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Vorwort der Autoren
In seinem Brief an die Philipper benutzt Paulus ein Bild, das uns angesprochen hat. Es kann als Symbol für den Stimmungsumschwung herhalten, den wir in diesem Buch beschreiben. Nachdem der Apostel die Philipper ermahnt hat, «gesinnt zu sein, wie Jesus Christus auch war» – was für sich genommen schon nicht einfach ist –, spricht er dieser angefochtenen Gemeinde zu: «Und doch ist es Gott allein, der beides in euch bewirkt: Er schenkt euch den Willen und die Kraft, ihn auch so auszuführen, wie es ihm gefällt» (2,13; Hfa). Dann erinnert sie Paulus noch an etwas anderes: «Wir dagegen sind Bürger des Himmels» (3,20; NGÜ). In diesen wenigen Zeilen ruft der Apostel die Philipper dazu auf, an einer wahrhaft spektakulären Reise teilzunehmen: zu leben und zu sterben wie Christus, und ihr Leben so eng am Modell des Lebens Jesu anzulehnen, dass sie Jesu eigene Gesinnung in sich tragen. Doch ruft Paulus sie auch zur Freude (3,1). Denn in ihrem Leben als Gemeinde sind sie zu Gottes Repräsentanten in der Welt berufen. Ein großer Anspruch, aber auch eine große Freude – Freude über das Wunder, das Abenteuer Kirche zu sein. Das Bild, das dieses Abenteuer für uns am deutlichsten vor Augen stellt, findet sich ebenfalls im Philipperbrief: «Wir sind Bürger des Himmels.» Moffat übersetzt den griechischen Ausdruck politeuma noch farbiger: «Wir sind eine Kolonie des Himmels.»
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Die Juden in der Diaspora wussten aus langer Erfahrung, was es heißt, als Fremdlinge im fremden Land zu leben und zu versuchen, sich auf der Scholle eines anderen ein Stückchen zum Überleben zu sichern. Jüdische Christen hatten ebenfalls frühzeitig gelernt – in ihrer alltäglichen Verbindung mit der Synagoge –, wie wichtig es für Fremdbürger war, sich zu versammeln, um den «Namen über alle Namen» anzurufen, sich die Heilsgeschichte in Erinnerung zu rufen und Zionslieder in einem Land zu singen, das Zions Gott nicht kannte. Eine Kolonie ist ein Außenposten, die Insel einer Kultur inmitten einer anderen Kultur, ein Ort, an dem die Werte einer Kultur an die Jungen weitergegeben und die besondere Sprache und die speziellen Lebensgewohnheiten einer Gemeinschaft gepflegt werden. Wir sind der Meinung, dass die Bezeichnung von Christen als eine Kolonie von Fremdbürgern keineswegs übertrieben ist für die heutige Kirche in Nordamerika – oder auch in Europa. Vielmehr glauben wir, dass es in der Natur der Kirche überhaupt liegt, an jedem Ort und zu jeder Zeit als Kolonie zu existieren. Mag sein, dass es etwas überdramatisch klingt, die Kirchen, wie wir sie heute kennen, als Kolonien inmitten einer fremden Kultur zu bezeichnen. Wir sind allerdings der Auffassung, dass sich die Lage dramatisch verändert hat für Christen in Amerika und der westlichen Welt und dass die Treue zu Christus verlangt, dass wir uns ebenfalls entsprechend verändern, wenn wir nicht dem Schicksal anheim fallen wollen, das allen angepassten Formen des Christentums droht. Die Kirche ist eine Kolonie, eine Insel des Glaubens inmitten einer Kultur des Unglaubens. In der Taufe ist unser Bürgerrecht von einer Autorität zu einer anderen übertragen worden, so dass wir in jeder Gesellschaft, in der wir uns vorfinden, bestenfalls Fremdlinge mit Wohnrecht sind.
