Czyz: Stärker als der Tod

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Lidia Czyz˙ Stärker als der Tod

L SE rial A B te AG s Ma L ER tzte V EN eschü N t-g UN BR yrigh p Co

www.brunnen-verlag.ch


Alles, was in dieser Geschichte außergewçhnlich erscheint, ist tatsächlich passiert.

L SE rial A B ate AG M Meinen ElternR – Lfür ihre s Liebe. te E z t V hü ˙ cCzyz ENLidia s N e t-g UN BR yrigh p Co ˙



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Die Bibelstellen wurden folgenden Übersetzungen entnommen: Lutherbibel 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Hoffnung für alle 1983, 1996, 2002 Biblica, Inc. ; hrsg. vom Brunnen Verlag Basel

L SE rial A B te AG s Ma L Titel der polnischen ER Originalausgabe: zte tmierc V ü N h «Mocniejsza niz s ´ ´» ˙ c sLidia NE 2013 e N g Czyz ˙ t U BR yrigh p Co Übersetzung: Ina Bonk, Gçrlitz Bearbeitung: Ute Mayer, Weil der Stadt Copyright der deutschen Ausgabe: 2014 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgçns Umschlagfoto: Yunaco, BMJ, Shutterstock Satz: Innoset AG, Justin Messmer, Basel Druck: Os´rodek Wydawniczy «Augustana» Gedruckt in Polen ISBN 978-3-7655-2027-3


«Hoffnungsvoll und lesenswert!» «In diesem berührenden Tatsachenroman nimmt die Autorin die Leser mit auf eine Achterbahn des Lebens. Aus den tiefen Erfahrungen von Leid, Ablehnung und Ungerechtigkeit in der Kindheit geht es auf die Hçhen von Liebe und Treue als junger Erwachsener – nur um wieder in einen Abgrund von Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit und Schmerz einzutauchen. Am Ende aber siegt die Liebe! Es sind die verwunderlichen Wege der Liebe Gottes, die gerade durch die Hçhen und Tiefen des Lebens zu einer Begegnung mit Gott selbst führen. Dies ist nicht eine Geschichte, die das Leben schreibt, sondern eine Geschichte, wie nur Gott sie in das Leben von Menschen schreiben kann. Außergewçhnlich ermutigend, hoffnungsL SE rial A voll und absolut lesenswert!» B ate AG M Doris «Neues Leben» L s Schulte, R

VE hützte N c E NN t-ges U BR yrighDie Autorin p Co

Lidia Czyz˙ (ausgesprochen: «Tschisch») wurde 1963 als Pfarrerstochter im schlesischen Cieszyn geboren. Sie wurde Lehrerin mit Schwerpunkt Kunsterziehung. Mitarbeit bei der Frauenseelsorge (Mitorganisatorin von Frauenfrühstückstreffen, Konferenzen für Frauen), Mitorganisatorin der Evangelisationswoche in Dzie˛gielów, der grçßten Zeltevangelisation in Osteuropa. Seit zwanzig Jahren Autorin vieler Artikel für christliche Zeitschriften und Bücher. Lidia ist verheiratet; ihr Mann ist Pfarrer einer lutherischen Gemeinde in Wisła Malinka (www.malinka.org.pl). Die beiden haben zwei Kinder. 5


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Vorwort d D von Dr. Roland Werner Liebe, die stärker ist als der Tod – darum geht es in diesem spannenden und ganz persçnlichen Buch von Lidia Czyz˙. Die wahre Geschichte ereignet sich in Polen. Ein junger Mann und eine Frau schwçren sich ewige Treue. Als gute Katholiken wollen sie bis zur Ehe warten. Doch dann nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Ein Disco-Besuch, ein Kontakt, der zu einer HIV-Infektion führt, ein gemeinsamer Weg bis hin zum Tod … Und dann – ein neues Leben mit neuer Hoffnung und neuem Glauben.

