Melvin J. Sandstrçm Der Eindringling
L SE rial A B te AG s Ma L ER Ăźtzte V N h NE -gesc N t U BR yrigh p Co
Der Autor Der Autor schreibt unter Pseudonym. Er ist Theologe und Pfarrer, hat mehrere Kontinente besucht, betätigt sich als Coach für Studenten und Dozenten, hält Vorträge und schreibt nebenbei hervorragende Manuskripte.
EL al S A teri B G Ma LA esangerei«Der Eindringling» ist eine mit historischen Ereignissen R E überühmten zt t V cherte theologische Fiktion, die Dostojewskis N verlegt. hJesus erscheintText c E «Der Großinquisitor» ins 21. Jahrhundert ins N -ge N kognito, um zu sehen, ob t findet auf Erden. Uer noch Glauben BR yrigh p Co
Melvin J. Sandstrçm
EL al S Der Eindringling BA teri G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co Erzählung
Verlag Basel . Giessen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
2014 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgçns Umschlagbild: Larissa Kulik, Jef Wasserman, Shutterstock.com Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1820-1
D
Inhaltsverzeichnis
d
Kapitel 1: Das Backsteinhaus ..............................................
7
E28L al S A teri B G a Kapitel 3: Die Klosterkirche ................................................ LA es M 61 R E 체tzt V Kapitel 4: Die Firma............................................................ 93 N sch E NN t-ge U Kapitel 5: Die Bar ............................................................... 124 BR yrigh op..................................................... 146 Kapitel 6: Der siebte CTag Kapitel 2: Die Universit채t....................................................
Erl채uterungen ......................................................................
5
206
EL al S A teri B G a LA es M R E 端tzt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
D
d
Kapitel 1 Das Backsteinhaus
Der knorrige Alte mit dem weißen Stoppelbart wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Als er sich kurz vor 16.00 Uhr entgegen seiner Gewohnheit zur Ruhe begeben hatte, ahnte er nicht, dass sein Leben binnen Stunden vçllig Kopf stehen würde. Der Alte bewohnte ein ebenso altes Backsteinhaus an der Ackerfeldstraße. Als einziger Zugang führte ein ungepflasterter Gehweg zwischen hochgewachsenen Haselsträuchern hindurch. Das Haus unterschied sich von den roten Backsteinhäusern der Umgebung nur dadurch, dass Türen und Fenster von alten Farbresten befreit und gelb angestrichen waren. Diese hellen Tupfer bildeten einen frçhlichen Protest zur Tristheit des heruntergekommenen Viertels. Von der Ackerfeldstraße erreichte man in wenigen Schritten die Rue de la Montagne. Diese führte an dem alten franzçsischen Friedhof entlang, auf dem verloren einige verblichene Soldatenkreuze standen. An klaren Tagen erblickte man von dort aus die weißen Kalkfelsen, die am Horizont der Stadt in den Himmel ragten. Vom Lärm und von der Betriebsamkeit des Stadtzentrums war in dieser Gegend nichts zu hçren und nichts zu spüren. Das Häuschen wurde von dem Alten zwar nicht gepflegt, aber umso mehr geliebt. Die einzige Mitbewohnerin, eine getigerte Katze, nannte er zärtlich «Prinzessin». Der Schmuck des Gartens waren ein sorgfältig aufgeschichteter Holzstoß und ein zerbrochenes Mühlrad, das wie zufällig dalag. Im Sommer sprossen zwischen den verwitterten Speichen sanft und zaghaft Mohnblumen. Die Brombeerenranken, die den Gehweg säumten, lagen starr in der Novemberkälte da. Dieser vergessene Ort war dazu ersehen, Schauplatz einer geheimnisvollen Heimsuchung zu sein, die nicht nur das Leben des knorrigen Siebenschläfers verändern sollte.
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
7
18.00 Uhr. Ein Windstoß wirbelte die letzten Herbstblätter über den holprigen Asphalt, als eine männliche Gestalt in die Rue de la Montagne einbog. Eine Gruppe von Tauben, die unter der alten Bank des Friedhofs nach Speiseresten suchte, flog erschreckt auf. In den Rissen des Asphalts wuchs Unkraut. Der faulige Geruch, der aus der Kanalisation aufstieg, verband sich mit den Nebelschwaden, die der Nordwind in immer neuen Wogen über den Friedhof schickte. Der Unbekannte ging sicheren Schrittes den Gehsteig entlang, den Kragen des schwarzen, bis zu den Knien reichenden Wollmantels hochgeschlagen. Links und rechts der Straße führten schmale Gehwege durch kleine, ungepflegte Vorgärten, die an niedrigen Haustüren endeten, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Zweistçckig gebaut, boten die Häuser nebst einem Wohnraum und einer Küche im Erdgeschoss und drei kleinen Zimmern im Obergeschoss Platz für einen Speicher, der in einem steilen Giebel endete. Die Fensterläden waren rissig und hingen schief in den Angeln. Die hüfthohen Lattenzäune, welche die Vorgärten vom Gehsteig trennten, reihten sich wie eine Phalanx alternder Kriegsveteranen auf und erweckten den Eindruck, dass Fremde in dieser Gegend unerwünscht waren. Die Backsteinsiedlung war um eine der ersten Manufakturen des vorletzten Jahrhunderts herum entstanden, als hier Baumwolle zu Textilien verarbeitet wurde. Die Besitzer der Manufakturen wussten die Gunst der Stunde zu nutzen, als Europa zum industriellen Aufstieg ansetzte. Schäbige Fassaden und undichte, von Moos überzogene Dächer zeugten davon, dass der erarbeitete Reichtum in die Taschen der Kapitalgeber geflossen war. Die schçne neue Welt des Kapitalismus war zweihundert Jahre später noch genauso hässlich wie damals, mit dem Unterschied, dass jetzt in den meisten Hinterhçfen Satellitenschüsseln standen. Am Ende der Rue de la Montagne bog die Gestalt in die Acker-
