Die Alpen - Bergwelt mit verbauter Zukunft

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Natur+Umwelt Magazin www.bund-naturschutz.de

Sonderheft Alpen

83. Jahrgang 路 Sonderausgabe Alpen 2001

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Bund Naturschutz

Die Alpen

Bergwelt mit verbauter Zukunft


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Über elf Millionen Menschen bewohnen den 180 000 Quadratkilometer großen Alpenbogen. Sieben Staaten, 83 Regionen und 5 800 Gemeinden haben an ihm Anteil. Aus dem gigantischen Dachgarten des europäischen Kontinents erwuchs ein Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum von allerhöchster Bedeutung. Gleichzeitig wurde die sensible Natur der Bergwelt überrollt, übernutzt und – vor allem touristisch – ausgebeutet. Und dennoch: In den Alpen stößt der Mensch auch heute noch an seine Grenzen. Mit der Klimaerwärmung kehrt in unser Bewusstsein zurück, wie eiskalt und unbeherrschbar die Gewalt der Berge ist, wenn sie erst einmal in Bewegung geraten. Über die politischen, kulturellen und ökologischen Anstrengungen für eine neue und nachhaltige Entwicklung in den Alpen, die die natürlichen Grenzen anerkennt, schreiben unsere Autoren auf den nächsten Seiten. Erich Kästner hat dagegen schon 1930 geahnt, dass der Natur irgendwann einmal einfach die Geduld reißen könnte: »Das Gebirge machte böse Miene. Das Gebirge wollte seine Ruh. Und mit einer mittleren Lawine deckte es die blöde Bande zu.« (cm)

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Fotos: J端rgen Winkler

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Große Ziele, kleine Schritte Die Alpenkonvention: Ende eines ökologischen Alptraums? Von Peter Haßlacher Schon 1991 haben die Umweltminister der sieben Alpenstaaten und der Umweltkommissar der Europäischen Union das »Übereinkommen zum Schutz der Alpen« unterzeichnet. Doch noch immer handelt es sich bei der Alpenkonvention um ein unvollendetes Werk der großen Ziele und der kleinen Schritte.

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Der Fotograf Jürgen Winkler, geb. 1940, gilt als einer der großen Alpinfotografen. Doch mit den auf dem Titel und auf S. 2 und 3 gezeigten Bildern verlässt er den gewohnten Blickwinkel. »Das andere Bild der Berge« heißt der Titel seines aktuellen Buchs (Bergverlag Rother, München).

ie Alpenkonvention soll die hohe Umweltqualität dieser großen europäischen Bergwelt sichern, für eine gleichwertige Lebensqualität aller Alpenbewohner sorgen und dabei die regionale Vielfalt erhalten und verbessern. Dafür wurden zu den wichtigsten Bereichen wie Berglandwirtschaft, Naturschutz und Landschaftspflege, Raumplanung, Tourismus, Verkehr, Bergwald, Bodenschutz und Energie einzelne Durchführungsprotokolle erarbeitet. Die Rahmenkonvention des völkerrechtlich verbindlichen Vertragswerkes trat 1995 in Kraft. Könnte den glorifizierenden Ausdrücken für die Alpenkonvention in der Frühzeit ihrer Entstehungsgeschichte Glauben geschenkt werden, dann müsste sie tatsächlich das Allheilmittel für das gefährdete Ökosystem und den Lebensraum Alpen sein. Denn die Erwartungshaltungen wurden dermaßen hochgeschraubt, dass sie ein so breit angelegtes internationales Abkommen einfach nicht erfüllen kann. Sie reichten vom »europäischen Plan zur Rettung der Alpen«, der »Überlebensstrategie«, dem Eckpfeiler einer »Zukunftsstrategie für die Alpen«, dem »Signal für europäische Zusammenarbeit« und »Modell der nachhaltigen Entwicklung« bis hin zur »Magna Charta für den Dachgarten Europas«.

Erfolg nur am Anfang Nach zügigem Beginn wurde schon im Jahre 1991 in Salzburg, zwei Jahre nach der ersten Alpenkonferenz in Berchtesgaden 1989, mit dem Be-

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schluss der Rahmenkonvention der organisatorische Überbau vereinbart. Allerdings ratifizierte mit Italien der letzte der neun Vertragspartner erst im Jahre 1999 die Alpenkonvention, obwohl diese nach der Beendigung der nationalen Ratifikationsprozesse in Österreich, Liechtenstein und Deutschland bereits 1995 in Kraft getreten war. Niemand konnte aber zu Beginn der 90er erahnen, dass rund zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Alpenkonvention erst acht von insgesamt zwölf vorgesehenen Durchführungsprotokollen von allen Vertragsparteien angenommen und unterzeichnet sind und mit der Umsetzung – mit Ausnahme von einigen vornehmlich nichtstaatlichen Aktivitäten – noch nicht begonnen worden ist.

Langer Atem für die Alpen Die Alpenkonvention hat das ambitiöse Ziel, international verpflichtende Rahmenbedingungen zu erarbeiten, damit eine umweltverträgliche Nutzung des gesamten Alpenraumes – also die richtige Balance zwischen Ökonomie und Ökologie – möglich wird. Dies stellt aber in Europa Neuland dar: Während bestehende Konventionen rein sektorale Ziele verfolgen, bezieht sich die Alpenkonvention auf einen von elf Millionen bewohnten und teilweise sehr intensiv genutzten Raum, in dem sich Wirtschafts- und Schutzinteressen kleinräumig ineinander verzahnen. Die Durchführungsprotokolle sind das Herzstück der Alpenkonvention und dienen zur Festlegung der konkreten Inhalte. Die Wege vom Auftrag einer Alpenkonferenz zur Erarbeitung eines Protokolls bis zur Umsetzung sind allerdings viel zu lang. Zudem sind die einzelnen Protokolle von sehr unterschiedlicher Qualität, teilweise mit einem sehr geringen Verpflichtungsgrad ausgestattet und zum Teil inhaltlich auch schon wieder überholt. Gerade bei den erstunterzeichneten Protokollen »Naturschutz und Landschaftspflege«, »Berglandwirtschaft« und »Raumplanung und nachhaltige Entwicklung« ist seit der Verhandlung Anfang der 90iger Jahre und seit Unterzeichnung im Jahre 1994 schon wieder so viel passiert, dass bereits an eine inhaltliche Überarbeitung gedacht werden muss. Obschon die Bundesregierungen die Vertragsparteien der Alpenkonvention sind, findet der Verhandlungsprozess längst nicht mehr hinter

