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David T. Lamb Der missverstandene Gott?


Für Shannon, meine Partnerin, meine Freundin, meine Seelenverwandte

«Seien wir ehrlich: Gott kriegt eine Menge schlechter Schlagzeilen – es kann einen schon etwas in Verlegenheit bringen. So ließ mich schon der Titel von Dave Lambs Buch hoffnungsvoll aufhorchen. Dave bringt einige der kniffligsten Fragen, die Menschen je gestellt haben, ehrlich auf den Tisch, wendet ihnen gründliche Aufmerksamkeit zu und gibt nicht nur Antworten, sondern entwickelt dabei auch unsere Sicht von Gott weiter. Das Beste an diesem Buch ist, dass ich es sowohl den Gläubigen als auch den Verunsicherten empfehlen kann – allen Freunden und Studenten und Leuten, die über Gott nachdenken und nicht wissen, was sie von ihm halten sollen.» ALISON SIEWERT, New Ministry Developer, Presbyterian Church (USA)

«David Lamb stellt sich all den Fragen bezüglich des alttestamentlichen Gottes, die den Leuten am meisten zu schaffen machen. Ansprechend und packend geschrieben, wird dieses Buch vielen helfen, die sich fragen, ob der Gott des Alten Testaments tatsächlich der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist.» JOHN GOLDINGAY, David-Allan-Hubbard-Professor für Altes Testament, Fuller Theological Seminary


David T. Lamb Ist der Gott des Alten Testaments zornig, sexistisch und rassistisch? Kritisiert man ihn zu Recht?

Der missverstandene Gott?

Verlag Basel . Giessen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelzitate wurden folgenden Bibelübersetzungen entnommen: Elberfelder Bibel 1985, 1991, 2008 SCM R. Brockhaus, Witten Hoffnung für alle 1983, 1996, 2002 Biblica Inc.TM, Brunnen Verlag Basel Lutherbibel 1984, 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Originally published by InterVarsity Press as God behaving badly by David T. Lamb.

2011 by David T. Lamb. Translated and printed by permission of InterVarsity Press, P.O. Box 1400, Downers Grove, IL 60515, USA.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Christian Rendel, Witzenhausen Copyright der deutschen Ausgabe:

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns Foto Umschlag: Russell Shively/Shutterstock.com Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1255-1


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Inhalt 1. Gott und sein «schlechter Ruf» .........................................

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2. Ist Gott zornig oder liebevoll? ..........................................

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3. Ist Gott sexistisch oder frauenfreundlich?........................

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4. Ist Gott rassistisch oder gastfreundlich?...........................

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5. Ist Gott gewalttätig oder friedlich? ................................... 117 6. Ist Gott gesetzlich oder gnädig? ....................................... 145 7. Ist Gott starr oder flexibel?............................................... 173 8. Ist Gott fern oder nah? ..................................................... 197 Epilog: Lautet die Antwort wirklich «Ja, ja und ja»?............... 227 Fragen fürs Gruppengespräch ............................................. 235 Anmerkungen..................................................................... 243 Danksagungen.................................................................... 265 Literaturverzeichnis ............................................................ 269 Der Autor ............................................................................ 272



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Kapitel 1 Gott und sein «schlechter Ruf» … «Wie bringt man den liebenden Gott des Alten Testaments mit dem gestrengen Gott des Neuen Testaments überein?» Wenn ich diese Frage an Studenten richte, sind sie zuerst schockiert, und dann denken die meisten, ich hätte mich nur versprochen, wie es mir ja çfter passiert. In umgekehrter Form ist ihnen die Frage vertraut, etwa so: «Wie konnte aus dem fiesen alttestamentlichen Gott ein netter Kerl wie Jesus werden?» Ich versichere ihnen dann, dass ich zumindest diesmal nicht versehentlich meine Worte durcheinandergeworfen habe. Dann füge ich an, dass Gott im Alten Testament durchweg als langsam zum Zorn und überreich an beharrlicher Liebe beschrieben wird1, während Jesus mehr über die Hçlle spricht als irgendjemand sonst in der Heiligen Schrift.2 In den genauesten deutschen Übersetzungen des Alten Testaments taucht das Wort Hçlle nicht einmal auf. Meine Frage lçst meist eine lebhafte Diskussion aus. Am Ende versichere ich dann den Seminarteilnehmern, nach meiner Meinung sei Liebe der typische Charakterzug Gottes sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. In diesem Buch mçchte ich versuchen, die angeblich widersprüchlichen Darstellungen Gottes in den beiden Testamenten


