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Die Autorin Margaret Feinberg ist in den Vereinigten Staaten eine populäre Rednerin in Kirchen und bei Events wie etwa «Catalyst» und dem «Creation Festival». Über 600.000 ExempIare ihrer Bücher und Bibelstudien wurden verkauft and erhielten viel Kritikerlob und Beachtung in der Presse, etwa von CNN, von USA Today, der Associated Press, der Los Angeles Times, der Washington Post und vielen anderen. Das christliche «Charisma»-Magazin bezeichnete sie als eine der «vierzig aufsteigenden Stimmen» von christlichen Leitern unter vierzig Jahren. Sie schrieb unter anderem die Bücher «The Organic God» und «The Sacred Echo» und lebt mit ihrem Mann Leif in Colorado. www.margaretfeinberg.com www.facebook.com/margaretfeinberg


Margaret Feinberg

Gottes Herz: Der Takt der Liebe Was uns Weinproduzenten, Schäfer, Imker und Bauern über die Lebensweisheit der Bibel sagen kçnnen

Verlag Basel . Giessen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Die Bibelzitate wurden folgenden Bibelübersetzungen entnommen: Elberfelder Bibel 1985, 1991, 2008 SCM R. Brockhaus, Witten Hoffnung für alle 1983, 1996, 2002 Biblica Inc.TM, Brunnen Verlag Basel Lutherbibel 1984, 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Originally published in the U.S.A. under the title: «Scouting the Divine» Copyright 2009 by Margaret Feinberg Translation copyright 2012 by Margaret Feinberg

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Christian Rendel, Witzenhausen Published by permission of Zondervan, Grand Rapids, Michigan www.zondervan.com

Copyright der deutschen Ausgabe:

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns Foto Umschlag U1: Goodluz/Shutterstock.com Foto Umschlag U4: Phaitoon Sutunyawatchai/Shutterstock.com Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1254-4


5

Inhalt

Inhalt

Prolog: Das Gefühl des Staunens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I:

9

Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin . . . .

15

1.1

| Eine unverhoffte Begegnung. . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1.2

| Erneuter Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

1.3

| Die Herde lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1.4

| «Sheep! Sheep! Sheep!» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1.5

| Wahrhaft erkannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

1.6

| Ein zärtliches Mutterschaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1.7

| Das übermütige Schaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

1.8

| Die Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

1.9

| Kämpfen für Piaget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

1.10

| Umarmung einer Schäferin. . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

1.11

| Wollene Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

1.12

| Das Beste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

1.13

| Abhängigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

1.14

| Der Hirtenjunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

1.15

| Der schlechte Hirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

1.16

| Heimwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Teil II:

Gottes Herz aus der Sicht eines Bauern. . . . . . . .

79

2.1

| Jeder braucht einen Joe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

2.2

| Jahreszeiten der Freundschaft. . . . . . . . . . . . . . . .

83


6

Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

2.3

| Die Vorratshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

2.4

| Die Aussaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2.5

| Auf dem Feld kommt alles ans Licht . . . . . . . . . . .

94

2.6

| Der verlorene Bodenkontakt . . . . . . . . . . . . . . . .

96

2.7

| Graben in der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2.8

| Zufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 1

2.9

| Die Spreu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

2.10

| Geringe Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

2.11

| Das Band des Bauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

2.12

| Die Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

2.13

| Das große Warten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

2.14

| Eingemachte Tomaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

2.15

| Schätze auflesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

2.16

| Die Schçnheit der Ernte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Teil III: Gottes Herz aus der Sicht eines Imkers . . . . . . .

129

3.1

| Eine Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

3.2

| Eines Mannes Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

3.3

| Schçne Verästelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

3.4

| Plçtzlicher Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

3.5

| Bienen in der Bibel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

3.6

| Im Überfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

3.7

| Einsichten aus dem Bienenstock . . . . . . . . . . . . .

158

3.8

| Süße Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

3.9

| Der Glaube eines Imkers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164


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Inhalt

Teil IV: Gottes Herz aus der Sicht eines Weinbauern . . .

169

4.1

| Der verborgene Winzer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

4.2

| Weinland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

4.3

| Ein Kunsthandwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

4.4

| Das erste Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

4.5

| Eine langfristige Investition. . . . . . . . . . . . . . . . . .

182

4.6

| Ringeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

4.7

| Sonoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

4.8

| Wein in der Bibel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

4.9

| Wiederherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194

4.10

| Die Weingärtnerin aus Sprüche 31 . . . . . . . . . . . .

198

4.11

| Rangeleien unter den Arbeitern . . . . . . . . . . . . . .

200

4.12

| Neue Weinschläuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

4.13

| Der wahre Weinstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

4.14

| Bis zu jenem Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

Einsichten und Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . .

215

5.1

| Der Kreis schließt sich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

5.2

| Leidenschaft und Commitment . . . . . . . . . . . . . .

220

5.3

| Kommende Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Epilog: Neuer Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Anmerkungen zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

Teil V:



Prolog: Das Gefühl des Staunens

9

Prolog: Das Gefühl des Staunens Wenn die Bibel in unseren Herzen lebendig wird, wird sie für uns weniger zu einer Quelle der sachlich-trockenen Information als vielmehr der Veränderung und der Transformation. Beim Lesen entdecke ich, dass es beim Glauben nicht darum geht, ein guter Mensch zu werden – nein, es geht darum, eine Figur Gottes in einer viel, viel grçßeren Geschichte zu werden. Irgendwie wird aus den Worten auf einer schlichten Buchseite ein Portal zu lebendigen Begegnungen mit seit vielen Jahrhunderten bekannten Menschen – Heiligen und Sündern – und mit einem Gott, der war, der ist und der immer sein wird. Für manche ist die Bibel nur ein verstaubtes altes Buch. Aber für mich sind ihre Seiten Tore zum Abenteuer. Das Buch ist nicht nur randvoll mit faszinierenden Handlungen und packenden Geschichten, sondern auch gesäumt mit historischen Einblicken und literarischer Schçnheit. Wenn ich die Bibel aufschlage, stelle ich mir vor, dass ich ein altes Kçnigreich erkunde. Ich überquere die schmale Zugbrücke, die in dieses ferne Land führt, und stelle mir ein Schloss mit unzähligen Bankettsälen und Gemächern vor. Ein Schloss mit so vielen geheimen Korridoren, unterirdischen Gängen und Falltüren, dass auch die neugierigsten Besucher ein ganzes Leben brauchen werden, um es zu erforschen. Auf Schritt und Tritt begegne ich Kçnigen und Kçniginnen, Schreibern und Dichtern, die alle ihre Geschichten voller Tapferkeit und Glauben erzählen. Bei jeder Begegnung lerne ich etwas Neues über ihre Reisen durchs Leben und werde daran erinnert, dass die Bibel mehr ist als ein Zeugnis der menschlichen Suche nach Gott: Sie ist die Offenbarung der Suche Gottes nach uns.