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
8
feldstraße ein. Diese endete nach wenigen hundert Metern auf den Feldern, auf denen in den Tagen, bevor die frühwinterliche Kälte eingesetzt hatte, Zuckerrüben geerntet worden waren. Die Telefonmasten aus druckimprägnierten Rundhçlzern säumten in regelmäßigen Abständen die Straße. Sie erweckten den Eindruck von in den Himmel ragenden toten Bäumen. Die tief verwurzelte Armut der Menschen war im kalten Novemberwind greifbar, obschon sich niemand auf der Straße blicken ließ. Ein Zigarettenstummel flog aus einem verblichenen Klappfenster auf den Gehsteig. Er kam aus dem Gasthaus am Ende der Straße. Ein aufgedunsenes Gesicht erschien im Fenster und schaute dem glimmenden Stummel nach, der wenige Meter vor dem Fremden zu liegen kam. «Wen haben wir denn da?», schallte eine krächzende Stimme über die Straße. Es war einer der Feldarbeiter, der sich am Ende seines Arbeitstages ein gebranntes Wasser gegçnnt hatte. Ein zweites vom Alkohol gerçtetes Gesicht erschien im Fenster. «Hol’s der Teufel, isch mir egal, wer das isch, von hier isch er jedenfalls nicht! Mach endlich das Fenster zu, Pepe, s’isch verdammt kalt!» Als die letzten Häuser ins Blickfeld kamen, bog der Beargwçhnte rechts in den ungepflasterten Gehweg ein und bahnte sich seinen Weg durch die Haselsträucher. Nach wenigen Schritten stand er vor dem kleinen Backsteinhaus mit den gelben Farbtupfern. Der Wind hatte nachgelassen. Der Unbekannte çffnete die obersten Knçpfe seines Mantels und legte den Kragen herunter. In der einsetzenden Dämmerung ließ sich sein Gesicht nur undeutlich erkennen. Er hatte schmale Lippen und kräftige Gesichtszüge, seine Wangen waren von der Kälte gerçtet. Er warf einen prüfenden Blick über die kümmerliche Fassade des Hauses und nahm ein fahles Licht wahr, das aus dem Korridor kam, der sich direkt hinter der Haustüre befand. Eine Amsel, die unter den Büschen nach Würmern suchte, flog erschreckt auf. Es begann zu schneien.
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
9
Die Dunkelheit hatte sich unterdessen fast gänzlich über die Stadt gesenkt. Der beißende Rauch feuchten Holzes stieg aus den Schornsteinen und verlieh der heruntergekommenen Gegend den Anschein von Gemütlichkeit. Außer dem fahlen Licht, das durch das kleine Fenster in der Türe nach draußen drang, deutete nichts darauf hin, dass in dem Backsteinhaus Leben war. Der Fremde hob den mit Grünspan befallenen Kupferring an der Türmitte und ließ ihn in kurzen Abständen dreimal auf die darunterliegende Metallplatte fallen. Im Haus auf der anderen Straßenseite ging Licht an. Im Backsteinhaus rührte sich nichts. Als er den Ring erneut hob, sprang die Türe auf und gab den Blick in den Korridor frei. Eine nackte Glühbirne hing von der weißen, mit Spinnweben überzogenen Decke herunter. Im Korridor standen drei Paar ausgetragene Schuhe in Reih und Glied. Ging man zwei oder drei Schritte in das Haus hinein, führte eine Tür zur Linken in den kleinen, spärlich beleuchteten Wohnraum. Auf der rechten Seite befanden sich die Küche mit dem dahinterliegenden Bad und ein Vorratsraum. Er trat ein, ohne nach einem Namen zu rufen oder sich durch ein «Hallo, ist hier jemand?», bemerkbar zu machen. Es war so still, wie es an einem unfreundlichen Winterabend am Rande eines vergessenen Stadtbezirks nur sein konnte. Nachdem er die Haustüre vorsichtig hinter sich geschlossen hatte, wandte sich der Eindringling dem Wohnraum zu. Das Licht im gegenüberliegenden Haus ging wieder aus. In der Decke knackte es, als hätte jemand im Obergeschoss einen Schritt auf dem Bretterboden getan, aber es war nur das Stçhnen des alten Hauses. Er legte die Hand auf die Klinke, die sich mit einem leisen ¾chzen nach unten drücken ließ, und schob die Tür langsam auf. Der Raum war niedrig, aber gemütlich. Auf der linken Seite gaben kleine Holzsprossenfenster den Blick auf den Vorgarten frei. Die durchhängende Decke war in einem hellgrünen Kassettenmus-
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
10