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verschlossenen Türen statt. Die oft geäußerte Kritik der mangelnden Einbeziehung der betroffenen Regionen ist nicht länger aufrecht zu erhalten. In Österreich gibt es sogar ein »Nationales Komitee für die Alpenkonvention«, in welchem Vertreter der tangierten Ministerien, der Länder, Sozialpartner und Nicht-RegierungsOrganisationen (NGO) mitarbeiten und die Linie für internationale Verhandlungen sowie die nationale Umsetzung abstimmen. Dennoch wird die breite Öffentlichkeit noch sehr wenig informiert. Ausnahmen sind in Österreich die vom Bundesministerium für Landund Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft finanziell getragene Öffentlichkeitsarbeit im Alpenkonventionsbüro der Alpenschutzkommission CIPRA und die laufende Infoarbeit der nichtstaatlichen Organisationen auf internationaler und nationaler Ebene. Dies mag neben dem Fehlen eines ständigen Sekretariats der Alpenkonvention auch daran liegen, dass abzuwarten war, ob es zu einem Abschluss des Verkehrsprotokolls und damit überhaupt zur Umsetzung der Alpenkonvention kommen wird. Jetzt aber sind alle Vertragsparteien aufgerufen, möglichst rasch alpenweit geltende Prioritäten für die konkrete Umsetzung auf den Tisch zu legen. Dabei kann es nicht darum gehen, dass sich die verschiedenen Länder nur die Rosinen herauspicken, also solche Bereiche wählen, bei denen sie ohnehin schon Stärken

Mehr zur Alpenkonvention 왘 Internet: www.alpenverein.at/ alpenkonvention.htm oder www. cipra.org 왘 Die Alpenkonvention. Eine Dokumentation (Vertragstexte, Stand, Veröffentlichungen, Karten). Fachbeiträge des Österreichischen Alpenvereins – Serie: Alpine Raumordnung, Nr. 17, 2000. Schutzgebühr öS 100,– + Versand 왘 Bibliographie zur Alpenkonvention 1989 – 2000. Mit Hinweisen zum Stand der Alpenkonvention, der Protokolle und der Umsetzung. Zu beziehen beim Österreichischen Alpenverein, Postfach 318, 6010 Innsbruck, Tel. 00 43-5 125 95 47 27, Fax 00 43-5 12-59 54740, E-Mail peter.hasslacher@ alpenverein.at, Internet www.alpenverein.at


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aufweisen. Die richtige Balance zwischen Schützen und Nützen muss gefunden werden, und auch die heißen Eisen sind anzupacken. Die zentralen Themen der Alpenkonvention sind mit Sicherheit das Verkehrs- und das Tourismusprotokoll. Bei ihnen handelt es sich um sogenannte Leitprotokolle, die Sektoralbereiche regeln sollen, von denen eine gewaltige gestalterische Kraft auf den Alpenraum ausgeht.

Protokolle auf dem Prüfstand Gerade deshalb hat auch die Verhandlung des Verkehrsprotokolls insgesamt zehn Jahre gedauert. Sie hat im Herbst 1990 unter Schweizer Vorsitz begonnen. Doch schon bald entwickelte sich die österreichische Forderung nach einem Verbot neuer hochrangiger Straßen für den alpenquerenden Verkehr zur schier unüberwindbaren Hürde für die Verhandlungsführer. Erst der unermüdliche Einsatz österreichischer NGOs (Alpenverein, Transitforum) und die Unterstützung aus Deutschland und Liechtenstein ermöglichten im Jahre 1998 die Neuverhandlung des Verkehrsprotokolls unter liechtensteinischem Vorsitz. Im März 2000 wurde es endlich einstimmig angenommen und ein halbes Jahr später bei der 6. Alpenkonferenz ohne Vorbehalte unterzeichnet. Mit dem Verkehrsprotokoll liegt erstmals ein alpenweit abgestimmter und von den acht Alpenstaaten unterzeichneter verkehrspolitischer Rahmen vor. Da die Europäische Union Vertragspartner ist, hat sie sich wie jeder andere Staat zur Durchführung der Inhalte verpflichtet. Der Grundsatz der verstärkten Kooperation auf internationaler Ebene ist ein wesentliches Element des Verkehrsprotokolls. So sind bei projektierten neuen Infrastrukturen oder erheblicher Vergrößerung bestehender Verkehrsnetze Koordinationsmechanismen zwischen den betroffenen Vertragsparteien vorgesehen. Im Bewusstsein, dass ohne geeignete Gegenmaßnahmen der Verkehr und die damit verbundenen Umweltbelastungen weiterhin zunehmen werden, verpflichten sich die Vertragsparteien im Verkehrsprotokoll zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Erreicht werden soll dieses Hauptziel durch die Begrenzung des Verkehrsvolumens, eine umweltverträglichere Lenkung des Verkehrs und die Steigerung der Leistungsfähigkeit der bestehenden Verkehrssysteme

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Berge in Not Forderungen des Bundes Naturschutz zur Sicherung des alpinen Naturund Kulturerbes Trotz einer steigenden Zahl an nationalen und internationalen Gesetzen, Verordnungen und Deklarationen zum Schutz der Alpen haben sich die Belastungen der Alpen in den letzten Jahren nicht verringert, sondern sie nehmen weiterhin zu.

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Foto: Kurt Wagner

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Alpenwildnis

ie Sicherung des alpinen Naturund Kulturerbes ist nicht nur ein Interesse der Alpenregion selbst, sondern muss wegen der weitreichenden und schwerwiegenden Schäden einer Zerstörung dieses Ökosystems ein wichtiges Ziel des gesamten bayerischen und deutschen Umweltschutzes sein. Die Bundesregierung muss endlich durch Ratifizierung der bisherigen Protokolle und Verbesserung des Verkehrsprotokolls einen konsequenten Alpenschutz vollziehen. Daher richtet der Bund Naturschutz folgende Forderungen an die für den Alpenraum Verantwortlichen in Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Verbände: 왖 Umsetzung des neuen Grundsatzes in Artikel 1 (Satz 7) des Bayerischen Naturschutzgesetzes in die Praxis: »Die bayerischen Alpen mit ihrer natürlichen Vielfalt an wildlebenden Pflanzen und wildlebenden Tierarten einschließlich ihren Lebensräumen sind als Landschaft von einzigartiger Schönheit zu erhalten.« 왖 Konsequente und sofortige Umsetzung aller Verpflichtungen aus der Alpenkonvention (Rahmenkonvention und Protokolle).