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Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

Manche der Berichte sind geradezu abstoßend und schockierend: Da ist von einem Vater die Rede, der seine Tochter nach einem Sieg opfern wollte, oder von einer Frau, die den Kopf eines Mannes auf den Fußboden nagelt. Andere Geschichten sind einfach spektakulär: Männer, die mit Bären und Lçwen ringen; Frauen und Kinder, die ganze Nationen retten; und ein unvergesslicher Mann, der vom Leben in den Tod ging und wieder zurückkehrte. Je mehr Zeit ich in diesem Land aus alten Tagen verbringe, desto mehr fällt mir auf, dass die Geschichte jedes Menschen – auch die unscheinbarste – ein Kapitel in der großen Geschichte ist, die sowohl Gottes Herrlichkeit als auch seine unverhohlene Liebe zu den Menschen offenbart. Bisweilen ist diese Erzählung offensichtlich in die Worte einer Kçnigin oder in die Verkündigung eines Propheten gekleidet. Aber ich fange langsam an, ihre feineren Wendungen zu erkennen: den Klang einer heiseren Stimme, rastlose Augen voller Erwartung, eine lange Pause vor einer schmerzhaften Erwiderung. Durchstrçmt vom Heiligen Geist beleben die Kapitel mein Herz und erinnern mich wieder einmal daran, dass die Bibel etwas Außergewçhnliches ist. Während ich lese, verändert mich der, um den es dort auf jeder Seite geht – er entfacht neu meine Vorstellungskraft und schürt neu meine Hoffnung. Manchmal hallen ein einzelner Ausdruck oder ein einzelner Satz noch lange in meinem Herzen wider, nachdem ich das Buch geschlossen habe. Dann wieder entdecke ich eine Passage, die genau für meine augenblickliche Situation geschrieben zu sein scheint. Gelegentlich stoße ich auf Überraschungen, bin tief beeindruckt und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Doch an vielen Tagen fühle ich mich von diesem altehrwürdigen Kçnigreich durch einen unüberwindlichen Graben getrennt.


Prolog: Das Gefühl des Staunens

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Alles, wovon da berichtet wird, kommt mir weit weg vor. Auch wenn ich beharrlich ein Dutzend Mal um dieselbe Geschichte kreise, finde ich keine Brücke zu den lebendigen Wahrheiten, die darin verschlossen sein müssen. Ich bekomme keine Verbindung. Ich verstehe nichts. In stiller Unzufriedenheit schließe ich das Buch und hoffe und bete insgeheim, dass es beim nächsten Mal besser sein wird. Manchmal werden aus solchen Tagen Wochen und Monate. Die Sehnsucht nach solchen geistlichen Aha-Erlebnissen ist bei mir inzwischen zu einem dumpfen Schmerz mit gelegentlichen heftigen Stichen geworden. Anders kann ich es nicht beschreiben. Sie haben das wahrscheinlich auch schon einmal gespürt, liebe Leserinnen und Leser – dieses Aufflackern einer Sehnsucht danach, eine ganz direkte Verbindung zu einem Gott zu finden, der trotz aller Gebete und allen Suchens immer noch weit weg zu sein scheint. Mancher würde vielleicht sagen, dass sich das alles nur in meinem Kopf abspielt. Nein, meiner Meinung nach spielt sich alles in meinem Herzen ab. Tief in meinem Innern sehne ich mich nach dem Gefühl des Staunens, das aus der Erkenntnis Gottes kommt; nach den Momenten, in denen ich aufwache und merke, dass die Zugbrücke heruntergelassen ist und der Kçnig mir auffordernd zuwinkt, in sein Schloss einzutreten, das vor Leben überfließt. Obwohl ich um Treue bete und sie zu praktizieren versuche, hat mich schon seit langem eine Unruhe gepackt. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass das Alltagsleben, das in der Bibel geschildert wird, vçllig anders ist als meines. Ich habe zwar immer in der Nähe von Bauernhçfen und Viehweiden gelebt, aber meine Vorstadterfahrung ist weit entfernt von der landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft der «guten alten Tage».


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Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

In biblischer Zeit gehçrte der Ertrag des Landes als Nahrungsquelle, als Zeichen des Wohlstandes und als grundlegendes Element des religiçsen Lebens zum Alltag. Meine moderne Welt dagegen ist ganz anders. Was bedeutet es, zu wissen, dass Jesus der gute Hirte und das Lamm Gottes ist, wenn ich Schafen bisher nur im Streichelzoo und im griechischen Restaurant begegnet bin? Wie kçnnen wir lernen, auf die Ernte zu warten, wenn wir in einer Kultur leben, in der alles jederzeit leicht zu haben ist? Wie kann ich die Verheißung eines Landes verstehen, das von Milch und Honig überfließt, wenn ich Honig immer nur in einer bärenfçrmigen Flasche im nächsten Supermarkt kaufe? Kann ich die Dringlichkeit der Einladung Jesu, am Weinstock zu bleiben, erfassen, wenn ich meine Weintrauben bei Aldi kaufe? Der Hunger in meinem Herzen und meinem Kopf hat mich dazu gedrängt, diese Thematik zu erkunden, um Gott und sein Reich besser zu verstehen. Gottes Herz: Der Takt der Liebe erzählt von meinem Versuch, einige der feineren Pinselstriche in den Darstellungen Gottes zu verstehen, die mein Blick bisher immer nur gestreift hat. Es ist eine bewusste Suche nach Mçglichkeiten, vom bloßen Lesen der Bibel wegzukommen und stattdessen hineinzugehen in Geschichten, die man anfassen, schmecken, hçren, sehen, riechen und genießen kann. Die Bibel beinhaltet Süße und Schweiß, Bitterkeit und Blut, Zittern und Tränen. Die Bibel ist Leben – und wir sind aufgerufen, uns danach zu richten. Sind wir in mancher Hinsicht nicht alle damit beschäftigt, das gçttliche Land zu erforschen? Hält nicht jeder von uns immer Ausschau nach jenen gewçhnlichen und außergewçhnlichen Momenten, in denen Gott unsere Welt berührt? Meine ganz persçnliche Erforschung begann vor fast einem Jahrzehnt mit einer Schafhirtin, der ich in Alaska begegnete. Seit-