ter gehalten. Ein Ofen mit dunkelgrünen Kacheln und einer gefliesten Bank machte einen beträchtlichen Teil des Raumes zur Rechten aus. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Bett, aus dem unruhige Atemzüge kamen, die in der vçlligen Stille gut zu hçren waren. Das fahle Licht kam von der Stehlampe, die auf einem Tischchen neben dem Bett stand, dessen dunkles Holzgestell von einer Marmorplatte abgedeckt wurde. Es war ein Stück aus dem 19. Jahrhundert, das davon zeugte, dass sich sparsame Arbeiterfamilien dann und wann einen bescheidenen Luxus leisten konnten, der ihnen das Gefühl gab, ein Anrecht auf ein kleines Stückchen Glück zu haben. Hinter der Türe erschien die Katze des Alten. Sie lief auf den Fremden zu und schmiegte sich an seine Beine. Die kraulende Bewegung der Hand erwiderte sie mit einem Schnurren, das in der Stille fast laut wirkte. «Prinzessin?» Die rauhe Stimme, die vom Bett kam, hatte den gebrechlichen Klang des Alters, war aber angenehm. «Was ist, meine Kleine? Ich muss vor ’ner ganzen Weile eingeschlafen sein. Hast du schon wieder die Türe aufgestoßen? Es ist kalt.» Der Schläfrige tastete auf dem Tisch nach einem Gegenstand und stieß dabei an die Lampe, so dass sie beinahe auf den Holzboden fiel. Er murmelte etwas Unverständliches und machte sich daran, sich auf die andere Seite zu legen, um weiterzuschlafen. Mitten in der Bewegung hielt er inne und richtete sich wie auf ein inneres Kommando hin kerzengerade auf. Er drehte den Kopf langsam nach links, dann nach rechts und lauschte in die Stille hinein. «Ist da jemand?» Der Eindringling machte einen Schritt auf dem knarrenden Holzboden und schloss die Tür hinter sich. «Hallo Arnie!» Der Oberkçrper des Alten schnellte im fahlen Licht der Lampe
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
11
wie ein Pfeil nach vorne. Seine Hände ballten sich um die Bettdecke zu Fäusten. Er sagte nichts und wartete ab, was als Nächstes geschehen würde. «Hallo Arnie!», wiederholte der Unbekannte mit ruhiger Stimme. Es verstrichen einige Sekunden, in denen die Zeit stillzustehen schien. In dem alten Haus war kein Laut zu hçren. Dann lçsten sich die Fäuste des Alten langsam aus ihrer Verkrampfung. Wie in Zeitlupe richtete er sich zu bequemer Haltung auf. Es war keine Angst in seiner Bewegung zu erkennen. Das Entsetzen war aus seinem Gesicht gewichen. Plçtzlich begann er heftig zu atmen. Er wollte sprechen, aber es gelang ihm nicht. Er richtete seinen Blick direkt in Richtung der Stimme, die seinen Namen ausgesprochen hatte, so als würde er den Eindringling mustern. Nichts in seinem Verhalten deutete auf den Versuch hin, eine Gefahr abzuwenden oder die Flucht zu ergreifen, was ohnehin sinnlos gewesen wäre. Er schien den ungewçhnlichen Augenblick vielmehr in sich aufzunehmen. An seinen Händen traten die Adern hervor. Seine Gesichtszüge begannen sich mit Leben zu füllen und verrieten freudige Anspannung. «Er ist es!», murmelte er vor sich hin. «Er muss es sein!» Der Alte blieb in aufrechter Haltung sitzen. «Ich spüre es!», sagte er mit zittriger Stimme. Er strich sich mit einer schnellen Geste durch das schüttere Haar, als wollte er damit ausdrücken, dass er in seinem Zustand nicht für die bevorstehende Bekanntschaft gerüstet war. Der Schnee fiel jetzt in dicken Flocken. Die weiße Pracht schluckte den Lärm, der durch die dünnen Scheiben des Gasthauses herüberdrang. Der Alte zuckte zusammen, als die Katze auf das Bett sprang. Er tastete nach ihr und zog sie auf seinen Schoß. Nach einer endlos scheinenden Pause, in der nur das Schnurren der Katze und ein gelegentliches Knacken des erkaltenden Ofens zu hçren waren, fragte der Alte in die Dunkelheit hinein:
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
12
«Bist DU es?» Seine Stimme verriet eine Mischung aus Erregung und Überraschung. «Es freut mich, dass du mich kennst», antwortete der unerbetene Besucher. «Ja, ich bin es!» Die Stimme hatte einen vollen Klang, etwas Vertrauenerweckendes lag in ihr. «Gepriesen sei Gott!», brach es aus dem Alten hervor. Er sank in sein Bett zurück. Er versuchte nicht, die Tränen zurückzuhalten, die über seine Wangen strçmten. «Ich kann es nicht glauben, einfach nicht glauben», murmelte er vor sich hin. Die ganze Zeit über hatte der Eindringling dagestanden, ohne sich zu rühren. Er legte seinen Mantel auf die Ofenbank, setzte sich an den Rand des Bettes und ergriff die Hand des Alten, die seinen festen Druck erwiderte. «Das ist nicht mçglich … es kann nicht sein», stammelte dieser. «Es ist zu wunderbar … wie Weihnachten und Ostern am selben Tag … ein Wunder, ein Wunder!» Er ließ seinen Tränen wieder freien Lauf. Hin und wieder wurden sie von einem befreiten Lachen begleitet. «Mein Herr», sagte der Alte, immer noch die Hand seines Besuchers haltend, «womit habe ich es verdient, dass mein Herr mich besucht? Ich dachte, ich würde bald zu dir gehen, und jetzt kommst du und besuchst mich!» Sein unordentliches Haar fiel ihm ins Gesicht, während er ungläubig den Kopf schüttelte. Er tastete nach dem Arm des Besuchers und ergriff ihn entschlossen mit seinen zittrigen Händen. «Jesus, mein Herr, ich würde dich gerne sehen!» Schnell fügte er hinzu: «Ich weiß, die Zeit kommt, in der ich mit meinen Augen wieder sehen kann. Aber da du dir die Mühe gemacht hast, mich zu besuchen, ist es da anmaßend zu bitten, dass ich dich schon jetzt sehen kann?» Jesus schaute den Alten freundlich an. Er beugte sich über ihn, schob seine linke Hand unter seinen Rücken und richtete seinen
