J체rgen Chrobog
Hildesheimer Rede
Stiftungen in Zeiten hoher Ver채nderungsdynamik
Hildesheimer Rede Stiftungen in Zeiten hoher Ver채nderungsdynamik gehalten am 16. September 2010 im Rahmen des Sonderkongresses f체r Mitgliedsstiftungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen von Staatssekret채r a.D. J체rgen Chrobog, Vorsitzender des Vorstands, BMW Stiftung Herbert Quandt
Über den Autor Jürgen Chrobog, geboren 1940 in Berlin, ist Volljurist und war von 1972 bis 2005 Diplomat und Staatssekretär im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem 1. Juli 2005 ist er Vorsitzender des Vorstandes der BMW Stiftung Herbert Quandt. Die Hildesheimer Rede hielt Jürgen Chrobog anlässlich des Sonderkongresses für Mitgliedsstiftungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen am 16. September 2010. Darin entwickelt er zehn wichtige Thesen zum Stiftungshandeln angesichts der durch den gesellschaftlichen Wandel bedingten Herausforderungen.
Hildesheimer Rede Stiftungen in Zeiten hoher Veränderungsdynamik von Staatssekretär a.D. Jürgen Chrobog, Vorsitzender des Vorstands, BMW Stiftung Herbert Quandt
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin kein eigentlicher Stiftungsexperte und komme mehr aus der praktischen Politik. Aber ich habe in sechs Jahren gelernt, wie sich der gesamte Dritte Sektor, der die Stiftungen einschließt, entwickelt hat und wie er sich weiterentwickelt. Und ich habe gelernt, welche Rolle gerade Stiftungen spielen können, um Brücken zu bauen, gesellschaftliche Impulse zu geben, Innovationen anzuregen und dabei neue Fragen aufzugreifen – und dieses auf der Grundlage sozialen Engagements. Damit bin ich schon beim Thema dieser Konferenz und dieses Vortrages: „Stiftungshandeln in Zeiten großer Veränderungsdynamik“. Vor nunmehr 20 Jahren wurde die deutsche Vereinigung vollendet. Das Jubiläum bot Anlass, sich noch einmal vor Augen zu führen, wie in der letzten Phase der DDR mutiges Aufbegehren von zunächst wenigen Menschen, gepaart mit Erosionserscheinungen des dortigen Systems und allgemeiner Unzufriedenheit, in kurzer Zeit zu einer friedlichen Revolution anschwoll, die im Ergebnis die ganze Welt veränderte. Auch die Zeit unmittelbar nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages hat hierzulande, besonders auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wahrlich dynamische Veränderungen mit sich gebracht. Wo sind die Hoffnungen und Impulse geblieben, die vor zwanzig Jahren freigesetzt wurden? Hat sich die Dynamik der damaligen Veränderungsprozesse bis in unsere Tage fortgesetzt, oder sind wir wieder in die alte Lethargie zurückgefallen? Wenn man die gesellschaftlichen Diskussionen, die heute in Deutschland stattfinden, verfolgt, z.B. zu Themen wie ■■ Zuwanderung und Integration, ■■ demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft, ■■ moralisches Handeln in Wirtschaft und Finanzwelt, ■■ Probleme der Bildung und Ausbildung, ■■ Herausforderungen der Globalisierung und aller damit verbundenen entwicklungspolitischen und interkulturellen Probleme
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und wenn man das Regierungshandeln daran misst, wie es diese Probleme angeht, so entstehen Zweifel, ob und wie wir diese Herausforderungen bewältigen werden. Nehmen wir die gesellschaftlichen, insbesondere die demografischen Veränderungen in unserer Gesellschaft als Beispiel: Quantitative Veränderungen, z.B. der Bevölkerungszahl, bringen qualitative Veränderungen mit sich. Und diese sind umso schwieriger zu bewältigen, je weniger Zeit für die Bewältigung zur Verfügung steht. Wir kennen die dramatischen Prognosen, nach denen sich die deutsche Bevölkerung bis zur Jahrhundertmitte um zehn Millionen Menschen verringern wird. Gleichzeitig verändert sich die Altersstruktur: Die Bevölkerung im Erwerbsalter wird hierzulande den Prognosen zufolge sogar um ein Drittel abnehmen; und die Zahl der über 80-Jährigen wird 2050 die Zahl der Kinder (unter 15 Jahre) übersteigen. Eine Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von dann um die 60 Jahre – das ist eine gravierende, auch qualitative Veränderung gegenüber der heutigen Lage. Mangels einer vernünftigen Zuwanderungspolitik ist ein Ausgleich, zumindest was den qualifizierten Arbeitsmarkt angeht, nicht in Sicht. Hinzu tritt die sogenannte „Explosion der Demenz“, also ein Anwachsen der Zahl dementer alter Menschen auf dann ein Zwanzigstel der Bevölkerung, mithin über drei Millionen! Auch dies ist eine historisch bislang ungekannte rasche Veränderung. Allein vor diesem Hintergrund hat das Tagungsthema und das Thema meines Vortrags, Stiftungen in Zeiten hoher Veränderungsdynamik, dann doch seine Berechtigung.
