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Wolfgang Seehaber Maria von Wedemeyer – Bonhoeffers Verlobte


«Warum soll ich es wegleugnen, daß es scheußlich ist, und daß ich manchmal sehr traurig bin. Aber du sollst mir diese Traurigkeit nicht nehmen wollen, sondern Du sollst nur Deine dazugeben.» Maria von Wedemeyer an Dietrich Bonhoeffer am 16.2.1944


Wolfgang Seehaber

Maria von Wedemeyer Bonhoeffers Verlobte

Ein Lebensbild


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Zitate stammen aus den im Literaturverzeichnis angegebenen Büchern, mit freundlicher Genehmigung der entsprechenden Verlage. Die Zitate der Maria von Wedemeyer aus dem Buch Brautbriefe Zelle 92 mit freundlicher Genehmigung der «Estate of Maria Weller», New York.

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns Fotos Umschlag: Karin Hildebrand Lau / Shutterstock.com, Rotraut Forberg / Bildarchiv Preußischer Kulturbezirk Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: Finidr Gedruckt in der Tschechischen Republik ISBN 978-3-7655-1195-0


Dank

Der Verlag mçchte sich ausdrücklich bedanken bei Wolfgang Seehaber, der in jahrelanger Recherche dem Leben Maria von Wedemeyers nachgespürt hat und seine unzähligen Informationen, Belege, Hinweise, Trouvaillen, Zitate, Buchauszüge, Fakten und, ja, auch seine differenzierten Empfindungen und Rückschlüsse schließlich in ein Manuskript einfließen ließ, das er später noch ein paar Mal überarbeitete. Ihm war es wichtig, dass diese Maria so echt und wahr und authentisch dargestellt wird, wie es eben nur mçglich ist. Daran hat er gearbeitet, bis er an seine mentalen und gesundheitlichen Grenzen gelangte. Jetzt ist es vollbracht. Danke, Herr Seehaber! Sie mçgen ein taffer alter «SPIEGEL»-Journalist sein, der ja noch jahrelang unter Rudolf Augstein in der Redaktion gearbeitet hat. Aber Sie haben sich eine schçne, große Portion Sensibilität bewahrt, und das sieht man in diesem Genre nicht so oft. Hut ab! Ein großes Dankeschçn auch an Frau Seehaber, die das ganze Projekt mitbegleitet hat und auch in schwierigeren Momenten die Stimmung und Atmosphäre im positiven Bereich gehalten und überall motiviert und liebevoll mit Rat und Tat geholfen hat. Sehr eindrücklich!

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Und schließlich geht ein großer Dank auch an die Familie von Maria von Wedemeyer, im Speziellen an ihren Sohn Paul Weller und an ihre Schwestern, insbesondere an Werburg Doerr, und weitere Verwandte. Sie alle haben noch vieles im Text verändert, ersetzt, gestrichen und ergänzt, haben korrigierend eingegriffen und Falsches und Unsicheres eliminiert, dafür aber auch noch Details eingefügt, die außer der Familie niemand wissen konnte. Das hat uns zwar alle in Terminzwänge und auch an unsere eigenen Belastungsgrenzen gebracht, die Verwandten von Maria und die Seehabers im Speziellen – aber wenn wir heute auf das fertige Buch schauen, so hat sich der ganze immense Aufwand doch bestimmt gelohnt. Thank you! – Der Verlag

Zur Information Das Gros der Zitate wurde im Original belassen und nicht verändert und auch nicht korrigiert. Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler (insbesondere fehlende Kommas) wurden dort so belassen – etwa, wenn Maria statt eines Fragezeichens einen Punkt setzt oder häufig «ein bischen» schreibt. Solche Schreibfehler werden mitunter beim ersten Vorkommen – und zum Teil auch wiederholt – mit einem nachgestellten «sic!» (So!, wirklich so!) deutlich gemacht. Nähere Erläuterungen zu Personen werden mit «sc.» (scilicet; lat. für nämlich) eingeleitet. – Der Verlag

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Inhalt

1. Erste Schritte................................................................

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2. Genf 1976 ....................................................................

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3. Pätzig ...........................................................................

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4. Die Eltern.....................................................................

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5. Die Großmutter ...........................................................

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6. Der Verlobte ................................................................