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miteinander in Einklang zu bringen. Lassen Sie mich jedoch zuerst erklären, wie ich dazu gekommen bin, von dem liebenden Gott des Alten Testaments zu sprechen. Vor über zehn Jahren hatte ich die Entscheidung zu treffen, ob ich mich in Studium und Lehre mehr auf das Alte oder auf das Neue Testament konzentrieren wollte. Das war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens. Mir ist die ganze Bibel lieb, und es war ein schmerzlicher Gedanke, künftig das Schwergewicht nur noch auf einen Teil davon zu legen. Ich dachte, ich sollte mich vielleicht für das Neue Testament entscheiden, da das Markus-Evangelium mein Lieblingsbuch war und ich mehr Zeit damit verbracht hatte, darüber zu lehren, als über irgendeinen anderen Teil der Heiligen Schrift. Zu denken gab mir jedoch, dass in der neutestamentlichen Theologie schon ein ziemliches Gedränge herrschte. Ein verfügbares neutestamentliches Forschungsthema zu finden, kam mir etwa so vor, wie am letzten Samstag im Advent einen Parkplatz in der Innenstadt zu bekommen. Es wäre ziemlich schwierig für mich gewesen, mir etwas Neues dazu einfallen zu lassen, das gleichzeitig keine Irrlehre war. Also zog ich das Alte Testament in Betracht. Wenn ich mich aufs Alte Testament spezialisierte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, mit jemandem zusammenzustoßen, der über denselben obskuren halben Vers arbeiten wollte wie ich. Auch was die Sache mit der Irrlehre anbelangte, brauchte ich nicht ganz so paranoid zu sein, denn im Alten Testament rechnen wir ja damit, auf merkwürdige Dinge zu stoßen. Doch der zwingendste Faktor, der mich dazu trieb, das Alte Testament zu studieren, war Gott selbst. Der Gott des Alten Testaments faszinierte mich. Er konnte sehr zornig werden, war


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aber auch außerordentlich geduldig. Er schien Frauen und Ehefrauen als Besitzgegenstände zu betrachten, wählte aber zugleich Frauen als geistliche und politische Führerinnen über das Volk Israel aus. Er befahl Israel, die Kanaaniter zu überwältigen, aber auch, sich um die Armen, die Witwen, die Waisen und die Fremdlinge zu kümmern. Gott war im Alten Testament eine ziemlich komplexe Gestalt. Es gab im Alten Testament so vieles an Gott, was ich nicht verstand. Es kam mir vor, als kçnnte ich für den Rest meines Lebens das Alte Testament studieren, ohne dass es je langweilig wurde. Also entschied ich mich für das Alte Testament. Ein Jahrzehnt später kann ich mir immer noch nicht vorstellen, dass ich es je leid werden kçnnte, mich mit dem Alten Testament zu beschäftigen. Nichts macht mir mehr Freude, als darüber zu lehren. (Na ja, fast nichts.) Ich liebe das Alte Testament, und besonders liebe ich es, zu untersuchen, wie Gott sich dort offenbart. Im Lauf der Jahre jedoch ist mir aufgefallen, dass Atheisten, Agnostiker und auch viele Christen den Gott des Alten Testaments negativ wahrnehmen. Sie lesen dieselben Abschnitte, die ich eben erwähnt habe, doch statt darin eine komplexe Darstellung Gottes zu sehen, die eingehendere Betrachtung verlangt, richten sie das Augenmerk auf die problematischen Aspekte. Infolgedessen stellen sie oft die Frage, wie sich der gestrenge Gott des Alten Testaments mit dem liebenden Gott des Neuen Testaments in Einklang bringen lässt. Ihnen erscheint er als jähzornig, sexistisch und rassistisch. Der Gott des Alten Testaments hat einen schlechten Ruf.