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Zum Thema: Stiftungen sind zwar unterschiedlich und betätigen sich auf vielfältigen Gebieten. Es macht für das Stiftungshandeln einen Unterschied, ob eine Stiftung lokal ausgerichtet mit kleinem Budget Kultur unterstützt, ob sie die Wissenschaft mit Millionenbeträgen fördert oder ob sie sich weltweit sozial oder politisch engagiert. Ich versuche dennoch, Ihnen zehn Thesen vorzustellen, die stiftungsübergreifend auf das Stiftungshandeln in besonders dynamischen Zeiten gemünzt sind. Allen zehn Thesen liegt dabei die Überzeugung zugrunde, dass Stiftungen, auch wenn ihr Satzungszweck relativ konkrete Vorgaben macht, stets um die weitere Steigerung ihrer Gemeinwohlwirkung bemüht sein sollten.
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» These 1:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen der Gefahr der Orientierungslosigkeit entgegenwirken.
Veränderung impliziert u.a. Modifizierung, Innovation, Revision und Transformation. Wer auf Veränderungsprozesse jedoch nur im Nachgang der bereits eingetretenen Veränderung reagiert, wird zu ihrem Spielball. Und wer so zu spät kommt, den bestraft bekanntermaßen das Leben. Gefordert sind somit das frühzeitige Erkennen von Entwicklungen und die vorausschauende „pro-aktive“ Anpassung an künftige Veränderungen. Damit wird häufig unbekanntes Terrain betreten; das wiederum geht u.a. mit der Gefahr einher, auf dem Holzweg zu landen, sich zu verirren und Kräfte zu vergeuden (aus Angst davor unterbleibt dann doch oft der mutige Schritt nach vorn). Diese Gefahr lässt sich dadurch verringern, dass Landkarten, Kompass und richtungsweisende Leuchttürme für das künftige Handeln bereitgestellt werden. Stiftungen, die in solche Dienstleistungen „investieren“, bewirken im Zweifel mehr als wenn sie sich um das nachsorgende Beseitigen bereits eingetretener Probleme bemühen. Zur Illustration: Stiftungen können beispielsweise Orientierung geben durch Analysen, Studien und Berichte. Der demografische Wandel, der lange kaum untersucht wurde, ist dafür ein gutes Beispiel. Eine kleine Zahl von Stiftungen und Instituten (z.B. Reiner Klingholz, Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung) hat dieses Problem überhaupt erst bewusst gemacht und damit überfällige politische Maßnahmen angestoßen. Und solide Studien auf diesem Gebiet – verständlich präsentiert – helfen nicht nur, notwendige Anpassungsprozesse anzustoßen und in eine effektiv wirkende Richtung zu lenken. Sie tragen auch dazu bei, zu verhindern, dass scheinbar plausible, in Wirklichkeit aber auch hinsichtlich der angeblichen Fakten unhaltbare Thesen mit großer Resonanz verbreitet werden, wie wir es in diesen Tagen zum Thema Bevölkerungsentwicklung und Integration erleben müssen. Vieles auf dem Gebiet des demografischen Wandels ist noch nicht erfasst. Der Bundesinnenminister versucht zurzeit, den jüngst beschlossenen Kabinettsauftrag zu erfüllen, eine sogenannte Demografiepolitik zu entwickeln. Orientierung geben können Stiftungen dadurch, dass sie die Öffentlichkeit über gewonnene Erkenntnisse informieren und dabei helfen, Vorurteile abzubauen und durch praktische und intellektuelle Unterstützung Projekte zu fördern (vgl. z.B. das Projekt „Ein Quadratmeter Bildung“). Ferner helfen Fördermaßnahmen für Bildung Menschen, ihren eigenen Kompass zu entwickeln. Und Bildung meint hier nicht nur klassisch-formale Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten.