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7. Die Schulzeit................................................................ 133 8. Die Berneuchener......................................................... 150 9. Die Verlobung .............................................................. 169 10. Der gefangene Bräutigam ............................................. 223 11. Danach ........................................................................ 312

Literaturverzeichnis ..................................................... 359 Anmerkungen .............................................................. 365

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1. Erste Schritte

Sie hat das Leben stets in vollen Zügen einatmen wollen und nahm sich kaum die Zeit zum Luftholen, als wäre diese Zeit eine Verschwendung. Viel zu oft haben ihr Leid und Trauer den Atem verschlagen, aber auch Glück und Freude haben das getan. Und beides hat sie dann nicht so einfach hingenommen, als würde sich solcherlei von selbst verstehen. Nichts verstand sich bei ihr von selbst. Zum einen hat sie vor allem gefragt, sich, Gott, Menschen. Zum anderen hat sie gedankt, Gott und Menschen. Der schreiende Protest ist ausgeblieben, nicht jedoch der laute Jubel. Sie «überfreute» sich gerne und hatte es mit dem Vivat, dem Hurra und dem Halleluja. Aber da gab es auch Zweifel, zuerst immer Selbstzweifel, zuletzt oder gar nicht die an Mitmenschen oder an Gott. Da war sie nahezu vertrauensselig. «Jedes ‹warum› hat eine Antwort, ich glaube, auch schon hier auf Erden. Wir fühlen sie nur nicht und kçnnen sie darum nicht begreifen», schrieb Maria von Wedemeyer am 23.8.1943 ihrem Verlobten Dietrich Bonhoeffer ins Gefängnis.1 Manchmal, ich denke wirklich, nicht oft, sind die Zweifel in Verzweiflung umgeschlagen. Das musste in diesem Leben einfach so sein, das sich nicht selten schutzlos darbot, das Vorbehalte und Absicherungen verabscheute und die Tiefe verlangte. Wie sie mit ihrer Verzweiflung umgegangen ist, ließ sie uns nicht —

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deutlich wissen. Dazu nahm sie sich nicht wichtig genug. Keinesfalls wollte sie jemanden belasten. Wir kçnnen es nur ahnen: gläubig. Und ihr Glaube verlangte dann stets nach der Tat. Darin stimmte sie mit ihrem Verlobten vçllig überein, wenigstens darin, mçchte man lächelnd hinzufügen, nachdem man die Briefe von ihr an ihn gelesen hat. Denn, weiß Gott, sie dachte und glaubte eigenständig. Wer in ihr lediglich ein Anhängsel an den großen Theologen Bonhoeffer sehen mçchte, der liegt vçllig falsch. Da begegneten sich zwei auf Augenhçhe. Sie war ihm denkerisch gewachsen und gefühlsmäßig sogar überlegen. Sie vermochte vorbehaltlos zu lieben. Er behielt oft seine Vorbehalte, bis auch er sie aufgab, um seine Liebe kämpfte und sich hingab. Am Ende wandelte sich der Patriarch zum echten Partner, was sie von ihm immer wieder einforderte. «… so spüre ich nun mehr und mehr, wie mir durch Dich, – dadurch, daß Du meine Frau werden willst, – ein ganz neues Vertrauen zum Leben gegeben wird …», schrieb Bonhoeffer am 27.8.1943 an seine Braut.2 Das war der wesentliche Beitrag dieser jungen Frau zu der Gefängnistheologie, die zum Aufregendsten gehçrt, was in dieser Hinsicht im 20. Jahrhundert gedacht wurde. Es ist kein Zufall, dass der Brief an den Freund Eberhard Bethge vom 27.6.1944 aus dem Gefängnis, in dem besonders betont von der Diesseitigkeit des Glaubens und von seiner Bindung an die Erde die Rede ist, mit den Worten beginnt: «Eben war Maria bei mir.»3 Die christliche Auferstehungshoffnung, heißt es später in diesem Schreiben, verweise den Menschen «in ganz neuer Weise … an sein Leben auf der Erde».4 Der Christ müsse das irdische Leben ganz auskosten, setzt Bonhoeffer fest. Das Diesseits dürfe nicht vorzeitig aufgehoben werden.5 Die tagtäglich erfahrene Wirklichkeit bekommt in dieser Theologie gegenüber dem Jenseits eine überwältigende Bedeu—