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Wir hoffen, dass dieses Buch bei all seinen kritischen Überlegungen doch hoffnungsvolle und nützliche Einsichten anbietet zum Dienst in und an der Kolonie, die sich Kirche nennt. Kritische Überlegungen, weil wir der Auffassung sind, dass die Kirche heute im Denken und Handeln einen Kurswechsel braucht; hoffnungsvoll, weil für unsere Kirchen ebenso wie für die der Leser gilt: «Und doch ist es Gott allein, der beides in euch bewirkt: Er schenkt euch den Willen und die Kraft, ihn auch so auszuführen, wie es ihm gefällt» (Philipper 2,13; Hfa). Als Fremdbürger zu leben ist eine Formel für Einsamkeit, die wenige von uns auszuhalten vermçgen. Tatsächlich ist es praktisch unmçglich, sich diesem Dienst vçllig auf sich alleine gestellt zu widmen, denn unsere Einsamkeit schlägt leicht um in Selbstgerechtigkeit oder Selbstverachtung. Christen kçnnen nur überleben, wenn sie sich gegenseitig unterstützen durch die vielen kleinen Gesten, in denen wir uns versichern, dass wir nicht alleine unterwegs sind, sondern dass Gott mit uns geht. Freundschaft ist darum alles andere als eine Nebensächlichkeit im christlichen Leben. Während wir dieses Buch miteinander geschrieben haben, wurde uns erneut vor Augen geführt, wie wichtig die Freundschaften sind, die uns zu dem machen, was wir sind – und nicht zuletzt auch die Freundschaft, die uns beide verbindet. Wir hoffen, dass dieses Buch auch durchscheinen lässt, wie sehr wir unseren Freunden nah und fern verpflichtet sind, die ein besseres Leben führen als wir und die unser Leben dadurch besser machen. Stanley Hauerwas & William H. Willimon
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Kapitel 3 Das Abenteuer der Nachfolge
Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass die Jünger nicht die leiseste Ahnung hatten, auf was sie sich einließen, als sie anfingen, Jesus nachzufolgen. Mit einem schlichten «Folge mir nach» lud Jesus einfache Leute ein, aus ihrem bisherigen Leben herauszutreten und sich auf ein Abenteuer einzulassen – ein Reise, die an jeder Straßenkreuzung eine neue Überraschung für sie bereithielt. Es ist nicht von ungefähr, dass die Evangelisten ihre Erzählungen als eine Art Reisebericht konzipierten. «Und dann ging Jesus nach …», «Von dort nahm er seine Jünger und ging nach …», «Von dieser Zeit an begann er …». Die Kirche existiert heute als Gemeinschaft von Fremdbürgern in der Welt, eine kühne Kolonie von Gläubigen in einer Gesellschaft des Unglaubens. Der westlichen Kultur geht ein solcher Sinn für das Unterwegssein ab, denn ihr fehlt es an Glauben an etwas, das über die Kultivierung eines immer enger werdenden Horizontes von Selbsterhaltung und Selbsterfüllung hinausgeht. Unsere gegenwärtige Situation erscheint umso tragischer, je mehr wir die Gesellschaften, die der Liberalismus der Aufklärung hervorgebracht hat, mit der hochfliegenden Rhetorik ihrer Geburtsstunden vergleichen. «Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schçp-
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fer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehçren.» Diese Worte aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 erinnern uns an die Kühnheit und den Sinn für Abenteuer, der das Werden unserer Gesellschaft damals begleitete. Das liberale Abenteuer war die Schaffung einer Welt der Freiheit. Durch die Kennzeichnung bestimmter Prinzipien als naturgegeben und das Garantieren von Gleichheit und individuellen Rechten hatte die Aufklärung gehofft, Menschen hervorzubringen, die tatsächlich frei sind. Befreit von den knechtenden Ansprüchen von Tradition und Gemeinschaft, ausgestattet mit dem natürlichen Recht individueller Selbstverwirklichung, müsste der Mensch doch, so glaubte man, nun endlich auch frei sein. Es war eine abenteuerliche Unternehmung, die jedoch den Keim der Selbstzerstçrung bereits in sich trug mit ihrer dünnen Definition der menschlichen Natur und ihrer unzulänglichen Auffassung von der Bestimmung des Menschen. Was wir bekommen haben, war nicht die Freiheit des Selbst, sondern vielmehr Selbstsucht, Einsamkeit, Oberflächlichkeit und Konsumorientierung. «Frei» ist ganz sicher keine Beschreibung der Gefühlslage der meisten Menschen in unserer Gesellschaft heute, mit ihren übervollen Medikamentenschränken, Alarmanlagen, riesigen Ghettos und ihrer Drogenkultur. Zweitausend New Yorker werden jedes Jahr von Mitbürgern ermordet – in einer Stadt, deren Polizeibelegschaft grçßer ist als die Armeen vieler Länder. Das Abenteuer des Liberalismus ist schal geworden. Es gab eine Zeit, in der auch der Unglaube mit einem gewissen Abenteuersinn verbunden war, als die Leugnung Gottes mit der Aura einer aufregend neuen Mçglichkeit auf den Plan treten konnte – einer heroischen Weigerung, sich der herrschenden religiçsen Konvention anzupassen.