Prolog: Das Gefühl des Staunens

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her schlängelte sich mein Pfad nach Nebraska auf die Felder eines Farmers und wandte sich dann nach Westen zum Wohnort eines Imkers in Colorado. Meinen letzten Aufenthalt hatte ich auf den Weingütern von Napa Valley – wenn ich auch weiß, dass dies beileibe nicht meine letzte Station sein wird. Meine Reise hat mich zu Leuten geführt, deren Erfahrungen meinen Glauben bereichert haben. Bei der Schafhirtin konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie eine Herde vçllig vertrauensvoll ihrem Führer zu neuen, ja geradezu beängstigenden Orten folgte. Ein Farmer erinnerte mich an Gottes Treue und seinen Zeitplan. Ein Imker verschaffte mir einen Blick aus nächster Nähe auf die fein verästelten Details der Schçpfung Gottes, während ein Weingärtner mir die Bedeutung der Fruchtbarkeit auf eine Weise erçffnete, wie ich sie bisher noch nie wahrgenommen habe. Bei Gesprächen im warmen Wohnzimmer und auf frisch abgeernteten Feldern senkte sich die Zugbrücke, und die Bibel erschloss sich mir auf neue und wunderbare Weise. Wie versteht ein Hirte den dreiundzwanzigsten Psalm? Wie betrachtet ein Farmer die letzten Verse von Matthäus 9? Wie beurteilt ein Imker die Bedeutung eines Landes, das vor Honig überfließt? Wie liest ein Winzer Johannes 15? Wenn sich auch die Praktiken in der Landund Viehwirtschaft im Lauf der letzten Jahrtausende erheblich verändert haben, brachten unsere Gespräche dennoch Juwelen geistlicher Einsicht und viele Anregungen zu tieferem Studium und Nachdenken hervor. Vielleicht hat Ihre eigene Pilgerreise, ähnlich wie die meine, schon begonnen. Mein Gebet ist, dass Sie weiterwandern. Ich werde auf dem Weg nach Ihnen Ausschau halten. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen, Margaret Feinberg



Teil I: Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin



Teil I · Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin

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1.1 | Eine unverhoffte Begegnung Für die Lachse war Hochsaison im Sommer in Sitka, Alaska, und ich war damit beschäftigt, mich um die Pension meiner Tante zu kümmern, während sie sich eine dringend bençtigte Ruhepause gçnnte. Obwohl die endlosen Wäscheberge meine romantischen Vorstellungen vom Leben als Gastwirtin dämpften, stellte ich mir den Wecker früh genug, um frische wilde Prachthimbeeren, Heidelbeeren und Himbeeren für regenbogenbunte Hefebrçtchen zu sammeln. Um acht Uhr hatte ich meine Kçstlichkeiten aus dem Ofen, kühlte sie nur mit einem ordentlichen Schlag Butter und servierte den Gästen dazu frisch gerçsteten «Raven’s-Brew»-Kaffee. Nach einigen Wochen wurden meine morgendlichen Gespräche mit den Gästen ein wenig eintçnig. Ja, bei Sonnenschein zu schlafen ist gewçhnungsbedürftig. Es stimmt: In Alaska essen die Leute mehr Eiscreme pro Kopf als die Einwohner jedes anderen Staates. Die authentischsten Totempfahlschnitzereien findet man im Museumsshop, aber sie sind nicht billig – die günstigsten Angebote suchen Sie besser in der Innenstadt. Wenn Sie einen Bären (oder einen Lachs oder Wildblumen) sehen wollen, ohne zweihundert weitere Touristen in Plastikponchos um sich zu haben, meiden Sie den hiesigen Park und fahren Sie hinaus ans Ende der Halibut Point Road. Ach, und hier noch eine kleine Information, die Sie in keinem Reiseführer finden: Das Haus, in dem Sie hier übernachten, gehçrte früher den Tele-Evangelisten Jim und Tammy Faye Bakker. Diese letzte Banalität erweckte stets das Interesse der Gäste – grçßtenteils amerikanische Ruheständler, die nun einen Staat bereisten, den zu besuchen sie sich schon vor Jahrzehnten vorgenommen hatten.


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Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

Lynne und ihr Mann Tom hatten schon seit Jahren von einer Reise nach Alaska geträumt. Sie waren nach Sitka gekommen, um das Sheridan-Jackson-Museum zu erkunden, in dem eine der besten Ausstellungen über die Tlingit-Kultur im ganzen Staat zu finden ist, sowie die berühmte russisch-orthodoxe Kirche voller atemberaubender, juwelenbesetzter Ikonen. Als wir uns am ersten Morgen unterhielten, steuerte ich ein paar Ratschläge aus einheimischer Sicht über das beste mexikanische Restaurant fürs Mittagessen und ein paar erkundenswerte Winkel abseits der ausgetretenen Pfade bei. An unserem zweiten gemeinsamen Morgen fragte ich Lynne, was sie zuhause in Oregon in ihrer Freizeit tue. «Ich bin eine Hirtin», sagte sie. «¾h … was?» Ich war unsicher, ob ich mich vielleicht verhçrt hatte. «Ich habe über ein Dutzend Shetland-Schafe. Ich züchte sie und kümmere mich um sie», erwiderte Lynne. «Wo halten Sie die denn?» «Hinter dem Haus», sagte sie, als sei gar nichts dabei. Na klar, dachte ich im Stillen, da hält doch jeder seine Schafe. Lynne erklärte mir, sie hätten hinter ihrem Haus in Oregon einen eingezäunten Bereich, wo die Schafe grasten, und einen Stall, in dem sie nachts sicher untergebracht waren. Fasziniert begann ich, Lynne mit Fragen zu bombardieren. Ich wusste natürlich die ganze Zeit über genau, was ich sie eigentlich fragen wollte, aber da ich nicht sicher war, wie ich es elegant zur Sprache bringen sollte, entschied ich mich für ein schnelles Gebet und eine Bruchlandung. «Lesen Sie manchmal in der Bibel?», erkundigte ich mich verlegen.