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tung. Dem Glauben wird endlich wieder die Welt als sein vorzüglicher Lebensraum zugewiesen. Nicht nur im Fundamentalen, sondern im Alltäglichen sei Gott, ließ er seine Braut wissen.6 Das Hier und Jetzt erhält für den Christen eine einzigartige Würde. Das zu denken, dazu hat diesen Theologen auch und vor allem Maria von Wedemeyer ermutigt, ja, vielleicht sogar angestiftet, lebenshungrig und lebenserfüllt, wie sie war. Maria, die, und das lässt uns wieder ein wenig lächeln, «die Theologie ... für … eine vçllig unbegreifliche Wissenschaft» hielt.7 Sie wollte den Glauben eben nie nur denken, sondern leben, immer wieder leben, mit der ganzen Person, mit Herz und Nieren. In einer Osternachtsfeier nach Berneuchener Ritus – davon wird später noch ausführlich zu sprechen sein – hat sie im Frühjahr 1944 im fränkischen Bundorf «zum ersten Mal gespürt, daß man wirklich mit dem ganzen Menschen dabei sein muß, daß man die Psalmen eben nicht nur mit dem Kopf denkt und mit dem Mund singt, sondern, daß die Hände und die Füße und alles mitsingen kçnnen».8 Unbefangen fragte sie ihren vollbluttheologischen und entschiedenen Pfarrer Dietrich, «warum ein Pastor immer auch ein Theologe sein» müsse.9 Sie hat sicherlich keine ernsthafte Antwort auf diese Frage erwartet. Dazu hat sie den Geistlichen in ihrem Verlobten viel zu sehr geschätzt. Maria Friederike von Wedemeyer wurde am 23.4.1924 auf dem Rittergut Pätzig in der Neumark als drittes von insgesamt sieben Kindern geboren. Das Leben auf diesem Gut, in dieser Landschaft, mit den Menschen der Familie, des bäuerlichen Betriebes und des Dorfes hat sie nachhaltig geprägt. Am Ende ihres Lebens wird sie zusammen mit ihren Geschwistern noch einmal gedanklich und bildhaft das bereits lange zerstçrte Gutshaus erstehen lassen. Hier steckten ihre Wurzeln tief in der manchmal kargen märkischen Erde. Sie hat sie nie herausziehen wollen. Das brauchte sie auch nicht zu tun. Sie vermochte es, mit dem Ver—

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mçgen ihrer Vergangenheit Zukunft zu bauen, ohne dass diese Vergangenheit, Pätzig, eine als gut und gütig empfundene alte Zeit, ihr etwas versperrte. Diese Vergangenheit beschenkte sie mit Offenheit. Sie erfuhr eine immense Geborgenheit. Auch die nahm sie als Ausrüstung, um beherzt nach vorne zu drängen. Als sie im Magdalenenstift in Altenburg, in dem sie auch einmal Schülerin gewesen war, als Erzieherin arbeitete, schrieb sie in Erinnerung daran an Dietrich am 10.2.1944: «Weißt Du, das erlebt man eigentlich nur in dieser Zeit, an seinem Elternhaus und seiner Heimat einen ganz sicheren und festen Rückhalt zu haben und doch ganz selbständig zu lernen, handeln zu dürfen, seine Erfahrungen zu machen und sich bewähren zu kçnnen. Man lernt ja seine Eltern und die Heimat so erst richtig lieben, verstehen und achten.»10 Vermutlich war sie gar nicht so selten von Nostalgie erfüllt. Doch das lähmte sie nicht. Das machte sie beweglich und schloss sie auf. Sie wusste stets, woher sie kam. Dieses Wissen zeigte ihr, wohin sie gehen konnte. Ganz bewusst war sie eine Adlige, so wie ihr Vater, Hans von Wedemeyer, ein überzeugter Junker war. Und ebenfalls ihrem Vater gleich war sie dazu imstande, aus diesem Adelsstand auszubrechen, wenn sie sich eingezwängt fühlte. Sie liebte die Etikette und hinterfragte sie gleichzeitig. Ihr von ihr unermesslich geliebter Vater sagte ihr «einen fatalen Hang zum Küchenpersonal» nach. Doch sie verlor auch nie gänzlich das «gnädige Fräulein». Die Feste und Jagden waren ihr eine Freude, Abendkleider konnte sie genießen, um dann auch wieder in Strümpfen mit großen Lçchern darin wild durch ihr Zimmer zu tanzen, während das Grammophon laut dazu jaulte. Sie hatte ihre Ideale, ein Übermaß davon, durch ihre Familie, den Adelsstand, den Glauben, ihre umfassende Liebe bedingt. Diese Ideale mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, da kam es immer wieder zu einer Zerreißprobe. Natürlich —

