Haslebacher, Christian: Yes, she can!

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Christian Haslebacher Yes, she can!

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www.fontis-verlag.com


Meiner Frau Annette l und el ateria s a meiner TochterBNaemiM

n s nne ützte u r – B gesch s i t tFon yrigh p Co


Christian Haslebacher

Yes, she can! Die Rolle der Frau inriader l l e e s t a a Gemeinde B sM en e t n run chütz B is – ht-ges t n Ein bibelfestes Plädoyer Fo yrig p Co

mit: Chrischona


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden folgenden Übersetzungen entnommen: l rial

ase Mate B n s nne ützte u r EÜ = Einheitsübersetzung 1980 c Katholische Bibelanstalt, Stuttgart h – B g esDeutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart s Luther = Lutherbibel 1984,t-1999 i t Fon yrigh p in Bibeltexten stammen vom Autor. Hervorhebungen Co

2016 by Fontis – Brunnen Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgçns Foto Umschlag: Pressmaster/Shutterstock.com Weitere Fotos Umschlag (U4 und beide Klappen): Sergey Nivens, Sheftsoff Stock Photo, Pressmaster/Shutterstock.com Satz: Innoset AG, Justin Messmer, Basel Druck: C. H. Beck Printed in Germany ISBN 978-3-03848-086-0


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Inhalt

Inhalt

Einführung DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE I: Gemeinsames Ringen um die sachgemäße Anwendung biblischer Aussagen ..........................................................

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Kapitel 1 Was aus der Bibel gilt heute noch? Grundsätzliche und hermeneutische Gedanken...............

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al sel ateri a B s M ...................... 1. Jede Kommunikation beinhaltet nInterpretation e te n n eine 2. Jede Person liest die Bibel ütz«Brille»......................... rudurch h B c 3. Ein Kanon verschiedener es in unterschiedlichen is – ht-gStimmen t n Situationen ig Fo..................................................................... pyr und Zeiten hinein geschrieben............ 4. In spezifischeoKulturen C

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21 26 5. Prinzipien sind von deren Anwendungen zu unterscheiden ..... 31 6. Zwischenergebnis – Bibelverständnis................................... 37

Kapitel 2 Das Lehrverbot für Frauen in 1. Timotheus 2,12–14 im gesamtbiblischen Kontext ........................................... 1. 2. 3. 4. 5.

Die Frauen und die Schçpfungsordnung............................... Die Frauen im alttestamentlichen Israel ............................... Die Frauen und Jesus ........................................................ Die Frauen in der Urgemeinde ............................................ Der Ehemann als Haupt und die Frage der Unterordnung ........

41 41 54 68 77 90


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6. Das Schweigegebot im 1. Korintherbrief ............................... 97 7. Zwischenergebnis – gesamtbiblischer Kontext ...................... 106

Kapitel 3 Verweise auf alttestamentliche Ereignisse in den Paulusbriefen .................................................................... 109 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Die Verfasserschaftsfrage des 1. Timotheusbriefes.................. Glaube und Rechtfertigung Abrahams (Rçm 4,1–24; Gal 3,6–16). Adam und Christus (Rçm 5,12–21; 1Kor 15,21–22.45–49)........ Kinder der Verheißung (Rçm 9,6–13) ................................... Ein Rest wird gerettet (Rçm 11,1–5) ..................................... Keine Heilssicherheit durch Taufe und Herrenmahl (1Kor 10,1–11) ................................................................. al sel ateri Schçpfungsreihenfolge (1Kor 11,7b–9)a................................. M n B (2Kor Moses Decke verdeckt die Herrlichkeit e tes 3,7–16) .............. n z n t ru (2Kor Ausgleich unter Gottes B Leuten chü8,15)............................. s – e s Die Verführung tEvas 11,3) .......................................... i (2Kor ht-g g i Fon(Gal Sara und Hagar 4,21–31).............................................. r py Jannes und Jambres Co (2Tim 3,8–9a) ...................................... Zwischenergebnis – Verweise auf alttestamentliche Ereignisse .