Teil I · Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin

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Sie sah mich argwçhnisch an. «Ich habe schon mal darin gelesen.» «Ich habe kürzlich Johannes 10 gelesen, wo Jesus sagt, er sei der gute Hirte», fing ich zçgernd an, in der Hoffnung, dass ich mich nicht anhçrte wie einer von diesen Spinnern. «Stimmt es wirklich, dass Schafe die Stimme ihres Hirten kennen?» Die Bruchlandung verlief sanfter, als ich gedacht hatte: Lynne begann mir von ihren Erfahrungen als Schafhirtin zu erzählen, wobei sie, ohne es zu wissen, etliche Parallelen zwischen dem Schafehüten und Gott zutage fçrderte. Wenn eine Weide nichts mehr hergibt, so erklärte sie mir, sind die Schafe nicht in der Lage, alleine einen sicheren neuen Platz zum Grasen zu finden. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen ihr Hirte behutsam den Weg weist. Und wenn Schafe aus Eifersucht und Wettbewerb ihre Kçpfe gegeneinanderrammen, ist es der Hirte, der die Ordnung wiederherstellt und den Kämpfen ein Ende macht. Ich hing an ihren Lippen. In mir stieg ein geistlicher Hunger auf, mehr darüber zu erfahren. Aber leider war der Vormittag schon fast verstrichen, und Lynne und Tom mussten sich auf den Weg zum Flughafen machen. «Ich habe ein paar Texte gesammelt, die Schafe aus geistlicher Sicht betrachten», sagte Lynne. «Mçchten Sie, dass ich Ihnen den Ordner schicke?» «Das wäre ein großartiges Geschenk!», rief ich, obwohl ich vermutete, es kçnnte eines jener gut gemeinten Versprechen sein, die nie eingehalten werden. Am späten Nachmittag, als im Haushalt alles erledigt war, schlug ich meine Bibel auf und las noch einmal Johannes 10. Ich versuchte mich mit dem Herzen eines Hirten auf die Geschichte einzulassen und mir vorzustellen, was die Jünger wohl dachten,


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Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

als sie Jesus zuhçrten. Dabei fragte ich mich, ob ich je wieder von Lynne hçren würde. Drei Wochen später kam mit der Post ein dicker großer Umschlag aus Oregon. Als ich Lynnes Sammlung durchlas, hatte ich eine Reihe von Aha-Erlebnissen. Je mehr ich las, desto klarer wurden mir gewisse Wahrheiten der Bibel, doch im Laufe der Zeit, meiner Ehe und etlicher Umzüge verschwand der Ordner in meinem chaotischen Ablagesystem.

1.2 | Erneuter Kontakt Fast zehn Jahre nach meiner Begegnung mit Lynne stieß ich in unserem neuen Haus in Colorado wieder auf den Umschlag, der tief in einer hçlzernen Aktenschublade mit diversen Artikeln und Erinnerungen vergraben war. Als ich die Texte durchblätterte, stieg wieder dieser Hunger in mir auf. Ich wollte das leben, was ich da las. Ich wollte auf einer Weide mitten unter den Schafen sitzen. Ich wollte beobachten, wie sie miteinander und mit ihrem Hüter umgingen. Vor allem aber wollte ich selbst Schafe hüten. Ich musste Lynne ausfindig machen. Ihre Kontaktinformationen zu finden war leicht – ich tippte einfach Ihren Namen und das Wort «Schafe» bei Google ein. Aber würde es mir auch gelingen, die Verbindung zu jemandem wieder herzustellen, den ich fast ein Jahrzehnt zuvor einmal getroffen hatte? Ich wählte die Nummer. Keine Antwort. Die Nachricht, die ich hinterließ, hçrte sich wohl etwas zusammenhanglos an, denn ich erwähnte alle mçglichen Erinnerungen an ihren Besuch in Sitka. Ich äußerte Interesse an ihrer Tätigkeit als Schäferin und versuchte dabei, nicht allzu seltsam zu klingen – oder womçglich


Teil I · Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin

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gar wie eine Stalkerin. Nachdem ich aufgelegt hatte, flüsterte ich ein Gebet. Noch am selben Nachmittag rief Lynne zurück. Ihre Abenteuer in Alaska hatte sie noch gut im Gedächtnis, aber an unser Gespräch erinnerte sie sich kaum. «Wäre es wohl mçglich, dass ich einen Nachmittag mit Ihnen und Ihren Schafen verbringe?», fragte ich sie. Ich war unsicher, ob ich damit eine Grenze überschritt.

1.3 | Die Herde lieben «Ich glaube, das ließe sich einrichten», erwiderte sie zçgernd. «Aber sie sollten lieber warten, bis die Frühjahrsregenzeit zu Ende ist – obwohl ich Sie natürlich warnen muss, dass es in Oregon immer regnen kann.» Schließlich beschlossen wir, dass das Wochenende nach dem Memorial Day der beste Zeitpunkt für einen Besuch sei. Lynne und Tom luden mich großzügig ein, in ihrem Haus zu übernachten. Mein Mann Leif und ich erklärten uns bereit, ein paar saftige Steaks und leckere Pralinen zum Nachtisch mitzubringen. Als wir dann schließlich links in Lynnes Einfahrt einbogen, fegte ein panischer Windstoß durch meine Brust. Selbstzweifel deckten das Dach meines rationalen Verstandes ab. Was mache ich hier eigentlich? Ich holte tief Luft, um die Angstattacke zurückzudrängen. Irgendwie hatte ich mir in den zurückliegenden Wochen eingeredet, was ich hier machte, wäre vollkommen normal. Klar doch, ich verbringe das Wochenende mit einer Schäferin, die ich eigentlich gar nicht kenne und die in einem anderen Staat wohnt!


