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BAU ME ISTER
116 . J A H R G A N G
Januar
19
Das ArchitekturMagazin
4 194673 016003 01 D A,L I CH 16 € 18 € 19,90 € 24 SFR
Der kleine große Wurf?
DIE BESTEN LÖSUNGEN
BAU 2 019 !
Minihäuser und ihre Möglichkeiten +
ALLESWIRDGUT ATELIER K AISER SHEN SIMON BECKER, ANDREAS RAUCH G R AY O R G A N S C H I ARCHITECTURE NATHALIE HARB VA N B O L E - M E N T Z E L OR A ÏTO, CALQ, DANIE L BURE N ANA ROCHA SAUERBRUCH HUT TON TECHTINYHOUSE
4
B1
Köpfe
Ideen
Reduzieren, minimieren, vernetzen: Minihäuser versprechen ein Nomadenleben ohne Ballast.
10
38
Wirkungskreis Beirut und London: Nathalie Harb
Kleinste Grundfläche: Entwurf von Ana Rocha
10 Nathalie Harb
22 Ecological Living Module ELM
Die Künstlerin beschäftigt sich mit Rückzugsorten für gestresste Großstädter.
14 TechTinyHouse Die Stuttgarter Tüftler entwickeln Leichtbau-Varianten der Minihäuser.
30 Mikrohofhaus in Ludwigsburg 38 Slim Fit in Almere 48 Wohnmobil NILS
BAU MEISTER. DE
Die BAU 2019 ist bei uns auch online Thema: In einer eigenen Rubrik stellen wir Neuheiten von der Münchner Messe für Architektur, Materialien und Systeme vor.
56 Cabin Spacey in Berlin 64 Museum in Mestre Sauerbruch Hutton reparieren ein Gelände im venezianischen Vorort.
38 Hotel Yooma in Paris Künstlerischer Umbau mit Daniel Buren
FOTOS VON LINKS: M ARIA DUCH APARICIO; CHRISTIANE WIRTH; E DMUND COLLE IN; GIR A STUDIO
Die unterstrichenen Beiträge rechts befassen sich mit dem Titelthema.
5
Fragen
Lösungen
Gast-Arbeiter
90
107
Bauhaus-Schüler im Gropius-Studio
Aufputzlösung für Sanierungsfälle
84 Pro + Contra: Können Minihäuser die Stadt verändern?
94 BAU 2019
90 Das Bauhaus – ist der Mythos berechtigt? 92 BAU 2019: Was ist neu an New Work?
Die Weltleitmesse für Architektur, Materialien und Systeme bringt die Besucher auf den Stand der Technik – wir zeigen ausgewählte Neuheiten.
Van Bo Le-Mentzel ist ein Berliner Architekt, Autor und Filmemacher, der vor allem für sein Engagement für die Tiny-HouseBewegung und für Initiativen zwischen Design und sozialer Teilhabe bekannt geworden ist: etwa seine „Hartz-IV-Möbel“ (2010), das „One-Sqm-House“ (2013), die „Tiny House Uni versity“ (2015) und aktuell die „Wohnmaschine“ als kleinste 2-Raumwohnung Deutschlands.
112 Referenz Wohnungsbau in Berlin mit Toren von Hörmann
RUBRIKEN 6 EIN BILD 36 SONDERFÜHRUNG 40 KLEINE WERKE 72 UNTERWEGS 92 ARCHITE K TUR + M ANAGE ME NT 11 2 REFERENZ 11 4 P O R T F O L I O : B E S T O F B AU 2 019 121 IMPRE SSUM + VORSCHAU 12 2 KOLUMNE
Die Münchner Produktgestalterin Joyce Moore schloss ihr Kunstund Designwissenschaftsstudium an der Folkwang Universität mit einer Arbeit über die Nachkriegsarchitektur Hans Scharouns ab. Für diese Ausgabe hat sie den Band „Das Bauhaus – Werkstatt der Moderne“ von Winfried Nerdinger rezensiert – der Beitrag bildet den Auftakt unserer Serie „100 Jahre Bauhaus“.