왖 Konkrete Schritte zur Verminderung der Verkehrsbelastung des Alpenraumes. 왖 In den Schutzgebieten der bayerischen Alpen ist den Belangen des Arten- und Biotopschutzes stärkerer Vorrang einzuräumen. Wo es möglich und fachlich sinnvoll ist, sollte die Nutzung eingeschränkt werden, da gerade der Alpenraum ein großes Potential für Wildnis-Gebiete bietet. Wieder nach Bayern zurückkehrende große Säugetiere, z. B. Luchs, Bär, Wolf, oder Greifvögel, sollten ein dauerhaftes Heimatrecht haben. 왖 Die Nutzung des Alpenraumes durch Bergland- und Forstwirtschaft muss nachhaltig und naturnah erfolgen. 왖 Der zunehmende Flächenverbrauch muss gestoppt werden. 왖 Die touristische Nutzung muss sich an der Natur orientieren und Grenzen akzeptieren muss. 왖 Die Nutzung regenerativer Energien ist gerade im Alpenraum eine große Chance. Dies darf aber nicht dazu führen, dass unter dem Argument der CO2-Einsparung die letzten freifließenden Fließgewässer zur Wasserkraftnutzung verbaut werden.

Arbeitskreis Alpen des BN

und beschäftigt sich mit allen Fachthemen wie etwa Tourismus, Almwirtschaft, Bergwald oder Naturschutz. Er dient auch dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Sprecher ist Dr. Georg Meister, sein Stellvertreter Werner Fees. Koordination: Christine Margraf, Fachabteilung München, Pettenkoferstr. 10a/I, 80336 München, Tel. 0 89-54 82 98 89, Fax 54 82 98 18, E-Mail fa@bund-naturschutz.de

Die Alpen-Experten des Bundes Naturschutz treffen sich regelmäßig alle zwei Monate im Arbeitskreis Alpen. Er arbeitet dem BN-Landesvorstand zu

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Naturlandschaft im Nationalpark Berchtesgaden.

Auszug aus der »Resolution zum Schutz der Alpen« der BN-Delegiertenversammlung vom 13. Mai 2000 in Bad Aibling.


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Der Autor Peter Haßlacher, geb. 1949, ist Leiter der Fachabteilung Raumplanung/ Naturschutz des Österreichischen Alpenvereins und Vizepräsident von CIPRA International. Für »besondere Leistungen zum Schutz der Alpen« erhielt er den KonradLorenz-Staatspreis. Kontakt: E-Mail peter.hasslacher@ alpenverein.at

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insbesondere mit Hilfe marktkonformer Anreizmaßnahmen. So verpflichten sich die Vertragsparteien 쐽 zur Förderung leistungsfähiger und attraktiver öffentlicher Transportsysteme im Alpenraum; 쐽 zur besseren Auslastung der bestehenden Eisenbahnnetze, Schifffahrtswege und intermodalen Transportsysteme sowie zum Ausbau der Kapazität der alpenquerenden Eisenbahnachsen, um die Verlagerung des Güterverkehrs auf umweltverträglichere Transportarten zu begünstigen; 쐽 zum Verzicht auf den Bau neuer hochrangiger Straßen für den alpenquerenden Verkehr (»Alemagna«!); 쐽 zur Senkung der durch den Flugverkehr verursachten Umweltbelastungen, insbesondere durch Begrenzung des Baus von Flughäfen im Alpenraum und des Absetzens aus Luftfahrzeugen außerhalb von Flughäfen; 쐽 zur schrittweisen Einführung verkehrsspezifischer Abgabensysteme, welche die Deckung der wahren Kosten ermöglichen.

Die Laster-Lawine rollt Inzwischen überrollen Lastwagen die Alpen, und der Freizeitverkehr wächst weiter. Die Zahl der Lastwagen, die zwischen Wien und Nizza die Alpen queren, wuchs 1999 wiederum um neun Prozent. Innerhalb von zehn Jahren (1989 – 1999) steigerte sich der Lastwagenverkehr um 60 Prozent, das darin transportierte Frachtgewicht um 56 Prozent. Die Bahnfracht stieg im selben Zeitraum um weniger als 20 Prozent und im Vergleich zu 1998 hat sie 1999 sogar alpenweit um 3,5 Prozent abgenommen. Sowohl in der Rangliste der am meisten frequentierten alpenquerenden Straßen als auch beim Frachtgewicht liegt der Brenner vor dem Frejus-Straßentunnel. Die Schadstoffbilanz hat in Tirol im Zeitraum 1993 bis 2000 im Transitverkehr um 18 Prozent zugenommen. Viele Hoffnungen werden deshalb jetzt in das unterzeichnete Verkehrsprotokoll gesetzt. Dessen konkrete Umsetzung und damit Hilfestellung für die betroffenen Regionen in absehbarer Zeit wird die Nagelprobe für die Alpenkonvention. Bedauerlich, dass die EU, die immer auf die Aushandlung des Verkehrsprotokolls pochte, bei den letzten vier Sitzungen des Ständigen Ausschusses und der 6. Alpenkonferenz gar nicht präsent war. Einmal mehr werden also die NGOs gefordert sein, um die konkrete Umsetzung des Verkehrsprotokolls anzumahnen.

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Nicht anders läuft es beim Tourismusprotokoll, das unter französischem Arbeitsgruppenvorsitz ausgehandelt worden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade dieses Protokoll als nicht besonders weitreichend einzustufen ist. Schade, denn der touristische Wachstumskreisel dreht sich gerade in den Alpen – angetrieben durch das gegenseitige Aufschaukeln von Staaten, Regionen, Gemeinden und Seilbahnunternehmen – unentwegt weiter. Sie alle stehen bei neuen mechanischen Aufstiegshilfen, Gebietszusammenschlüssen, Beschneiungsanlagen und sogar schon bei der Verwendung von biologischen und chemischen Zusatzstoffen für die künstliche Beschneiung unter einem ungeheuren Wettbewerbsdruck. Doch ein neuer dynamischer Kreisel hat den bekannten »Betten-Pisten-Kreisel« bereits abgelöst. Immer deutlicher sind die Konturen eines »KapitalEvent-Kreisels« zu erkennen. Ständig mehr alpine Tourismusorte preisen sich mit spektakulären Großereignissen wie Gletscherkonzerten, Wettbewerben und Riesenpartys in hochalpinen Lagen an, was immer mehr Lärm und Verkehr mit sich bringt. Diese potenten Wintersportmetropolen und Seilbahnkaiser wehren sich gleichzeitig gegen jedwede restriktive Maßnahme von Raumordnung und Naturschutz. Viele Alpentäler befinden sich inzwischen in großer Abhängigkeit, ja oft in Geiselhaft von ganze Regionen beherrschenden Seilbahnunternehmen. Die Regionalpolitik mancher Länder hat sich von ihrem Anspruch auf lokale Steuerung nach überörtlichen Gesichtspunkten verabschiedet. Immer häufiger schlägt das Bemühen um Deregulierung in eine wider besseren Wissens vollzogene Kapitulation vor einflussreichen Interessengruppen um. Keine Region wird also mit den Problemen alleine fertig. Deshalb sind alpenweit gleich lautende Bestimmungen, Genehmigungspraktika und Erschließungskonzepte notwendig. Hierfür wäre die Alpenkonvention mit dem Tourismusprotokoll eine ausgezeichnete Plattform. Für die Umsetzung gelten jedoch dieselben Spielregeln und Bedenken wie beim Verkehr. Auch das Tourismusprotokoll enthält als wesentliche Forderung die Zurückführung der touristischen Aktivitäten im Alpenraum auf dessen ökologische Tragfähigkeit und die Be-

