital für die Kranken und als Herberge für die Pilger diente. Der Todkranke trägt eine Narrenkappe … Wollte der Maler damit nicht eine unheimliche Ironie des Lebens ausdrücken? Die Hofnarren waren an den Höfen mehr als nur ein Unterhaltungstrupp. Sie waren begabte Leute, Philosophen, die viel zu bieten hatten, solange es ihnen selbst und den Hofleuten gut ging. Kam es aber zur letzten Zerreißprobe, wie bei diesem Sterbenden, da versagte auch ihre unzulängliche Lebensanschauung. Der Einband des Buches reißt ab, wenn er sich auch noch so krampfhaft daran festhält. Auf der allerletzten Wegstrecke braucht es mehr als Menschenweisheitslehre und auch mehr als jegliches andere Ritual.

Der Maler hat diesem beantworteten Notschrei in seiner Wiedergabe des Geschehens eine enorme Bedeutung gegeben. Diese Betrachtung erlaubt es uns, die große Intensität der Versuchung zu ermessen. Unmittelbar neben dem Einsiedler kauert ein Sterbender, der vom Antoniusfeuer, einer Vergiftungskrankheit, total zerstört worden ist. Sie wurde vom Mutterkornpilz des Roggens verursacht, und sie erfasste nach und nach alle Bereiche des Lebens des Erkrankten, so dass er am Ende zu einem abstoßenden Wrack wurde. Diese Kranken und viele

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Meister Mathis, der Maler, genannt Grünewald Seine Herkunft

Sein Werdegang

Laut der NC, die von der neueren Forschung vielfach bestätigt wurde, wurde Mathis Gothart Nithart am 24. Februar 1455 geboren, als Sohn von Hans Nithart (Neythart) und seiner Ehefrau Elisabeth (Elz) Oetinger. Der Vater war Brückenbauer, Ratsherr, Schatz- und Siegelmeister im Oberrat zu Würzburg und ab 1470 Bürgermeister und Schutzherr der Karmeliter bis zu seinem Tode 1474.

Was seine Jugendjahre betrifft, wissen wir nur etwas aus zwei Quellen, die auch noch in verschiedene Richtungen weisen. Doch die der NC scheint die wahrscheinlichste zu sein. Mit dreizehn Jahren soll der begabte, aufgeweckte, streng erzogene Jüngling zu einem Kunstmaler Meister Huter nach Straßburg gekommen sein. Dann führte ihn sein Weg weiter zu dem befreundeten Meister Martin Schongauer nach Colmar. Es folgen Wanderjahre in die Niederlande (Burgund und Italien sind nicht nachgewiesen). Nach seiner Rückkehr in die Heimat Heirat mit Anna, geb. Lotz, in Seligenstadt 1480. Ansässig in Seligenstadt/Aschaffenburg. Er hielt Freundschaft mit Albrecht Dürer und anderen Meistern der Künste. 1511 war er Hofmaler des Erzbischofs Uriel von Gemmingen in Mainz und führte gleichzeitig architektonische Arbeiten im Aschaffenburger Schloss aus. Weil er in den Kreisen der Antoniter bekannt war, bekam er alsbald den Auftrag, den bestehenden Skulpturenaltar im Kloster zu Isenheim im Elsass zu einem bemalten Wandelaltar auszubauen. Es wurde sein größtes und bedeutendstes Werk, das er in den Jahren 1512–1515 schuf. Der Isenheimer Altar ist ein Juwel der oberrheinischen Kunst. Von genialen Künstlerhänden geschaffen, in vielen Kriegswirren gnädig bewahrt, bleibt er uns als ein Zeugnis klarer Evangeliumsverkündigung.

Sein Name Wir kennen ihn am besten unter dem Namen Matthias Grünewald, den es aber nie gegeben hat. Er wurde laut Forschung mit einem Mathis Grün verwechselt, seinem Meistergehilfen. Sein echter Name ist, wie oben erwähnt: Mathis Gothart Nithart: MGN. Da er in Aschaffenburg einige Zeit gewirkt hat, wird er auch als Mathis von Aschaffenburg erwähnt.