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Margaret Feinberg · Gottes Herz: Der Takt der Liebe

Leif sah mich an und legte seine Hand auf mein Knie. «Alles klar?» «Bestens», sagte ich, was mir keiner von uns beiden abnahm. «Mir geht es bestens. Ich bin überhaupt nicht nervçs.» «Du hast dich riesig darauf gefreut», erinnerte mich Leif. «Schließlich liebst du es doch, dir Abenteuer zu suchen.» «Sieh mal, die Schafe!», warf ich ein. Durchs Autofenster entdeckten wir über ein Dutzend Schafe, die auf einer weiten, offenen grünen Weide träge den Nachmittag genossen. Es gab sie in mehr Farben und Grçßen, als ich mir vorgestellt hatte. Ihre Felle rangierten von einfachem SchwarzWeiß bis zu komplexeren Farbtçnen, die aussahen wie alter Rost oder auch grauer Staub. Als die gekieste Einfahrt schmaler wurde, schloss sich die Öffnung zur Weide, und wir fuhren unter einem Geflecht aus Bäumen hindurch, deren ¾ste sich über uns kreuzten wie die Finger zweier gefalteter Hände. Wir bogen um eine mit bemoosten Steinen gesäumte Kurve und erblickten ein zweistçckiges Holzhaus, das direkt an einem Bach stand. In der Nähe der Scheune stellten wir das Auto ab. Vor uns stolzierte ein kobaltblauer Pfau. Lynne und Tom kamen hinaus auf die Einfahrt, um uns freundlich zu begrüßen, und luden uns ein, hereinzukommen. Ein Seitenblick ins Wohnzimmer zeigte mir, dass das Haus mit der lässigen Eleganz des pazifischen Nordwestens eingerichtet war – eine gut sortierte Mischung aus Naturholz und unaufdringlichen Schattierungen von Naturweiß, Flieder und Kirsche. Als die Nervosität, die mir immer die Brust zusammenschnürt, wenn ich neuen Leuten begegne, allmählich von mir abfiel, fing ich an, überall haufenweise Schafe zu bemerken. In unserem Zimmer stand auf dem Fernseher ein winziger Baum, der mit kleinen Schnitzereien von Schafen dekoriert war. Hçlzerne


Teil I · Gottes Herz aus der Sicht einer Schafhirtin

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Schafe standen auf der Kommode, und auf dem Fußboden neben dem Bett in der Zimmerecke lehnte ein Hirtenstab an der Wand. Im Badezimmer schaute uns von der Ablage her ein Schafsgesicht aus Acryl entgegen, und neben dem Waschbecken lagen Seifenstücke in Gestalt von Schafen – viel zu schçn, um sie zu benutzen. Als ich am Telefon erwähnte, dass ich Lynne besuchen wollte, hatte sie Bedenken. Sie meinte, ich hätte vielleicht mehr davon, jemanden aufzusuchen, der kommerziell Schafe hielt. Aber ich wollte keine Zeit mit jemandem verbringen, der Schafe hielt, um Profit zu machen; ich wollte einen Schäfer, der Schafe liebt. Lynnes Dekorationen verrieten mir, dass ich eine gute Wahl getroffen hatte. Ich hatte schon mit mehreren Leuten gesprochen, die kommerziell Schafe hielten, und so, wie sie die Schafe beschrieben, waren sie ihnen eher eine Last als eine Freude, ganz anders als die Liebe, die Gott für uns hat und die Lynne für ihre wolligen Tiere hatte. Nach dem Auspacken ging ich in die Küche und traf Lynne, die gerade den Tresen abwischte. Die Küche war Teil eines großen Zimmers, das den Kochbereich, das Esszimmer und den Wohnbereich umfasste. Als ich mich hinter den Tresen auf einen Eichenhocker setzte, konnte ich nur ein paar Schritte vom Hinterausgang entfernt den Bach plätschern hçren. An den Wänden hingen Spinnräder, die aussahen wie auf dem Kopf stehende hçlzerne Einräder. Lynne musste mein Interesse bemerkt haben, was kein Wunder ist: Mein Gesicht ist ein offenes Buch. «Die Spinnerei war für mich der Einstieg ins Schafehüten», erklärte Lynne. Lynne hatte schon seit vielen Jahren gerne gestrickt und war dann auf den Gedanken gekommen, ihr Garn selbst zu spinnen. Tom forderte sie dann heraus, noch einen Schritt weiter zu gehen


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und ein Tier zu halten, das ihr das Rohmaterial für ihre Strickerei liefern konnte. Zuerst hatte sie ein paar Wollziegen, aber dann stieg sie schließlich auf Schafe um. Dabei dachte sie an eine bestimmte Rasse, die nicht leicht zu finden war. Schließlich entdeckte Lynne eine Farm in Michigan, die die sehr gesuchten, aber schwer aufzutreibenden Shetland-Schafe verkaufte. Sie bestellte sich drei davon. «Meine ersten Schafe wurden mir vor fast zwanzig Jahren unbesehen geschickt», sagte Lynne. «Alle drei Tiere waren schwanger. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, brachten Rexanna, Cassandra und Nissa erfolgreich Lämmer zur Welt.» Nach jenem ersten Sommer kaufte sich Lynne zwei Bçcke, und ihre Herde wuchs weiter. «Wenn ich daran zurückdenke, hatte ich keine Ahnung, wie man grundlegende Dinge macht, wie zum Beispiel Hufe trimmen oder Spritzen geben, so dass ich für jede Kleinigkeit den Tierarzt rufen musste», sagte sie. «Aber mit der Zeit lernte ich dazu. Wenn es Mitternacht ist und ein Schaf abnormale Wehen hat und der Tierarzt nicht kommen kann, dann lernst du eben, wie man das Lamm herausholt. Die Jahre vergehen, und plçtzlich ist man fünfundsechzig und kriegt ständig Anrufe von jungen Schäfern, die wissen wollen, was sie machen sollen. Eines Morgens wacht man auf und merkt, dass man ein Hirte der Hirten geworden ist.» Ich lächelte. Im Lauf der Jahre hatte ich mich mit vielen Pastoren unterhalten, die wie Lynne in ihrer Erkenntnis Gottes gewachsen waren, indem sie eingesprungen waren und getan hatten, was getan werden musste. Eine formelle Ausbildung ist großartig, um sich mit Theologie und den Grundlagen der Menschenführung vertraut zu machen. Aber manche Dinge muss man einfach lernen, indem man sie tut. Wie Lynne erleben diese