111 113 120 123 125 128 132 140 144 145 146 150 151

Kapitel 4 Lehrverbot, Schçpfungsreihenfolge und Evas Fall in 1. Timotheus 2,12–14........................................................ 159 1. 2. 3. 4. 5.

Irrlehren als Anlass des Briefes ........................................... Familienstruktur in der Gemeinde ....................................... Anweisungen an Männer und Frauen (1Tim 2,8–10) ............... Lernen in Stille und Unterordnung (1Tim 2,11) ...................... Das Lehrverbot für Frauen (1Tim 2,12) .................................

159 162 165 169 171


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Inhalt

6. 7. 8. 9.

Begründung: Schçpfungsreihenfolge (1Tim 2,13) ................... Begründung: Evas Fall (1Tim 2,14)....................................... Rettung durch Kindergebären (1Tim 2,15) ............................ Zwischenergebnis – Argumentationslinie in 1. Timotheus 2,12–14........................................................

179 185 192 194

Kapitel 5 DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE II: Zusammenfassende Schlussfolgerungen .......................... 201 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Paulinische Verweise auf alttestamentliche Ereignisse............. Der Verweis auf die Schçpfungsreihenfolge........................... Der Verweis auf den Fall Evas ............................................. Gesamtbiblischer Kontext .................................................. l eria sel ......................... t Unmittelbarer Kontext im 1. Timotheusbrief a a n B tes M Gemeindesituation ........................................................... e n n tz Kulturelle Sensibilität........................................................ Bru schü – Was aus 1. Timotheus tis 2,12–14 t-ge gilt heute noch? .....................

Fon yrigh p Co

201 204 205 208 212 213 214 217

Kapitel 6 DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE III: Zu vermeidende Denkfehler .............................................. 219 1. Richtig ist: Gleichbehandlung bedeutet nicht Gleichmachung .. 219 2. Richtig ist: Mit einer zu engen Position ist man nicht auf der sicheren Seite .................................................................. 226 3. Richtig ist: Passive Männer sind nicht durch noch passivere Frauen zu motivieren ........................................................ 234

Danksagungen................................................................... 239


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Literaturverzeichnis .......................................................... 241 1. Verweise auf Bücher und Artikel ......................................... 241 2. Verweise auf Sammelbände, Werkausgaben und Zeitschriften .. 257 3. Verweise auf frühjüdische Werke ........................................ 258

Anmerkungen ................................................................... 261

Über den Autor.................................................................. 287

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Einführung

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Einführung DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE I: Gemeinsames Ringen um die sachgemäße Anwendung biblischer Aussagen In den letzten Jahrzehnten wurde in christlichen Kreisen immer wieder darüber diskutiert, ob und inwieweit Frauen zum Dienst der Lehre und Leitung der Gemeinde zugelassen seien. Diese Diskussion wurde deshalb teilweise so ausführlich und vehement geführt, weil sie letztendlich ein Ringen um die l Situationen Frage ist, wie biblische Aussagen so auf el heutige eria s t a a anzuwenden sind, dass man denB den Texten stehenden n hinter sM e e t n Absichten gerecht wird. u Die z um die Frauen in der n Diskussion hüt das richtige Anwenden der Brweil es c s Gemeinde betrifftsalso, um – ge i t-Grundlage h ontzentrale Bibel geht, F eine des christlichen Glaubens g yri p o überhaupt. C Bezüglich der Rolle der Frau in der Gemeinde teilt sich die theologische Diskussion grob zusammengefasst in zwei Positionen. Dabei wird in diesem Buch bewusst nicht von der «konservativen» oder «traditionellen» Position einerseits und der «liberalen» oder «feministischen» Position andererseits gesprochen, da diese Bezeichnungen oft nicht wirklich zutreffen und emotional aufgeladen sind und daher kontraproduktiv wirken. Stattdessen spreche ich von der «historischen» und der «progressiven» Position. Selbstverständlich gibt es innerhalb der historischen Position verschiedene Nuancierungen und Differenzierungen. Charakteristisch ist jedoch die Auffassung, 1. Timotheus 2,12