Köpfe
1
Text: Anna Schabel
TITELTHEMA MINIHÄUSER
Stille in der Stadt
Die Künstlerin Nathalie Harb hat ein Minihaus für Großstädter entwickelt, da wir ihrer Meinung nach nichts dringender brauchen als Ruhe. Der erste Silent Room – ein öffentlicher Ruheraum – entstand in ihrer Heimatstadt Beirut; in London hatte sie jüngst eine Variante aufgebaut. Ein Besuch
FOTO LINKS: L AUR A STE INE R; FOTOS RECHTE SE ITE: E D RE EVE
10
11 Indigo. Zur Londoner Design-Biennale letzten September im Somerset House widmete sich der indische Beitrag dem „blauen Gold“: Der Farbstoff wird mühsam und aufwendig aus der Indigopflanze gewonnen – ein edler, dennoch weit verbreiteter, oft modischer Farbton. Zufällig fand er aber auch beim libanesischen Beitrag Verwendung und wurde dort als beruhigendes Nachtblau zum Konzept. Auf der zur Themse gelegenen Terrasse des großen klassizistischen Gebäudes stand eine geheimnisvolle indigofarbene Kiste, tiefblau wie ein Yves-Klein-Gemälde. Das Bauwerk heißt „Silent Room“, erdacht von der Künstlerin und Szenographin Nathalie Harb.
track von Khaled Yassine, der aufgenommen wurde, als es in der Stadt am ruhigsten war – mitten in der Nacht. Privat in der Öffentlichkeit In London ist das Projekt „Silent Room“ dem neuen Standort angepasst: Es hat eine kleinere Grundfläche, und das untere „Geschoss“ besteht aus Ziegeln wie bei vielen Londoner Häusern. Die Backsteine sind offen verbaut, so dass man durch sie hindurch hinaussehen kann. Die Glasur in Indigo glänzt in der Sonne. Das Architekturbüro BÜF hat für sie die Idee
Ein Grundbedüfnis Nathalie Harb hat die erste Version dieses „Ruheraums“ für Beirut entwickelt. Dort stand eine pinkfarbene Skulptur auf einem Parkplatz zwischen einer Schnellstraße, einem ärmlichen Wohnviertel und einem Industriegebiet. Denn in vielen Städten – und besonders in Beirut – gibt es kaum Rückzugsorte, wo Ruhe herrscht. Die Hauptstadt des Libanon ist in jeder Hinsicht intensiv: Die alten Wohnviertel wurden im Krieg beschädigt, mussten Hochhäusern weichen, Kommerz und Verkehr machen sich breit. „Wenn man durch Beirut fährt und aus dem Autofenster Fotos macht“, erklärt die Künstlerin, „drängen sich in jedem Bild Werbetafeln, Autos und Menschen dicht an dicht. Die ärmere Bevölkerung wohnt an großen Straßen, sie ist deshalb immer dem Lärm ausgesetzt.“ Gerade hier sei Stille nötig, findet Nathalie Harb. Ihr Ruheraum ist als Prototyp gedacht und soll überall in der Stadt stehen. Schließlich erfülle Stille in der Stadt ein genauso wichtiges Bedürfnis wie öffentliche Toiletten. Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten immer wieder mit Rückzugsorten. Sie selbst lebt in Beirut und London und meint, sie liebe das Stadtleben, will aber auch einen Ausgleich schaffen. In ihrem Beiruter Ruheraum ist es auch nicht völlig leise; man hört einen Sound-
Der indigofarbene Pavillon zur Londoner Design-Biennale 2018. Im Obergeschoss befindet sich ein halbdunkler Ruheraum. Rechts: Eine schmale Treppe führt im transluzenten „Erdgeschoss" nach oben. WEITER
22
Ideen
1
23 Das Selbstversorgerhaus für eine vierköpfige Familie wurde letzten Sommer in New York vorgestellt.
Kritik: Eva C. Schweitzer Fotos: David Sundberg/ Esto
Architekten: Gray Organschi Architecture und Yale Center for Ecosystems in Architecture
Autarkes Nest TITELTHEMA MINIHÄUSER
Unabhängig von Stromnetz und Kanalisation, dazu noch Möglichkeiten zur Selbstversorgung: Die UN hat ein Mini-Modulhaus in Auftrag gegeben, das das Leben von Slumbewohnern und Flüchtlingen erleichtern soll. So ist beispielhaft ELM entstanden, das Ecological Living Module mitten in Manhattan.
48
Ideen
4
49
Architekten: AllesWirdGut Text: Thomas Pertschy Fotos: Tschinkersten Fotografie
Die Wiener Architekten entwickelten einen Plan für den Komfort des Reisens
Mobiles Paradies
und des Lebens auf wenigen Quadratmetern.
TITELTHEMA MINIHÄUSER
Thomas Pertschy wohnt seit ein paar Monaten in einem Minihaus auf vier Rädern und reist durch Nord- und Südamerika. Die Wiener Architekten AllesWirdGut haben für ihn dazu das kompakte mobile Heim namens NILS entwickelt. Hier berichtet Thomas über sein Reisegefühl im Wohnmobil.