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
13
Oberkçrper ganz auf. Dann legte er die andere Hand über die Augen des Alten. «Mein Freund», sagte er, «dein Glaube macht dich gesund. Deine Augen sollen die Herrlichkeit Gottes sehen!» Der Alte atmete hçrbar. Sein Brustkorb bewegte sich in unregelmäßigen Abständen auf und ab. «Öffne deine Augen langsam», fügte Jesus hinzu, als er seine Hand zurückzog. «Sie sind das Licht nicht gewohnt.» Arnie çffnete behutsam seine Augen. Im schwachen Schein der Lampe nahm er das ihm vertraute Zimmer wahr. Dann wandte er seinen Blick zu seinem Besucher. Die beiden Männer sahen sich an, ohne zu sprechen. Himmel und Erde begegneten sich. Arnie wollte etwas sagen, çffnete seinen Mund und formte seine Lippen zu einem Satz, aber es gelang ihm nicht. «Sprich nicht! Es ist nicht nçtig zu sprechen. Du sollst sehen! Schau nach draußen, der erste Schnee fällt!» «Ich habe den Schnee fallen gehçrt», sagte Arnie mit einem Lächeln. «Wenn man nicht sehen kann, hçrt man die Flocken fallen, alle Geräusche werden vom Schnee geschluckt, und es wird still.» Er strich sich das rote Flanellhemd glatt, das er über seiner Jeans trug, und trat an das Fenster. Nachdem er die beschlagene Scheibe mit dem Unterarm abgewischt hatte, war der Blick auf die tanzenden Flocken frei. «Ich liebe Schnee!», rief er aus. «Seit vielen Jahren habe ich keine Flocken mehr vom Himmel fallen sehen.» Er blieb einige Minuten am Fenster stehen und schaute dem Tanz der Natur zu. Schließlich wandte sich der Alte um. «Mein Herr», begann er, «mein schäbiges Haus wird mit deiner Gegenwart geehrt. Es ist wahrscheinlich nicht viel besser als der Stall, in dem du geboren wurdest. Darf ich dich dennoch als Gast in meinem Haus willkommen heißen?» «Ich nehme deine Einladung gerne an, mein Freund.» «Ich weiß», fuhr der Alte fort, «dass du den Menschen in die Her-
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
14
zen siehst und es dir nicht darauf ankommt, ob sie mit schmutzigen Kleidern oder mit ungekämmten Haaren vor dir stehen. Aber mir macht es etwas aus! Heute ist ein Festtag für mich!» Er strich sich mit der Hand über die weißen Bartstoppeln. «Ich habe eine Rasur nçtig und mçchte mich ordentlich anziehen. Danach werde ich uns Tee kochen. Ich habe vorzüglichen Kräutertee im Haus, immer auf Vorrat!» «Gerne!» Der Alte verschwand durch die Tür. Das Geräusch fließenden Wassers und ein gedämpftes Summen waren zu hçren. Es ließ sich nicht ausmachen, woher es kam. In diesen Häusern drangen die Geräusche von Stockwerk zu Stockwerk und erweckten den Eindruck, man befände sich in einem Haus mit unzähligen Räumen. Eine Elster setzte sich auf den Lattenzaun vor dem Haus und zerstieb mit den kräftigen Bewegungen ihrer Schwanzfedern die kleinen Schneehütchen auf den Holzspitzen. Der Alte erschien wieder. Er hatte sich ein gelbes Handtuch über die Schulter geworfen. Sein Gesicht war mit Rasierschaum bedeckt. «Ich habe nicht gewusst, dass meine Handtücher gelb sind», sagte er mit kindlicher Freude. «Sie passen ausgezeichnet zu den Fensterläden, die ich vor ein paar Jahren gestrichen habe. Mein Haus ist zwar nicht gerade ein Schmuckstück, aber ich würde sagen, es ist das frçhlichste in der Siedlung.» Er erwartete weder Zustimmung noch Protest. «In der Küche ist es gemütlicher», sagte er mit einer einladenden Handbewegung, «und wärmer ist es auch. Ich habe Holz nachgelegt.» Jesus folgte ihm in die Küche. Der Alte war bereits wieder verschwunden. In das Badezimmer führte eine Schwenktüre, die sich an der linken Seite der Küche befand. Neben der Türe standen ordentlich aufgereiht Küchengeräte auf einer hçlzernen Ablage. Ihr schloss sich auf gleicher Hçhe ein alter Holzherd an. Durch das rauchgeschwärzte Fenster in der Klapptüre waren die Flammen des
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
15
Feuers zu sehen, das eine wohlige Wärme ausstrahlte. Ein alter, aber sauber gehaltener Tisch aus Arvenholz schloss den Raum zur Rechten ab. Er war spärlich, aber freundlich eingerichtet. Das einzige Fenster des Raumes gab zwischen rot-weiß karierten Gardinen den Blick auf den ungepflasterten Gehweg frei. Es schneite noch immer. «Ich bin gleich fertig und werde uns Tee kochen!», rief der Alte in aufgeräumter Stimmung aus dem Badezimmer. «Es ist kalt hier, aber was soll’s? Ich hab ja eine warme Küche, und meine Prinzessin hält mich auch warm, wenn ich sie auf meinem Schoß habe.» Das Holz sei teuer geworden, meinte er weiter, deshalb gehe er sparsam damit um. Zudem hätte er bisher auch die Kosten für den Transport bezahlen müssen, aber das sei ja nun vorbei. Er werde wie früher in den Wald hinter den Zuckerrübenfeldern gehen und das Holz vor Ort kaufen, das sei günstiger und Waldluft sei gesund. Die Schwenktür flog auf, und der Alte stand in der Küche. Die weißen Haare, die er sich nach hinten gekämmt hatte, fielen ihm bis auf den Hemdkragen. «Wenn vorne nichts mehr wächst», grinste er und strich sich über den Kopf, «muss man es hinten nachwachsen lassen.» Lachend fügte er hinzu: «Ich werde wohl doch mal zum Friseur gehen, schließlich weiß ich erst seit einer halben Stunde, wie ich aussehe, und ich weiß noch nicht, ob es mir gefällt.» Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er Teewasser auf und holte einen Laib Brot aus dem Schrank über der Ablage. Aus einem kleinen Kühlschrank, der an der Wand zum Badezimmer stand, nahm er ein Stück Käse und stellte es mit dem Brot auf den Tisch. «Ich kann das buchstäblich blindlings. Wenn man nicht sehen kann, ist Ordnung das Wichtigste. Alles muss an seinem vorgesehenen Platz sein. Deshalb ist hier alles säuberlich aufgeräumt. Eigentlich bin ich kein sehr ordentlicher Mensch. Prinzessin ist übrigens schon fünfzehn Jahre alt, eine richtige alte Dame.» Er hantierte etwas auf der Ablage herum. «Ich rede wohl zu viel»,
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
16
fuhr er fort, «aber ich habe seit langem nur noch mit wenigen Menschen gesprochen. Als bei mir vor fünf Jahren die Lichter ausgingen, war es mir, als sperrten sie mich in ein dunkles Verlies. Zweimal die Woche kommen Freunde vorbei und schauen nach dem Rechten. Aber das ist nicht viel für einen Mann, der gerne Gesellschaft hat. Prinzessin hat mir über manches hinweggeholfen.» Arnie nahm das Wasser vom Herd und goss Tee auf. «Abends kann ich keinen Kaffee mehr vertragen. Ich habe für das Frühstück einen ganz besonderen», erklärte er eifrig, «es ist eine dunkle Rçstung mit einem etwas eigentümlichen Geschmack. Die meisten Leute beginnen ihn zu mçgen, wenn sie vier oder fünf oder ein ganzes Dutzend Tassen davon getrunken haben. Es ist kein Kopi Luwak», sagte er mit einem Zwinkern, «aber Jack Nicholson würde ihn trotzdem mçgen.» Er grinste über seinen eigenen Schalk. «Darf ich einschenken?» «Gerne.» Während sie aßen, schauten sie durch die schmutzigen Fensterscheiben nach draußen, wo der Schneefall in kleine Flocken übergegangen war und sich dann und wann ein Stern am Nachthimmel zeigte. «Ich werde einen gründlichen Wohnungsputz machen müssen», sagte Arnie zu sich selbst und zeichnete mit dem Finger einen Strich auf die Scheibe. Eine kräftige Stirnfalte verriet, dass der Alte über etwas nachdachte. Er schien den Gedanken, den er gefasst hatte, zu verwerfen, dann wieder zu erwägen, um ihn schließlich doch fallen zu lassen. Er unternahm keinen Versuch, seinen wortlosen Dialog mit sich selbst zu verbergen. Sein Gesicht war ein offenes Buch, aus dem man auch bei Mondschein hätte lesen kçnnen. Jesus ließ ihn gewähren. Schließlich biss er ein großes Stück von seiner Brotscheibe ab, schob ein Stück Käse nach, kaute gründlich, und bevor er ganz geschluckt hatte, begann er zu sprechen. «Mein Herr, während ich
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
17
mich rasierte und ich mich nach dieser langen Zeit endlich wieder wie ein Mensch zu fühlen begann, fragte ich mich, weshalb du ausgerechnet mich besuchst. Warum nicht jemanden in einer Luxusvilla mit Wintergarten, Speisesaal und ausgesuchten Gemälden an den Wänden? Aber vielleicht warst du ja bereits dort, bei einem berühmten Prediger oder so.» Er strich sich über das glatte Kinn. «Ich rede wieder mal zu viel.» Jesus nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse und blickte den Alten freundlich an. «Ich bin gekommen, um das Werk zu vollenden, das ich angefangen habe. Vorher aber wollte ich dich besuchen und dir für die Mühe danken, die du dir um meinetwillen gemacht hast.» «Mir danken? Du?» Der alte Mann war mit einem Mal aufgebracht. «Wer ist der alte Arnie denn? Ein alter Säufer ist er, ein bekehrter zwar, aber ein Säufer. Und was für einer! Mein Vater hat mich enterbt. Meine Frau hat mich verlassen. Herrje, ist das lange her! Ich kann es ihr nicht verdenken!» «Du bist kein alter Säufer, mein Freund», sagte Jesus bestimmt. «Du bist ein Sohn Gottes, der einmal ein Säufer war. Das ist ein Unterschied.» «Gottlob, ja, ich bin seit zwanzig Jahren trocken. Aber ich habe mein Leben ruiniert und das von anderen auch! Meine Frau hat es irgendwann nicht mehr mit mir ausgehalten. Und meine Tochter hat nie etwas von ihrem Vater gehabt. Wir haben uns seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, wie sie aussieht.» Arnie wurde nachdenklich. «Ich schätze, jeder läuft mit irgendeinem Loch in der Brust herum. Wenn ich an die Kleine denke, habe ich das Gefühl, dass in meinem Herzen das ganze schwarze Universum Platz hat. Es ist wie eine Wunde, die nicht heilen will.» Seine Stimme brach, dann fing er sich wieder. «Wie solltest du mir danken, da ich doch alles, was aus meinem Leben noch Gutes geworden ist, dir zu verdanken habe?»