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(«Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still»; Luther) sei heute noch allgemein verbindlich, was zum Schluss führt, dass Frauen nicht als Pastorinnen oder Gemeindeleiterinnen dienen sollen. 1 Vertreter der progressiven Position teilen dagegen die Auffassung, 1. Timotheus 2,12 sei nicht allgemein verbindlich und Frauen seien deshalb nicht allgemein vom pastoralen oder gemeindeleitenden Dienst ausgeschlossen. Dieses Buch diskutiert beide Positionen und begründet, weshalb es sich der progressiven Position anschließt. Die Diskussionen um diese Fragen werden manchmal mit l harten Bandagen geführt. Von Vertreternl der historischen Poe ateria s a sition wird zuweilen behauptet, Vertreter M progressiven Pon B tes der e n sition würden biblische u Ordnungen z dem Zeitgeist und der n hüt die entsprechenden BiBr sieswürden c Mehrheitsmeinungsopfern, – i t-ge h ont des beltexte auf F Grund zeitgençssischen Empfindens umdeug yri p o ten oder zumindest C missverstehen. Daraus resultiere ein voreingenommenes, unsachgemäßes Verständnis. Stadelmann erklärt dazu: «Das Muster ist immer wieder dieses: Zuerst entfernt sich die çffentliche Meinung von biblischen Positionen; dann ziehen liberale Theologen nach, indem sie Sachkritik an den scheinbar nicht zeitgemäßen Schriftaussagen üben; und schließlich kommen auch die Frommen in Gleichschritt mit den anderen, indem sie die widerständigen Bibelworte umdeuten oder als zeitgebunden erklären.» 2 Durch solche Aussagen wird die Überzeugung seitens der historischen Position bestärkt, dass die «Berufung von Frauen in den gemeindeleitenden Hirten- und Lehrdienst … gerade


Einführung

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heute ein Prüfstein der Bibeltreue ist». 3 Mit anderen Worten: Wer die historische Position vertritt, ist «bibeltreu» und wendet die biblischen Aussagen sachgemäß an; wer eine andere Position vertritt, tut dies nicht und hat den «Weg der Bibeltreue» verlassen. Ebenso gut, wie argumentiert wird, dass die angestrebte Gleichstellung der Frauen in der westlichen Gesellschaft das progressive Verständnis der einschlägigen Bibelstellen prägt, kann jedoch argumentiert werden, die Jahrtausende dauernde gesellschaftliche Vorrangstellung der Männer habe das historische Verständnis geprägt. Sie habe es den entsprechenden Exegeten verwehrt, ihre Ansichten durch die Bibeltexte korrigieren zu lassen, woraus ein voreingenommenes, unsachgel mäßes Verständnis der Bibeltexte hervorgegangen el ateria sei. s a Es ist daher wenig hilfreich, wenn Vertreter der historin B tesich sM e n schen und progressiven u Positionen zgegenseitig Voreingenomn hüt Wunsch absprechen, bibBr garscden menheit vorwerfen oder – tis ht-ge n o lische Aussagen anwenden zu wollen, und sich F sachgemäß yrig p o gegenseitig C gar als zeitgeistverdorbene Feministen beziehungsweise machthungrige Verteidiger des Status quo bezeichnen. 4 Beiderseits sollte nicht der Arroganz der Besserwisserei gefrçnt werden. 5 So, wie ich die von mir vertretene Position für die bibeltreuste halte, weil sie meiner Meinung nach dem Gesamtzeugnis der Bibel am ehesten gerecht wird, mçchte ich auch Vertretern der anderen Ansicht unterstellen, dass sie über ihre Position das Gleiche denken. Vertreter der historischen und der progressiven Positionen befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Wertschätzung einerseits sowie ihrer Verpflichtung zur Wahrheit andererseits. 6 Dieses