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In der Folgezeit bekundete Meister Mathis reges Interesse an den Geistesströmungen jener Zeit. Es war die Zeit der Reformation, des geistlichen Umbruchs und der Sehnsucht nach echter Freiheit. Er hatte auch viel Sympathie für die Not des armen Volkes. 1520 finden wir ihn in der Gefolgschaft von Albrecht von Brandenburg (1513 Erzbischof von Magdeburg und 1514 von Mainz, ab 1518 Kardinal), später mit Albrecht Dürer anlässlich der Kaiserkrönung Karls V., die 1520 in Aachen stattfand. In dieser Zeit wurde er Hofmaler Albrechts von Brandenburg. Er ließ sich durch seine gute Stellung und seine Erfolge in der Kunst nicht blenden und litt mit der verarmten Landbevölkerung. Die NC hebt hervor: «Die Bauern wurden zu Unrecht verstoßen und oft auf den Feldern gepeitscht und misshandelt. Der Adel war unadelig geworden, und ihre Schuld vor Mensch und Gott war groß. Sie machten Rotten und Umzüge, aber am Ende verloren sie doch …» Diese ungerechte Einstellung des Adels zur Landbevölkerung veranlasste Meister Mathis, der ein «ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl hatte», einzugreifen. Da er mit allen Bauernaufständischen sympathisierte und sich dazu noch der Reformation verpflichtet wusste, verlor er die Gunst der hohen Geistlichkeit. Am 1. Mai 1526 hielt Albrecht von Brandenburg in Aschaffenburg Gericht über ihn. MGN wartete das Urteil nicht ab und floh dann nach Frankfurt. Seine Besitzungen in Seligenstadt wurden aber beschlagnahmt. Im Jahr 1527 übersiedelte er nach Halle mit einem Salinenauftrag, was seinem Beruf als Wasserkunst-Meister6 entsprach. Als ein

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Opfer der Pest starb er am 31. August 1528 in großer Armut und ist von der Nachwelt fast 400 Jahre vergessen worden.

Seine Geisteshaltung Meister Mathis muss ein hochbegabter Mann gewesen sein, der den Meistern der Sprache auf den Mund und den Meistern der Künste auf die Hände schaute, um ihre Begabung für sich zu nutzen. So wurde er WasserkunstMeister, was wir heute mit Wasserbau-Ingenieur bezeichnen. Als «Maler» wurde er als ein Genie geboren, und als Genie wusste er die Malkunst in seinen Wanderjahren voll auszugestalten. Dafür sprechen seine Werke, insbesondere die Stuppacher Madonna und der Isenheimer Wandelaltar. Seine Kunst floss aus seiner genial gelenkten Meisterhand. In seiner Geisteshaltung war er, der biblischen Einstellung jener Zeit gemäß, ein christusgläubiger Künstler. In dieser inneren Konzeption malte er die apostolische Botschaft, die in jenem Zeitenwechsel wieder zum Thema wurde. Er malte sie mit einer unvergleichlichen Aussagekraft, die im Isenheimer Altar ihren Niederschlag fand. Es war ihm gegeben, die biblische Botschaft in reformatorischer Ausdrucksweise und als wahrer Renaissancemaler für seine Zeitgenossen und für die Nachwelt darzustellen und festzuhalten. Um seine Glaubenshaltung recht zu erfassen, lassen wir ein Gebet von Meister Mathis zu uns sprechen:

Eine Wasserkunst ist ein System zur Förderung, Hebung und Führung von Wasser (Quelle: de.wikipedia.org).

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Literaturverzeichnis Heck, Christian, Conservateur du Musée d’Unterlinden: Gruenewald et le Retable d’Issenheim, Editions SAEP 1982. (Dt. Titel: Grünewald und der Isenheimer Altar, Colmar 1983).