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Ist der Gott des Alten Testaments wirklich jähzornig, sexistisch und rassistisch? Wer sich schon einmal für eine gewisse Zeit mit dem Alten Testament beschäftigt hat, wird wohl wissen, wovon ich rede. Wer von uns hätte sich, als wir lasen, wie die Bundeslade nach Jerusalem gebracht wurde, nicht gefragt, was denn Usa so Schlimmes getan hatte? Musste Gott ihn denn wirklich auf der Stelle erschlagen, nur weil er verhindern wollte, dass die Lade herunterfiel (2. Samuel 6,7)? Hätte Usa nicht eher eine Belohnung verdient gehabt? Warum war Gott so wütend auf ihn? Ist der Gott des Alten Testaments immer so jähzornig? Nachdem Lot die beiden engelhaften Fremden davon überzeugt hat, lieber nicht die Nacht draußen auf dem Platz zu verbringen, wird sein Haus von einer gewalttätigen Menge umstellt (1. Mose 19,2–8). Um die Leute zu besänftigen, kommt Lot auf eine brillante Idee: «Ich habe zwei unverheiratete Tçchter, die gebe ich euch heraus.» Ist Lot denn nicht angeblich der einzige Gerechte in Sodom? Wie passt seine Gerechtigkeit zu seiner Bereitschaft, seine Tçchter vergewaltigen zu lassen?3 Im Text wird Lot nirgends für seinen brutalen Vorschlag getadelt, so dass es scheint, als sei nicht nur Lot ein Frauenhasser, sondern sein Gott ebenso. Ist der Gott des Alten Testaments sexistisch? Als die Israeliten ins verheißene Land einzogen, befahl ihnen Gott, die Bevçlkerung jenes Landes, die Kanaaniter, ganz und gar auszurotten (Josua 10,40). Die Kanaaniter mçgen zwar Schurken gewesen sein (5. Mose 9,5), aber das hçrt sich dennoch nach Vçlkermord an. Was für ein Gott würde denn ein solches Gemetzel befehlen? Offenbar waren die Israeliten Gott mehr wert als die Kanaaniter. Ist der Gott des Alten Testaments ein Rassist?


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Problematische Texte wie diese haben zu einer negativen Wahrnehmung Gottes beigetragen, die auch in der populären Kultur zu finden ist.4

Gott als kosmischer Katastrophenverursacher Einer der berühmtesten Cartoons aus der Serie The Far Side von Gary Larson zeigt Gott an seinem Computer sitzend. Auf dem Bildschirm ist ein arglos auf dem Bürgersteig daherschlendernder Mann (mit den typischen larsonschen vorstehenden Zähnen) zu sehen.5 Wenige Zentimeter über dem Kopf des armen Kerls hängt ein großes Piano, getragen nur von wenigen dünnen Schnüren. Gott sieht zu, während seine Hand über der Tastatur schwebt. Sein Zeigefinger schickt sich an, auf die «SMITE»-Taste zu drücken. Es ist witzig, wie Larson hier Gott darstellt, aber auch tragisch. Tragisch, weil es für Leser des Alten Testaments ein wenig zu gut den Nerv trifft, wenn wir Texten begegnen, die schildern, wie Gott Menschen zerschmettert, erschlägt, tçtet, ja niedermetzelt. Wir brauchen nicht lange zu suchen, um noch weitere Beispiele negativer Darstellungen Gottes in der populären Kultur zu finden. In Bruce Allmächtig schreit Bruce (Jim Carrey), der gerade seinen Job als Nachrichtensprecher an Evan Baxter (Steve Carell) verloren hat, in einem Anfall suizidaler Depression Gott entgegen: «Zerschmettere mich, du allmächtiger Zerschmetterer!» Interessanterweise richtete der Prophet Elia einmal eine ähnliche Bitte an Gott («Herr, ich kann nicht mehr! Lass mich sterben», 1. Kçnige 19,4).6 Offenbar waren sowohl Bruce als auch Elia der Meinung, das