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ist das nicht nur eine Eigentümlichkeit in ihrem Leben. Das kennen wir alle. Doch bei Maria von Wedemeyer scheint mir diese Zerreißprobe dann und wann besonders schmerzhaft auszufallen, in ihrer Vorstellung von der Ehe, wenn es dann zu Scheidungen kam, in ihrer Ausübung des Berufes als leitende Computerfachfrau, wenn der Betrieb, in dem sie tätig war, für die Rüstung und den Vietnamkrieg arbeitete, auch in ihrer Verlobungszeit mit Dietrich Bonhoeffer, wenn sie ihm mit allen Kräften beistehen wollte und diese Kräfte sie dann einfach verließen. Sie liebte und hielt es manchmal nicht mehr aus. Sie habe «eine unglückliche Liebe zu träumen», ließ sie ihren Dietrich wissen und sah sich immer wieder zum Realistinnendasein gezwungen. Das tat weh, immer wieder weh. Dabei lachte sie so gerne. «Sieh, das Ernste und Lächerliche liegt bei mir so dicht nebeneinander, daß ich selbst manchmal nicht weiß, was es ist»11, schrieb sie an ihren Bräutigam. Und der sagte brieflich nach einem Besuch von ihr im Gefängnis: «Dein Lachen – nicht wahr, auch wenn wir lachen, sind wir ein bißchen traurig?»12 Die Bilder, die ich von Maria von Wedemeyer aus der Zeit vor dem Kriegsende kenne, zeigen mir eine ernste junge Frau mit straff gekämmtem, streng gescheiteltem Haar; ein schmales Gesicht. Das Kinn, kräftig entwickelt, signalisiert Willensstärke. Anmut und Schçnheit erkenne ich. Denke ich mir die Farben hinzu, von denen ich weiß, so kommt es zu braunen Haaren und graugrünen Augen. Spätere Bilder, die eine lächelnde oder lachende Maria vorstellen, offenbaren einen kleinen Spalt in der Mitte zwischen ihren Vorderzähnen, den auch der Vater besaß. Das nimmt der Schçnheit jede Sterilität. Der angeheiratete Vetter Fabian von Schlabrendorff, der aktiv im Widerstand gegen den Naziterror tätig war und nur durch glückliche Fügungen den Gefängniskeller des Reichssicherheitshauptamtes und das KZ überlebte, sang seiner —

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Cousine ein kleines, aber vollmundiges Loblied: Sie besaß «eine einmalige Erscheinung, die sich jedem Mann einprägte … Jeder, der Nietzsche kennt, weiß, dass dieser den Frauen keine große Hochachtung entgegengebracht hat. Man weiß aber auch, dass Nietzsche eine große Ausnahme gelten ließ: Es war die Gutsbesitzerfrau aus dem preußischen Osten. Aus diesem Holz war Maria von Wedemeyer. Eine Frau von großer Weiblichkeit, gepaart mit Energie und Tatkraft.»13 Von Schlabrendorff amtierte nach dem Krieg für acht Jahre als Bundesverfassungsrichter. Sabine Leibholz, die Schwester Bonhoeffers, begegnete Maria 1947 in Gçttingen und beschrieb sie als ein «besonders schçnes, warmherziges Mädchen, unverwüstlich, tüchtig und energisch».14 Und zwei Jahre später traf Sabines Tochter, Marianne, auf die einstige Verlobte ihres Onkels und erinnerte sich: «Ich hatte noch nie ein so wunderschçnes Mädchen gesehen. Soviel Lebendigkeit und Helle ging von ihr aus.»15 Eine Mitstudentin meinte damals, sie sei «eine sprühende und faszinierende Persçnlichkeit».16 Der Bonhoeffer-Biograph Ferdinand Schlingensiepen äußerte in einem Interview: «Maria von Wedemeyer war eine hinreißende Erscheinung. Ich mçchte sagen, es war unmçglich, von ihr nicht gefesselt zu sein. Alle Männer, die sie kannten, waren in sie verliebt.»17 Als ich mir die Bilder von Maria aus der Zeit bis 1945 anschaue, kommt mir zunächst der Gedanke, dass diese junge Frau etwas Madonnenhaftes an sich hat. Nachdem ich sie und ihr erfülltes, überschäumendes, manchmal brüchiges, immer sehnsuchtsgeschwängertes Leben ein wenig näher kennen gelernt habe, nehme ich von diesem Gedanken Abschied und finde mich im Einklang mit der Mutter Ruth von Wedemeyer, die kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes sagte: «Sie wird nicht wie eine herkçmmliche Maria werden, keine zarte Jungfrau, wie sie in der klassischen Kunst dargestellt wird.»18 —