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Dem Gewinnen von Orientierung dient es auch, wenn die Begegnung von Menschen in Konferenzen oder anderen Formaten gefördert wird, die sich über aktuelle und künftige Herausforderungen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungshorizonten austauschen. Auch wer Menschen ins Rampenlicht rückt, die Vorbilder sein können, trägt zur Orientierung bei.
» These 2:
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In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen dazu beitragen, dass das Vertrauen in die tragenden Institutionen des demokratischen Gemeinwesens nicht verloren geht.
Veränderungen sind – was durchaus verständlich ist – oft mit Verunsicherung verbunden. Mit der eigenen Verunsicherung geht nicht selten ein Vertrauensverlust gegenüber der Umwelt einher. Das ist nur zu verständlich, es birgt aber auch Gefahren. Die Realität eines jeden Menschen ist von sozialer Komplexität geprägt. Vertrauen ist ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“, können wir von Niklas Luhmann lernen. Ohne Vertrauen ist weder das Handeln des Einzelnen in der komplexen Wirklichkeit möglich, noch ein funktionierendes Gemeinwesen überhaupt. Verunsicherung indes unterminiert die Bereitschaft, sich über mögliche Zweifel vertrauensvoll hinwegzusetzen und ggf. auch ein Risiko in Kauf zu nehmen. Wir können unterscheiden zwischen Systemvertrauen, Sozialvertrauen und Selbstvertrauen. Für das Funktionieren des demokratischen Gemeinwesens ist ein Minimum an Systemvertrauen essenziell. Wo es fehlt, ist nicht nur die Legitimität des gesellschaftlichen Systems in Gefahr, und damit auch das gesellschaftliche System selbst; mangelndes Systemvertrauen führt auch zum Rückzug in die näherliegenden Milieus des Sozialvertrauens – Freunde, Nachbarn usw. –, verbunden mit Verminderung des Einsatzes für das darüber hinausgehende Gemeinwesen und mit einer Abschottung gegenüber dem anderen, sozial „fremden“ Umfeld. Das notwendige Engagement für das Gemeinwesen droht so zu kippen und beschränkt sich auf abwehrende Protestaktivitäten gegen Veränderungen, die gleichwohl für das Gemeinwesen sinnvoll und wichtig, jedoch mit Eingriffen in das eigene abgeschottete Sozialmilieu verbunden sind. Wenn dies zum größeren Trend wird, können die negativen Folgen kaum durch Gemeinwohlaktivitäten der Stiftungen kompensiert werden (z.B. Stuttgart 21, Referenden in Hamburg und Bayern). Was uns vor allem aber Sorge bereiten muss, ist ein gravierend gewachsener Vertrauensverlust in die tragenden gesellschaftlichen Institutionen – von Kirchen bis zu Gewerkschaften. Dieser Vertrauensverlust – so verständlich er auch sein mag, ist destruktiv für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Hildesheimer Rede
Nun kann es kaum Aufgabe von Stiftungen sein, mit PR-Kampagnen oder ähnlichem für das Ansehen von anderen Institutionen wie Parteien, Kirchen und dergleichen zu werben. Was von Stiftungen beispielsweise getan werden kann, führt uns die noch junge und kleine „Stiftung Neue Verantwortung“ vor Augen. Sie hat dieser Tage in einem beachtenswerten Thesenpapier Strategien erarbeitet, mit denen unsere demokratischen Parteien revitalisiert und aus Sicht der Bevölkerung wieder vertrauenswürdiger werden könnten. Eine Verbreitung solcher Vorschläge und Impulse und die Förderung von Konzepten für die Umsetzung solcher Vorschläge wäre eine lohnende Aufgabe für Stiftungen. Eine weitere Möglichkeit für das Handeln von Stiftungen besteht in der Förderung der gemeinsamen, sektorübergreifenden Entwicklung und Durchführung von Projekten – in der Kultur, dem Umweltschutz, der Integrationsarbeit usw. Vertrauen bildet sich am besten im gemeinsamen Handeln. Dazu gehört auch die Unterstützung von Bündnissen auf kommunaler Ebene, die in jüngster Zeit auf den Weg gebracht wurden, wie die Bündnisse für Familie und die Bündnisse für Bildung.