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Zerschmettern gehçre zu Gottes Jobbeschreibung. Wir kçnnten zwar argumentieren, dass Bruce Gott nicht besonders gut kannte, aber bei Elia zieht dieses Argument nicht. Immerhin mochte Gott ihn (Elia, nicht Bruce) so gern, dass er ihn geradewegs zu sich in den Himmel holte (2. Kçnige 2,11). Ist also das Zerschmettern wirklich ein typischer Wesenszug Gottes? In einer Episode aus der ersten Staffel der Simpsons beendet Barts Sonntagsschullehrer eine Lektion mit den Worten: «Und das ist der Grund, warum Gott Zugunglücke verursacht.»7 Die Gründe bekommen die Zuschauer zwar nicht zu hçren, aber dass der Lehrer Gott als kosmischen Katastrophenverursacher wahrnimmt, schlägt in dieselbe Kerbe wie The Far Side und Bruce Allmächtig.

Ein «grçßenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann»? Wir mçgen geneigt sein, diese populären negativen Darstellungen wegen ihres komçdiantischen Charakters nicht ernst zu nehmen, aber die Ansicht des Atheisten Richard Dawkins lässt sich nicht so leicht vom Tisch fegen. In seinem Bestseller Der Gotteswahn schreibt er: Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten – die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Vçl-


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ker mordender, ekliger, grçßenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.8 Ich stimme zwar nicht mit Dawkins’ Schlussfolgerungen überein, aber sein übertreibender Tonfall liest sich durchaus interessant, was wohl seinen Verkaufserfolg erklärt. Die Tatsache, dass Dawkins’ Buch zu einem internationalen Bestseller wurde, deutet darauf hin, dass er einen Nerv getroffen hat. Christopher Hitchens’ Bestseller von 2007 drückt eine ähnliche Anti-Gott-Haltung schon im Titel recht provokativ aus: Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet.9 Seit Bertrand Russell hat wohl kein atheistischer Autor mehr einen solchen Wirbel in der populären Kultur verursacht wie Dawkins und Hitchens. Larson, Bruce, Die Simpsons, Dawkins und Hitchens – sie alle scheinen ein negatives Bild von Gott zu haben. Ein solcher negativer Blickwinkel auf Gott findet sich sogar im Bereich des Versicherungsjargons. Wie lautet doch im Englischen der juristische Fachbegriff für katastrophale Ereignisse wie Überschwemmungen, Erdbeben, Tornados und Hurrikans? «Acts of God.» Diese Terminologie schließt zwar nicht unbedingt aus, dass Gott auch gute und freundliche Taten vollbringt, aber das Fehlen eines negativen Adjektives («zerstçrerische Taten Gottes») legt nahe, dass Gott immer dann, wenn er handelt, Verheerungen anrichtet. Mir ist klar, dass The Far Side und Die Simpsons Gott nicht immer nur als kosmischen Zerschmetterer darstellen und dass Morgan Freemans Verkçrperung Gottes in den Filmen Bruce Allmächtig und Evan Allmächtig etwas sehr Beeindruckendes hat.10 Doch diese negativen Darstellungen Gottes sind keine Einzelfälle in der Gegenwartskultur. Und während manche der komçdiantischen


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Gottesdarstellungen gar nicht so negativ sind, gehen Autoren wie Dawkins und Hitchens auf hçchst polemische Weise an das Thema heran. Ihre brutale Kritik an Gott verlangt nach einer Antwort.

Amtsenthebungsverfahren gegen Gott Als ich am 8. August 1974, einem heißen Sommerabend, draußen mit meinen Brüdern und Freunden spielte, wurden wir ins Haus gerufen, um uns etwas Historisches im Fernsehen anzuschauen. Wir fragten uns, was denn wichtiger sein konnte, als kleine Lederbälle in die Fenster unserer Nachbarn zu schlagen. (Offensichtlich waren da jemandem die Prioritäten ein wenig durcheinandergeraten.) Unsere Eltern erçffneten uns, der Präsident sei im Begriff, seinen Rücktritt zu erklären. «Na und?», erwiderten wir. Worauf sich die Stimme der Autorität erhob: «Kommt herein und seht euch die Sendung an!» So sahen wir zu, wie Richard Nixon die Nation von seinem Rücktritt vom Präsidentenamt in Kenntnis setzte. Was uns jedoch mehr schockierte als der Rücktritt selbst, war die Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ein Krimineller war. Wenn der mächtigste Mann der Welt kein guter Mensch ist, gibt das Anlass zur Sorge. Doch wenn der Herrscher des Universums nicht gut ist, dann ist das noch weit beunruhigender. Man kçnnte sagen, dass Dawkins und Hitchens im Grunde ein «Amtsenthebungsverfahren» gegen Gott anstrengen, indem sie sich einfach entscheiden, nicht an ihn zu glauben. Sie entfernen Gott aus seiner Machtposition und versuchen andere davon zu über-