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AS teriaund doch zuLidia Czyz˙ erzählt ganz nah an der Wirklichkeit B a AG über rückhaltend. Ihr Buch wurde R inLPolen s M Nacht ein Bestsele t E V hnach ütz dem Erscheinen musste ler. Schon in der erstenNWoche c E s N -gewerden. Ich war in diesen Tagen eine NeuauflageUN gedruckt t R ighin Dzie˛gielów in Südpolen und erlebte B r gerade zu Besuch dort y p Co es hautnah mit. Was ist das Geheimnis von «Stärker als der Tod»? Sicher dies: Die Themen, um die es hier geht, bewegen uns alle. Die Sehnsucht nach Liebe und Treue, das Versagen und Vergeben, Glaube und Hoffnung, Tod und Ewigkeit. Und auch dies: Wir erleben beim Lesen eine wahre Geschichte aus unseren Tagen. Gerade erst geschehen, und doch schon zeitlos. Wenige Bücher werden aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. Dass es dieses Buch geschafft hat, darüber freue 7


ich mich außerordentlich. Denn die Botschaft ist hier bei uns genauso aktuell wie bei unseren Nachbarn. Stärker als der Tod … Was kann das sein? Wir kennen die Antwort: Es ist die Liebe. Die Liebe von Menschen füreinander und nicht zuletzt die Liebe Gottes, die uns trägt, im Leben und im Tod. Dr. Roland Werner Generalsekretär im CVJM-Gesamtverband in Deutschland

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D Prolog d Ich hatte keine Kraft mehr zu leben. Keine Kraft, erneut zu kämpfen. Dieser Brief war ein Akt verzweifelter Hilflosigkeit. Ich glaubte, dass nur noch er in der Lage sei, mir zu helfen. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Ehrlich gesagt schämte ich mich, jemandem überhaupt davon zu erzählen. Dieser Pfarrer kannte mich nicht, deshalb fiel es mir leichter. Ich heiße Radek und bin 22 Jahre alt … Ich schreibe Ihnen, weil ich glaube, dass Sie mir helfen kçnnen. Aber vielleicht der Reihe nach. Alles fing damit an, dass ich – gelinde gesagt L– keine besonders SE rial und das glückliche Kindheit hatte. Meine Mutter B istAAlkoholikerin, te ahat, AG M einzige Gefühl, das sie mir gegenüber geäußert war physischer L R ztes E t V und psychischer Schmerz,Nwenn siehmich ständig für nichts und doch E esc ü N alles schlug … UN t-g

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D Kapitel 1 d Sicher hat jede Familie ihre gut gehüteten Geheimnisse. Peinliche, vor der Welt verborgene Geheimnisse, damit – Gott bewahre! – niemand je davon erfahre. Unsere Familie hatte sie auch. Niemals wollte ich irgendjemandem davon erzählen, denn ich war überzeugt, dass ich an allem schuld war. Die Probleme begannen mit dem Tag meiner Geburt. Wenn es mich nicht gegeben hätte, hätte meine Mutter vielleicht nicht so viel Stress gehabt und … Ich schämte mich für das, was bei uns zu Hause vor sich ging. Und ich hasste mich selbst. Vor einigen Jahren brachte EL al S ich zum ersten Mal den Mut auf, darüber – mit ri BA azu tesprechen G A sLeben M verändert. Aber Julia. Unser Kennenlernen hatte RL mein te E z t V sie ist … gegangen. Und seit diesem Moment hat für mich EN eschü N N alles seinen SinnUverloren. t-g

BR yrigh p Co wir wichtige Kindheitsereignisse im GeAngeblich behalten

dächtnis, doch ich habe wahrscheinlich viele von ihnen verdrängt. Ich weiß nicht mehr genau, wann alles angefangen hat. Es war wohl ein schleichender Prozess … Wenn ich heute versuche, meine frühesten Erinnerungen an bestimmte Vorfälle zu analysieren, bin ich mir sicher, dass diese nicht die ersten waren. In meinem Gedächtnis sind einige Ereignisse abgespeichert, die fließende Übergänge haben. Doch dieser Tag muss besonders traumatisch gewesen sein, denn jedes einzelne Wort hat sich mir tief eingeprägt: 11