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wusstseinsbildung bei der ansässigen wie bei der urlaubenden Bevölkerung. Wichtige Handlungserfordernisse dazu sind 쐽 ein qualitativer Umbau der touristischen Zentren in Sachen Verkehr, Energie, Ver- und Entsorgung, 쐽 die Förderung umweltverträglicher Tourismusangebote in ländlichen Gebieten, 쐽 verbesserte Information und Angebote für umweltbewusstes Anreisen, 쐽 das Ausweisen von Zonen ohne technische Erschließung, z.B. in Form von Ruhezonen, 쐽 die Förderung des Dauertourismus vor dem Tagestourismus, 쐽 Mindeststandards für den Einsatz von Schneekanonen, 쐽 die Förderung der Maßnahmen zur Besucherlenkung, insbesondere in Schutzgebieten, um den Fortbestand dieser Gebiete zu sichern.

Alpen unter Druck Das Protokoll »Tourismus« will Fremdenverkehrs- und Erholungsaktivitäten in Einklang mit ökologischen und sozialen Anforderungen bringen. Treten nämlich die Klimaveränderungen in der derzeit vielfach beschriebenen Art und Weise auf Grund des Treibhauseffekts tatsächlich ein, wird im Tourismussektor kein Stein auf dem anderen bleiben. Abgesehen vom Umstand, dass die Wintersportorte in niederen Lagen dann in die Bedeutungslosigkeit schlittern, wird ein ganz massiver Sturm der Seilbahnund Tourismusunternehmen auf bisher unberührte Bastionen wie Gletscher, unberührte Hochgebirgsregionen sowie Schutzgebiete einsetzen. Die Alpenkonvention konnte sich trotz der Mühen in den Niederungen der Politik mittlerweile auch im internationalen Rechtsrahmen etablieren. Acht Alpenstaaten und 43 Regionen inklusive der EU befassen sich mit Alpenthemen und müssen nach Lösungen suchen. Es liegt jetzt an den Akteuren selbst, die Konvention als Instrument der transnationalen Zusammenarbeit einzusetzen, etwa wenn es um die Ausgestaltung des europäischen Raumentwicklungskonzeptes mit Alpeninhalten geht. Die Alpenkonvention ist im derzeitigen Prozessstadium noch kein Garant für ein Ende des »ökologischen Alptraums«. Sie gibt uns aber einen Schlüssel in die Hand, der Tore zu mehr Alpenbewusstsein, zu Belastungsreduktion und zu einem Mehrwert für die in den Alpen lebenden Menschen öffnen kann.


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Fotos: Photoarchive Lammerhuber/Lois Lammerhuber

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Erst geht die Kuh, dann die Kultur

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m Rückgewinnen lokaler Ressourcen von Kultur, Identität und Überleben kann die Kuh entscheidend sein. Oder das Schaf. Mitunter der (zahlende) Gast. Es kann auch die FERBA sein. Die FERBA ist die »Europäische Föderation der Rinderrassen des alpinen Systems – Federazione Europea delle Razze Bovine del Sistema Alpino«. Deren Präsident lebt in dem kleinen Bergdorf Favret (Gressan / Aosta), ihr Vizepräsident, der prominente Hotelier Erich Scheiber, im Tiroler Massentourismuszentrum Obergurgl, das etwa 400 Einwohner, 4 000 Betten und 18 Vier-SterneHotels hat. FERBA will über alte, zumeist gefährdete Rinderrassen intakte Umwelt erhalten und so einen Beitrag zur alpinen Kultur und zur Erzeugung typischer Produkte leisten. Den unverwechselbaren Abondance-Käse zum Beispiel kann und darf es nur von der Abondance-Kuh geben. Die berühmten Kuhkämpfe in Aosta, im Wallis und in Hochsavoyen sind nur mit den Herens-Kühen, den »Eringern« mög-

Foto: Gesellschaft f. ökol. Forsch./Hamberger

Über die Rückgewinnung regionaler Identitäten in den Alpen. Von Hans Haid

lich. Und die kleinen »Grauen« in Tirol, im Trentino und in Graubünden dürfen als alpine »Ur-Rasse« auch nicht verloren gehen.

Bergkultur ist Agrikultur

Bergkultur ist ohne Agrikultur nicht denkbar. Also kann es eine wirkliche Kultur der Alpen nur geben, wenn die Kühe und die Schafe dabei sind. Mit der noch immer lebendigen Transhumanz beispielsweise, den seit 6000 Jahren nachweisbaren Schafwanderungen, die über die Gletscher der Ötztaler Alpen führen. Oder mit den Volksfesten beim Kuhkampf, mit dem Schaf-Fest in Vernagt – mitten im Tourismus und dennoch nicht vereinnahmt, immer noch eigenständig als unverwechselbares Element ie UNO hat das Jahr 2002 zum »Internationalen Jahr der Berge« erklärt. lokaler Kultur. Ziel ist es, den Schutz und die nachhaltige Entwicklung in den BergÄlpler, vor allem regionen der Welt langfristig zu fördern. Berggebiete sind empfindliche Ökoaber engagierte Bäuesysteme, die neben dem globalen Wasserreservoir einen Raum großer Biodirinnen sind die Protaversität und genetischer Ressourcen bieten. Als attraktives Ziel für Tourismus und Erholung sind sie außerdem wchtig für das menschliche Kulturerbe. gonisten des WiderDas »Internationale Jahr der Berge 2002« soll Anlass für Initiativen, aber standes gegen Ausverauch Katalysator für langfristige Aktionen sein. Deshalb finden auf interkauf und Zerstörung, so nationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene Aktivitäten statt, um im Osttiroler Dorfertal, sensible Gebirgsökosysteme zu schützen, die nachhaltige Entwicklung der im Fall Greina, auf der Berggebiete zu fördern und die Lebensqualität für die Bewohner zu sichern. Alpe Madris, am GottDer Bund Naturschutz (BN) wird sich aktiv und kritisch am »Jahr der Berhardpass oder neuerge« beteiligen. Der Verband hat eine Projektstelle geschaffen, um gezielt auf dings in Chamonix, wo Fehlentwicklungen hinzuweisen, nachhaltige Alternativen aufzuzeigen und man sich gegen die Inunabhängig zu informieren. betriebnahme des KaAnsprechpartnerin ist Helga Wessely, BN-Fachabteilung München, Pettenkotastrophentunnels aufferstr. 10a, 80336 München, Tel. 0 89-54 82 98 63, Fax 0 89-54 82 98 18, E-Mail lehnt. Ganz maßgebfa@bund-naturschutz.de. Weitere Informationen auf der von der FAO (Food lich sind Bäuerinnen and Agriculture Organization of the United Nations) eingerichteten Homebeim Aufbau der neuen page www.mountains2002.org alpinen Agrikultur be-