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zeugen, dass Gott bçse und dass die Anbetung Gottes ein Wahn sei. Wir müssen also nicht nur diese Anschuldigungen von Dawkins und anderen genau unter die Lupe nehmen, sondern auch die Bibelstellen, die sie verwenden, um ihren Standpunkt zu untermauern. Es wäre zutiefst erschütternd, wenn der Herrscher des Universums tatsächlich jähzornig, sexistisch und rassistisch wäre. Besonders beunruhigend wäre das für die vielen Menschen, die Opfer von Gewalt, Sexismus oder Rassismus geworden sind. Der Gott des Alten Testaments kann zwar zürnen, aber sein charakteristisches Merkmal ist doch Liebe. Er mag sexistisch erscheinen, doch in Wirklichkeit hat er eine hçchst bejahende Haltung zu Frauen. Er mag rassistisch erscheinen, doch in Wirklichkeit heißt er alle Menschen willkommen. Und diese Aussagen werden, wie der Rest dieses Buches zeigen wird, von der Bibel untermauert.

Gott mit langen, gewellten, grauen Haaren Was all diese negativen Gottesbilder für mich besonders problematisch macht, ist der Umstand, dass sie um mein Fachgebiet kreisen, das Alte Testament. In Larsons Darstellung sieht Gott nicht wie Jesus aus (kein langes, gewelltes, braunes Haar), sondern er ähnelt mehr der alttestamentlichen Version (langes, gewelltes, graues Haar). Jesus erschlägt nie jemanden; er scheint sogar eine ziemliche Aversion gegen diese ganze Erschlagerei zu haben (Matthäus 5,39; Lukas 22,49–51), doch der alttestamentliche Gott scheint manchmal einfach nicht die Finger von der SMITE-Taste lassen zu kçnnen (2. Mose 3,20; 4. Mose 25,17; 5. Mose 7,2).11 Jesus stillte den Sturm (Markus 4,39), doch der Gott des


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Alten Testaments sendet Naturkatastrophen (2. Mose 32,35; 2. Samuel 24,15).12 Obwohl Dawkins von dem alttestamentlichen Gott angewidert ist, hat er für Jesus durchaus etwas übrig: «Aus ethischer Sicht ist Jesus gegenüber dem grausamen Ungeheuer aus dem Alten Testament ein großer Fortschritt.»13 Er hat sogar einen Artikel mit dem Titel «Atheists for Jesus» geschrieben.14 Seine Angriffe richten sich eindeutig stärker gegen den Gott des Alten Testaments als gegen den des Neuen. So wenig ich mit dem meisten von dem, was Dawkins sagt, übereinstimme, will ich ihm doch zugestehen, dass die Darstellung Gottes im Alten Testament irritierend sein kann. Genauer gesagt, Dawkins’ Liste gçttlicher Eigenschaften enthält viele der negativen Wahrnehmungen Gottes, die Lesern des Alten Testaments zu schaffen machen. Eine ähnliche Beobachtung machte Robert Wright 2009 in einem Artikel im Atlantic nach seinem Buch The Evolution of God. Dort stellte er den «kriegerischen» und «oft harten» Gott des Alten Testaments der liebevolleren Version des Neuen Testaments gegenüber: «Dann kam Jesus und schlug einen anderen Ton an.»15 Es gibt etliche Textabschnitte, mit denen Leute ihre Sicht untermauern, Gott sei jähzornig, sexistisch und rassistisch. Diejenigen unter uns, die regelmäßig im Alten Testament lesen, sind, wenn wir auf diese Stellen stoßen, beunruhigt, irritiert und vielleicht in Versuchung, sie zu ignorieren. Doch bei aller Anerkennung für Dawkins angesichts des Umstands, dass er diese Probleme offen zur Diskussion gestellt hat, kann ich seinen Schlussfolgerungen doch nicht zustimmen. Er liest einfach seine Bibel nicht gründlich genug.