«Mama, nicht schlagen! Bitte nicht schlagen!», flehte ich, während ich schnell zwischen die Stuhlbeine kroch. Ich wusste, dass ich Strafe verdient hatte, weil ich eine Porzellantasse zerbrochen hatte. Es war eine weiße Tasse mit blauen Blumen, ein Familienandenken. Ich konnte es kaum ertragen, wenn Mama mich so heftig schlug. «Mama, bitte …», wimmerte ich immer leiser, unter dem Stuhl zusammengekauert. Sie versetzte mir noch einen Schlag auf die Wade, die zwischen den Stuhlbeinen hervorschaute. Ich zog mein Bein dichter an mich, so konnte sie nur noch meine Füße treten. «Komm sofort unter dem Stuhl hervor und bring das in Ordnung!», befahl sie wütend und zeigte auf die Scherben, die über den Fußboden verteilt lagen. Ich zitterte Angst. EL avor l Sräum A i «Hast du nicht gehçrt? Komm her und auf, sonst beB ater G M kommst du noch eine Tracht Prügel!» LA ER tztes V Langsam kroch ich unter chüStuhl hervor und hielt mich EN edem s N N von gihr entfernt. Ich nahm den Handso weit wie mçglich RU rightB besen aus dem Schrank, aber beobachtete Mama aus dem Auopy C genwinkel, ob sie nicht wieder zum Schlag ausholte. Zum Glück ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich schwer atmend auf die Couch. Ungeschickt fegte ich die Scherben zusammen und warf sie in den Abfalleimer unter der Spüle. «Alles, hast du verstanden? Alles! Ich will keine einzige Scherbe mehr finden!», lallte Mama, unfähig, die Worte richtig auszusprechen. Gebückt wischte ich mit meiner Hand über das Linoleum. Einige kleine Splitter spießten sich schmerzhaft in meine Finger. Ich versuchte, sie herauszuziehen. Den Handbesen stellte ich in den Schrank zurück und wusch mir die Hände, um die 12


restlichen Splitter abzuspülen. Einer saß jedoch so tief, dass ich die Stelle aufkratzen musste. Sie begann zu bluten. Aus der Schublade unter dem Fenster nahm ich ein Pflaster und steckte es in meine Hosentasche. Ich klebe es in meinem Zimmer drauf, damit Mama es nicht sieht. «Bist du fertig?» «Ja», antwortete ich fast lautlos mit gesenktem Kopf. «Ob du fertig bist, habe ich gefragt …?» Ihre Stimme klang immer aufgebrachter. «Ja», wiederholte ich, dieses Mal lauter. Ich hatte Angst, dass sie gleich kommen und überprüfen würde, wie ich saubergemacht hatte, und dass sie mit Sicherheit irgendeine winzige Scherbe finden würde. Beim Putzen war Mama absolut perfekt. Und dann würde EL al ich erneut S A Schläge bekommen … Ich stand an der Wand B aterizwischen der G M Küche und dem Wohnzimmer. LA ER tztes V ü weißt doch wohl, was du «Wie bist du denn erzogen?! EN eschDu N N sie mich g an. zu sagen hast!»,Ufuhr R rightB «Entschuldige p… bitte entschuldige, Mama! Das passiert o y C nie wieder!» «Das versprichst du jedes Mal, aber dann lässt du die nächste Tasse fallen, du Tçlpel!» In ihrer Stimme wuchs der ¾rger. Sie trank mit einem Zug ihr Schnapsglas aus. «Ich wollte das wirklich nicht!», erklärte ich in flehendem Ton. Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten. Ich ballte die Fäuste so fest zusammen, dass sich meine Fingernägel in die Hände gruben. Natürlich hatte ich das nicht mit Absicht gemacht, die Tasse war mir einfach aus der Hand gerutscht. «Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht …», äffte sie 13


mich nach. «Ich weiß nicht, warum ich dich überhaupt geboren habe, du Trottel!» Sie versuchte, ihr kristallenes Schnapsglas wieder neu zu füllen. Das war nicht so einfach, denn ihre Hände zitterten. «Das ist deine Schuld! Immer musst du mich so ärgern!», nuschelte sie. Sie vergoss etwas Schnaps auf der Glasplatte des Couchtisches, wischte es mit dem Finger weg und leckte ihn ab. Nachdem sie einen kräftigen Schluck getrunken hatte, nahm sie eine bunte Wochenzeitschrift vom Tisch und legte sich auf die Couch. Wahrscheinlich konnte sie aber nicht viel erkennen, denn sie warf die Zeitschrift gleich darauf fluchend auf den Boden. Leise schlich ich in mein Zimmer, wobei ich durch EL Mama l a ASsichtevon i den Türspalt im Blick behielt. Würde B sie der Couch r G Mmehr, a erheben? Zum Glück hatte sieRkeine mich weiter LA Kraft tes E z t V zu kontrollieren. So setzte hü auf mein Bett hinter dem cmich EN ich s N e Nmein einziger g Schrank – das war Zufluchtsort. ZusammengeRU rightB kauert begann ich, leise zu weinen. opy C Nach einer Weile hçrte ich, dass sie mich rief. «Ra-dek! Komm her!» Ihre Stimme war bereits ziemlich leise. Das ließ mich hoffen, dass sie bald einschlafen und ihren Ruf nicht wiederholen würde. Ich wartete. «Ra…» Weiter kam sie nicht mehr. Draußen war es dunkel geworden. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Mich quälte der Hunger, denn wegen der zerbrochenen Tasse hatte sich Mama so geärgert, dass sie das Mittagessen nicht zu Ende gekocht hatte. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. 14