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Heute ist der Unglaube freilich zu einer sozial akzeptierten Lebensart in der westlichen Welt geworden. Es braucht heute keinen Mut mehr, nicht zu glauben. Wie der Sozialphilosoph Alasdair MacIntyre in seinem Buch Die religiçse Kraft des Atheismus1 bemerkt, haben wir Christen den Atheisten immer weniger gegeben, an das sie nicht glauben kçnnen. Eine schlaffe Kirche hat den Atheismus um seine Aura des Abenteuerlichen gebracht. Die gute Nachricht, die wir hier ausloten, ist, dass dieser Erfolg der Gottlosigkeit im Verbund mit dem Scheitern des politischen Liberalismus (gemessen an seinen eigenen Ansprüchen der Befreiung der Menschen) es wieder mçglich gemacht hat, nun im Gegenzug das Christentum als eine Abenteuerreise zu verstehen. Leben in einer Kolonie ist keine bequeme Angelegenheit. Ständigen Angriffen auf ihre Kerntugenden ausgesetzt, stets in der Gefahr, ihre Jugend zu verlieren, als Bedrohung in einer atheistischen Kultur erachtet zu werden, die im Namen von Freiheit und Gleichheit jeden unterjocht – so kann das Leben in der christlichen Kolonie von ihren Mitgliedern unschwer als Abenteuer begriffen werden. An einer Stelle haben wir freilich selber Mühe mit unserem Bild von der Kirche als «Kolonie»: Sofern diese Vorstellung einschließt, dass Gottes Volk sich niederlassen, sein Territorium abstecken, Zäune darum herum bauen und alles bewachen kçnnte. Gewiss, in einer feindlich gesinnten Welt, die zwar schlicht genug gestrickt ist, um nicht zu glauben, aber schlau genug ist, ihre Angriffe auf den Glauben auf subtile Weise zu fahren, gibt es gute Gründe dafür, auf der Hut zu sein. Wenn sich die Kirche allerdings auf den Kampf um ihr eigenes Territorium einlässt, dann zeigt sie damit an, dass wir Christen uns zufriedengeben mit einer kleinen Ecke der Welt; zufrieden mit einem Stückchen Garten, in dem wir unsere Spiritualität und Selbstbeschau kultivieren oder was immer für Brosamen vom Tisch einer Gesellschaft herunterfallen, die ihrerseits genügend Mittel hat (in
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Rationalität, Wissenschaft, Politik), sich ihrer eigenen Sinnhaftigkeit zu vergewissern. Unsere Einbettung in die biblische Geschichte verlangt jedoch eine offensive Haltung der Kirche. Die Welt mit all ihren Mitteln, ¾ngsten und Gaben ist und bleibt Gottes Welt; als «Geschçpf» steht sie unter dem bleibenden Anspruch ihres Schçpfers. Jesus Christus ist der unüberbietbare Eingriff Gottes in die Welt, wie diese sich auch immer selbst eingerichtet hat. In Christus zeigt sich die Weigerung Gottes, «an seinem Platz» zu bleiben. Die Botschaft, welche die christliche Kolonie am Leben erhält, ist für die ganze Welt bestimmt. Die Kolonie ist dabei lediglich das Mittel, durch welches Gott die Welt retten will. Die Kolonie ist Gottes große Offensive gegen die Welt und für die Welt. Eine Armee