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Nein, das ist sie wirklich nicht geworden. Kinderbilder lassen ihre Frechheit und ihren Übermut erahnen. Die späteren Fotos bis hin zu denen als Mutter und dann nahe an ihrem Tod erzählen von einer unerhçrten Offenheit und Freude, auch von Stolz über Erreichtes und von Selbstvertrauen. Sie lebte stets bewusst im Augenblick mit fest verankerten Wurzeln und vorwärtspreschender Neugier. Ihr irdisches Leben, das mit 53 Jahren endete, ist Fragment geblieben. Emmi Bonhoeffer, die Witwe des Widerstandskämpfers Klaus Bonhoeffer und Maria zur guten Freundin geworden, hat diese und ihren Schwager mit «abgebrochenen Riesen»19 verglichen. Dietrich Bonhoeffer schrieb im Gefängnis, es sei wichtig, «dass man dem Fragment unseres Lebens … ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war …».20 Das kann man an Marias Dasein sehr deutlich ablesen. Und das sollen die folgenden Seiten aufzeigen. Keine Biographie im herkçmmlichen Sinne soll hier entstehen, kein Stück wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Eine persçnliche Annäherung an diese beeindruckende Frau in verschiedenen Lebensphasen mçchte es sein, subjektiv, mit aller Vorläufigkeit und Anfechtbarkeit. Ich werde Maria an ihrem Geburtsort, dem Rittergut Pätzig in der Neumark, besuchen, die Menschen vorstellen, mit denen sie ganz besonders verbunden war, sie durch ihre Schulzeit begleiten und ihre religiçse Prägung aufzeigen. Besonders intensiv werde ich ihre Beziehung zu Dietrich Bonhoeffer beleuchten, den Weg dahin und die Zeit ihrer Verlobung. Am Ende werde ich mit ihr in die USA reisen und ihr Leben dort bis hin zu ihrem Tod nachzeichnen. Ich werde ein Mosaik mit den Steinen zusammensetzen, die mir zur Verfügung stehen. Es wird sich das Bild einer Maria von Wedemeyer ergeben, wie ich sie sehe und verstehe.21 —

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Dietrich Bonhoeffer hat mich, einen Pastor, sehr geprägt. Es macht mich traurig und ein wenig ratlos, dass er in der Literatur über seine letzte Zeit, aus der die befreiende, lebenszugewandte Theologie gewachsen ist, vielfach ohne eine angemessene Würdigung seiner Braut Maria von Wedemeyer dargestellt ist. An sie schrieb er einmal: «Ja, sag mir, kannst Du denn ohne mich weiter? und wenn Du meinst es zu kçnnen, kannst Du es immer noch, wenn Du weißt, daß ich ohne Dich nicht weiter kann? […] ich lasse Dich nicht von mir, ich halte Dich ganz fest, daß Du weißt, daß wir zusammengehçren und bleiben müssen.»22 Er liebe sie, schrieb Bonhoeffer, «solange ich lebe und darüber hinaus».23 Das ist das Erbe, mit dem Maria von Wedemeyer nach dem Tod ihres Bräutigams umzugehen hatte. Sie hat das, wie wir noch sehen werden, selbstbewusst, beherzt und emanzipiert getan. Ihr war es immer wichtig gewesen, die eigenen Wege für sich zu entdecken und sie dann unbeirrt zu beschreiten. Dass das nicht leicht gewesen ist, als in späterer Zeit das Ansehen ihres einstigen Verlobten nahezu in der ganzen Welt immens gewachsen und er fast zu einem Heros des Glaubens hochstilisiert worden war, versteht sich von selbst. Es hatte auch Leid zur Folge. Doch die Eigenständigkeit ihres Denkens und Fühlens, die Eigenständigkeit ihres Lebens waren ihr immer so bedeutsam gewesen, dass sie dieses Leid notgedrungen in Kauf genommen hat. So wurde es ein konsequentes und sehr ehrliches Leben, in dem die Zweideutigkeiten verabscheut wurden und in dem es gerne absolut zuging.

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2. Genf 1976

Am 4. Februar 1976 wäre Dietrich Bonhoeffer siebzig Jahre alt geworden. Dieses Datum haben der Ökumenische Rat der Kirchen und das Internationale Bonhoeffer-Komitee zum Anlass genommen, zu einer Gedenkveranstaltung nach Genf einzuladen. Es war nach Kaiserswerth 1971 die zweite internationale Tagung, die sich mit dem Widerstandstheologen beschäftigte. Eine wahrhaft illustre Gesellschaft fand sich in der Schweiz zusammen, um den zu ehren, der vielen von ihnen einen glaubhaften theologischen Weg gewiesen hatte, der der Kirche in seinen letzten Briefen konsequent den Platz ganz unten angewiesen und ihr unmissverständlich eine dienende Funktion zugedacht hatte. Nun saßen sie da, Kirchenführer wie der Generalsekretär des Ökumenischen Rates, Philipp Potter, Heinz Joachim Held als Präsident des Außenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Bischof von Berlin-Brandenburg, Albrecht Schçnherr, Letzterer immerhin ein Schüler Bonhoeffers, und werden vielleicht daran gedacht haben, dass der, der an jenem Tag im Mittelpunkt stehen sollte, im Mai 1944 in den Gedanken zum Tauftag seines Patensohnes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge aus dem Gefängnis geschrieben hatte: «Bis du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Ver—