Von nebenan hçrte ich ihr regelmäßiges, schweres Atmen. Lautlos schlich ich in die Küche. Beim Blick ins Wohnzimmer sah ich, wie Mamas Arm locker von der Couch hing; das hieß, sie schlief. So leise ich konnte, schnitt ich mir eine Scheibe Brot ab. Ich schaute in den Kühlschrank und fand ein Stück Käse. Damit Mama mir nicht wieder vorhalten konnte, wie viel Geld sie wegen mir ausgeben müsse, schnitt ich mir nur eine hauchdünne Scheibe ab. Das würde sie nicht bemerken. Ich nahm mir einen Teller aus dem Schrank und setzte mich vorsichtig an den Tisch. Dennoch war beim Abstellen des Tellers ein kurzes Geräusch zu hçren. Ich erstarrte. Mama bewegte sich und murmelte undeutlich etwas. Mit angehaltenem Atem wartete ich einen Moment. Doch sie schlief weiter. Ich hätte den Teller am liebsten L mit in mein SE Mama A Zimmer genommen, aber ich wusste, dass rial – falls sie B e t AG s Ma dass ich wieder aufwachen sollte – mich anschreien RL ztewürde, E auf den Teppich krümelte. N V schüt E N -gwo «Weißt du denn t e anständige Leute essen? Das ist UNnicht, h R g i B doch kein Schweinestall!», bekam ich zu hçren, als ich das pyr o C Essen einmal in mein Zimmer mitgenommen hatte. Unsere Wohnung war tatsächlich geradezu steril sauber. Ich goss mir vorsichtig Wasser in meinen Becher. Tee zu kochen, war zu riskant – sie kçnnte es hçren, auch wenn es eher danach aussah, dass sie ziemlich angetrunken war und lange schlafen würde. Leise stellte ich das Geschirr in die Spüle, reinigte es unter einem dünnen Wasserstrahl, trocknete es ab und schlich ins Bad. Ich putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Danach ging ich zurück in mein Zimmer, legte mich ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Obwohl ich es nicht wollte, kamen mir wieder die Tränen. 15


Heute war Freitag. Mama betrank sich meistens – und fast ausschließlich – gerade freitags. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause kaufte sie eine Flasche Alkohol, später beim Putzen goss sie sich immer wieder ein Gläschen ein. An den Wochenenden, an denen Papa nicht da war, trank sie aus einem Glas. Wahrscheinlich merkte sie gar nicht, wie sie bis zum Abend nach und nach die ganze Flasche leerte. Manchmal çffnete sie eine zweite Flasche oder machte sich noch einen Drink. Dann wankte sie durch die Wohnung, stieß sich an den Wänden und konnte ihre angefangene Arbeit nicht zu Ende bringen. Sie war nicht mehr in der Lage, die Suppe fertig zu kochen. Oder sie hçrte während des Staubsaugens plçtzlich auf. Unter der Woche, wenn Papa nachmittags zu Hause EL al war, trank Sdamit A sie nur wenig und immer aus ihrer Tasse, B ateri es nicht aufG A M von Villeroy & fiel. Sie hatte eine cremefarbene LLieblingstasse ER tztes V ü sie schätzte exklusives Boch, was sie immer betonte, EN eschdenn N N füllte g sie in ihren Tee oder Kaffee. Porzellan. Den Alkohol RU rightB Heute war Freitag, also betrank sie sich «traditionell». Moropy C gen würde sie ausschlafen, ihre Kopfschmerzen auskurieren und am Sonntag von morgens an saubermachen und kochen. Wenn Papa am Nachmittag nach Hause kam, würde alles normal wirken. Mama wusste sich hervorragend zu verstellen. So perfekt, dass Papa nicht die geringste Ahnung hatte, wie unser Wochenende ausgesehen hatte, während er beim Studium gewesen war. Bevor er kam, trug Mama stets starkes Parfum auf, lutschte Unmengen von Pfefferminzbonbons und kochte ein gutes Mittagessen. Meistens servierte sie ihm schon zum Essen irgendein alkoholisches Getränk. 16