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teiligt, also in der Reaktivierung ökologischen Denkens und Handelns, und konkret beim Aufbau der BioLandwirtschaft und neuer Formen der Direktvermarktung. Diese Agrikultur ist fundamental wirkliche Kultur, unterscheidbar, unverwechselbar, lokal geprägt, voller Wärme (mit und ohne Schaf), solidarisch, mutig, engagiert, neu. Fast überall in den Alpen und anderswo sind diese neuen Agrikultur-Aktivisten auch in der lokalen Kultur und im politischen Bereich engagiert. Rundum sind es höchst erfreuliche Anzeichen einer emanzipierten Berg- und Alpenkultur, abseits von dümmlicher Folklore, von touristischer Vereinnahmung, von billig-biederem Kitsch und Klischee. Umso mehr vereinnahmt, massakriert und vergewaltigt der alpine Abschreckungs- und Horror-Tourismus weite Teile der lokalen wie regionalen Kultur rund um die Almhütten: Wagenräder, jodelnde Trachtler, deformierte Schuhplattler, pervertierte Heimatabend-»Romantik«. Noch schlimmer und deprimierender im Tourismus, inklusive dem »gehobenen Qualitätstourismus«, ist aber die (beinahe) totale Ablehnung von Umweltschutz und Bioprodukten. Warum findet in der schrecklichen Horde kulturloser Gästemelker nicht endlich die neue ökologische Agrikultur Eingang? Oder müssen erst supertouristische BSE-Skandale die wackeligen Kartenhäuser zum Einsturz bringen? Wehe denen in den kitschigen Hochburgen der alpinen Zuhälterei!


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Doch auch hier ist ein wenig Hoffnung angebracht: Wenn Hoteliers wie der erwähnte Erich Scheiber sich zugleich als Bauern und Kämpfer für die Erhaltung gefährdeter Tierrassen engagieren. Wenn Hoteliers wie die Familie Schweitzer im tirolischen Barwies auf ein konsequentes Bio-HotelKonzept setzen. Wenn im wunderschönen LogarTal in den slowenischen Bergen die Hotel-Besitzer ein mustergültiges Naturschutz-, Tourismus- und Kulturgebiet entwickeln. Und nicht zu vergessen wegen der Öko-Hotels wie Hitsch-Huus in Fanas oder Uclica in Waltensburg/Vuorz. Ansonsten aber gilt: Erst geht die Kuh, dann der Gast. Erst wird EU-konform der alpine Kleinbauer mit unter zwei Hektar Land ausgerottet, indem ihm wichtige Förderungen entzogen werden, dann darf er im Alpenpark folkloristisch, jodelnd und melkend im Tourismus dienen, bis der Gast verschwindet. Mangels Wärme? Oder vergiftet? Einschlägige EU-Förderprogramme über »Interreg« oder »Leader+« greifen jedenfalls nicht oder kaum, weil sie lediglich musealisierend und konservierend wirken und um Gottes Willen ja keine progressive, radikale Weiterentwicklung des historischkulturellen Erbes bewirken sollen.

Folklore aus dem Alpenpark Was dagegensetzen? Jämmerliches haben sich seit mehr als zehn Jahren die hohen Beamten und maßgeblichen Politiker in der Alpenkonvention geleistet. Seit 1989 sollte es als erstes und fundamentales Protokoll das zur Kultur geben. Nichts ist geschehen. Erst im Jahr 2000 tauchte das Thema wieder auf, als in Benediktbeuern dazu ein von österreichischen Kulturwissenschaftlern erarbeiteter Entwurf vorgestellt wurde. Im Juni 2000 veröffentlichte dann die CIPRA ihre »Forderung nach einem Protokoll Bevölkerung und Kultur« der Alpenkonvention. Und schließlich trug die slowenische Stadt Maribor als »Alpenstadt des Jahres 2000« im November mit einem »Dokument von Maribor« zum Diskurs bei, den die »Alpenstadt 2001« Bad Reichenhall heuer im Mai fortsetzen will.

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Schier unglaublich dagegen die Verzögerungstaktik der zuständigen Umweltminister und der Herren des »Ständigen Ausschusses«: Jüngst erst, bei der 6. Alpenkonferenz in Luzern, soll vereinbart worden sein, eine Arbeitsgruppe einsetzen zu wollen, die dann bei der nächsten Konferenz, voraussichtlich also im Jahre 2002, einen Zwischenbericht vorlegen solle, vielleicht mit den Namen der zuständigen Beamten und Ministerialräten, die mit der Nominierung einer Arbeitsgruppe zur Gründung einer Arbeitsgruppe zum Verfassen von Richtlinien für eine weitere Arbeitsgruppe betraut werden könnten. Nur ja nicht unter Einbeziehung von Kultur-Aktivisten und Kultur-Praktikern?! Die kulturelle Düsternis wird fortdauern, so ist zu befürchten.