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
18
«Ich habe dich gesehen bei deiner Arbeit in der Bäckerstraße», sagte Jesus. «Nun ja, du siehst alles, wie kçnnte dem Sohn Gottes etwas verborgen bleiben?» Arnie lächelte. «Die Bäckerstraße, das war mein Leben, seitdem ich einer deiner Nachfolger wurde. Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr dort gewesen, wie sollte ich auch? Wenn ich an all die gestrandeten Existenzen in unserem Backsteinviertel denke und an alle, die in ihrer Bitterkeit bei uns einen Funken Hoffnung und dazu eine heiße Suppe bekamen, dann bin ich dankbar, dass ich Hand anlegen durfte. Meine Freunde, mit denen ich die ausgediente Spinnerei erwarb und umbaute, sind alle tot.» Für einen Augenblick saß er in Gedanken versunken da. Dann fuhr er fort: «Jetzt haben andere die Arbeit übernommen. Ich muss sagen, ich bin froh, dass die Bäckerstraße immer noch die Bäckerstraße ist und wir gutes Brot verteilen dürfen.» Sein Blick wanderte während des Erzählens immer wieder aus dem Fenster. «Es ist nicht nçtig, dass du mir für diesen Dienst dankst. Ich habe getan, was ich konnte. Ich war es dir schuldig, denn du warst es, der mich aus dem Suff befreite.» Er schwieg und schnitt sich eine weitere Scheibe Brot ab. Er hatte sich die Seele vom Leib geredet. «Es ist nicht so, wie du denkst, Arnie. Ich war da, so wie ich heute bei dir bin.» «Du warst da?» Der Alte wies mit dem Zeigefinger zur Stadtmitte. Er beugte sich vor, betrachtete das Gesicht vor ihm gründlich, kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach. «Unmçglich!», sagt er schließlich, «ich bin zwar ein alter Mann, aber mein Geist ist wach und meine Erinnerung frisch. Ich kann mich nicht an dein Gesicht erinnern.» «Ich war sogar sehr oft da», entgegnete Jesus. «Halluziniere ich? Oder stimmt etwas nicht mit mir?» Arnie war verwirrt. «Deine Hand hat mir die Suppe gereicht», sagte Jesus, ohne auf
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
19
seine Bestürzung zu reagieren. «Du warst es, der mir Handschuhe für die kalten Wintertage gab und mich fragte, ob du nach einem Paar neuer Schuhe für mich Ausschau halten solltest.» Arnie zog die Stirn zu einer großen Furche zusammen. «Ich verstehe nicht», sagte er und starrte angestrengt nachdenkend auf das Stück Käse vor sich. «Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan, mein Freund.» «Matthäus-Evangelium!», rief Arnie, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. «Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben, ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen, ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.» Sein Gesicht hellte sich auf. «Habe ich dich darum erkannt, als du in meinem Zimmer standst, obwohl ich dich nicht sehen konnte?» «In gewisser Hinsicht hast du Recht», sagte Jesus. «Du hast dich vor langer Zeit entschieden, mir zu folgen, und das hast du mit derselben Hingabe getan, wie du früher getrunken hast.» «Gewiss», sagte der Alte. «Das Geheimnis ist dies: Meine Schafe hçren meine Stimme, und sie folgen mir. Erinnerst du dich daran, dass ich das sagte, als ich auf der Erde war?» «Ja, Johannes, dein Lieblingsjünger, wenn ich das so sagen darf, hat es in seinem Evangelium aufgeschrieben.» «Du hast auf meine Stimme gehçrt, als ich dich in deine Aufgabe an die Bäckerstraße rief. Du hast es von ganzem Herzen getan. Und wenn du mal außer Hçrweite warst, dann hast du dich wieder in meine Nähe geflüchtet, um den Rest deines Lebens nicht wie Perlen vor die Säue zu werfen.» «Ja, schon», unterbrach ihn Arnie, «aber weshalb sollte ich dich deswegen kennen, ohne dich je gesehen zu haben?» «Als du mir all die Jahre folgtest, lerntest du mich kennen. Darum hast du gespürt, dass ich es war, der bei dir eintrat. Das willige Herz
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
20
kennt seinen Herrn, und das gehorsame Herz nimmt seine Gegenwart wahr.» «Das hast du sehr schçn gesagt», sagte Arnie. «In unserem Buch nennen wir das die erleuchteten Augen des Herzens.» «Epheserbrief!», sagte Arnie, der wieder nachdenklich auf den Käse vor sich starrte. «Als ich deinen Namen aussprach, gab es für dich keinen Zweifel mehr», fügte Jesus hinzu und sah Arnie an, dessen Gesicht jetzt eine Mischung von ungläubigem Staunen und freudiger Erregung verriet. «Ich muss schon sagen», meinte dieser, nachdem er das Stück Käse, das er in den letzten zwei Minuten fast ununterbrochen angestarrt hatte, auf seinen Teller schob, «ich meine, das ist der schçnste Tag meines Lebens!» «Der zweitschçnste, alter Freund.» Arnie überhçrte es. Er war bereits bei seinem nächsten Gedanken. «Jesus, etwas verstehe ich nicht.» Er rieb sich das Kinn. «Nun, eigentlich verstehe ich eine ganze Menge nicht», unterbrach er sich, «aber das ist es nicht, was ich meine. Was ich meine ist, dass ich nicht verstehe, dass du sozusagen inkognito hier einfach so erscheinst. Sagt nicht das Buch, wie du es nennst, dass du am Ende der Zeit in Macht und Herrlichkeit kommen wirst?» Er blickte Jesus an. «Ich dachte immer, du würdest erscheinen wie ein Blitz am Himmel, und dann macht es ‹Puff!›, und mit unserem ganzen Krimskrams hier ist es zu Ende.» «So wird es auch sein, jedenfalls ungefähr. Ich werde in Macht und Herrlichkeit kommen.» «Es ist seltsam», bemerkte Arnie, «jetzt, wo du da bist, hat die Freude all die Angst vor dem, was kommt, vertrieben. Wir müssen uns vor dem Zukünftigen doch fürchten, oder nicht? Jedenfalls steht das in den Büchern, die ich früher gelesen habe. Wenn wir uns fürchten, freuen wir uns auf dein Kommen; je dunkler es ist, desto heller scheint dein Licht – und desto mehr begehren wir es.»