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Ringen um Wahrheit und sachgemäße Anwendung biblischer Aussagen soll in Liebe geschehen, in der Sache klar, im Stil aber fair. 7 Dies gebietet die gemeinsame Liebe zu Gott 8 und zur Bibel 9 sowie das christliche Zeugnis nach außen 10. Es darf sich bei dieser Frage nicht um ein Ringen zwischen den Vertretern der verschiedenen Positionen handeln, 11 sondern es soll ein gemeinsames Ringen um sachgemäße Anwendung biblischer Aussagen stattfinden. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten. Ich beginne mit grundsätzlichen Überlegungen zur Allgemeingültigkeit, Kultur- und Zeitbezogenheit neutestamentlicher Aussagen und beschäftige mich damit, wie die Frage «Was aus l der Bibel gilt heute noch?» zu beantworten el ist. eria s t a a Im zweiten Kapitel wird das Lehrverbot n B tes Mfür Frauen im gee n samtbiblischen Kontext u untersucht. n ütz Hier ist 1. Timotheus hFrage, Br in der c s 2,12–14 der Schlüsseltext ob Frauen für den lei– is ht-ge t n o tenden und Flehrenden Dienst in der Gemeinde zugelassen yrig p o sind. C Im dritten Kapitel werden, als wichtige Hinweise für das richtige Verständnis von 1. Timotheus 2,12–14, andere paulinische Verweise auf erzählte Ereignisse des Alten Testaments untersucht. Danach wird 1. Timotheus 2,12–14 im vierten Kapitel in Bezug auf den unmittelbaren Kontext beleuchtet. Im fünften Kapitel werden die gewonnen Erkenntnisse zusammengefasst und im sechsten Kapitel einige in diesem Zusammenhang «zu vermeidende Denkfehler» aufgegriffen. Diese zwei letzten Kapitel sind so formuliert, dass man sie auch ohne die Kapitel 1 bis 4 lesen und verstehen und bei Bedarf einzelne Punkte in den vorhergehenden Kapiteln aus-


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führlicher nachlesen und vertiefen kann. Aus diesem Grund sind diese zwei Kapitel wie auch diese Einleitung mit «Das Wichtigste in Kürze» überschrieben.

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Kapitel 1 Was aus der Bibel gilt heute noch? Grundsätzliche und hermeneutische Gedanken

1 Jede Kommunikation beinhaltet Interpretation Grundsätzlich sind Worte akustische oder geschriebene Symbole, die einen Inhalt kommunizieren sollen: die Wortbedeutung. Verbale Kommunikation funktioniert rial wenn der el atedann, s a Sprecher oder Schreiber die Worte interpretiert und n B genauso sM e e t n füllt wie der Hçrer oder u Leser. zman die Worte und deren n Dass hüt jedoch noch nicht, dass Br garantiert c s Bedeutung richtigsversteht, – ti t-gefunktioniert. Gelingende verbale n h o Kommunikation wirklich g i F pyr Kommunikation Co ist nämlich nicht nur eine Frage des Wortverständnisses, sondern oft auch ein Frage von Tonfall und Kçrpersprache. Gemäß dem Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun (1981) kommuniziert jede Botschaft (zumindest theoretisch) vier Inhalte: 1. Die Sachebene enthält die reinen Daten und Fakten der Nachricht. 2. Die Selbstoffenbarungsebene vermittelt etwas über das Selbstverständnis, die Motive, Werte und Emotionen des Senders. 3. Auf der Beziehungsebene drückt der Sender etwas darüber aus, wie er zum «Empfänger» steht.