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Der alttestamentliche und der neutestamentliche Gott Ein aufmerksamer Leser kçnnte sich jetzt an die Frage erinnern, mit der dieses Kapitel begann, und mir entgegenhalten: «Sie machen es doch genauso wie Dawkins – Sie lesen Ihre Bibel nicht gründlich genug.» Ich bekenne mich schuldig. Eine Lesart, die einen liebevollen alttestamentlichen Gott mit einem gestrengen neutestamentlichen Gott kontrastiert, ist eine drastische Fehlinterpretation der Bibel. Doch eine Lesart, die das Gegenteil tut, indem sie den gemeinen alttestamentlichen Gott in Gegensatz zum netten neutestamentlichen Gott stellt, geht ebenso daneben. Aber die Eingangsfrage dieses Kapitels und die anschließende Diskussion waren nçtig, um zwei allgemeine Bemerkungen über die Auslegung der Bibel vorzubereiten. Erstens: Es ist leicht, die Heilige Schrift falsch darzustellen, um ein Argument vorzubringen. Wir müssen gar nicht erst Dawkins oder andere Atheisten lesen, um Leute zu finden, die die Bibel verzerren, um eine Behauptung zu untermauern. Denn leider machen sich auch viele Prediger und Bibellehrer dessen schuldig. Einer der einfachsten Wege, die Heilige Schrift falsch darzustellen, besteht einfach darin, Problemstellen zu ignorieren. Dadurch, dass Bibellehrer gewisse Textstellen so häufig meiden, während Autoren wie Dawkins sich darüber äußern, kann der Eindruck entstehen, Atheisten läsen die Bibel sorgfältiger als die Leute, die sie als das Wort Gottes ansehen. In diesem Buch werde ich die positiven Aspekte des Charakters Gottes betonen, weil das Alte Testament Gott wiederholt auf diese Weise beschreibt. Wenn ich aber dem ganzen Alten Testament gerecht werden will, muss ich mich auch mit anderen Tex-


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ten befassen. Auch mit solchen, die meine Argumente zu untergraben scheinen. Dawkins tut das nicht. Texte, die Gott günstig porträtieren, meidet er einfach. Um die Bibel nicht verfälscht darzustellen, müssen wir viele Textstellen betrachten und Abschnitte zu beiden Sichtweisen studieren. Und wir müssen die Stellen in ihrem jeweiligen Kontext lesen. Dazu gehçrt natürlich Arbeit, aber das Ergebnis wird die Mühe belohnen, denn unser Verständnis Gottes wird dadurch erheblich vertieft. Meine zweite Vorbemerkung zur Bibelauslegung betrifft die Versuchung, die Unterschiede zwischen den beiden Testamenten übertrieben darzustellen, so dass man schließlich zwei vçllig verschiedene Gçtter vor sich zu haben glaubt. Wenn ich vom «Gott des Alten Testaments» spreche, kçnnte sich das so anhçren, als wollte ich damit eine Aufspaltung andeuten. Dabei glaube ich eigentlich nicht, dass der Gott des Alten Testaments anders ist als der des Neuen Testaments. Nur bin ich mir bewusst, dass sowohl in der populären Kultur als auch in der christlichen Gemeinde eine solche Differenz wahrgenommen wird. Diese gespaltene Darstellung eines gemeinen alttestamentlichen Gottes und eines netten neutestamentlichen Gottes hat eine lange Geschichte. Im frühen Christentum lehrte Marcion (ca. 80 bis 160 n. Chr.), es gebe zwei verschiedene Gçtter. Der Gott des Alten Testaments sei ein gestrenger Gott des Gesetzes und der Gerechtigkeit, während der Gott des Neuen Testaments ein gütiger Gott der Barmherzigkeit und des Heils sei. Marcion lehnte das Alte Testament als Heilige Schrift des Christentums ab. Eine Schlussfolgerung, die sich zwangsläufig aus seiner Sicht des Gottes ergab, der darin dargestellt wird. Die Anziehungskraft der Ansichten Marcions sind nachvollziehbar (für Leute, die das