ist nicht erfolgreich durch ihr Verharren in Schützengräben, sondern aufgrund von Bewegung, Durchschlagskraft und überlegener Taktik. Darum meinen wir, wenn wir von der Kirche als einer Kolonie sprechen, nicht einen festen Standort oder einen befestigten Platz, weder theologisch noch geografisch. Die Kolonie ist vielmehr ein bewegliches Volk, wie Jesu erste Jünger, atemlos im Versuch, mit Jesus Schritt zu halten. Die christliche Kolonie ist ein Abenteuer mit vielen Unbekannten, mit Disputen darüber, welche Richtung es bei einer Weggabelung einzuschlagen gilt, mit Aufenthalten an seltsamen Orten und immer wieder notwendiger Rückschau und Kurskorrektur. Wenn wir getauft werden, springen wir sozusagen auf einen fahrenden Zug. Nachfolger Jesu zu werden, heißt nicht in erster Linie (obwohl das natürlich mit inbegriffen ist), ein Glaubensbekenntnis zu unterschreiben oder zu einem besseren Verständnis unserer selbst zu gelangen. Nachfolger zu werden heißt vielmehr Teil einer Reisegesellschaft zu werden, deren Reise lange vor unserer Zeit begann und jeden von uns lange überdauern wird. Allzu oft haben wir das Heil Gottes – also das, was Gott in Jesus
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Christus für uns tut – als eine rein persçnliche Entscheidung begriffen, oder als eine Frage von «endlich klarsehen, was grundlegende Glaubenswahrheiten anbelangt», oder von «im Herzen die ‹Beziehung› mit Gott in Ordnung bringen», oder von «unsere sozialen Einstellungen neu austariert bekommen». In diesem Kapitel geht es uns jedoch darum, zu zeigen, dass das Heil Gottes weniger ein Neuanfang ist als vielmehr ein Anfangen «in der Mitte». Glaube beginnt nicht im Entdecken, sondern in der Erinnerung. Die Geschichte Gottes mit den Menschen begann ohne uns, aber sie ist eine Einladung an uns, in sie einzutreten, so dass wir teilhaben an der Mission eines neuen Volkes, das Gott in Israel und in Jesus Christus erschaffen hat. Gott lässt uns sein Heil zukommen, indem er uns 1. in das Abenteuer stellt, das seine Absicht für die ganze Welt ist, und 2. uns gemeinsam mit anderen Gliedern dieses neuen Volkes trainiert, unser Leben nach der Wahrheit auszurichten. Ein Pfarrer tauft einen Säugling. Nach der Taufhandlung ruft er dem Täufling zu, so dass es auch Eltern, Paten und Gemeinde vernehmen kçnnen: «Kleine Schwester, durch diesen Akt der Taufe begrüßen wir dich auf einer Reise, die dein ganzes Leben in Anspruch nehmen wird. Das ist nicht das Ende, sondern der Beginn von Gottes Experiment mit deinem Leben. Was Gott aus dir machen wird, kçnnen wir heute nicht wissen. Wo Gott dich einmal hinführen wird und wie er dich überraschen wird, kçnnen wir nicht sagen. Was wir aber wissen und sagen kçnnen, ist, dass Gott mit dir sein wird.» Der Apostel Paulus hat die bei der Taufe begonnene Reise wohl noch besser charakterisiert, als er sie als einen Weg vom Tod zum Leben beschrieb.