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
21
Er fuhr nachdenklich fort: «Es hçrte sich so wahr an, es war die mahnende Stimme der Rechtgläubigkeit, die das Schlimme begehrt, weil es dadurch dein Kommen begehrt.» Er rieb sich zum wiederholten Mal am Kinn. «Jetzt habe ich meine Zweifel daran. Jetzt, wo du da bist, ist die – wie soll ich sagen? –, die Aschewolke der Endzeit nicht mehr da. Ich mag das!» Er grinste. «Du bist ein eifriger Schüler», stellte Jesus anerkennend fest. «Weißt du, welches meine Lieblingskapitel in eurem Buch sind?», fragte Arnie. Er unterbrach sich mit einer energischen Handbewegung. «Was rede ich bloß für Zeugs? Natürlich weißt du es! Es ist die Bergpredigt. Matthäus mag ich ganz besonders. Er ist sozusagen mein Lieblingsjünger. Der war kein Säufer wie ich, nehme ich mal an, aber ein Betrüger.» Arnie fuhr mit der Begeisterung eines Zwçlfjährigen fort: «Matthäus beschreibt, wie du mit den Jüngern auf einen Berg gehst. Du setzt dich, um zu lehren wie ein Rabbi, nehme ich mal an, und deine Jünger treten herzu. Ich hätt’ dabei sein wollen! Auf den Zehenspitzen stehen und deinen Worten lauschen, ja keines verpassen!» Er schenkte sich Tee ein. «Petrus mag ich auch! Er redete ein wenig zu viel, so wie ich. Was bin ich froh, dass ich nicht damals gelebt habe und einer deiner Jünger geworden bin! Es hätte sein kçnnen … vielleicht wäre ich ein Judas geworden … ich kenne die Abgründe meines Herzens … ich …» Jesus legte seine Hand auf den Arm des alten Mannes. Arnie beruhigte sich und schwieg eine Weile. «Da ist noch etwas», fand Arnie seine Sprache wieder. «Als ich erblindete, fragte ich mich, warum das geschieht. War es Strafe für meine Sünden? Oder hattest du etwas vor mit mir? Man sagte mir, es diente mir zum Besten, aber ich fand nie heraus, was es war. Andere sagten, es sei Teufelswerk. Nochmals andere sagten, es müsste geschehen, damit Gott etwas Bestimmtes tun kçnnte, ob an mir
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
22
oder durch mich oder beides, das weiß ich nicht mehr.» Er zog die Augenbrauen hoch und sah Jesus fragend an. «Du musst es nicht wissen, mein Freund. Es bleibt verborgen bis zu dem Tag, an dem es Gott dir offenbaren will.» «Hm.» «Es gibt Dinge, die verborgen bleiben, dann hält dich nur noch das nackte Vertrauen auf Gott. Im vertrauensvollen ‹Trotzdem› liegt etwas Kostbares, das dir niemand nehmen kann. Wenn du es hast, mçchtest du es nicht mehr weggeben, denn es macht dich zu dem, was du bist.» Arnie nickte. «Ich schätze mal, dass du mich ebenso festgehalten hast, wie ich an dir gehangen habe. Du hast mich trotz meines versauten Lebens nicht fallen lassen. Womit habe ich das verdient? Es war meine Schuld! Ich kann es immer noch nicht fassen!» Er schlug die Hände vor sein Gesicht. «Die Gnade ist wie das Wasser», hçrte er Jesus sagen, «sie sickert durch die Bruchstücke deines Lebens und sammelt sich am tiefsten Punkt. Wer sich am tiefsten Punkt zum Eingeständnis durchringt, dass sein Leben zerbrochen ist, den findet die Gnade.» «Das wäre ein guter Spruch für meinen Grabstein», meinte Arnie, «etwas lang zwar, aber gut, und vielleicht etwas zu teuer. Ich schätze, dass ich pro Buchstabe zahlen muss.» «Ich werde in Macht und Herrlichkeit kommen», brachte Jesus das Gespräch auf Arnies ursprüngliche Frage zurück. «Du wirst es mit deinen eigenen Augen sehen. Es wird sein wie ein Blitz, der von Osten nach Westen leuchtet.» Ein Stück von Arnies Käse brach ab und fiel unter den Tisch, wo Prinzessin aus ihrem Schlaf erwachte und sich die Sonderration nicht entgehen ließ. Arnie bemerkte es nicht. «Aber vorher mache ich noch einige Besuche. Ich mçchte sehen, ob ich Glauben auf Erden finde, bevor ich mein Werk vollende. In deinem Haus habe ich Glauben gefunden. Ich bin in mein Eigentum gekommen, und du hast mich aufgenommen.»