» These 3:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen zur Revitalisierung des Subsidiaritätsprinzips beitragen.
Für die Veränderung der Lebensverhältnisse stehe, so die These im aktuellen, zweiten Familienbericht der Robert Bosch Stiftung, in weiten Bereichen noch nicht geeignete und erprobte Strukturen zur Verfügung. Vor allem, so eine weitere und meiner Ansicht nach zutreffende These des Berichts, „sind zentrale Entscheidungen nur in sehr begrenztem Umfang geeignet, nachhaltig gültige Antworten zu geben. Fehlende Erfahrungen mit neuen Wirklichkeiten verlangen nach vorläufigen Antworten. ... Zentrale Antworten ... verhindern die Erprobung von Alternativen. Sie lassen sich deshalb auch nur schwer und in der Regel erst dann korrigieren, wenn die Beweise gegen ihre Tauglichkeit erdrückend geworden sind“. Der Bericht, der sich primär der Familienpolitik widmet, empfiehlt vor diesem Hintergrund den „Schutz der Subsidiarität“. Ich denke, dieser Gedanke ist nicht nur für die Familienpolitik wegweisend. Das Subsidiaritätsprinzip ist einerseits ein Grundsatz für die Verteilung der Kompetenzen im staatlichen Bereich, demzufolge die jeweils untere Ebene im Rahmen des Möglichen gegenüber der höheren Ebene vorrangig zuständig ist. Aus diesem Prinzip folgt, dass dezentrale private Eigenverantwortung und Solidarität gegenüber zentralstaatlicher Bevormundung zu schützen ist. Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, die Einzelheiten und Folgerungen des Subsidiaritätsprinzips darzustellen. Mir kommt es hier nur auf folgenden Gedanken an: Größere dynamische Veränderung impliStiftungen in Zeiten hoher Veränderungsdynamik
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ziert Instabilität. Eine Vielfalt dezentraler Ansätze hat nicht nur die zitierten Argumente des Berichts für sich. Zusätzlich bringen Dezentralität und Vielfalt bei der Bewältigung von Themen unter veränderten Umständen auch eine Stabilitätsdividende für das Gesamtsystem. Das ist ja auch einer der Gründe, warum die Förderung des Stiftungswesens etwa im Steuerrecht legitim und für die Gesellschaft lohnend ist. Erlauben Sie mir zur Illustration den Vergleich mit der Wirtschaft: Zur vergleichsweise hohen Stabilität und schnellen Erholung der deutschen Wirtschaft in Zeiten der Finanzkrise hat nicht unwesentlich beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft stark vom Mittelstand, also von vielen dezentral gesteuerten Unternehmenseinheiten, geprägt ist. Ihre Flexibilität war und ist ein wichtiger Stabilisierungsfaktor. Das Wirken von Stiftungen ist per se subsidiär. Effektives Stiftungshandeln ist darum immer auch ein Beitrag zur Stärkung des Subsidiaritätsgedankens. Und doch können und sollten Stiftungen darüber hinaus dafür werben, dass dezentrale Eigenverantwortung gestärkt wird und nicht paternalistische Fürsorge eines notwendig bürokratischen Wohlfahrtstaats dies erstickt.