Pro vita alpina Aber anderswo lebt und blüht ein reiches, ein sehr vielfältiges kulturelles Leben: 왖 Die CD-Reihe »Musica alpina« beweist, wie vielfältig, wie differenziert und wie lebendig Volksmusik im Alpenraum sein kann. 왖 Nirgendwo sonst in Europa entstehen und wachsen so viele Gruppen und Ideen, um regionale Dialekte und vor allem Minderheitensprachen zu beleben. 왖 Weite Teile des Alpenraumes verfügen über die größte Dichte und Intensität an Bio-Landwirtschaft innerhalb ganz Europas. 왖 Nur in den Alpentälern finden sich solche Schätze des Mythos, der »religio«, der Sagen, Rituale und Bräuche. Im Zusammenhang mit der Gründung des Netzwerks Alpine Kulturen – über die alpenweite Vereinigung Pro vita alpina aufgebaut – wurde allen Beteiligten die überaus reiche und vor allem starke, autochthone und authentische Vielfalt der Alpen bewusst – auch als Gegentrend zur sogenannten Globalisierung und zu den älplerisch-touristischen Wahnsinnigkeiten und Brutalitäten. Deshalb muss alpine Kultur selbstverständlich auch Volkskultur, Alltagskultur, Massenkultur, Baukultur, Agrikultur (Bio & Öko), Umweltkultur, Tourismuskultur und Friedenskultur sein. Und es geht darum, dass eine so verstandene Kultur als gesellschaftliche Triebkraft, als Faktor von Schöpfertum, Vitalität und Dialog auch in die einschlägigen EU-Entwicklungsprogramme einfließt. Es ist nicht zu bestreiten, dass der Umgang mit »Heimat« und »Volkskul-

Dorfbild 2009 ( Hans Haid) koa paamen koa blüema koa paure koa sunna koa moone koa kircha koa darfle koa fearnar koa freede olles völl galt und mittlat dr töet dr wompate töet wompat & töet olles völl nöet sooget vrgaltsgött und geat

kein baum keine blume kein bauer keine sonne kein mond keine kirche kein dorf kein gletscher keine freude alles voller geld und mittendrin der tod der vollgefressene tod vollgefressen und tot alles voller not sagt vergeltsgott und geht

tur« gefährlich, sehr schlüpfrig, sehr reaktionär und revanchistisch sein kann. Dem soll aber bewusst gegengesteuert werden. Volkskultur in diesem Sinn ist »Material für Unterscheidbarkeit und damit für Identitäten«, wie es der Wiener Volkskundler Konrad Köstlin formuliert. Sie wird zum schier unerschöpflichen Reservoire, um daraus Kraft zu tanken. Sie stellt sich als sehr moderne, als aktuelle Kultur dar, weil sie fundamental und »radikal« (von den Wurzeln her) ist. Erst auf diese Weise wird sie zu einem Instrument gegen Rassismus, Nationalismus, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit. Kontakt: 왎 Dr. Hans Haid, Roale im Ventertal, 6450 Sölden, Österreich, Tel. 00 43-52 54-27 33, Fax 00 43-52 54-27 33-4, E-Mail: haid.roale@netway.at, Internet www.cultura.at/haid 왎 Pro vita alpina, Klostergasse 6, 6020 Innsbruck,Tel. 00 43-5 1258 67 80, Fax 00 43-5 12-58 67 82 oder Pro vita alpina/ Alpenakademie, E-Mail alpenakademie@tyrol.at, Internet www.cultura.at/alpenakademie 왎 Institut für Volkskultur und Kulturentwicklung: Entwürfe für ein Kulturprotokoll zur Alpenkonvention,Tel. und Fax 00 43-5 12-58 67 82, E-Mail volks.kultur@tyrol.at, Internet www.cultura.at

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Der Autor Dr. Hans Haid, geb. 1938, Heimatdichter, Volkskundler, Bergbauer am Hof Roale im Ötztal. Gründer der alpenweiten Vereinigung Pro vita alpina.


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Fotos: Rita und Michael Schlamberger

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Natur in Höchstform Christine Margraf über die Alpen als Quelle der europäischen Biodiversität Für die einen sind die Alpen die Gegenwelt zum Alltäglichen. Hier suchen sie Abgeschiedenheit, Natur oder Wildnis. Viele andere sehen darin eine fantastische Freizeitkulisse, die Fun und Events bieten soll, aber auch den letzten Kick: das Erlebnis der eigenen Grenzen – und der Grenzen der Natur.

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ie Alpen haben an Anziehungskraft nichts verloren und scheinen noch immer der Inbegriff von intakter Landschaft, echter Wildnis und ungebändigten Naturgewalten zu sein. Doch die Realität sieht anders aus: Durch die zahlreichen Eingriffe und Störungen nimmt auch und gerade im Alpenraum die Gefährdung von Arten und Lebensräumen zu. Ein Beispiel: Nur noch etwa zehn Prozent der Alpenflüsse sind in ihrem natürlichen Zustand erhalten.

Bewegte Geschichte Das Verschwinden von Lebensräumen und Arten erfolgt schleichend und wird kaum wahrgenommen, da es sich um eine weniger spektakuläre Folge menschlichen Tuns handelt, als es Lawinen, Überflutungen oder Bergrutsche sind. Nur dem aufmerksamen Naturbeobachter fällt eben auf, dass wieder weniger Enziane blühen oder der Steinadler nicht mehr so oft seine Runden dreht und die Birkhühner seltener bei der Balz zu sehen sind. Die Ursachen dafür sind vielfältig und komplex und liegen z. B. genauso in der Intensivierung der Freizeit-Nutzung wie in Veränderungen der landwirtschaftlichen Nutzung. Andere alpentypische Tierarten sind schon längere Zeit verschwunden, da sie – wie etwa Bär, Wolf und Luchs – vom Menschen gezielt verfolgt und ausgerottet wurden. Die Faszination der Alpen liegt in ihrer wechselhaften Geschichte begründet. Durch immense Bewegungen im Laufe der Erdgeschichte weisen sie eine extrem komplexe Geologie und Tektonik auf. Das Matterhorn zum Beispiel ist sozusagen ein Stück Afrika. Dann haben die Eiszeiten den Gebirgsbogen sehr stark geprägt –

und das bis heute. Erdgeschichtlich gesehen sind die Alpen eher ein junges Gebirge. Sie »bewegen« sich immer noch, deshalb gehören Muren, Felsstürze, Erdrutsche oder Lawinen zur natürlichen Dynamik des Gebirges. So bleibt es »gefährlich«, weil der Mensch diese Vorgänge nie völlig beherrschen kann. Im Gegenteil, sie setzen unseren Aktivitäten natürliche Grenzen, die es zu beachten gilt. Das Geflecht von Gebirgsstöcken und Talräumen hat eine abwechslungsreiche, aber auch dynamische und wilde Landschaft entstehen lassen. Angesichts dieser Vielfalt an Standorten und komplexen geomorphologischen und klimatischen Gegebenheiten verwundert es nicht, dass die Alpen eine außergewöhnliche biologische Vielfalt aufweisen – vor allem von Lebensräumen und Arten mit besonderen Anpassungen an die zum Teil extremen Verhältnisse. Die Alpen sind Rückzugsraum und Quelle der Biodiversität für den gesamten europäischen Kontinent. Sie sind die floristisch reichhaltigste Region Europas und beherbergen mit ihren etwa 5 000 Gefäßpflanzen drei Siebtel der europäischen Flora. Die Hälfte davon sind Alpenpflanzen im engeren Sinn (an und über der Waldgrenze), von denen wiederum 15 Prozent nur in den Alpen vorkommen. Eine Schätzung, wie viele Arten insgesamt in den Alpen leben, ist schwierig: vielleicht 30 000, vielleicht mehr. Auch hat sich in den Alpen eine Reihe von neuen Arten entwickelt. Etwa 350 solcher pflanzlicher »Endemiten« gibt es hier, die Alpenakelei ist einer davon. Sie machen sieben bis acht Prozent der gesamten alpinen Flora aus.