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zçgerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiçs, aber befreiend und erlçsend, wie die Sprache Jesu, daß sich Menschen über sie entsetzen … die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit …»24 Hat es diese Umkehr und Läuterung der Kirche gegeben? Spricht sie heute eine erlçsende, befreiende Sprache, die Menschen dazu ruft, das Wort Gottes so zu sagen, dass Erneuerung geschieht? Mçglicherweise hat wenigstens der Bonhoeffer-Schüler Albrecht Schçnherr für sich ganz allein leise und zweifelnd den Kopf geschüttelt. Unter den Teilnehmern dieser Veranstaltung aus dreizehn Ländern, die zunächst im Vortragsraum des ÖRK und dann im Tagungshaus Le CØnacle stattfand, befand sich auch Maria von Wedemeyer. Sie war eingeladen worden und ist dieser Einladung auch gefolgt, was wahrlich nicht selbstverständlich war, hatte sie sich doch weitgehend von der immer grçßer werdenden Schar derer, die sich um das Vermächtnis ihres einstigen Verlobten versammelten, ferngehalten, und das mit sehr guter Begründung. Einige Jahre zuvor hatte sie zur Erçffnung des New Yorker Bonhoeffer-Archivs in einem Vortrag ausgeführt: «Ich bin eigentlich ziemlich ratlos und weiß nicht recht, was ich sagen soll. Sie alle haben die Schriften Bonhoeffers viel intensiver studiert und wissen viel mehr über ihn als ich … Ich habe gelernt, vor einem so kenntnisreichen Publikum sehr vorsichtig mit ¾ußerungen über Bonhoeffer zu sein. Seit jemand mich fragte: ‹Sagten Sie, dass Sie mit Dietrich Bonhoeffer verlobt gewesen seien? Sie müssen sich irren. Wussten Sie nicht, dass Bonhoeffer mit Überzeugung zçlibatär lebte?› Ich wusste es nicht und wurde also eines —

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Besseren belehrt. Um ehrlich zu sein: ich habe es stets als viel einfacher gefunden, den Erwartungen Bonhoeffers gerecht zu werden als denen seiner Anhänger.»25 Maria war zusammen mit zwanzig Amerikanern angereist. Eine ihrer Schwestern war ebenfalls gekommen, auch die Freundin Emmi Bonhoeffer, von der sie einst während des Krieges so behutsam in die ihr doch recht fremde Welt des Berliner Großbürgertums eingeführt worden war. Sie begegnete dem engsten Freund Bonhoeffers der letzten zehn Jahre, Eberhard Bethge, dem es zu verdanken ist, dass die oft so aufregenden theologischen Gedanken des Verlobten überhaupt die Welt erreichen konnten, der sie mehrfach in den USA besucht und sie schon 1945 als Patentante seiner Tochter in die eigene Familie aufgenommen hatte. Und sie traf auf einige der Kandidaten aus dem mittlerweile bereits legendär gewordenen Predigerseminar Bonhoeffers in Finkenwalde bei Stettin, die zur Avantgarde des Kirchenkampfes im Dritten Reich gehçrt hatten. Einer dieser einstigen Vorkämpfer, Otto Dudzus, der in Genf nicht dabei sein konnte, schrieb später an die Schwester RuthAlice von Bismarck: «Nachträglich kann ich es mir noch weniger verzeihen, nicht hingefahren zu sein. Albrecht Schçnherr hat mir immer wieder von Ihrer Schwester erzählt, wie sie das eigentliche Ereignis der Tagung war und wie sie mit ihrer souveränen Art viele beeindruckt und beglückt hat.»26 Den Festvortrag auf dieser Jubiläumstagung hielt der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, zu jener Zeit Leiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. In diesen Ausführungen gestand er seine Bewegung darüber, dass Bonhoeffer damals in Gefangenschaft sein Buch «Zum Weltbild der Physik» gelesen und daraus die These entnommen habe, «dass man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf». Und der Theologe habe sich da—