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Pastoren die Triumphe und Erfolge, aber auch die Nçte und die Einsamkeit, die damit verbunden sind, für eine Herde zu sorgen. «Mçchten Sie jetzt die Schafe sehen?», fragte Lynne. Ich spähte über den Tresen hinüber ins Wohnzimmer. Leif und Tom hatten es sich auf der Couch gemütlich gemacht und unterhielten sich angeregt. Geht nur schon, wir kommen später nach, schienen die Blicke unserer Männer zu sagen. Lynne und ich machten uns auf den Weg zur Scheune.

1.4 | «Sheep! Sheep! Sheep!» An der Haustür blieb Lynne stehen und holte sich eine Vliesjacke und ein paar schwere Stiefel aus dem Schrank. Ich holte mir meine Jacke aus dem Gästezimmer, bemerkte jedoch, dass Lynne sich ein Feixen nicht verkneifen konnte, als ich in meine Wanderstiefel stieg. Ich folgte ihr über die Einfahrt hinweg zur Scheune. Sie entriegelte die schweren Holztüren und ließ die kräftigen Gerüche von süßem, frisch geschnittenem Heu und schwerem, scharfem Mist ins Freie. Lynne wies mich auf einen Raum zur Linken hin. «Das haben wir gerade gestrichen», verkündete sie mit einem stolzen Lächeln. «Das ist unser neuer Scheunenanbau.» Sie führte mich zu einem großen Fenster und lud mich ein, die Aussicht zu betrachten. Durch die vor Fingerabdrücken halb blinde Scheibe konnte ich mehrere mit Holzverschalungen abgeteilte Pferche sehen, alle mit Heu gepolstert. Durch dieses Fenster konnte Lynne die Mutterschafe während der kritischsten Zeit ihres Lebens besser im Auge behalten: nämlich der Gebärzeit. Mit Lynne durch die Scheune zu gehen hieß, sie in ihrem Element zu sehen. Dies war ihre Domäne, und ihre Liebe zu diesem


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Ort war ansteckend. Als wir an hohen Stapeln goldener Heuballen vorbeigingen, steckte ein großer Ganter seinen Kopf hervor und quakte einmal, bevor er rasch auf den Boden hinabsegelte. Er kreiste auf dem Boden, als ob er nach etwas suchte. Ich folgte Lynne durch die Hintertür der Scheune hinaus auf den schlammigen Feldweg. Lynne marschierte durch den Schlamm, ohne sich um die schmatzenden und schlürfenden Geräusche des knçcheltiefen Morastes zu scheren. Ich schaute hinab auf meine kurzen Wanderstiefel und verstand jetzt plçtzlich Lynnes Feixen. Feuer frei, dachte ich und trat hinaus auf den Weg. Der erste Schritt machte noch irgendwie Spaß, aber der zweite holte mich auf den Boden der Tatsachen. Beim dritten Schritt saugte mir die weiche, nasse Erde meinen schicken Wanderstiefel vom Fuß. Ich drückte meine Ferse zurück in den Stiefel und spürte die kalte, schmatzende Flüssigkeit um meine Zehen. Als ich hinabblickte, wurde mir klar, dass der Morast nicht nur aus, nun ja, Wasser und Erde bestand, wenn Sie wissen, was ich meine. «Am besten treten Sie auf die Holzplanken und Steine, die Sie finden», riet mir Lynne, ohne sich umzuschauen. So begann ich mit einem merkwürdigen, wackeligen Tanz und hüpfte auf den Ballen meiner Füße von steinigen Vorsprüngen zu weggeworfenen Holzstücken, um der Schlammgrube auszuweichen. Im Laufe dieses Spaziergangs stellte ich überrascht fest, wie frei ich mich auf einmal fühlte. Ich holte tief Luft, hielt den Atem an und schmeckte die schwere, feuchte Luft von Oregon, bevor ich wieder ausatmete. Es war ein herrliches Gefühl, am Leben zu sein. Ich hatte zu viele Stunden hinter einem Schreibtisch und zu wenige damit verbracht, die Herrlichkeit der freien Natur in mich aufzunehmen.


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Auf dem schmalen Weg zur oberen Weide çffnete und schloss Lynne die Gatter und vergewisserte sich dann, dass sie auch wirklich sicher verschlossen waren, bevor sie weiterging. «Mit den Gattern muss man immer aufpassen, denn sie sind wesentlich für das Überleben der Tiere», sagte sie. «Sie sorgen nicht nur dafür, dass die Schafe drinnen bleiben, sondern auch dafür, dass die Raubtiere draußen bleiben. Die Kojoten und die Hunde aus der Nachbarschaft sind die gefährlichsten.» Mir leuchtete ein, dass die Abgrenzungen entscheidend für das Überleben eines Schafes waren – wie auch für unser eigenes. Aber aus der Sicht eines Schafes verhindern Zäune, dass es sich über das grünere Gras hermachen kann. Aus dem Blickwinkel des Hirten jedoch sorgen diese Grenzen dafür, dass das Schaf in Sicherheit bleibt und nichts Gefährliches frisst und schon gar nicht selbst gefressen wird. Interessanterweise musste in der Antike die Herde über Nacht in einem mit Steinen oder Holz abgegrenzten Bereich bleiben und wurde jeden Tag zum Grasen auf eine neue Weide geführt. Die Hirten schliefen oft direkt vor der Öffnung ihrer selbst gemachten Schafhürde und schützten die Tiere mit ihrem eigenen Kçrper vor Raubtieren und Räubern. Indem Jesus sich in Johannes 10,9 als «die Tür» der Schafhürde bezeichnet, malt er ein eindrückliches Bild von sich selbst als Beschützer und Versorger. Als sie die Hügelkuppe erreichte, zog Lynne das letzte Gatter zu, und wir blickten hinaus auf die Fläche der oberen Weide. Schafe standen verstreut auf der Schlammwiese wie Brocken koscheren Salzes auf einer riesigen Brezel. Diejenigen, die uns am nächsten waren, starrten uns an, während sie unentwegt rhythmisch frisches Gras kauten. Diejenigen, die weiter weg waren, ließen sich nicht stçren. «Sobald sie meine Stimme hçren, kommen sie angelaufen»,


