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Ijoma Mangold über den inneren Stammtisch
Martin Graff Grenzkabarett –Je t’aime, ich liebe dich 84 S., 12,90 € Morstadt
Wir sind doch einfach Europäer
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Er ist ein erfahrener Wanderer zwischen zwei Welten. Martin Graff, Autor und Filmemacher aus dem Elsass. Basierend auf dem Theaterstück Sause in Versailles – la grande bouffe, mischt er sich mit seinem jüngsten Buch Grenzkabarett – Je t’aime, ich liebe dich in die deutsch-französischen Befindlichkeiten ein. Ein sprachmächtiges, freches Feuerwerk von auch herbem Esprit. Natürlich zweisprachig! Keine Stärke, kein Fehler entgeht seinem satirisch bis humoresk geprägten Blick. In „schonungsloser Freundschaft“ führt er uns durch den dichten Dschungel der deutsch-französischen Klischees. Ob Erotik, Gastronomie, Wirtschaft oder Politik. Kein Schlachtfeld wird ausgelassen. Graffs mutige Grenzverletzungen fegen den letzten Mief nationaler Trägheit und Banalität aus den Köpfen. Eine gute Gelegenheit, sich wieder europäischen Träumen zu widmen.
Ijoma Mangold
Geboren 1971 in Heidelberg, wuchs bei seiner Mutter, einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, auf. Seinen Vater, einen nigerianischen Kinderchirurgen, lernte er erst als Zweiundzwanzigjähriger kennen. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Bologna. Nach Stationen bei der Berliner Zeitung und der Süddeutschen Zeitung wechselte er 2009 zur Wochenzeitung Die Zeit, deren Literaturchef er von 2013 bis 2018 war. Inzwischen ist er kulturpolitischer Korrespondent der Zeitung.
Nicht mit dem Bauch denken
Das ist Politik mit anderen Mitteln: das politische Tagebuch. Ijoma Mangold hat dieses Medium gewählt, um seine direkten Reaktionen auf den politischen Alltag zu registrieren und zu reflektieren. Auf Trump und Greta, auf Boris Johnson, den Hansdampf in allen Mediengassen, auf den Mietendeckel, den Terror in Hanau, das Corona-Virus. Seine Diagnose: Die Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wird ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüche. Mit einem Wort: Der innere Stammtisch ist das neue Modell der Zivilgesellschaft! Das Unreflektierte, die Affekte werden zu politischen „Tugenden“. Eine gefährliche Entwicklung. Denn am Ende der selbstverschuldeten Unmündigkeit meldet sich allzu oft die Barbarei.
Ijoma Mangold Der innere Stammtisch 272 S., 22,00€ eBook 19,99 € Rowohlt
BIOGRAFIE
Karina Urbach Das Buch Alice 432 S., 25,00 € eBook 19,99 €
Wer war Küchenmeister Rösch?
Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie sich als Dienstbotin durchschlägt und später ein Flüchtlingsheim für jüdische Mädchen leitet. Nach dem Krieg geht Alice nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte für Mehlspeisen und Tafelspitz vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den „Küchenmeister“ Rudolf Propyläen
Rösch je gegeben? Bei ihren Recherchen findet Alice’ Enkelin längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte deutscher NS-Verbrechen.
Am Ende wartet nur der Henker
Ihr Strafregister kann sich sehen lassen. 300 Gesetzesverstöße, meistens Taschendiebstähle und einige Einbrüche. Das könne nur eine Person, die das „Hexenwerk“ verstehe – so die Meinung des Gerichts. Der Name der „Erzdiebin“ und „Landvagantin“ ist in die Gauner- und Schauergeschichte eingegangen: Elisabetha Gassnerin, genannt die „Schwarze Lies“! Es seye eine Forcht, was sie gestohlen hat Silja Kai Foshag ihre überwältigende Recherche eines verlorenen Lebens aus dem 18. Jahrhundert genannt. Eine umfassende und detailreiche Analyse einer kriminellen „Karriere“ in einem sozialen und rechtlichen Umfeld, das für die Mehrheit der Bevölkerung nur zwei Alternativen bot: Anpassung oder Revolte. Wer authentische Aufklärung über die schlechte alte Zeit sucht, dem kann mit diesem Manifest der Inhumanität geholfen werden. Unbedingt lesenswert!
Silja Kai Foshag „Es seye eine Forcht, was sie gestohlen …“ 596 S., 68,00 € Morstadt
Jan Morris Rätsel – Betrachtung einer Wandlung 288 S., 25,00 € eBook 16,99 € Dörlemann
Mein Körper ist ein anderer
Sie fühlte es bereits als Kind. Und mit der aufkommenden Pubertät wurde dieses fremde Gefühl zur bedrängenden Gewissheit: Sie lebte im falschen Körper! Dennoch entschloss sich Jan Morris erst Mitte fünfzig zu einer Geschlechtsangleichung. Zu diesem Zeitpunkt war sie glücklich verheiratet und bereits Vater von vier Kindern. Sie hatte hohe Auszeichnungen im britischen Militär erlangt und sogar für die Times Edmund Hillary und Tenzing Norgay bei der Besteigung des Mount Everest begleitet. In diesem schonungslosen Bekennerbuch versucht die englisch-walisische Autorin, das Rätsel ihres Lebens zu lösen. Authentisch, offen und mit unerwartetem Humor. Mit Recht gilt ihr Lebensporträt heute als Klassiker der Transgender-Literatur. Aus dem Englischen neu von Frida Ellmann übersetzt.