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mals gewünscht: «Wenn nur ein geistiger Austausch mçglich wäre.»27 Er verglich in seiner Rede Bonhoeffers theologische Entwicklung mit «einer Reise zur Wirklichkeit»28, und die Gefängnisbriefe nannte er «seinen Durchbruch zum eigenen Ursprung».29 «Er sieht die Wirklichkeit, die er immer gespürt hat.»30 Zu dieser Wirklichkeit gehçrte damals gewiss auch Maria von Wedemeyer. An einem der Abende während dieser Tagung sprach sie mit ihrer Schwester Ruth-Alice auch zum ersten Mal über eine mçgliche Verçffentlichung der Post, die zwischen ihrem Verlobten und ihr einst hin und her gegangen war. Sollte es dazu kommen, erbat sie sich einen guten Kommentar, «der die sehr speziellen und schwierigen Begleitumstände dieses Briefwechsels beleuchtet».31 Bislang hatte sie dieses sehr persçnliche Gedankengut mit jedem Recht vor der Öffentlichkeit gehütet, besonders jener Öffentlichkeit, die auf jede kleinste Information aus dem Privatleben des theologischen Heroen äußerst neugierig war. Die Gedanken kannte man ja weitgehend. Aber die Gefühle, die Gefühle …! Maria hatte da schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Als Eberhard Bethges bedeutende Bonhoeffer-Biographie 1967 erschien, entdeckte die Presse eine große, vom Autor gewollte Zurückhaltung in Sachen Maria von Wedemeyer, was einige Kritiker dazu brachte, über «leidenschaftliche Briefe auf dem Weg zur Hinrichtung» zu spekulieren. Maria erblickte in solchen ¾ußerungen die «Hçhe von Kitsch».32 Sechzehn Jahre später wurde der Briefwechsel einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und sie war wahrlich sehr interessiert. Als 1992 das Buch «Brautbriefe Zelle 92» erschien, sprach man in der Presse von der literarischen Sensation des Jahres und wertete es als «gleichermaßen beglückende wie bedrückende Lektüre». Ein Rezensent schrieb, dieser Briefwechsel gehçre zu den «bewegendsten Dokumenten» des Lebens Bonhoeffers.33 —

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Am selben Abend, als Maria mit ihrer Schwester in Genf über eine eventuelle Verçffentlichung der Briefe sprach, äußerte sie auch einen Wunsch. Sie sagte: «Ich war ja damals so sehr jung. Ich mçchte eigentlich gern auch als der Mensch, der ich jetzt bin, neben Dietrich stehen.»34 Jetzt war sie eine erfolgreiche Wissenschaftlerin und Managerin in der Computerindustrie; zweimal verheiratet, zweimal leidvoll geschieden, sie, die sie in der Ehe ein hohes Ideal sah und eigentlich immer an ihre Unzerstçrbarkeit geglaubt hatte, was sie nahezu zerriss. Sie war Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen Sçhnen, denen sie, wie sie einmal sagte, so viel Zuhause schenken wollte, «daß es ihnen zum Halse heraus hängt»35, dazu einer Stieftochter. Inzwischen von Berufs wegen eine Vielfliegerin, dabei war sie aber auch jene Adlige, die an der kleinen Welt des neumärkischen Gutes Pätzig weiter innerlich festhielt, lange nach deren Zerstçrung, diese ihre neue Heimat liebende Tochter eines Junkers, die gerne die Freiheit vor die adlige Etikette stellte, das aber nur zu tun vermochte, weil diese Etikette ihr die Kraft dazu verliehen hatte. Sie hatte sich an zwei Ehemänner gebunden, pflegte gerade sehr intensiv die Verbindung zu einem Computerwissenschaftler, ohne wohl noch einmal an eine Ehe denken zu kçnnen, und hatte sich immer wieder ihre Beziehung zum einstigen Gefangenen im Tegeler Militäruntersuchungsgefängnis vor Augen zu führen, den sie in ihrer Verlobungszeit – das versteht sich von selbst – nie als einen theologischen Heroen begreifen konnte und als jenen Märtyrer, zu dem er dann stilisiert wurde. Für sie war er einfach der Mann, den sie liebte und der ihre Liebe beantwortete, der in manchen Dingen anders als sie dachte, mit dem sie sich aber letztlich unverbrüchlich einig wusste und dem sie alle Angst und allen Zweifel, was eine gute gemeinsame Zukunft anging, zu nehmen versuchte, mutig, mitunter humorvoll und mit aller ihrer liebesgesättigten Überzeugungskraft. —