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«Denn wie wir seinen Tod mit ihm geteilt haben, so haben wir auch Anteil an seiner Auferstehung. Letztlich geht es doch darum: Unser früheres Leben endete mit Christus am Kreuz. Unser von der Sünde beherrschtes Wesen ist damit vernichtet, und wir müssen nicht länger der Sünde dienen. Denn wer gestorben ist, kann nicht mehr von der Sünde beherrscht werden. Sind wir aber mit Christus gestorben, dann werden wir auch mit ihm leben – davon sind wir überzeugt. Wir wissen ja, dass Christus von den Toten auferweckt worden ist und nie wieder sterben wird. Der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Mit seinem Tod hat Christus ein für alle Mal beglichen, was die Sünde fordern konnte. Jetzt aber lebt er, und er lebt für Gott. Das gilt genauso für euch, und daran müsst ihr festhalten: Ihr seid tot für die Sünde und lebt nun für Gott, der euch durch Jesus Christus das neue Leben gegeben hat.» Rçmer 6,5–11; Hfa
Zurück auf der Straße Die Bibel ist im Wesentlichen die Geschichte der Reise des Volkes Gottes mit Gott. In der Heiligen Schrift sehen wir, wie Gott die unverbundenen Elemente unseres Lebens zu einer Geschichte zusammenfügt, die Sinn ergibt. Solange wir keine solche wahrheitsgemäße, zusammenhängende Geschichte unseres Lebens haben, fühlen wir uns als irgendwie in der Luft hängend, so als ob wir tastend unsere Füße nie beide zugleich auf den Boden bringen kçnnten. So sieht die Welt aus, die wir durch die Brille der Tagesschau betrachten: hier eine Katastrophe, dort ein unlçsbares Problem, gefolgt von einer Werbesendung, die uns hilft, die Welt wieder in Ordnung zu finden.2 Kein Wunder also, dass die Menschheit heute, ungeachtet des-
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sen, wie laut sie ihre Freiheit und Wahlfreiheit beschwçrt, in Wirklichkeit doch eine getriebene Herde ist, gelähmt von qualvoller Zusammenhanglosigkeit, in der jedes Ding als nichts weiter als eben «ein weiteres Ding» erscheint. Wie geht Gott nun um mit der Angst, Verwirrung und Lähmung von uns Menschen? Er erzählt eine Geschichte: Ich bin kein anderer als der Gott, «der dich aus der Knechtschaft in ¾gypten geführt hat» (vgl. 5. Mose 5,6). Diese Geschichte zu kennen macht auch das nachfolgende Gebot verständlich, dass Israel «keine anderen Gçtter neben mir» haben soll. Die Bibel argumentiert nicht damit, dass sich die Menschen durch Idolatrie selbst herabwürdigen oder dass ihr Leben besser wäre ohne Gçtzendienst. Tatsächlich ist die Verehrung von Gçtzen eine durchaus kreative Strategie der begrenzten Kreatur, die noch nicht vom Schçpfer gehçrt hat. Gçtzenverehrung ist verdammungswürdig einzig aufgrund der Geschichte, die wir vom biblischen Gott gehçrt haben. Israel ist ein Volk, das diese Geschichte auswendig lernt und sich regelmäßig dazu versammelt, sie wieder neu zu erzählen. «Dann sollt ihr ihnen antworten: ‹Früher mussten wir als Sklaven für den Pharao in ¾gypten arbeiten. Aber der HERR hat uns mit starker Hand befreit. Vor unseren Augen hat er große Wunder getan und schreckliches Unglück über ¾gypten, den Pharao und seine Familie gebracht. Er hat uns dort herausgeholt, um uns in das Land zu bringen, das er unseren Vorfahren mit einem Eid versprochen hatte.›» 5. Mose 6,21–23; Hfa Im Erzählen dieser Geschichte erfährt sich Israel als ein Volk unterwegs, ein Volk auf Abenteuerreise. Die Ethik dieses Volkes besteht