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4. Auf der Appellebene wird kommuniziert, welche Handlungsweise der Sender vom Empfänger erwartet. Diese vierfache Kommunikation führt dazu, dass ein Empfänger eine Botschaft trotz richtigem Verständnis der Wortbedeutung oft anders versteht, als es der Sender gemeint hat, wenn der Sender das Gewicht einer Nachricht zum Beispiel auf den Appell legt, während der Empfänger eine reine Sachinformation empfängt. Dies ist gemäß Schulz von Thun eine der Hauptursachen für Fehlinterpretationen, selbst wenn das Wortverständnis von Sender und Empfänger praktisch identisch sein sollte. Bekanntlich kommt es schon zwischen Leuten, die sich gut l kennen, dieselbe Muttersprache sprechen einander gut el und eria s t a a sehen und hçren kçnnen, zu Fehlinterpretationen. Diese Mçgn B tes M e n lichkeit steigt immens, wenn die z Leute nicht (persçnlich) run sich hüt sprechen, aus unterBMuttersprache c s kennen, nicht dieselbe – ge is ont right- kommen, Gestik und Tonfall nicht schiedlichenFKulturkreisen py vernehmen oder Codeuten kçnnen und es sich nicht um einen Dialog handelt, bei welchem man nachfragen kçnnte oder die Reaktion des Gegenübers erkennen lässt, ob man richtig verstanden wurde. Diese Gefahr von Fehl-Interpretationen macht deutlich, dass bei jeglicher verbaler Kommunikation bewusste oder unbewusste Interpretationen geschehen. So auch beim Lesen biblischer Schriften. Bei dieser Kommunikation sind alle erwähnten erschwerenden Umstände vorhanden, die Fehlinterpretationen begünstigen: keine persçnliche Beziehung, nicht dieselbe Muttersprache, unterschiedliche Kulturkreise, keine Vermittlung von Gestik und Tonfall, Monolog ohne Mçglichkeit für Rückfragen. 1


Kapitel 1

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Es ist die Aufgabe der Wissenschaftsdisziplin der Hermeneutik, Prinzipien, Regeln und Methoden zu entwickeln, die eine mçglichst angemessene Annäherung an die Bedeutung der biblischen Texte gewährleisten. 2 Selbstverständlich kçnnen aber auch die besten hermeneutischen Methoden Missverständnisse nicht ganz ausschließen. Die fehlende Reflexion über solche hermeneutischen Regeln – nach dem Motto: «Man braucht die Bibel nur zu lesen und zu tun, was sie sagt» – führt jedoch zwangsläufig zu Missverständnissen. 3

2 Jede Person liest die Bibel durch l eine «Brille» rial

ase Mate B n tes Das Verstehen eines biblischen z folgt den allgemeinen nne Textes u r hüt B und c s Grundsätzen mündlicher schriftlicher Kommunikations– is ht-ge 4 t n prozesse mit ig Faktoren : Foihrenyrvier p o C 1. Der Autor mit seiner Welt, seiner Biografie, seinen Erfahrungen, seinen Interessen, der etwas kommunizieren will: der Verfasser eines biblischen Textes. 2. Die mündliche oder schriftliche Botschaft, die das festhalten soll, was der Autor vermitteln will: der biblische Text. Zwischen dem menschlichen Autor des biblischen Textes und dem Empfänger kann es keine direkte Verbindung geben, schon allein deshalb nicht, weil die menschlichen Autoren der biblischen Texte nicht mehr leben. Generell ist das Verstehen nur über die Sprache, über die Botschaft mçglich. Je unmissverständlicher kommuniziert und je genauer die Botschaft erfasst wird, desto besser gelingt die Kommunikation.


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3. Der Empfänger (Rezipient) mit seiner Welt, seiner Biografie, seinen Erfahrungen, seinen Interessen, der die kommunizierte Botschaft aufnimmt. Je weiter Autor und Empfänger mit ihren Welten, Biografien, Erfahrungen und Interessen auseinanderliegen, desto unsicherer wird es, ob es dem Leser gelingt, die vom Autor vermittelte Botschaft korrekt oder zumindest sinngemäß zu erfassen. Einen wirklich neutralen Leser gibt es nicht. Jeder Leser versteht einen Text zunächst unweigerlich durch die Brille seiner Erfahrungen, Kultur und Vorverständnisse bestimmter Ausdrücke und Gedanken, was ihn in die Irre führen kann. 5 4. Die Sache, über die der Autor spricht, wobei sein Verständnis davon nicht objektiv ist, sondern durch seine Welt, seine l geprägt Biografie, seine Erfahrungen und seine el Interessen eria s t a a ist, wie auch das Verständnis des durch dessen n B Empfängers sM e e t n Welt, Biografie, Erfahrungen geprägt ist. z n undütInteressen h subjektiver Weise über eine Binru(teilweise) c s Der Autor spricht also – e tis ht-gebenfalls onEmpfänger Sache, die F der (teilweise) subjektiv kennt. g yri p o Für gelingende C Kommunikation ist jedoch ein gemeinsames Verständnisder Sache, überdiegesprochenwird, entscheidend. Ansonsten sind Missverständnisse unvermeidlich. 6 An diesem Punkt kommt die sogenannte «hermeneutische Spirale» 7 zum Tragen:

3. verändertes Verständnis

1. Vorverständnis

2. Textverständnis

4. verändertes Textverständnis


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Der Leser (Empfänger) versteht den Text (die Botschaft) zunächst auf Grund seines Vorverständnisses der Sache, der Text wird jedoch sein Verständnis der Sache ergänzen und verändern. Bei erneuter Betrachtung wird der Leser den Text deshalb anders verstehen als beim ersten Mal. Durch dieses erneute, veränderte Hçren der Botschaft wird sich sein Verständnis der Sache ebenfalls erneut verändern, was wiederum sein Lesen des Textes verändern wird … usw. Mit anderen Worten: Das Vorverständnis des Empfängers beeinflusst sein Verstehen des Textes, aber nicht so absolut, dass das Vorverständnis selbst fix bliebe, sondern das Vorverständnis wird seinerseits durch das Verstehen des Textes verändert, ergänzt und korrigiert. Daraufhin führt ein revidiertes l Vorverständnis wiederum zu einem revidierten el ateriaerneuten Vers a stehen usw. Dies nennt man hermeneutische n B tes M Spirale. e n Dieser Prozess wird dadurch z dass der Leser parallel n ergänzt, hüt oder einer ähnlichen SaBruzur gleichen c s auch noch anderesTexte – e ti t-geinen n h o che liest, was wiederum Einfluss auf sein Verständnis g F yri p o der Sache hat, C was dann sein Hçren der Botschaft zusätzlich verändern wird. So betrachtet er zum Beispiel den einzelnen Bibeltext nicht nur isoliert, sondern im Kontext des gesamten Abschnitts, des gesamten Buchs oder des gesamtbiblischen Kanons. Das Verständnis des Einzeltextes prägt und revidiert dann das Verständnis des Gesamttextes, das Verständnis des Gesamttextes prägt und revidiert das Verständnis des Einzeltextes. Wie bereits erwähnt, wird in Bezug auf die Frage, ob und inwieweit Frauen zum gemeindeleitenden und gemeindelehrenden Dienst zugelassen sind, zuweilen der Verdacht geäußert, progressive Theologen würden die betreffenden Bibeltexte mit einer voreingenommen «feministischen» Brille


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lesen und sich weigern, dieses Vorverständnis durch die Bibeltexte korrigieren zu lassen. Progressiven Theologen wird deshalb vorgeworfen, sie würden die Bibeltexte auf Grund des zeitgençssischen Empfindens umdeuten oder zumindest missverstehen. Dagegen kann man jedoch einwenden, es sei «interessant, dass die Unterstützung von Frauen im geistlichen Dienst angeblich den zeitgemäßen Feminismus widerspiegelt, während die Ablehnung von Frauen im geistlichen Dienst aber irgendwie die Jahrhunderte des Chauvinismus nicht widerspiegeln soll». 8 Ebenso gut, wie argumentiert wird, dass die angestrebte Gleichstellung der Frauen in der westlichen Gesellschaft das progressive Verständnis der einschlägigen Bil belstellen prägt, kçnnte man argumentieren, el ateriadie Jahrtaus a sende dauernde gesellschaftliche der M n B tesVorrangstellung e n Männer habe das historische geprägt und es z n Verständnis hüt Bru scverwehrt, den entsprechenden Exegeten ihr Vorverständnis – is ht-ge t n durch die Bibeltexte Fo yrigkorrigieren zu lassen, woraus ein vorp eingenommenes, Co unsachgemäßes Verständnis der Bibeltexte hervorgegangen sei. Fazit: Es kann nicht das Ziel sein, die Bibel gemäß dem zeitgençssischen Empfinden zu modifizieren, aber es ist eine Pflicht, die Bibel immer wieder neu und selbstprüfend zu lesen, damit mçgliche Missverständnisse der Vergangenheit nicht unser Handeln heute prägen. 9 Es kam oft vor, dass Diskussionsteilnehmer in Tat und Wahrheit nicht die Unfehlbarkeit der Bibel verteidigt haben, sondern die Unfehlbarkeit einer Interpretationstradition der entsprechenden Bibeltexte, 10 also die Unfehlbarkeit ihrer «Brille». In dieser Gefahr stehen alle Bibelleser,