Béguerie-de Paepe, Pantxika: Le Retable d’Issenheim, Musée d’Unterlinden, 1991. (Dt. Titel: Der Isenheimer Altar. Museum Unterlinden, Colmar, La Nuée Bleue: Straßburg 1991). Béguerie-de Paepe, Pantxika / Bischoff, Georges: Grünewald, le Maître d’Issenheim, Casterman: Verone 1996.

Herrmann, Jacques: Le Retable d’Issenheim à la lumière des Saintes Ecritures, Colmar 1976. Kettling, Siegfried: Das Weihnachtsevangelium. Betrachtungen zum Isenheimer Altar, R. Brockhaus: Wuppertal 1986.

Béguerie-de Paepe, Pantxika / Lorentz, Philippe: «Grunewald et le Retable d’Issenheim. Regards sur un chef-d’oeuvre», Musée d’Unterlinden: Colmar; Somogy: Paris 2008.

Kuhn, Rudolf Edwin Dr.: «Mathis, der Maler, Rebell, Wasserkunstmeister. Die NithardumCronica (NC) im Lichte der Kunstgeschichte, Untersuchung der fragmentarischen Hauschronik der Familie Nithart, deren grösster Sohn Mathis Gothart Nithart (später fälschl. genannt ‹Grünewald›) 1455 in Würzburg geboren wurde», Würzburg 1979.

Beguerie-de Paepe, Pantxika / Menu, Michel (Editeurs): «La technique picturale de Grünewald et de ses contemporains», Musée d’Unterlinden: Colmar/Paris 2007. Behling, Lottlisa: Matthias Grünewald, Straßburg 1981.

Lücking, Wolf: Mathis. Nachforschungen über Grünewald, Fröhlich und Kaufmann: Berlin 1983.

Boos, Gerhard: «… durch seine Wunden sind wir geheilt». Eine Betrachtung zu Passions- und Osterbildern von Grünewald, Verlag am Eschbach 1985. Fraenger, Wilhelm: Matthias Grünewald, Beck: München 1983.

Müller-Bohn, Jost: Auf dem Lamm ruht meine Seele. Die 7 Worte Jesu am Kreuz, Johannis: Lahr-Dinglingen 1985.

Hartmann, Marie-Anne: Mathias Grunewald. Le Retable d’Issenheim. Peinture et Spiritualité, Jérôme Do. Bentzinger Editeur: Colmar 1994.

Schmitt, Pierre: Le Retable d’Issenheim de Gruenewald, Société Française du livre, Paris 1976.

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Sittler, Lucien, Alt-Archivar der Stadt Colmar: Der Isenheimer Altar des Meisters Mathis genannt Grünewald, Alsatia Colmar.

Der Autor hat noch andere Schriften konsultiert, die hier nicht aufgeführt sind.

Société pour la Conservation des Documents Historiques d’Alsace: «Cahier Alsaciens d’Archéologie d’Art et d’Histoire», 1975/76.

Bildnachweis Porträt von Matthias Grünewald auf Seite 11 und Seite 76: de.wikimedia.org (gemeinfrei)

Die Bilder des Altars sind Eigentum des Musée d’Unterlinden, 1 rue d’Unterlinden, F-68000 Colmar; www.museum-unterlinden. com (sie sind lizenzpflichtig; keine Veröffentlichung ohne Bewilligung)

Übersichtsbild des Altars auf Seite 12: flickr; «Do u remember» (Claude Le Berre).

Kupferstich von Nikolaus Kopernikus plus Unterschrift, Seite 9: de.wikimedia.org (gemeinfrei) Gemälde von Galileo Galilei auf Seite 9: de.wikimedia.org (gemeinfrei) Rötelzeichnung von Leonardo da Vinci auf Seite 10: de.wikimedia.org (gemeinfrei) Kupferstich von Michelangelo Buonarotti auf Seite 10: de.wikimedia.org (unbeschränktes Nutzungsrecht)

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