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darum im Wesentlichen aus Tugenden, die es für das Unterwegssein braucht. Wir sind der Überzeugung, dass es kein Zufall ist, dass Gottes Volk ein Volk ist, das Geschichten erzählt. Die Tatsache, dass die Evangelien Erzählungen sind, hat nichts damit zu tun, dass Matthäus, Markus und Lukas einfache Leute gewesen sind, die aus einer voraufgeklärten Kultur stammten, in der eben gerne einfache Geschichten erzählt werden (während wir aufgeklärten Menschen dies nicht mehr tun). Das Erzählen einer Geschichte ist vielmehr die grundlegende Weise, auf die wir über Gott sprechen kçnnen und auf ihn hçren. Erzählen ist das einzige uns Menschen zur Verfügung stehende Mittel, das ausreichend komplex und mitreißend ist, um uns verständlich zu machen, was es heißt, mit Gott zu leben. Die frühen Christen begannen nicht mit metaphysischen Spekulationen über die Inkarnation, mit einer Christologie in Abstraktion von den Erzählungen der Evangelien. Sie begannen vielmehr mit den Geschichten über Jesus und das Leben derer, die in Jesu Leben verwickelt wurden. So haben die Evangelisten allein schon durch die Art der Präsentation ihre Leser trainiert, ihr Leben sozusagen innerhalb des Lebens Jesu zu situieren. Wir kçnnen Jesus nicht kennen, ohne ihm nachzufolgen. Sich auf Jesus einzulassen ist, wie nicht zuletzt auch manche Missverständnisse der ersten Jünger zeigen, eine notwendige Vorbedingung, um ihn wirklich zu verstehen. Wir folgen Jesus, bevor wir ihn kennen. Und wir kennen Jesus, bevor wir uns selbst kennen. Denn wie kçnnten wir die Wahrheit über uns selbst erkennen als sündige, missverstehende und doch erlçste Wesen, ohne gezeigt zu bekommen, was den ersten Jüngern gezeigt wurde? Im Weitererzählen dieser Geschichten kommen wir dazu, unser Leben als Geschenk zu erkennen – eine Erkenntnis, die wir ohne die Vermittlung durch die Glaubensgemeinschaft nie erlangen kçnnten. Die kleine Geschichte, die ich «mein Leben» nenne, er-
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langt kosmische, ewige Bedeutung, indem sie mit der großen Geschichte Gottes verbunden wird. «Wir waren in der Knechtschaft des Pharao … der Herr führte uns heraus … um uns zu bewahren.» Die Bedeutung unseres Lebens hängt auf eine beinahe erschreckende Weise an der Geschichte eines anderen. Christen sind solche Menschen, die jene Geschichte hçren und sie als Geschichte ihres Heils weiterzuerzählen vermçgen. Die folgende kleine Episode mag das verdeutlichen. Ein uns bekannter Pastor war bereits eine Zeitlang im Ruhestand gewesen, als er kürzlich wieder von seiner alten Gemeinde in Shady Grove eingeladen wurde, der er in den sechziger Jahren für einige sehr stürmische und schwierige Jahre gedient hatte. Er nahm die freundliche Einladung mit einer Portion Ironie auf, denn schließlich handelte es sich um dieselbe Gemeinde, die einst ihren Bischof darum gebeten hatte, ihn nach nur einem Jahr seiner Tätigkeit von dort weg zu versetzen. Zu ärgerlich und untereinander zerstritten waren sie geworden wegen seiner ständigen Ermahnungen im Blick auf die Rassentrennung und den Vietnam-Krieg, der damals tobte. Gewiss: An jenem Tag viele Jahre später war dies nicht mehr dieselbe Gemeinde, so wie er nicht mehr derselbe Prediger war wie damals. Zwanzig Jahre waren seither vergangen. Jahre, so dachte er, welche die Gemeinde in Shady Grove vielleicht in die Lage versetzt hatten, sich ehrlich darüber Rechenschaft zu geben, was damals geschehen war. So nahm er die Einladung also an. Der Sonntag seiner Rückkehr war gekommen. Als der Gottesdienst seinen Gang nahm, registrierte der alte Pastor, was sich seit seiner Zeit in der Gemeinde verändert hatte. Zwanzig Jahre zuvor hatte die Gegend bereits begonnen, sich zu verändern, was ihre ethnische Zusammensetzung anbelangte. Nun war die Population zu achtzig Prozent farbig und nur noch zu zwanzig Prozent weiß. Da-