» These 4:
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In Zeiten dynamischer Veränderungen sollten Stiftungen neue Chancen identifizieren und aufzeigen, die die veränderten Umstände mit sich bringen.
Veränderungen gehen häufig mit Verunsicherung und manchmal auch mit regelrechten Ängsten einher. Dies wird nicht selten verstärkt durch Medienberichte, die gern zum Mittel der Dramatisierung von möglichen negativen Begleiterscheinungen dieser oder jener Veränderung greifen – bad news are good news. Die Politik ist von diesem Einfluss nicht frei, entsprechend ist dann auch staatliches Handeln oft problem- und nicht chancenorientiert. Auch hier ist der demografische Wandel ein gutes Beispiel: Schon der Begriff der „Überalterung“ ist irreführend und negativ. Dass Menschen heute länger und im Alter aktiver leben als vor Jahrzehnten, ist zunächst eine gute Nachricht. Die Frage ist, wie nutzen wir die sich daraus ergebenden Ressourcen. Indes geraten die Chancen, die sich mit einer längeren Lebenszeit verbinden, unter dem Rubrum „Überalterung“ schnell in den Hintergrund. In diesem Bereich gibt es kluge und weiterführende Untersuchungen (z.B. von Reiner Klingholz), deren Umsetzung gerade auch durch Stiftungen im Rahmen ihres sozialen Engagements gefördert werden können.
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» These 5:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen sich – möglichst mit präventivem Vorgehen – den vernachlässigten potenziellen Dynamikverlierern widmen.
Diese These mag wie ein Gegensatz zum soeben Gesagten klingen, mit dem ich für eine Chancenorientierung werbe. Aber natürlich gibt es bei Veränderungen regelmäßig nicht nur Probleme und Chancen, sondern auch Gewinner und Verlierer. Stiftungen werden ihrer Aufgabe der Ergänzung staatlicher Aktivitäten und ihrem eigenen Anspruch, flexibel und unabhängig zu sein, am ehesten gerecht, wenn sie sich denjenigen Dynamikverlierern widmen, die vom „Mainstream“ vernachlässigt werden oder die von staatlicher Fürsorge prinzipiell kaum erfasst werden und wo für die Hinwendung zu dieser Gruppe auch ein gewisser Mut zum Unpopulären erforderlich ist. Und da gibt es gar nicht so wenige Gruppen. Um es wiederum am Beispiel des demografischen Wandels festzumachen: Zu diesem Wandel gehört auch eine umfangreiche und zumeist unterschätzte Wanderung innerhalb Deutschlands und innerhalb Europas. Im Zuge dessen ist bei uns die Zahl der Menschen stark gewachsen, die, ohne gemeldet und in staatliche Systeme eingebunden zu sein, bei uns leben. So leben in unseren Großstädten mittlerweile viele Tausend Kinder, die nicht gemeldet sind und juristisch keine Aufenthaltsberechtigung haben. In elf Bundesländern, ergab eine Studie des Bundesinnenministeriums, besteht für solche illegal hier lebenden Kinder nicht nur keine Schulpflicht, sondern auch kein Recht zum Schulbesuch. Ihnen ist damit jede Ausbildung verwehrt. Auch hier sind die alternativen Handlungsmöglichkeiten für Stiftungen vielfältig. Stiftungen können das Problem bewusst machen und andere aktivieren, sich konkret dieser Probleme anzunehmen. Hier ist eine Art Themenanwaltschaft gefragt.