Papa kam jedes Mal so müde nach Hause, dass er nichts Ungewçhnliches bemerkte. Wahrscheinlich kam ihm ihr Verhalten manchmal merkwürdig vor, doch sie hatte immer eine Erklärung, etwa dass sie ein Gläschen getrunken hatte, weil ihr kalt gewesen war. Mama war eine Meisterin im Lügen und Täuschen. Papa glaubte ihr. Genau wie alle ihre Arbeitskollegen und Bekannten auch. Keiner schçpfte Verdacht, dass sie ein Problem haben kçnnte. Ein enormes Problem. Nur ich kannte ihr grçßtes Geheimnis. Und ich war mir vollkommen im Klaren darüber, dass ich niemandem jemals davon erzählen durfte. Dies wusste ich seit einem bestimmten Freitag. Damals war ich fünf oder sechs Jahre alt. Mama hatte mich vom Kindergarten abgeholt und zum Einkaufen mitgenommen. Als EL al Sstanden, A i wir im Geschäft vor dem Alkoholregal bat ich sie B ater G M leise: LA ER tztes V «Mama, bitte kauf keinen chü EN esWodka!» N N sie mich g hinter eines der Regale, blickte Blitzschnell zog RU rightB sich um, ob sie auch niemand beobachtete, bohrte mir ihre opy C langen Fingernägel schmerzhaft in den Arm und zischte bedrohlich: «Bist du verrückt geworden?! Ich trinke keinen Wodka! Wenn du so etwas noch einmal sagst, bringe ich dich um!» Mit großen Augen starrte ich sie an. Ich war so erschrocken, dass ich kein Wort mehr herausbrachte. Mir wird auch für immer in Erinnerung bleiben, was sich anschließend zu Hause abspielte: «Du Rotzbengel! Wie kannst du es wagen, zu sagen ‹Kauf keinen Wodka.› Wodka?! Ich trinke anständig und elegant. E-le-gant, hçrst du? Das ist Likçr. Li-kçr, verstehst du? Oder 17


Wein. Guter Alkohol, und nicht irgendein Gesçff!», brüllte sie, während sie mich mit aller Kraft schüttelte. Wie bei einer Stoffpuppe schlenkerte mein Kopf heftig in jede Richtung. Das erste Mal in meinem Leben sah ich Mama so wütend. Und zum ersten Mal hatte ich entsetzliche Angst vor ihr. «Übrigens trinke ich sowieso fast nie! Die paar Gläschen kann man ja wohl nicht ‹Trinken› nennen!», schrie sie. Ihr Zorn ebbte nicht ab. «Ein paar Schlückchen zum Entspannen. Denkst du, ich habe kein Recht auf ein bisschen Erholung nach einer ganzen Woche Schufterei für dich, du Schmarotzer? Alkoholiker trinken, solche am Kiosk, die hinterher im Graben liegen und alles doppelt sehen. Da erkennst du hoffentlich einen Unterschied!» Ich duckte mich, als sie mich heftig auf denLHinterkopf und E al ASSchläge den Rücken schlug. Schon oft hatte B ich teri einstecken G a müssen, aber noch nie so schlimme. LA Es tatMschrecklich weh. ER tztes V «Schließlich gehe ich hü so schuften! Hçrst du? cdich EN für s N e N versuchst, g Wenn du noch einmal irgendjemandem so etwas RU rightB zu sagen …, daspy wirst du nie wieder vergessen! Hast du o C verstanden?» Und wie gut ich das verstanden hatte. Ich war mir sicher, dass sie es ernst meinte. Sie machte niemals Späße. Niemals. Als ich noch in den Kindergarten ging, und auch später in den ersten Grundschulklassen, dachte ich, dass es in jeder Familie so zuging. Wenn du etwas falsch machst, bekommst du Prügel. Ordentlich Prügel. Mit der Hand, dem Geschirrtuch, dem Kochlçffel oder mit dem Gürtel mit der Metallschnalle. Und es war auch klar, dass niemand darüber sprach. Womit hätte man sich auch rühmen sollen? Wenn allerdings meine Schulkameraden erzählten, wie viel 18