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flüsterte Lynne. Dies waren Lynnes Schafe. Für sie bestand diese Wirklichkeit einfach aus Ursache und Wirkung. Für mich jedoch war die Aussage ein bahnbrechender Moment in meinem geistlichen Abenteuer. Trafen die Worte Jesu wirklich zu? Mir schnürte sich die Kehle zu, als mir eine ganze Liste von Was-wäre-wenn-Fragen durch den Kopf kreiste. Was wäre, wenn nichts passiert? Was wäre, wenn die Schafe nicht reagieren? Was wäre, wenn …? Lynne holte mich zurück in die Gegenwart. «Sheep, sheep, sheep! Schafe, Schafe, Schafe!», sagte sie. Sie schlug dabei einen festen Befehlston an, der aber nicht bedrohlich wirkte. Sobald die Worte über das Feld hallten, begannen die Schafe auf Lynne zuzulaufen. Ein braunes, langhaariges Lama führte den Weg hinunter zu den unteren Weiden an. Was wäre, wenn das hier besser ist, als ich es mir je erträumt habe?, fragte ich mich.

1.5 | Wahrhaft erkannt «Das ist Haley, das Lama», erklärte Lynne. «Sie hält sich für einen Schäferhund. Immer wenn ein Raubtier in die Nähe kommt, stçßt sie einen schrillen Schrei aus, um mich und die Herde zu warnen.» Die Schafe rannten auf Lynne zu, aber sie stand unbeweglich da und streckte die Hand in Richtung des Pfades aus. Obwohl sie auf Lynnes Stimme reagierten, führte Lama Haley die Herde den Pfad hinunter. Lynne stand still und aufmerksam da, den Blick fest auf die Schafe gerichtet. «Ich zähle immer nach, denn man weiß nie, ob nicht eines krank oder verletzt auf der Weide zurückbleibt.»


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In einem seiner Gleichnisse erzählt Jesus von dem Hirten, der bemerkt, dass eines seiner Schafe fehlt. Der Hirte verlässt die neunundneunzig Schafe, um das eine verlorene aufzuspüren. Als er das Tier findet, legt er es sich über die Schultern, kehrt nach Hause zurück und erzählt voller Freude all seinen Freunden, was passiert ist. Obwohl ich die Geschichte schon viele Male gelesen hatte, war mir bis zu diesem Moment nie klar geworden, dass Schäfer ihre Herden sorgfältig im Auge behalten, indem sie ständig zählen und immerzu nachprüfen. Vor meinem Besuch bei Lynne hatte ich über die Beduinen und die Schafhirten des alten Israel recherchiert. Wann immer ich mir einen Schäfer vorgestellt hatte, sei es einer von damals oder einer von heute, sah ich ihn stets mit einem Stab in der Hand vor mir. Ich habe gelesen, dass der Stab schon seit Tausenden von Jahren ein unverzichtbares Werkzeug war, um die Herde zu leiten und sie gegen wilde Tiere zu verteidigen. Für diese langen Holzstçcke gibt es zahlreiche Namen, etwa Krummstab, Hirtenstab und Zepter – Wçrter, die in der hebräischen Bibel häufig austauschbar verwendet werden. Lynne jedoch hatte keinen bei sich. «Benutzen Sie jemals einen Stab für Ihre Schafe?», fragte ich. «Sie werden den gesehen haben, den ich im Gästezimmer habe», erwiderte Lynne. «Ich habe ihn ein paar Mal benutzt, aber dann habe ich gemerkt, dass ich ihn bei der Grçße der ShetlandSchafe meistens nicht brauche, auch wenn er ganz praktisch ist, wenn man auf glitschigen Hängen wie diesem hier unterwegs ist.» Während wir den Pfad zu der unteren Weide hinuntergingen, stellte mich Lynne einzelnen Schafen vor. «Das ist Opal», sagte sie und deutete auf ein silbrig schimmerndes Mutterschaf. «Sie ist eine großartige Mutter, obwohl sie dieses Jahr ziemlich eifersüchtig über ihr Lamm wacht. Vielleicht liegt es daran, dass sie nur


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eines statt zwei Babys geboren und erst später gelammt hat als die anderen. Sie hat ein Gewichtsproblem. Als sie trächtig war, war sie so dick, dass ich ehrlich dachte, sie würde Drillinge bekommen. Ihre Stimme klingt anders als die der anderen. Sie ist heiser, eher ein Blçken als ein Mähen.» «Das ist Iris. Ihr Spitzname ist ‹Herself›», fügte Lynne hinzu, während sie eines der Schafe unter dem Kinn kratzte. «Sie ist selbstbewusst und geht ihren eigenen Weg. Wenn es irgendwo eine offene Tür gibt, schlüpft sie als Erste hindurch. Iris hat ein großes Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten. Aber wenn es warm und sonnig ist, ist sie auch die Erste, die zu mir kommt und sich neben mich legt.» Sie deutete auf ein Schaf, das älter aussah als die anderen; seine dunkle Wolle war von ungleichmäßiger Länge und sein Gesicht vernarbt. «Die Schwarze da, nun, das ist Meggie», erklärte Lynne. «Sie ist vierzehn – schon zwei Jahre jenseits der durchschnittlichen Lebenserwartung. Und wie eine Oma stampft sie mit dem Fuß auf, wenn sie sauer auf einen ist. Aber lassen Sie sich nicht täuschen; sie ist liebevoll und freundlich.» Eines der Schafe schien besonders viel für Lynne übrig zu haben. Ständig drängte es sich gegen Lynnes Bein, um noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. «Das ist Jovita. Sie ist einfach die Süßeste von allen. Sie setzt sich gerne auf meinen Schoß, und manchmal knabbert sie sogar an meiner Nase. Ich nenne sie mein ‹Schoßschaf›. Dove, die eine schwierige Trächtigkeit hatte, hat sie verstoßen, aber Iris hat sie adoptiert. Ich liebe diese Iris. Es gibt eine Menge Drama in der Herde, wissen Sie.» Das hatte ich nicht gewusst, aber ich lernte rasch. Schafe und Menschen haben mehr gemeinsam, als ich mir je hätte träumen lassen. Unterwegs beschrieb Lynne mir jedes der Schafe mit derselben zärtlichen Ausführlichkeit wie eine Mutter. Wo ich eine