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Was wäre das für eine Ehe geworden? Natürlich stellen viele diese Frage. Das ist erlaubt. Doch irgendwie fürchtet man die Antwort, um Bonhoeffer nicht zu entmythologisieren und ins Allzumenschliche zu zerren, von dessen Frauenbild man ja nicht nur Gutes gehçrt hatte (siehe dazu später). Träume zerschlägt niemand gerne, auch die Marias nicht. Sie hatte sich jene Frage – das versteht sich von selbst – auch schon gestellt und wollte sie nun in Genf an den Mann richten, der ihren Verlobten am allerbesten gekannt hatte, an Eberhard Bethge. So fasste sie sich also ein Herz, übersprang kurzerhand alle ihre Furcht vor der mçglichen Antwort, und fragte. Bethge zçgerte ein wenig, vielleicht aus Überraschung, mçglicherweise auch gar nicht verwundert, weil ebenfalls von großer Sorge besetzt, da diese Frage eventuell doch besser ohne Antwort bleiben sollte. Denn er liebte den Freund und war dessen Braut sehr zugeneigt. Er wagte die Erwiderung. Sie fiel so aus, dass Maria lachend sagte, für diesen einen Satz habe sich die Reise nach Genf mehr als gelohnt.36 Jener Satz lautete: «Nun, etwas schwierig war er ja.»

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3. Pätzig

Das heimatliche Gut Pätzig in der Neumark erwähnte Maria häufig in ihren Briefen – sie schickte sogar Fotos von ihm zu Dietrich in das Gefängnis –, als bräuchte sie immer wieder eine Versicherung darüber, wohin sie gehçrte, woher sie kam und auf welchem Boden sie eigentlich stand. Es war ihr einfach wichtig, in dieser Zeit, als die Welt aus allen Fugen brach, sich selbst in einen festen Umschlag einzuhüllen, damit ihr Inneres zusammenhielt. Das schenkten ihr die immer wiederkehrenden Erinnerungen an jenes Land dort fünfzig Kilometer çstlich der Oder gelegen mit seinen Wäldern, dem oft recht kargen Boden, den zwei versumpften Seen und den unzähligen kleinen und grçßeren Teichen, die man «Lçcher» nannte. Sie kehrte gedanklich heim, um aufbrechen zu kçnnen. Bonhoeffer im Gefängnis tat das auch, als er in seinen literarischen Versuchen, besonders in dem nach wenig mehr als hundert Seiten abgebrochenen Roman, für sich die heile Welt des Großbürgertums heraufbeschwor, in der er einst gelebt hatte. Er baute sich in Worten noch einmal das Fundament, auf dem er fest zu stehen vermochte, um von dort aus dann seine Freiheit fordernde Theologie zu schaffen, die sich gegen die vormals so geordnete geistliche Welt stellte und nach neuen Ordnungen verlangte, nach einer Ordnung unten auf der Erde, wo er Gott fand und für die dieser Gott einstand, eine Leidensordnung, die zur Heilsord—

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nung werden wollte, eine Ordnung der Solidarität Gottes mit den Menschen und darum der Menschen miteinander. Dietrich zog sich eine Zeit lang in das Großbürgertum zurück, um weiterzukommen; Maria in die schlichte Welt Pätzigs, ebenfalls, um überhaupt noch weitere Schritte nach vorn machen zu kçnnen. Der Großvater Maximilian von Wedemeyer hatte sich in die landschaftliche Schçnheit von Pätzig verliebt, als er es für seinen zweiten Sohn Hans kaufte. Viele, die dieses Gut kannten, waren von der Anmut der Gegend nahezu verzaubert und sagten, dass nichts in der Neumark ihr gleichkäme. Der landwirtschaftliche Betrieb befand sich inmitten eines Endmoränengebiets, Sandund Lehmboden lçsten sich ab. Und Steine gab es, Steine über Steine. Die Bearbeitung dieses Landes war in der Tat nicht einfach. Die zahlreichen Hügel behinderten oder verhinderten oft den Einsatz von Maschinen. Auf dem Boden wuchsen Kartoffeln, Hafer und Roggen, an einigen Stellen Zuckerrüben und Weizen. An Ackerboden gab es 638 Hektar, Wald und Wiese machten insgesamt 765 Hektar aus. Dazu kamen noch 127 Hektar Weideland. 35 Landarbeiterfamilien wohnten an zwei langen Dorfstraßenenden. An der dritten Straße lebten zehn vom Gut unabhängige Bauern. Diese waren dann später sehr anfällig für das Gedankengut des Nationalsozialismus, während die Landarbeiterschaft dagegen weitgehend immun geblieben ist. Die Straßen gingen sternfçrmig von dem gelbgestrichenen Herrenhaus mit seinen grünen Fensterläden und dem tiefgezogenen roten Ziegeldach, der Feldsteinkirche, dem Pfarrhaus und der Schule aus. Eine prächtige Kastanienallee verband die Kirche und das Gutshaus, das von einem kleinen Park und einem Staudenund Gemüsegarten umgeben war. Hans von Wedemeyer hatte schwer um die Wirtschaftlichkeit —

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