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
23
«Hm.» Arnie kam sich vor wie in einem Traum. Die knçchelhohe Schneedecke, die sich über die Stadt gelegt hatte, passte dazu. Er wusste nicht, was er sagte sollte, stand auf und legte ein Holzscheit nach. Er setzte sich wieder an den Tisch. Es war einer jener seltenen Momente im Leben, in denen es nicht nçtig war zu sprechen. Hätte man gesprochen, wäre der ganze Zauber verflogen. Arnie machte die Erfahrung, Teil eines Geheimnisses zu werden, eines kostbaren Ereignisses, bei dem die gesamte Menschheitsgeschichte stillzustehen scheint. Es war Arnie, als sängen die Engel, obwohl nur das Geräusch brennenden Holzes zu hçren war. Die kleine Küche im roten Backsteinhaus war erfüllt vom Frieden Gottes und vom Duft aromatischen Tees. Arnie deutete auf die Kanne und runzelte fragend die Stirn. Jesus hob die Hand zu einem «Nein, danke». Das Abendbrot schien beendet. Arnie hätte gerne noch drei oder vier weitere Tassen getrunken, um den einzigartigen Augenblick ein wenig zu verlängern. Er schob den Stuhl zurück und legte ein weiteres Scheit in das Feuer, warf einen Blick aus dem Küchenfenster, kehrte dann an den Tisch zurück und schob die Brotkrümel auf dem Tisch zusammen. Er hob den Deckel der Kanne, als müsste er sich vergewissern, dass noch genug Tee da war. Schließlich meinte er erneut, dass dies der schçnste Tag seines Lebens sei. «Der zweitschçnste, alter Freund.» Dieses Mal ging Arnie darauf ein. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas Schçneres gibt, als meinen Herrn zu Gast in meinem Haus zu haben, ihn mit meinen eigenen Augen zu sehen und mit ihm Abendbrot zu essen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wenn es im Himmel so ist, mçchte ich lieber heute als morgen dorthin.» «Dies hier ist erst der Beginn, Arnie. Ich werde bald wieder kommen, damit du immer dort sein kannst, wo ich bin, und mit dir zusammen alle, die mein Kommen erwarten.»
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
24
«Wie bald wird das sein?», fragte Arnie und fügte sogleich hinzu, dass er wisse, dass man das nicht wissen kçnne, vielleicht nicht wissen dürfe, er habe davon in dem Buch gelesen. Aber da er nun schon mal unerwarteten Besuch erhalten habe, wage er es zu fragen, er sei halt ein neugieriger Mensch. Jesus lachte herzhaft. «Du brauchst dich deiner Neugierde nicht zu schämen, denn es ist eine kindliche Neugierde nach Gott. Eine eurer Übersetzungen unseres Buches sagt, dass du Lust am Herrn haben sollst, damit er dir gibt, was dein Herz wünscht.» «Psalmen!», sagte Arnie, so als würde er zufrieden feststellen, dass seine Treffsicherheit im Blechdosenschießen immer noch gut war. «Ich hätte es nicht so ausdrücken kçnnen, Jesus. Wie sollte ich es auch so gut kçnnen wie du? Aber es ist genau das, was ich empfinde.» «Du sollst bekommen, was dein Herz wünscht», sagte Jesus. «Halte Ausschau nach mir am Morgen des siebten Tages. Wenn das Licht im Osten aufgeht, bricht der schçnste Tag deines Lebens an.» Der Heiligkeit des Augenblicks bewusst, die ein solches Versprechen erzeugte, wusste der Alte nichts zu antworten. Nicht nur, dass er nicht in freudigen Jubel ausbrach oder ein «Unglaublich, womit habe ich das verdient?», hervorstieß, er zeigte in diesem Moment nicht einmal seine kindliche Freude. Er saß einfach da, sich bewusst, dass diese Ankündigung wie eine Einweihung in ein Geheimnis war, dessen Kostbarkeit man nicht durch Fragerei ergründen darf. «Jetzt, wo ich wieder sehe», brachte er das Gespräch auf ein anderes Thema, «kann ich wieder in deinem Buch lesen und Tagebuch schreiben.» Er schritt zum Brett, das über dem Kühlschrank an der Wand angebracht war, und holte eine alte Bibel und ein in Leder gebundenes Notizbuch herunter. Der Staub flog in kleinen Flocken davon, als er liebevoll über die beiden Bücher strich.
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
25
«Verzeih, mein Herr, dass dein Buch verstaubt ist. Ich konnte lange nicht darin lesen. Jetzt aber …» Behutsam çffnete er die zerlesene Bibel mit seinen rauhen Fingern. «Jetzt kann ich es wieder tun.» Arnie legte die Bibel feierlich auf den Tisch. Er beugte sich über das Buch und verfiel in schweigende Andacht. Bald sog er die Worte eines Psalms in sich auf, den er wie zufällig aufgeschlagen hatte. «Ich war in verzweifelter Lage wie jemand, der bis zum Hals in einer Grube voll Schlamm steckt. Aber er hat mich herausgezogen und auf festen Boden gestellt. Meine Füße haben sicheren Halt. Er gab mir ein neues Lied, einen Lobgesang für unseren Gott. Das werden viele Leute hçren und dem Herrn vertrauen.» Der Blick des Alten blieb auf die Buchstaben gerichtet, ein verschmitztes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. «Na ja, wenn Paolo Conte seine Lieder knurren kann, kann der alte Arnie es ja auch versuchen!» Er lachte vergnügt in sich hinein über seinen eigenen Schalk. Er sog den Duft des Papiers ein, als er auf einen Vers im Propheten Micha stieß: «Freue dich nicht über mich, mein Feind! Wenn ich auch am Boden liege, so werde ich doch wieder aufstehen, und wenn ich auch im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht!» «Volltreffer!», schnalzte Arnie mit der Zunge. Die ganze Zeit war er mit dem Zeigefinger den Linien nachgefahren und hatte den Text meditierend vor sich hin gemurmelt. Er kam erst wieder zu sich, als Prinzessin ihm auf den Schoß sprang und nach einem weiteren Stück Käse verlangte. Arnie blickte auf. Der Platz ihm gegenüber war leer. Er stellte die Katze auf den Boden und ging zur Haustüre. Sie war verschlossen. Arnie lächelte wissend, schloss sie auf und trat vor das Haus. Die Wolken hatten sich verzogen. Sterne standen am Himmel. Das Licht des zunehmenden Mondes erhellte den Vorgarten. Über
EL al S A teri B G a LA es M R E ützt V EN esch N UN ght-g R B ri y p Co
26