Welt der Extreme Viele der alpinen Ökosysteme sind sowohl selten als auch äußerst sensibel. Weil oft extreme Lebensbedingungen herrschen, haben Störungen viel größere Auswirkungen als anderswo und können rasch zu irreversiblen Schäden führen. Die Zeiträume, in denen sich alpine Vegetation nach Zerstörung oder Beeinträchtigung natürlich regeneriert, nehmen mit steigender Höhe von 15 auf über 50 Jahre zu – in Extremfällen sogar auf

bis zu 500 Jahre! Vegetationsschäden oberhalb der Baumgrenze sind besonders gravierend, oberhalb 1400 m aber praktisch nicht mehr reparabel. Zu der Vielfalt der Lebensräume, insbesondere der Rasengesellschaften, tragen zwar auch traditionelle menschliche Nutzungen bei, aber mehr als zwei Drittel der Pflanzengesellschaften sind weitgehend natürlichen Ursprungs. »Die Alpen sind heute die in Mitteleuropa praktisch einzige geographische Region, in der die ursprünglichen Biotope erhalten geblieben sind, und in einem von Menschenhand stark überprägten Kontinent verkörpern sie das wertvollste Naturerbe, über das Europa noch verfügt«, schreibt Bernard Fischesser im CIPRA-Alpenreport. Nötig sind daher ein großflächiger Schutz aller noch vorhandenen intakten Lebensräume und Populationen von Arten sowie geeignete Maßnahmen, um langfristig die biologische und gerade die alpine Vielfalt mit den besonderen Anpassungen zu erhalten. Dringend nötig ist zudem eine Diskussion über das »Tun und Unterlassen«, das heißt über die Notwendigkeit, Flächen der freien Dynamik und natürlichen Eigenentwicklung, der Wildnis also, zu überlassen.

Die Autorin Die Diplom-Biologin Christine Margraf, geb. 1968, leitet die Fachabteilung des Bundes Naturschutz in München und koordiniert die Alpenaktivitäten des Verbandes. Kontakt: Tel. 0 8954 82 98 89, E-Mail fa@bundnaturschutz.de

Der Berg ruft, der Bär kommt Gerade die Alpen mit ihren weiten Waldflächen bieten eine einzigartige Chance für die Realisierung von großen, vollkommen ungenutzten Schutzgebieten. Hier könnten auch Wolf, Luchs, Bär oder andere Arten, die große Raumansprüche haben, wieder eine Heimat finden. Der offizielle Anteil an derartigen »Wildnisgebieten« mit freier Naturentfaltung ist mit einem Prozent der Alpenfläche viel zu gering. In Bayern hat der großflächige Schutz der Natur und ihrer Prozesse lediglich im Nationalpark Berchtesgaden Vorrang. In den 19 Naturschutzgebieten im bayerischen Alpenraum unterliegt der Naturschutz meist dem zunehmenden Nutzungsdruck. Zwar ist die Bewahrung der Alpen Zielsetzung zahlreicher Übereinkommen und Gesetze: Schon im bayerischen Alpenplan von 1972 sind knapp 42 Prozent als Ruhezone ausgewiesen. Und im bayerischen Naturschutzgesetz wurde mit der Novellierung 1998 der Schutz der Alpen gar als ein neuer Grundsatz eingeführt. Doch in der bayerischen Genehmigungspraxis gibt es weder eine echte Ruhezone noch findet der neue

Natur + Umwelt BN-Magazin »Sonderausgabe Alpen 2001«

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Die Fotos »Die Alpen: Im Reich des Steinadlers« heißt ein spektakuläres österreichisches Film- und Fotoprojekt (Verlag Styria, Graz). Daraus entnommen sind die Fotos auf S. 7 und 10. Kontakt: Science Vison, Tel. 00 4331 24-5 43 66, EMail nature.film@ sciencevision.co.at


SonderausgAlpen_12S

17.03.2008

Impressum Herausgeber: Bund Naturschutz in Bayern e.V., vertreten durch Helmut Steininger, Dr.-Johann-Maier-Str. 4, 93049 Regensburg Redaktion: Christoph Markl (verantw.), Manfred Gößwald Gestaltung und Herstellung: Gorbach GmbH, Gauting-Buchendorf (Layout Waltraud Hofbauer) Druck: aprinta Druck, Wemding ISSN 0721-6807

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Alpenpan

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Grundsatz eine konsequente Beachtung. Ein ganz zentrales neues Instrument das alpine Naturerbe großflächig zu schützen ist daher das europäische Biotopverbundsystem Natura 2000. Die Vorgaben für den Aufbau dieses Netzes lieferte die Europäische Union mit der Fauna-Flora-Habitat(FFH-)Richtlinie von 1992 und der Vogelschutz-Richtlinie von 1979. Viele der alpinen Lebensräume (und Arten) sind gemäß dieser Richtlinie europaweit zu schützen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, geeignete Gebiete nach rein fachlichen Kriterien auszuwählen und nach Brüssel zu melden. Doch die Meldung Bayerns erfolgte zu spät, und anstelle der rein fachlichen Kriterien wurden wirtschaftliche und politische berücksichtigt. Die im Juli 2000 von der Staatsregierung beschlossene Meldung liegt derzeit zur Überprüfung in den Fachgremien des Bundes und der EU. Sie weist

erlesen und … zum Weitrbilden Weite

erhebliche Mängel auf und ist nach Ansicht des Bundes Naturschutz (BN) fachlich nicht ausreichend und damit auch nicht rechtskonform.