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Alte Testament nicht studieren), und Marcions Gemeinde wuchs im 2. Jahrhundert zu beträchtlicher Grçße heran. Zum Glück derer unter uns, die das Alte Testament lieben, wurden Marcions Ansichten Mitte des 2. Jahrhunderts von der Kirche als Häresie deklariert. Dennoch haben sich Formen der Häresie Marcions mit ihrer anti-alttestamentlichen Sichtweise bis in die heutige Zeit gehalten, was darauf hindeutet, dass viele Christen das Alte Testament nicht lesen und nicht zu schätzen wissen, was es zu bieten hat. Um das Vermächtnis Marcions hinter uns zu lassen, müssen wir das Alte Testament gründlicher betrachten und es Seite an Seite mit dem Neuen Testament lesen. Genau dies hoffe ich in diesem Buch zu bewerkstelligen.

Namen Gottes: Jahwe und Jesus Um das Wesen Gottes in beiden Testamenten zu verstehen, bietet es sich an, zunächst einen Blick auf die gçttlichen Eigennamen in der Bibel zu werfen.16 Im Alten Testament wird Gott mit vielen Namen und Titeln benannt. Ein Name mag eine ganz einfache Sache sein, aber im Hebräischen (der Sprache des Alten Testaments) wird das Gespräch darüber sehr schnell komplexer, denn es verwendet Pluralformen für einen einzigen Gott, Pronominalsuffixe und kombinierte Formen. Hier will ich mich jedoch kurz fassen und nur einige der wichtigsten Namen erwähnen.17 Als Erstes nennt die Bibel Gott einfach «Gott», elohim (1. Mose 1,1). Bei diesem Namen wird er im ganzen Alten Testament häufig genannt (ungefähr 2600 Mal).18 Außerdem wird Gott entweder adon oder adonai, «Herr», genannt (1. Mose 15,2). Über 400 Mal im Alten Testament.


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Gottes persçnlicher Eigenname jedoch ist im Alten Testament Jahwe (hebräisch hwhy). Traditionell wurde er im Deutschen auch «Jehova» geschrieben, doch in letzter Zeit findet man auch die Schreibweise «JHWH» ohne Vokale. In modernen Bibelübersetzungen wird dieser Name meist als «der Herr» wiedergegeben.19 Die Bibel enthält zwar eine Vielzahl von Gottesnamen, doch häufiger als mit irgendeinem anderen Namen in der Heiligen Schrift, über 6800 Mal, wird Gott Jahwe genannt. Als Gott sich dem Mose vorstellte, sagte er sinngemäß: «Bitte nenn mich Jahwe» (2. Mose 3,15).20 Es ist bedeutsam, dass Gott sein Volk anweist, ihn bei einem Namen (Jahwe) zu nennen und nicht mit einem Titel (der Herr). Wenn ich also von dem Gott des Alten Testaments spreche, werde ich ihn bei seinem Eigennamen Jahwe nennen. Jesus wird im Neuen Testament auf vielerlei Weise benannt, etwa als «Sohn des Menschen» (Matthäus 8,20), «Sohn Davids» (Matthäus 1,1), «Immanuel» (Matthäus 1,23) und «Herr» (Matthäus 7,21). Über fünfhundert Mal wird Jesus im Neuen Testament «Christus» genannt, doch sein Eigenname lautete, nicht zu vergessen, einfach «Jesus», und so wird er denn auch weit häufiger genannt als «Herr» oder «Christus», nämlich fast tausend (958) Mal. Wenn ich also von dem Gott des Neuen Testaments rede, werde ich den Namen Jesus gebrauchen. Nur um die theologischen Grundlagen klarzustellen: Ich glaube nicht nur, dass Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist eins sind, sondern auch, dass Jesus und Jahwe wesenhaft eins sind. Dennoch bietet es sich hier an, von Gott im Alten Testament als Jahwe und von Gott im Neuen Testament als Jesus zu sprechen. Ich hoffe, mit dieser Praxis keinen Anstoß zu erregen, da ich ja lediglich den Konventionen für die Gottesnamen folge,