» These 6:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen neue Verfahren entwickeln und verbreiten helfen, mit denen man neuen Herausforderungen und Rahmenbedingungen angemessener begegnen kann. Dynamische Veränderungen erfordern neue Lösungen, und diese wiederum machen nicht selten neue Vorgehensweisen erforderlich.
Es geht – in der Sprache der Wirtschaft formuliert – nicht nur um Produkt innovation, sondern eben auch um Prozess- und Managementinnovationen: Social Entrepreneurship. Das fällt manchen kleinen Stiftungen, die sich besonders idealistischen Zielen verbunden sehen, noch schwer: Die Förderung eines innovativen Kindergartens, einer Uraufführung oder neuer Talente ist in mancher Hinsicht attraktiver und passender zum Willen Stiftungen in Zeiten hoher Veränderungsdynamik
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der Stiftungsakteure, die Realität konkret mitzugestalten, als beispielsweise die Eruierung neuer Methoden des Projekttransfers. Auf der anderen Seite: Gelingt die Entwicklung und Verbreitung neuer Verfahren, kann diese eine besondere Hebelwirkung entfalten, weil damit das Wirken vieler anderer Akteure effektiver gemacht werden kann. Beispiele: Eine Gruppe von Stiftungen hat vor einiger Zeit die Entwicklung des Social Franchising-Konzepts gefördert, und dies hat mittlerweile nicht nur großen Einfluss auf andere Akteure in allen möglichen Bereichen der Zivilgesellschaft, sondern sogar auf die Konzeption mehrerer großer staatlicher Programme. Eine hierzulande neuartige Methode, Probleme in schwierigen Stadtteilen zu vermeiden oder zu lösen, ist die Methodik des Community Organizing. Es ist für die dezentrale eigenverantwortliche Entwicklung von Problemstadtteilen eine faszinierend hebelwirksame Methodik. Die Körber-Stiftung hat in einem ersten Schritt zunächst einmal ermöglicht, dass der führende Experte dazu ein Buch veröffentlichen konnte. Das ist mit einem überschaubaren Budget möglich; und das hat dazu beigetragen, dass jetzt eine Gruppe anderer Förderer, nicht nur Stiftungen, in die Förderung der weiteren Erforschung dieser Methodik und von mehreren Community Organizing-Projekten eingestiegen ist. Wir als BMW Stiftung Herbert Quandt sehen in kooperativem Handeln zwischen Staat, Wirtschaft, Bürgergesellschaft und Wissenschaft einen wichtigen Hebel, strukturelle Innovationen für unsere Gesellschaft zu fördern. Hierzu gehört auch die Förderung von Führungskräften.
» These 7:
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In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen Bewahrenswertes davor schützen, vom Sturm der Veränderung hinweggeweht zu werden.
Zum Wesenskern von Stiftungen gehört ihre Dauerhaftigkeit, und das ermöglicht im Zusammenspiel mit ihrer weitgehenden Unabhängigkeit, auch zeitlich über den Tellerrand zu blicken. Innovation mag prima facie moderner wirken als das Bewahren, und wer möchte schon unmodern sein. Aber zur wesenstypischen, besonderen Eignung von Stiftungen zu langfristiger Betrachtung gehört eben auch, dass sie potenziell eine besondere Sensibilität für das auf Dauer Wichtige haben. In Zeiten dynamischer Veränderung ist aber gerade dasjenige in großer Gefahr, dessen Erhaltungswürdigkeit erst bei langfristiger Betrachtung bewusst wird. Bei manchen Stiftungen ist das Bewahren bereits Satzungszweck, vor allem bei Stiftungen für Denkmalschutz und Naturschutz. Aber nicht nur Denkmäler und Biosphären sind bewahrenswert. Auch die Erhaltung von Werten in einer sich immer mehr auflösenden Gesellschaft verdient Beachtung und Einsatz. Hildesheimer Rede
» These 8:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen einen Gegenpol zu hektischer Kurzatmigkeit bilden.