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sowohl auf Seiten der progressiven als auch auf Seiten der historischen Position. Es ist daher wenig hilfreich, wenn sich Vertreter der historischen und progressiven Positionen gegenseitig Voreingenommenheit vorwerfen. Sondern es ist die Pflicht beider Gruppen, im Sinn der hermeneutischen Spirale ihre Überzeugungen anhand der einzelnen Bibeltexte im Kontext des gesamtbiblischen Kanons zu prüfen und dadurch revidieren zu lassen. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten. «Wer sich mit Mischna und Talmud beschäftigt hat, weiß, dass, um es einfach und jüdisch zu sagen, jedes Gotteswort, das in der Bibel festgehalten ist, neunundneunzig l nur die mçgliche Auslegungen zulässt, und dass el aeigentlich eria s t a hundertste richtig ist, sie aberBkennt nur n tes M Gott allein. Ein e n Stück dieser Bescheidenheit ütz auch uns Christen run chwürde 11 B s wohl anstehen.» – e s

ti t-g Fon yrigh p Co

3 Ein Kanon verschiedener Stimmen in unterschiedlichen Situationen Das Neue Testament umfasst 27 verschiedene «Bücher», welche von mindestens acht verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten für verschiedene Leser geschrieben wurden. Dieser Befund macht klar, dass das Neue Testament nicht in dem Sinn einheitlich sein kann, wie es von einem einzelnen Buch normalerweise zu erwarten wäre, das von einem einzelnen Autor geschrieben wurde. 12 Die Inspiration der neutestamentlichen Autoren ist nicht im


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Über den Autor

Über den Autor

Christian Haslebacher ist verheiratet mit Annette, sie haben drei Kinder. Der gelernte Vermessungszeichner studierte von 1997 bis 2002 am Theologischen Seminar St. Chrischona. Danach wurde er Prediger in der Chrischona-Gemeinde Rorbas-Freienstein-Teufen. Von 2004 bis 2007 arbeitete er in der Projektgruppe «Der Dienst der Frau in der Gemeinde» der Pilgermission (heute «Chrischona International») mit. Zu dieser Fragestellung schrieb er seine Masterarbeit, die nun hier überarbeitet als Buch vorliegt. l Christian Haslebacher war von 2002 l bis 2011 e ateriaPastor in der s a Chrischona-Gemeinde Rorbas-Freienstein-Teufen im Kanton Zün B tes M e n rich und wurde dann Regionalleiter n ützfür die Region Ost der Chrihsolcher Bru Als c s schona-Gemeindens Schweiz. gehçrt Christian Hasle– ge i t t n h bacher auch des Vereins Chrischona-Gemeinden Foder yLeitung rig p o Schweiz (CGCH) C an. Er ist verantwortlich für die Personalführung und die Begleitung und Beratung der Gemeindeleitungen. Zu seinen Aufgaben gehçren auch die Planung und Durchführung von Konferenzen, Seminaren oder Schulungen. Leiterschaft versteht er eher als Begleitung, Fçrderung, Coaching und Beratung und weniger im direktiven Sinn. Seine Hauptanliegen: die Themen Evangelisation, Diakonie, Spiritualität und, wo sinnvoll, gemeinde- und denominationsübergreifende Zusammenarbeit. Christian Haslebacher ist für 31 Gemeinden in den Kantonen Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen (Toggenburg) und teilweise Zürich zuständig. (Quelle: «Chrischona-Panorama» und «Livenet»)



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