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mals hatte er ihnen eingeschärft, dass, wenn sie nicht anfingen, farbige Gemeindeglieder willkommen zu heißen, sie über kurz oder lang dichtmachen kçnnten. Nun sah es so aus, als hätte die Zeit ihm recht gegeben. Ungefähr ein Viertel der Gemeindeglieder heute war farbig. Das Durchschnittsalter war deutlich hçher als damals, aber die Gemeinde war noch am Leben, nun eben auch mit einer neuen Gruppe von jüngeren farbigen Mitgliedern. Als er aufstand, um zu predigen, wählte er als Text Hebräer 11–12, die Passage, die vom Glauben als einer Reihe von Lebensgeschichten handelt. «Aus Glauben ging Abraham … Aus Glauben tat Noah dies und das …», und so fort. Er sagte ihnen, dass seine Rückkehr in seine alte Gemeinde an diesem Tag für ihn zu einer Art Beweis für die Stichhaltigkeit der Definition von Glauben geworden war, wie sie der Hebräerbrief anbietet – ein Glaube, der uns auf eine Pilgerreise schickt, ein Heraustreten aus dem Bisherigen, wie Abraham und Sarah dies getan hatten. Er erinnerte an die turbulenten Zeiten, die Shady Grove in den sechziger Jahren durchlief, und an die Auseinandersetzungen in der Gemeinde darüber, welche Menschen man aufnehmen sollte und welche nicht. Er erinnerte auch an ein bestimmtes Mitglied des Gemeinderats, das damals bei einer Sitzung so eloquent seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, wonach die Kirche in einer Zeit des Rassismus ein lebendiges Zeugnis für die Integrationskraft des Glaubens zu sein hätte. Der alte Pastor erinnerte an die Namen von einzelnen Gemeindegliedern, die damals in mutiger und einfallsreicher Weise dafür sorgten, dass Shady Grove sich nicht nur çffnete für Menschen anderer Hautfarbe, sondern auch aktiv auf diese zuging, um sie in die Gemeinde einzuladen. Er erinnerte an ein Gebet, das der mittlerweile achtzigjährige Sam Jones damals gesprochen hatte. Darin bat er Gott um Mut, die Herausforderungen einer sich verändernden Welt anzunehmen. Und während der alte Pas-
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tor daran erinnerte, rief irgendeine Stimme aus den hinteren Reihen laut «Amen». «Wisst ihr, aus euch ist wirklich etwas geworden als Kirche», sagte der Pastor zu ihnen. «Ihr seid besser geworden, als ihr es euch selbst zugetraut hättet. Und ich gebe heute auch gerne zu, dass ihr wohl immer schon mehr Kirche gewesen seid, als ich gedacht hätte. Es brauchte Mut, aber ihr habt gezeigt, dass ihr ihn habt. Ich wünschte nur, einige von denen, die so wichtig waren für euer Leben als Gemeinde und uns schon vorausgegangen sind in die himmlische Heimat, kçnnten euch heute sehen. Doch was sage ich da? Aus ihrer himmlischen Perspektive kçnnen sie euch ja tatsächlich heute sehen!» Diese Episode aus der Geschichte einer ganz normalen Gemeinde erscheint auf den ersten Blick reichlich unspektakulär. Tatsächlich ist freilich das, was uns an dieser Episode beeindrucken sollte, gerade die Normalität des Vorgangs in einer ganz normalen Gemeinde. Eine Gemeinde lässt sich am besten von der Heiligen Schrift leiten, wenn sie ihre eigene Geschichte erzählt. Dies ist schließlich auch, was der Verfasser des Briefes an die Hebräer tat, als der seine Gemeinde damals ansprach: Er erzählte ihnen vom Glauben in Form von Glaubensgeschichten – von Menschen wie Abraham und Sarah, wie sie sich aufmachten zu einem Ort, den sie nicht kannten. Und das ist nun der springende Punkt: Diese Pioniere des Glaubens, die sich auf eine Reise ohne klare Zielangabe einließen, sind unsere Väter und Mütter im Glauben. Bei Abraham und Sarah, Kain und Abel, bei Noah und bei Shady Grove haben wir es nicht mit heldenhaften Menschen zu tun, sondern mit einem heldenhaften Gott: einem Gott, der sich weigert, seine Geschçpfe im Stich zu lassen; einem Gott, der den Menschen immer wieder nachgeht; einem Gott, der die Scherben aufhebt, sie zusammenfügt und so die Geschichte fortschreibt: «Und dann … und dann …»
Christen sind Fremdbürger Wie wir wieder werden, was wir sind: Abenteurer der Nachfolge in einer nachchristlichen Gesellschaft 252 Seiten / Klappenbroschur 15,0 x 22,5 cm 16.99 Euro [D], 17.50 Euro [A], 25.80 CHF* *unverbindliche Preisempfehlung
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