Diese These ist nur eine kurze Ergänzung zur vorherigen, denn sie plädiert ebenfalls für ein Denken und Handeln in längeren Zeiträumen. Wir sollten uns im Stiftungswesen selbstkritisch fragen, ob wir nicht mit der vielfachen Praxis, Projekte jeweils nur kurz befristet zu fördern, um schnell wieder Spielräume für Neues zu bekommen – ob wir damit nicht unsere spezifische und wertvolle Fähigkeit zum Agieren mit langem Atem verschütten. Ich knüpfe insofern an und verweise auf die Ausführungen des geschäftsführenden Vorstands der BMW Stiftung Markus Hipp, der die oft kurzatmige Stiftungspraxis meines Erachtens zu Recht im StiftungsReport 2009 hinterfragt hat. Wir im Stiftungswesen müssen nicht in kurzen Fristen vor Aktionäre oder vor Wähler treten. Warum ist dann für eine Großzahl von Stiftungen eine Projektförderung von mehr als drei Jahren die seltene Ausnahme? Einer von mehreren negativen Effekten der kurzen Fristen beim Stiftungsengagement in Projekten anderer ist, dass wir die Energie unserer Partner, die wir doch als förderungswürdig sehen, von den Projekten in das stetig neu erforderliche Bemühen um Mittelakquisition oder um einen anderen Job in einem anderen Projekt umlenken. Wir wissen doch alle, dass gut Ding Weile haben will. Das gilt für Projekte, auch für den Auf- und Ausbau von Institutionen. Ein zu kurz gefördertes Projekt ist eine potenzielle Projektruine, also keine nachhaltige Angelegenheit.
» These 9:
In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen ihren komperativen Vorteil, unbürokratische Flexibilität, erhalten und stärken.
Eine weitere viel gelobte Besonderheit von Stiftungen ist die Fähigkeit zu unbürokratischem, flexiblen Vorgehen. Ich halte persönlich viel von Private Public Partnerships, von denen ich als Botschafter in Washington häufig profitiert habe. Ich weiß, dass die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen oft mit Bedenken gesehen wird. Natürlich – wer mit dem Staat in gemeinsamen Projekten kooperiert, kommt meist nicht umhin, sich der staatlichen Bürokratie und den entsprechenden Handlungslogiken anzupassen. Dies gilt aber für jede Kooperation. Das dann verstärkte System des Controllings auch jenseits des Finanzcontrollings gehört zum selbstverständlichen Ausweis professionell-kompetenten Stiftungsmanagements. Dabei prägen die leitenden Profis gerade aus den größeren Förderstiftungen den Stiftungssektor auch im Kleinen jenseits ihrer eigenen Stiftung mit, sei es als Vorbild, als Ratgeber oder als Referenten bei FortStiftungen in Zeiten hoher Veränderungsdynamik
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bildungsveranstaltungen, oder eben als Mittelgeber für kleinere Stiftungen. Zum Teil umfangreiche Antrags- und Berichtserfordernisse, mit denen manche größere Stiftung ihre Partner konfrontieren, führen aber häufig auch zu einer Bürokratisierung der Prozesse. Kontrolle ist per se gut, aber manchmal ist Vertrauen besser, vor allem, wenn die Kooperation durch Beratung und menschliche Begleitung zwischen den Projektpartnern sichergestellt ist. Ich schätze das von der VolkswagenStiftung praktizierte Verfahren: Sie hat neben ihren Fokusbereichen einen Programmbereich mit dem Titel „Offen – für Außergewöhnliches“. In Zeiten hoher Veränderungsdynamik ist die Fähigkeit zu Flexibilität und unbürokratischem Handeln besonders wertvoll; denn diese Fähigkeit ermöglicht rasche Anpassung sowohl an geänderte Verhältnisse wie auch an „lessons learned“ aus den erprobten neuen Lösungsansätzen auf unbekanntem Terrain. Sie sollte darum gerade in Zeiten hoher Veränderungsdynamik als „Stiftungsvermögen besonderer Art“ in ihrer Substanz erhalten werden.