Spaß sie mit ihren Eltern in den Ferien gehabt hatten – im Ausland, am Meer, beim Schwimmen –, wurde mir bewusst, dass in meiner Familie etwas anders war. Damals konnte ich das nicht benennen, doch heute weiß ich, dass das Wichtigste gefehlt hat: Wärme und Liebe. Meine Eltern verbrachten nie einen Urlaub mit mir. Sie schickten mich nur zur Oma aufs Land, damit ich dort meine Ferien verbrachte. Manchmal fragte ich Papa, ob wir nicht zusammen irgendwo hinfahren kçnnten. Aber er antwortete immer, dass er für sein Studium lernen müsse. Und Mama erklärte meist, dass sie keine Zeit für solchen Unsinn habe. Ich erinnere mich schwach an einen oder zwei Ausflüge, als ich noch klein war. Wir waren in den Bergen, Papa hielt mich an der Hand, ich hatte einen orangefarbenen EL al Rucksack, SDas A und wir sind mit der Seilbahn gefahren. ri eine meiner B ateist G schçnsten Erinnerungen. Leider LAänderteMsich alles, als Papa ER tztes V befçrdert wurde. Dies bedeutete, EN eschüdass er ein Fernstudium beN N einmalg war er an den Wochenenden nicht ginnen musste. U Auf R rightB mehr da. Damalspbegann Mama, bei jedem Einkauf eine Flao y C sche Alkohol mitzunehmen. Zunächst nur eine. Sie stand dann zu Hause in der kleinen Bar, am Abend machten sich meine Eltern ab und zu einen Drink. Im Lauf der Zeit kaufte sie immer mehr Flaschen, oft ohne Papas Wissen, und versteckte sie irgendwo. Manchmal fand ich eine halbvolle oder leere Flasche unter der Spüle, bei den Einweckgläsern, zwischen Handtüchern im Wäscheschrank oder in der Schublade mit der Bettwäsche. Diese Plätze waren vor Papa sicher. Zugegeben, Mama sah tatsächlich nicht wie eine Alkoholikerin aus. Sie war eine ungewçhnlich elegante Frau. Alle waren 19


von ihrem vollen kastanienbraunen Haar begeistert, das sie regelmäßig schneiden und färben ließ. Ihre Fingernägel waren stets gepflegt und rosa oder bordeaux lackiert. Bevor sie zur Arbeit ging, schminkte sie sich sorgfältig und war wirklich hübsch. Nur ihre Augen waren nach den Wochenenden, wenn sie getrunken hatte, etwas geschwollen. Sie legte sich dann Eiswürfel oder mit kaltem Tee getränkte Wattetupfer auf die Lider, behandelte sie anschließend mit verschiedenen Cremes und Puder. «Krystyna, Sie sehen immer so gut aus! Wie ein Model!», hçrte ich einmal unsere Nachbarin aus der ersten Etage mit süßer Stimme zwitschern. Kçnnen Models trinken?, überlegte ich damals. Und solche dunklen Schatten unter den Augen haben? L SEin ihrer A Leider haben Mama solche Komplimente rial ÜberzeuB e t AG MaAber das war es gung bestärkt, dass alles in Ordnung RL zteswar. E V wieder nicht. Wenn Papa hin N und hüt ein freies Wochenende c E s N fahren hatte und nicht zur t-ge musste, flehte ich ihn an: UNUni h R g i B in «Lass uns heute pyrden Park oder ein Eis essen gehen. Bitte!» o C ich noch nicht, dass Mama an solchen WoDamals wusste chenenden besonders schlecht gelaunt war, weil sie um ihre gewohnte Alkoholration gebracht wurde. Sie schickte Papa meistens irgendwo mit mir hin. Erst Jahre später verstand ich, warum sie das tat: um in Ruhe trinken zu kçnnen. Ihr Kçrper verlangte danach. Papa riss sich nur ungern von seinen Büchern los, doch um Mamas Nçrgeleien zu vermeiden, ging er mit mir regelmäßig in die nächste Konditorei. Wir bestellten dann Windbeutel oder Apfelstrudel mit Vanilleeis und Himbeersirup. Bis heute liebe ich den Geschmack von Apfelkuchen und Vanilleeis – er 20