Bayern in der Pflicht Der Auswahlprozess der Natura 2000Gebiete erfolgt nach sogenannten »biogeographischen Regionen«. Bayern ist zweien zugehörig: der kontinentalen und der alpinen Region. Innerhalb Deutschlands hat nur Bayern Anteil an der alpinen Region und deshalb die zentrale Verantwortung für deren Unterschutzstellung. Die offiziellen Meldungen dafür umfassen alle großen Alpen-Naturschutzgebiete und auch einige bislang noch nicht geschützte Flächen wie das Mangfallgebirge oder die Mittenwalder Buckelwiesen. Jedoch sind die Abgrenzungen der Gebiete nicht immer fachlich ausreichend und es fehlen noch zentrale Gebiete mit wichtigen Vorkommen alpiner Lebensräume und Arten, wie das Ester-

ADRESSEN

BN-STUDIENREISEN 왘 Die BN Service GmbH bietet regelmäßig Reisen in die Alpen an. Gut vorbereitete Bergwanderungen ermöglichen intensive Naturbeobachtungen. Kontakt: BN Service GmbH, Tel. 0 91 239 99 57 10, Fax 9 99 57 99, E-Mail reisen@ service.bund-naturschutz.de

BN-SEMINARE 쐽 Auch im BN-Bildungswerk sind die Alpen ein wichtiges Thema. Zuletzt waren der Verkehr in den Alpen und der nachhaltige Ressourcengebrauch Schwerpunkte der Bildungswerk-Seminare. Kontakt: BN-Bildungswerk, Tel. 0 99 66 - 12 70, Fax 490, E-Mail bw@bund-naturschutz.de

JBN-AKTIONEN 쐽 Auf die Zerstörung der Alpen macht die Jugendorganisation Bund Naturschutz (JBN) mit spektakulären Aktionen aufmerksam. Kontakt: JBN, Trivastraße 13, 80637 München, Tel. 0 89-15 96 96-30, Fax 15 98 96-33, www.jbn.de

쐽 BN-Arbeitskreis Alpen, Fachabteilung München, Pettenkoferstr. 10a/I, 80336 München, Tel. 0 89-54 82 98 89, Fax 54 82 98 18, E-Mail fa@bund-naturschutz.de 쐽 CIPRA-Deutschland,Waltherstraße 29, 80337 München, Tel. 0 89-54 42 78 50, Fax 54 42 78 99, E-Mail: info@cipra.de, Internet www.cipra.de 쐽 Deutscher Alpenverein (DAV), Von-Kahr-Str. 2-4, 80997 München, Tel. 0 89-14 00 30, Fax 1 40 03 11, E-Mail info@alpenverein.de, Internet www.alpenverein.de 쐽 Nationalparkverwaltung Berchtesgaden, Doktorberg 6, 83471 Berchtesgaden, Tel. 0 86 52-9 68 60, Fax 96 86 40, E-Mail: poststelle@nationalpark-berchtesgaden.de, Internet www.nationalpark-berchtesgaden.de 쐽 Österreichischer Alpenverein, Fachabteilung Raumplanung/Naturschutz, Postfach 318, 6010 Innsbruck, Tel. 00 43-512-5 95 47 27, Fax 5 95 47 40, E-Mail peter.hasslacher@ alpenverein.at, Internet www.alpenverein.at 쐽 Pro vita alpina, Klostergasse 6, 6020 Innsbruck, Tel. 00 43-512-5 86 78, Fax 58 67 82 oder Pro vita alpina/Alpenakademie, E-Mail alpenakademie@tyrol.at, Internet www.cultura.at/alpenakademie

L I T E R AT U R AUSSTELLUNG 왘 Schöne neue Alpen. Eine fotografische Bestandsaufnahme. Verleih und Termine: Gesellschaft für ökologische Forschung, Tel. 0 89-3 59 85 86, Fax 3 59 66 22, E-Mail info@oekologische-forschung.de, Internet www.oekologische-forschung.de

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쐽 Alpen-Initiative (Hrsg.): Appetit statt Transit. 70 Rezepte aus den Alpen. Limmat Verlag, Zürich 1997, 144 S., 34,– DM 쐽 W. Bätzing: Kleines Alpen-Lexikon. Umwelt, Wirtschft, Kultur. Verlag C. H. Beck, München 1997, 320 S., 22,– DM 쐽 CIPRA (Hrsg.): Alpenreport. Daten, Fakten, Probleme, Lösungsansätze. Verlag P. Haupt, Bern 1998, 380 S., 43,– DM

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gebirge oder die Rotwand, um deren Unterschutzstellung bereits seit Jahrzehnten gekämpft wird, oder die Wälder am Kochelsee. Weil die offiziellen Meldungen aber nicht nur in Bayern, sondern in allen Alpen-Ländern defizitär sind, haben die Naturschutzverbände nach einer wissenschaftlichen Analyse die notwendigen Ergänzungen zusammengestellt: Insgesamt müssen 134 zusätzliche Gebiete als Natura 2000Gebiete in den Alpen nachgemeldet werden. Darauf wird der Bund Naturschutz in Bayern auch weiterhin mit Nachdruck drängen, damit die EUVorgaben für Schutz, Zustandserfassungen und Managementpläne in diesen Alpengebieten eingehalten werden und hier tatsächlich die Natur Vorrang hat. Das »Jahr der Berge 2002« bietet eine große Chance, den besonderen Wert, aber auch die besondere Gefährdung der Natur in den Alpen herauszustellen.

쐽 B. und H. Haid: Bio-Gourmet in den Alpen. Ein kulinarisch-kultureller Wegweiser, Edition Tau, Bad Sauerbrunn 1998, 368 S. Einzelexemplare bei H. Haid, Tel. 00 43-52 54-27 33, E-Mail haid.roale@netway.at 왘 H. Haid, J. Huber: Poesie des Landlebens. Bilder und Texte aus einer geliebten Heimat. Edition Löwenzahn, Innsbruck 1992, 96 S. Einzelexemplare bei H. Haid, s. o. 쐽 H. Haid: Vom alten Leben. Vergehende Existenz und Arbeitsformen im Alpenbereich. Herold Verlag, Wien 1991, 344 S., 126,– DM 쐽 Naturfreunde Schweiz (Hrsg.): Kulturweg Alpen. Zu Fuß vom Lac Léman ins Val Müstair.Limmat Verlag, Zürich 1999, 382 S., 38,– DM 쐽 S. Hamberger u. a. (Hrsg.): Schöne neue Alpen. Eine Ortsbesichtigung. Raben Verlag, München 1998, 244 S. 44,– DM 쐽 Politische Ökologie Nr. 55: Gratwanderung. Die Alpen als Vorreiter für ein regionales Wirtschaften. Verlag Ökom, München Juli/August 1998, 104 S. 19,80 DM 쐽 N. Winging u. a.: Die Alpen. Im Reich des Steinadlers. Styria Verlag, Graz 2000, 240 S., 68,– DM 쐽 J. Winkler: Das andere Bild der Berge. Bergverlag Rother, München 2000, 144 S., 68,– DM

MUSIK 쐽 Musica alpina I & II, Musica alpina III & IV«. Erhältlich bei Pro vita alpina, Tel. 00 43-5125 86 78, E-Mail alpenakademie@tyrol.at


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