Ideen
6
VISUALISIE RUNG: SAUE RBRUCH HUT TON
64
Noch sind die AuÃ&#x;enanlagen nicht fertig. Situation des neuen Museums in Mestre (Visualisierung)
65
Architekten: Sauerbruch Hutton
Kritik: Sabine Schneider
Fotos: Alessandra Chemollo
Stadtreparatur auf venezianisch
Hässlich, aber notwendig – so wird Mestre, Venedigs Vorstadt auf dem Festland, oft bezeichnet. Ein erwachtes Selbstbewusstsein aber treibt seit über zwei Jahrzehnten eine städtebauliche und kulturelle Aufwertung voran – zunächst mit Fußgängerzonen, einem freigelegten Kanal und nun mit der Eröffnung des Museums für die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
74
Ideen
7
Die 1970er-Jahre neu interpretiert. Mit elegantem Aluminiumchassis setzt das pavillonartige Gebäude neue Maßstäbe auf dem Fußgängerplateau.
75
Kritik: Claudia Fuchs
Umbau: Ora ïto Studios/ Calq Architecture
Fotos: Fabrice Fouillet
Takt in Blau Im Hochhausviertel Front de Seine behauptet sich ein kleines Gebäude durch seine ungewöhnliche Fassade: Daniel Burens Kunstwerk le rhythme bleu ist in die Hülle des neuen Hotels Yooma integriert. Der Pariser Designer Ora ïto hat das unscheinbare Bürogebäude aus den 1970er-Jahren in ein cooles, unkonventionelles Familienhotel verwandelt.
84
Fragen
1
TITELTHEMA MINIHÄUSER
Können Minihäuser die Stadt verändern VA N B O LE-MENTZEL
PRO
So könnte die Demokratisierung des Städtebaus aussehen – die Stadt für alle: Wir brauchen keine Megacitys, sondern ein Internet Of Spaces, in dem an allen öffentlichen Plätzen temporäre Tiny House Villages entstehen – und alle miteinander vernetzt sind.
?
CONTRA
ALEXANDER RUSS
Tiny Houses sind putzig, lösen ganz nebenbei die Wohnungskrise und taugen auch noch für eine partizipative Stadtentwicklung? Wohl kaum, denn Tiny Houses sind vor allem eins: eine unterkomplexe Lösung für ein komplexes Problem, die sich trotzdem hervorragend vermarkten lässt.
85 Text: Van Bo Le-Mentzel
PRO
Warum „Tiny Houses“ eine neue Ära im Städtebau einläuten können. Ein Plädoyer für ein Umdenken in der Art, wie wir Städte planen Reden wir nicht um den heißen Brei herum: „Tiny Houses“ auf Rädern sind keine Alternative zur herkömmlichen Wohnung. Diese Minihäuser mögen ja mit Satteldach, Veranda und Sprossenfensterchen schnuckelig aussehen. Doch wie soll man da wohnen? Gerade mal zehn Quadratmeter groß sind sie. Wo sollen da all die Bücher hin, Schuhe, Taschen und Küchengeräte? Doch beim Thema Tiny Houses geht es um mehr als um kleines, kompaktes Wohnen. In der Art, wie sie entstehen und eingesetzt werden können, liegt womöglich die Grundlage für ein neues Verständnis von Bürgerschaft, für eine Demokratisierung des Städtebaus, für die Stadt für alle. Können Sie sich eine Welt ohne Städte vorstellen, ja gar eine Welt ohne Nationen?
Wie alles begann Als erstes Tiny House gilt eine Minihütte des Kaliforniers Jay Shafer, die 1999 in der kanadischen Zeitschrift „Natural Life“ erstmals Erwähnung fand. Der Künstler Shafer fragte sich, was wohl übrig bleiben würde in einem Haus, wenn man alles Überflüssige weglässt. Mit seiner Firma Tumbleweed zimmerte der zweifache Familienvater von nun an auch Tiny Houses für Interessierte. Seine Wohnexperimente wurden als Antwort auf die Immobilienkrise in den USA verstanden, die 2008 viele Amerikaner über Nacht schlaf- und obdachlos machte. Der amerikanische Traum – ausgeträumt. Nicht aber für die Tiny-Häusler: Sie machten in ihrem kalifornischen Optimismus aus der Not Nut und Feder und erfüllten sich den Traum vom Eigenheim auf einem zweiachsigen Pkw-Anhänger. Die Häuser standen nun bei Freunden im Garten – mal hier, mal da. Ohne Grundstück. Poetisch wie Thoreau, praktisch wie Camping, doch legal wie Falschparker. Aber nicht so prekär wie die Wohnmobile in den Wohnwagensiedlungen, eine Art Favela für arme Rentner. Und Platz war auch schon in Shafers kleiner Hütte: Küche, Badezimmer mit Dusche und ein gusseiserner Holzofen gehörten zur Ausstattung, ebenso eine viktorianische MiniTerrasse mit gedrechseltem Geländer. Strom und Wasserschlauch gibt’s vom Nachbarn. Im Dachgeschoss können zwei Personen schlafen.