bringt mir die allerschçnsten Zeiten und Unternehmungen meiner Kindheit in Erinnerung. Später musste sich Papa immer wieder auf irgendeine Prüfung vorbereiten oder er schrieb an seiner Magisterarbeit. Deshalb fehlte ihm dann selbst für diese kleinen Ausflüge die Zeit. Wenn wir zusammen in der Konditorei saßen, war ich einige Male nahe dran, ihm die Wahrheit zu erzählen. Ich legte mir die Worte zurecht, doch immer hielten mich die Zweifel zurück, ob er mir glauben würde. Sicher würde er Mama sofort darauf ansprechen. Die würde alles abstreiten und behaupten, dass ich eine krankhafte Neigung zum Märchenerzählen hätte. Und wenn Papa wieder fahren würde … wäre mir die Strafe sicher! Deshalb offenbarte ich mich ihm EL a AS terwenn i l sie mich nie und verlor selbst dann kein Wort B darüber, AG sdass Maich kaum sitzen wieder so heftig geschlagenRL hatte, e t E z V Mathe konnte – wegen der Drei N in hüt oder wegen meiner zerrisc E s NNan einem senen Hose, alsU ich t-ge hervorstehenden Draht hängen h R g i B Keines geblieben war. pyr dieser Dinge hatte ich vorsätzlich geo tan. Es gab C wirklich Momente, in denen ich dachte, ich kçnnte es nicht länger aushalten … Ich malte mir aus, wie ich es Papa sagte und er Mama bitten würde, mich nicht mehr so anzuschreien, zu beschimpfen und zu schlagen. Ich wollte Besserung geloben und schwçren, keine Fehler mehr zu machen, wenn Mama mir nur erlauben würde, die Dinge zu erklären. In der Realität brachte ich vor Papa allerdings kein einziges Wort über die Lippen. An den Wochenenden, an denen Papa zu Hause war, bereitete Mama den ganzen Tag irgendwelche ausgefallenen Gerichte 21


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vor, zu denen sie Alkohol servierte. Papa durchschaute nie den wahren Grund des feierlichen Abendessens bei Kerzenschein oder des raffinierten Desserts, das reichlich mit Eierlikçr übergossen war. Ich saß in meinem Zimmer, während Mamas Lachen immer lauter aus dem Wohnzimmer schallte. Und Papa war froh über ihre gute Laune. In diesen Momenten war ich so unsagbar traurig, dass ich mich fragte, warum ich überhaupt lebte … Sie brauchten mich doch überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil – ich stçrte sie nur. Tief im Innersten sehnte ich mich danach, dass sie mich auch einmal bei einem solchen Abendessen teilnehmen ließen. Ich träumte davon, dass wir alle zusammen am Tisch saßen und ich ihnen davon erzählte, was ich Lin der Schule erl sie sich SE riadass Awürden, lebt hatte. Und wie sie mir dann sagen B e t a AG wünschte freuen, so einen Sohn zu haben. mir so sehr, sM RL Ich e t E z t V dass sie stolz auf michN wären.hüIch horchte immer, ob sie sc NE Aber nach mir rufen würden. t-ge das geschah niemals. UN

BR yrigh op Am wenigstenCmochte ich die Aktivitäten in der Schule rund

um den Muttertag. Ich atmete auf, als sie in der dritten oder vierten Klasse aufhçrten. Alle prahlten mit ihren wundervollen Müttern: wie sie mit ihnen spielten, sie umarmten, ihnen Spielzeug kauften, sie küssten. Aber was sollte ich in meinen Aufsätzen schreiben? Dass Mama nie Späße machte, mich nicht in den Arm nahm, mich nicht küsste? Selbst wenn Mama nüchtern war, lachte sie fast nie. Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung davon, was es bedeutet, eine liebevolle Mutter zu haben. Ich wusste nicht einmal, wie es sich anfühlte, mich an sie zu schmiegen. Andere Kin22