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Herde ähnlich aussehender Schafe sah, sah Lynne Individuen mit einzigartigen Merkmalen und Marotten. Ihre Zuneigung erinnerte mich an den Psalmisten, der davon spricht, dass Gott jeden Menschen durch und durch kennt (Psalm 139,13–16). So wie Lynne eine liebevolle Geschichte mit jedem ihrer Schafe hatte, hat jeder von uns eine persçnliche Geschichte mit seinem Hirten. Auf der unteren Weide hockten wir uns beide auf die Erde. Lynne rief: «Sheep, sheep, sheep! Schafe, Schafe, Schafe!», und schon drängten sich junge Bçcke und eifrige Mutterschafe um sie, um eine Handvoll von dem Getreide zu ergattern, das sie auf dem Weg durch die Scheune aufgesammelt hatte. Allmählich wurde die Herde auch mit mir warm, nicht wegen irgendetwas, was ich gesagt oder getan hätte, sondern ausschließlich deshalb, weil ich dicht neben ihrer Schäferin saß.

1.6 | Ein zärtliches Mutterschaf Umringt von der Herde zeigte mir Lynne, wie ich meine Handfläche emporhalten und einladend mit den Fingern wackeln musste. Mein Selbstvertrauen wuchs, als eines der Schafe zçgernd auf meine Einladung reagierte. Ich spürte die kühle Nase des Tiers auf meiner Handfläche. Sein wolliger Bart fühlte sich an, als wäre er mit Elektrizität aufgeladen, als er mir bei jedem Bissen über die Finger strich. Als ich spürte, wie ein Zahn des Schafes gegen meinen Zeigefinger drückte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Lynne beruhigte mich. Solange ich meine Finger zusammenhielt, konnte nichts passieren; das Schaf würde nicht beißen. Als die verschiedenen Schafe mir gegenüber immer zutraulicher wurden, fasste ich auch meinerseits mehr Mut. Während ich darauf achtete, dass eine Hand immer voller Getreide war,


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strich ich ihnen mit der anderen über die Stirn und befühlte ihr Fell. Die Berührung der Schafe beruhigte nicht nur die Tiere, sondern auch mich. Ich bemerkte ein winziges Lämmchen, weiß wie frischer Schnee. Gerne hätte ich das niedliche Tierchen gestreichelt, aber seine aufmerksame Mutter achtete darauf, es von den anderen Schafen – und von uns – fernzuhalten. «Ist das Opal?», fragte ich. «Ja!», sagte Lynne. Sie freute sich, dass ich eines ihrer Schafe bereits wiedererkannte. «Sie ist die Beschützerin, die auf Swan aufpasst.» «Kann ich Swan streicheln?», fragte ich. Lynne lehnte sich für einen Moment gegen das Gatter und betrachtete Opal mit stetigem Blick. «Erst wenn die Mutter bereit ist. Bisher lässt Opal nicht einmal mich an Swan heran.»

1.7 | Das übermütige Schaf Als der Vorrat an Leckereien zusammenschmolz, zerstreuten sich die Schafe allmählich wieder. Etliche kehrten zum Grasen an die Ränder der Weide zurück, doch ein paar blieben und ließen sich der Reihe nach unter dem Kinn kratzen, um dann zur Seite zu gehen und ein anderes Schaf heranzulassen. Einer der jungen Bçcke, Alano, war ungehalten darüber, dass er nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und begann mich mit seinen Hçrnern zu stoßen. Das erste Mal war es noch einigermaßen sanft, aber ich warf Alano trotzdem einen finsteren Blick zu. Er wich zurück. Wir schauten uns gegenseitig in die Augen. Er machte noch ein paar Schritte zurück und nahm


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Kontakt

Kontakt Margaret Feinberg: Authentisch. Echt. Gewinnend. Als beliebte Referentin in Gemeinden und bei großen Konferenzen wie CreationFest, Catalyst und Youth Specialties lädt Margaret Feinberg Menschen ein, die Relevanz Gottes und seines Wortes in der modernen Welt zu entdecken. Die Zeitschrift Charisma nannte sie kürzlich eine der aufkommenden Stimmen, die dazu beitragen, die Gemeinde ins neue Jahrzehnt zu führen. Sie hat über ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter die von Kritikern gelobten The Organic God und The Sacred Echo (Zondervan) mit den dazugehçrigen DVD-Kursen. Zurzeit lebt Margaret mit ihrem Zweimetermann Leif im Schatten der Rocky Mountains. Wenn sie nicht gerade schreibt oder auf Reisen ist, genießt sie alles, was unter freiem Himmel stattfindet, jede Menge Gelächter und ihr Superhündchen Hershey. Doch manche ihrer schçnsten Momente, sagt sie, erlebt sie bei der Kommunikation mit ihren Lesern. Nur zu, schicken Sie ihr eine Freundschaftsanfrage auf Facebook oder folgen Sie ihr über Twitter. Oder wenn Sie ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern wollen, dann schreiben Sie ihr einfach! Margaret Feinberg PO Box 441 Morrison, CO 80465, USA Margaret@margaretfeinberg.com www.margaretfeinberg.com www.myspace.com/margaretfeinberg www.facebook.com/margaretfeinberg www.twitter.com/mafeinberg


Die Autorin Margaret Feinberg mit einem von Lynnes Schafen.


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