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wie sie aus den beiden Testamenten hervorgehen. Obwohl das Neue Testament oft allgemein von «Gott» und von den einzelnen Mitgliedern der gçttlichen Trinität (Vater, Sohn und Heiliger Geist) spricht, ist der am häufigsten verwendete Gottesname im Neuen Testament «Jesus», und dies bietet eine gute Parallele zum alttestamentlichen Gebrauch des Namens Jahwe. Da ich Doktoranden unterrichte, von denen viele älter sind als ich, bitte ich sie, mich Dave zu nennen. Es überrascht mich immer wieder, wie viele von ihnen mich dennoch beharrlich mit irgendwelchen Titeln anreden (Professor, Doktor, Doc, Sir). Mir ist klar, dass Studenten Titel oft als Zeichen des Respekts gebrauchen und dass nicht-westliche Traditionen darauf viel mehr Wert legen als meine eigene. Aber es fällt schwer, nicht das Gefühl zu bekommen, diese Praxis, mich mit einem Titel anzureden, halte die Studenten auf Distanz zu mir. Immer wenn ein Student, der mich bisher Dr. Lamb nannte, anfängt, mich mit Dave anzusprechen, hat sich unsere Beziehung in Richtung Freundschaft verlagert. Natürlich halte ich es auch in vielen Situationen für angemessen, Gott mit «Gott», «Herr» oder «Christus» anzureden. Aber ich bin überrascht, wie selten Christen die Namen «Jahwe» oder auch «Jesus» gebrauchen, die beiden Namen, die in der Bibel am häufigsten für Gott verwendet werden. Wenn wir Gottes Eigennamen nicht gebrauchen, geht ein Aspekt der Beziehung zu ihm verloren.21 Das biblische Vorbild, Gott im Alten Testament vorwiegend als Jahwe und im Neuen Testament vorwiegend als Jesus anzusprechen, sagt uns, dass Gott mit seinem Volk auf Du und Du sein mçchte. Dieses Modell der vertrauten Beziehung zwischen Gott und seinem Volk kennzeichnet beide Testamente.


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Jesus liebte das Alte Testament Leute, die einen zu starken Gegensatz zwischen den beiden Testamenten ausmachen, scheinen einen wichtigen Umstand zu vergessen: Die Bibel Jesu war das Alte Testament. Wie sehr er das Alte Testament schätzte, lässt sich daran ersehen, wie häufig er darauf Bezug nahm. Zu Beginn seines Wirkens zitierte Jesus dem Satan gegenüber dreimal aus dem 5. Buch Mose (Lukas 4,4.8.12; 5. Mose 8,3; 6,13.16), und als letzte Worte am Kreuz zitierte er aus den Psalmen (Matthäus 27,46; Psalm 22,2). Während seines gesamten Wirkens sprach Jesus beständig vom alttestamentlichen Gesetz, den Propheten und den Psalmen (zum Beispiel Lukas 7,27; 10,26; 18,31; 19,46; 20,17; 22,37; 24,44). Jesus liebte das Alte Testament. Von besonderer Bedeutung für diese Erçrterung jedoch ist der Umstand, dass Jesus das Alte Testament gebrauchte, um Gott zu beschreiben. Seine Schilderung Gottes als eines Weingärtners (Matthäus 21,33) stammt direkt aus Jesaja 5,1–2. Als Jesus einem Schriftgelehrten sagte, der Herr, unser Gott, sei einer (Markus 12,29), zitierte er 5. Mose 6,4. Als der Hohepriester ihn fragte, ob er der Christus sei, erwiderte Jesus zunächst: «Ich bin es», eine Anspielung auf Gottes alttestamentlichen Namen Jahwe (2. Mose 3,14), und verband dann zwei alttestamentliche Texte zu der Prophezeiung, die Menschen würden ihn als den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes sitzen (Psalm 110,1) und mit den Wolken des Himmels kommen sehen (Daniel 7,13). Immer wieder gebrauchte Jesus alttestamentliche Bilder, um sowohl sich selbst als auch Gott als Bräutigam (Jesaja 62,5; Markus 2,19), als Hirten (Hesekiel 34; Johannes 10,11) und als Kçnig (Psalm 47; Matthäus 18,23) zu beschreiben. Jesus kannte nicht nur das Alte


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