Eine Bibel für
Wir sprechen hier nicht von 46 Quadratmetern, wie so manche Statistik den Wohnraumverbrauch in Deutschland pro Kopf bemisst: Jay Shafers Eigenheim war acht Quadratmeter groß! Deutschland im Tiny-House-Fieber In Europa hat die Tiny-HouseBewegung vor ungefähr vier Jahren begonnen. Vermutlich war es der Syrienkrieg, der 2015 mit vielen Hunderttausenden von Immigranten die Wohnraumkrise in deutschen Großstädten sichtbar machte. In nahezu allen europäischen Ländern gibt es mittlerweile eine Tiny-House-Szene. Die größte findet sich vermutlich in Skandinavien, Holland und in Deutschland. Als ich das Ein-Quadratmeter-Haus 2012 entwickelte, konnte ich noch nicht ahnen, dass mal eine Bewegung daraus werden würde. Schätzungsweise existieren derzeit in Deutschland mehr als 100 Minihäuser. Und jeden Monat entschlüpft mindestens ein neues in den etwa Dutzend Tiny-HouseTischlereien. Keines dieser kleinen Heime ist breiter als 255 Zentimeter wegen der Straßenverkehrsordnung (StVo), keines ist höher als 400 Zentimeter wegen der Brücken; meist sind die Minihütten vier bis sechs Meter lang – Verhältnisse wie in einem Wohnmobil. Viele Tiny Houses haben zwei Geschosse: ein Erdgeschoss mit einer lichten Höhe von 200 Zentimeter und eine Hochebene mit 130 Zentimeter. Eigentlich wie im Bullybus aus dem Spanienurlaub – da kann man ja auch nicht stehen, nur sitzen. Häuslebau nicht nach HOAI, sondern nach StVo. Bauen und Wohnen in der Grauzone
MinihausAnhänger: „The Small
FOTO: JAY SHAFE R
House Book“ von Jay Shafer
Und dann diese skurrile Vorstellung, dass die Tiny Houses nicht als „Gebäude“ klassifiziert sind, sondern als „Ladung“, weil sie wie ein übergroßer Schrank auf herkömmliche Autoanhänger mit Gurten geschnallt wer-
den. Und was kein Bau ist, braucht auch keine Baugenehmigung. Sie würden ja auch nicht einen Bauantrag stellen, wenn Sie Ihre neue Einbauküche aufbauen wollen, oder? Und hier kommt der Hammer: In Deutschland dürfen Sie so ein Tiny House trotz des Anhängers nicht auf Ihr Grundstück setzen, sondern nur auf amtliche Pkw-Stellplätze. Und nun der Sargnagel: In Deutschland ist es nicht erlaubt, irgendwo in einem Minihaus zu wohnen. Denn Wohnen ist in Deutschland grundsätzlich nur in einer „richtigen“ Wohnung erlaubt. Immer mehr Anhänger Tiny Houses sind demnach keine ernstzunehmende Alternative zum Wohnungsbau. Doch wie kommt es, dass seit nunmehr drei Jahren in Deutschland etwa ein Dutzend Holzbetriebe auf Tiny-House-Produktion umgestiegen sind und sie am laufenden Band verkaufen? Volle Auftragsbücher mit illegalen Minihäusern? Die Baumarktkette Bauhaus wirbt in einem Werbespot damit, die GLS-Bank hat Finanzierungspakete dafür im Portfolio, Konzerne wie die Rewe-Gruppe denken über diese kleinen Behausungen auf Supermarktdächern nach, und Tchibo bietet sie sogar zum Verkauf an. Ikea hat neuerdings Tiny-House-taugliche Küchen und Leuchten entwickelt, die sowohl mit Kabel als auch mit Akku funktionieren. Vielleicht haben sie die Forschungsergebnisse der Kansas State University zu Gesicht bekommen, wo 2015 die beiden Wissenschaftler Brandon Irwin und Julia Day Tiny-House-Dörfer als nächsten großen Immobilientrend voraussagen. Eines davon kostet im Schnitt 50.000 Euro. Wir sprechen hier nicht von einer Randerscheinung von einigen wenigen Hippies, sondern von einer Bewegung aus der bürgerlichen Mitte, für Leute mit gut gedeckten Konten. WEITER