der schrieben darüber, selbst die Jungen schämten sich nicht, ihre Gefühle auszudrücken. Meine Mutter war vçllig anders: ernst und kalt. Sie hielt mich auf Distanz. Das war manchmal schlimmer als das Trinken. «Fass mich nicht an, du zerknitterst mein Kleid!», sagte sie einmal und schob mich weg, als ich sie an ihrem Geburtstag umarmen wollte. Dieser Satz hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, er tat mir schrecklich weh. Aber darüber konnte ich doch keinen Aufsatz schreiben. Ich schämte mich dafür. Deshalb fantasierte ich bei Hausaufgaben zum Thema «Familie» oder «Ferien» einfach etwas zusammen. Und ich war mir sicher, dass Anika aus meiner Klasse auch nicht die Wahrheit schrieb. Denn ihre Mutter war im ganzen Wohngebiet bekannt, und jeder wusste, dass sie auf dem Markt L Blumen verl SE Der A kaufte, dabei allerdings selten nüchtern war. riaUnterschied B e t a AG Anika war nur, dass deshalb alle Mitleid s M hatten. RL mit e t E z Aber was war mit mir? N V Mich hütwürde niemand bedauern, c E s e NNreine selbst wenn ichUdie sagen würde. Alle wären t-gWahrheit h R g i B r überzeugt, dass ich mir das Ganze ausgedacht hätte. Unsere opy C Klassenlehrerin würde Mama in einem ernsten Gespräch auf meinen Hang zum Lügen hinweisen. Die Lehrer kannten Mama nur von ihrer besten Seite. Sie war Buchhalterin in der Stadtverwaltung und für die Finanzen im Bildungsbereich zuständig. Niemand würde auch nur auf den Gedanken kommen, dass sie ein Alkoholproblem haben kçnnte. Denn sie trank – wie sie immer wieder betonte – «anständig und elegant». Und das bedeutete, dass sie nur zu Hause und ausschließlich hochwertigen Alkohol trank. Darüber hinaus machte sie dies am Wochenende, wenn außer mir sie niemand sehen konnte. Wenn zufällig jemand 23


klingelte, schickte sie mich an die Tür und ließ ausrichten, dass sie sich wegen starker Migräne hingelegt habe. Alle drückten dann ihr Mitgefühl für sie aus. Außerdem bekamen wir sowieso fast nie Besuch, nur vom Postboten oder von einem Mitarbeiter der Wohngebietsleitung, sehr selten auch von Opa, Mamas Vater, obwohl er nicht weit entfernt von uns wohnte. Ehrlich gesagt, war mein Opa eigenartig. Tagein, tagaus saß er mit seinen Bekannten auf dem Betonbrunnen vor seinem bereits etwas baufälligen Wohnblock. Sie tranken entweder billiges Bier oder selbstgebrannten Schnaps. Ihre «Gespräche» bestanden hauptsächlich aus Flüchen oder unverständlichen Wortwechseln. Sie ließen sich über aktuelle politische Themen aus und kritisierten unaufhçrlich den EL al Swaren A i Kommunismus. Die grçßten Dummkçpfe in ihren Auter G B Maals Akonnten, gen Politiker, die nichts anderes das VolksverL ER tztes V mçgen zu verkaufen und hü Leute mit einer Hungercalten EN die s N e Num sichgihrer zu entledigen. rente abzuspeisen, RU rightB Mein Opa kampnur selten zu uns, denn Mama schämte sich o y C für ihn. Manchmal besuchte ihn Papa oder er wies mich an, ihm etwas zu essen oder eine kleine Geldsumme zu bringen. Ich bin nie gern zu Opa gegangen, weil er so entsetzlich fluchte. Er nahm zwar immer freudig alles an, was ich ihm brachte, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er sich jemals für irgendetwas bedankt hätte.

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Nachwort d D der Autorin Lidia Czyz˙ Der Pfarrer, mit dem Radek in Briefkontakt stand, war mein Mann. Auf seiner Hochzeit 2008 haben wir ihn persçnlich kennen gelernt. Als Pfarrerehepaar sind wir sehr oft zu Hochzeiten eingeladen. Die Hochzeit von Radek und Sonia war jedoch mit Abstand die speziellste, bei der wir je dabei waren: Wir kannten keine einzige Person auf dieser Feier – nicht einmal das Brautpaar … nur Radek aus seinen Briefen. Schon auf dem Heimweg von der Feier ist in mir der Wunsch entstanden, Radeks Geschichte zu verçffentlichen, um anderen Menschen Hoffnung zu bringen. EL al Radek hat S A seine Zustimmung dazu gegeben, wofür B aich terisehr dankbar G M Liebe tatsächlich LA dessen bin. Vor allem aber danke ichRdem, tes E z t V stärker ist als der Tod. N chü

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