» These 10: In Zeiten hoher Veränderungsdynamik sollten Stiftungen in ethisch orientierte und kompetente Leadership investieren. „It is people who matter“, lautet der Leitspruch von AMREF (African Medical and Research Foundation). Dass es wesentlich auf einzelne Persönlichkeiten ankommt, ist unsere alltägliche Erfahrung und wurde schon oft betont. Das gilt besonders in Zeiten von Veränderungen, in denen in kurzer Frist Mechanismen ins Wanken geraten, Rahmenbedingungen volatil sind und Planbarkeit erodiert. Was es umso mehr braucht, sind Persönlichkeiten, vor allem in Führungspositionen, deren sachliche Kompetenz, persönliche Integrität und ein guter innerer ethischer Kompass ermöglicht, Menschen und Institutionen bei wechselnden Winden durch die Wogen des Wandels situationsangepasst und mit Weitblick zu steuern. Die Investition in die Entwicklung und Begleitung von Führungspersönlichkeiten gehört zu den Fördermöglichkeiten mit potenziell beson-
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ders großer Hebelwirkung. Mit ihren Young Leader Foren motiviert daher die BMW Stiftung Führungskräfte im Alter zwischen 30 und 45 Jahren aus vielen Nationen zu mehr bürgerschaftlicher, sozialunternehmerischer und politischer Beteiligung und Mitgestaltung (Führungsverantwortung) und initiiert damit neue, nachhaltige Formen sektorenübergreifender Zusammenarbeit. Mein Damen und Herren! Erlauben Sie mir abschließend noch eine Bemerkung, die auf meinen Erfahrungen in der BMW Stiftung beruht. Wir sind keine reiche Stiftung, haben aber erkannt, dass Geld nicht das entscheidende Kriterium ist. Was viel mehr zählt, sind das persönliche Engagement und die Fähigkeit, sich intellektuell und durch praktische Mitarbeit einzubringen. Unsere weltweiten Young Leader Foren sind weniger Informationsveranstaltungen als eine Befassung mit konkreten sozialen Projekten, in die wir unsere jungen Teilnehmer einbinden und mit ihnen und den Projektträgern Gedanken entwickeln, wie Programme erfolgreicher und nachhaltiger werden können. Die Kreativität und Freude an dieser Tätigkeit außerhalb ihrer eigenen Berufstätigkeit ist immer wieder verblüffend. Wenn es dann noch gelingt zu eigenem dauerhaften Engagement anzuregen und Menschen und Programme zu vernetzen, ist dies ein großer Erfolg. Beeindruckt bin ich immer wieder von der Bereitschaft junger Menschen sich zu engagieren, den eigenen Beruf aufzugeben und zu versuchen, durch eigene Programme Dinge zu verändern. Völlig unabhängig von Strukturen wie Stiftungen und anderen NGOs ist diese individuelle Bereitschaft in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Meine Damen und Herren, „Probleme sind Gelegenheiten“, heißt es oft und vor allem im US-amerikanischen Raum. Das stimmt, es ist aber nur die halbe Wahrheit. Probleme sind auch Probleme. Und dennoch: Die hohe Veränderungsdynamik, die unsere Zeit prägt und die zum Teil problematische Wirkungen entfaltet, bietet für das Stiftungshandeln eine Reihe von Handlungsoptionen, um wirksam die Ressourcen der eigenen Stiftung für das Gemeinwohl einzusetzen. Es kommt darauf an, diese Chancen in der doppelten Bedeutung des Wortes wahrzunehmen. Dazu hoffe ich, mit meiner Rede einen Beitrag geleistet zu haben.
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und rechts, unten), Annika Nirina Nebe
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(Foto oben Mitte)
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