Baumeister 06/2019

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B6 B A U ME ISTER

116. Jahrgang Das Architektur-Magazin

Juni

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K U R AT I E R T VON REINIER DE GRAAF 06 4

194673

016003

D A,L I CH

16 € 18 € 19,90 € 24 SFR


Für wen wir bauen:

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Interview Reinier de Graaf S8

Für Geld

Eindrücke Die Geschichte aus Aşgabat des Bauherrn S 22 S 14 Ein wohlwollender Diktator mit Geschmack S 30 Eindrücke von der Neuen Heimat S 102

Für Ruhm

Eindrücke aus Angola S 58 Ganz oben – Das 111West-57Projekt S 44

Kreation, Kalkulation, Spekulation – Eine kurze Geschichte der Immobilienentwicklung S 34

Make Architecture Great Again – Der Architekt als Immobilienentwickler S 66

PhantomUrbanismus – Angolas Geisterstädte S 52


Eine unter vielen – Amsterdam im 21. Jahrhundert S 76

Zum Wohl der Allgemeinheit? Europäische Politik und sozialer Wohnungsbau S 84

Für Andere

Alle Macht dem Volk – 50 Jahre Partizipation in der Architektur S 112

No Choice Over Our Heads – Selbstbau in Almere S 126

Einfache Antworten auf einfache Fragen – Der Architekt als Bauherr S 118

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Boden für alle – Der Kampf um München S 94

Besser als zuvor – Die erstaunliche Transformation Tiranas S 86

Für Uns Eindrücke aus Almere S 134 Rubriken 142

Lösungen

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Impressum, Vorschau

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Portfolio

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Kolumne

Übersetzungen aus dem Englischen: Sigrid Ehrmann


FOTO: DAVID ST GEORGE

10 Reinier de Graaf bei der „In:situ“-Konferenz in Auckland, 2019


Alle Macht dem Volk – 50 Jahre Partizipation in der Architektur S 112 ARU: Bei de r Pa r t izipa t ion dreht sich alles um die Bedürfnisse der Nutzer. Heutzutage scheint es immer schwieriger, diese Bedürfnisse zu definieren. Das gilt besonders im Bereich der Marktwirtschaft. RdG: Im Lauf der Jahre gab es einige wichtige Veränderungen in der Architektur: In den 1960er- und 1970er-Jah ren wurde nicht mehr für einen bes t i m m ten Bauhe r rn geplant, sondern für den Sozialstaat. Das löste die persönliche Beziehung zwischen Architekt und Nutzer auf. Und im

Bereich der Marktwirtschaft ist das Ganze noch extremer: Der Architekt baut für einen Immobilienentwickler, der die Vorlieben seiner Kunden bedient, die er zu kennen glaubt. Das tut er aber nicht. Und so ist der direkte Austausch zwischen Architekt und Nutzer über die Jahre allmählich verschwunden. Partizipation interessiert mich auch deshalb, weil sie die Möglichkeit bietet, diesen Austausch wiederherzustellen. ARU: Ist das ein rein theoretischer Ansatz, oder können Sie das auch mit Ihrer täglichen Arbeit als Architekt verbinden? RdG: Es ist ein Standpunkt, den ich vertrete. Ich nehme häufig eine kritische Haltung gegenüber dem Umfeld ein, in dem ich arbeite. Gleichzeitig ist dieses Umfeld aber auch sehr lehrreich. Ich praktiziere vielleicht nicht, was ich predige, aber vor allem predige ich nicht, was ich praktiziere. Viele Widersprüche, die sich in unserer Arbeit of fenbaren, sind symptomatisch für die Widersprüche unserer Zeit. Nur in einer perfekten Welt würde sich jede theoretische Haltung auch in Form gebauter Projekte manifestieren. Das wären aber utopische Bedingungen. ARU: Könnten Sie uns ein Beispiel für die Widersprüche in Ihrer Arbeit nennen, besonders wenn es um Projekte für Immobilienentwickler geht? RdG: In London haben wir an einem Projekt gearbeitet, das die Sanierung eines Baudenkmals aus den 1960er-Jahren – der neue Ort für das DesignMuseum – mit dem Bau von Luxuswohnungen in der unmittelbaren Nachbarschaft verband. Die Gewinne aus dem Verkauf der Luxuswohnungen an unverschämt reiche Bewohner ermöglichte die Sanierung und damit die „Subventionierung“ des neuen Museums. Das Ganze erinnert ein wenig an das Finanz i e r u n g s m o d e l l d e r St a d t München, über das Christiane Thalgott in unserem Gespräch für diese Ausgabe berichtet.

„Viele Widersprüche, die sich in unserer Arbeit offenbaren, sind symptomatisch für die Widersprüche unserer Zeit. Nur in einer perfekten Welt würde sich jede theoretische Haltung auch in Form gebauter Projekte manifestieren.“

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Alexander Russ: Bei unserem ersten Treffen in Rotterdam, bei dem wir über den Schwerpunkt Ihrer gastkuratierten Ausgabe sprachen, drehte sich das Gespräch auch häufig um das Thema Partizipation. Woher kommt Ihr Interesse am partizipativen Bauen? Reinier de Graaf: Was mich interessiert, ist die Frage der Legitimität von Architektur jenseits ihrer Grenzen. Das war auch der wesentliche Antrieb für mein Buch (Anmerkung der Redaktion: "Four Walls and a Roof: The Complex Nature of a Simple Profession"). In der Architek turbranche wi rd seit den letzten vierzig Jahren zunehmend eine Nabelschau betrieben, was daran liegt, dass Architekten oft denken, die Daseinsberechtigung von Architektur läge ausschließlich in der Architektur selbst. Mir geht es um das genaue Gegenteil, nämlich die Architek tu r aus i h re r Sel bst beschränkung zu befreien. Deshalb interessiere ich mich für Partizipation, weil sie die Autonomie des Architekten auf brutale Weise aufbricht.

Das Projekt war ein Kopf-anKopf-Rennen von edlen und weniger edlen Absichten. Ich bin da im Nachhinein recht zwiegespalten. ARU: Der Fall ist vergleichbar mit dem albanischen Nationaltheater in Tirana, dessen

Boden für alle – Der Kampf um München S 94


14

Die Geschichte des Bauherrn Alex Retegan


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Die Geschichte des Bauherrn beginnt mit der Architektur als eigenständigem Berufsfeld. Die folgende Zeitachse setzt sich mit der Beziehung zwischen Architekt und Bauherr auseinander, beginnend mit Florenz im 14. und 15. Jahrhundert über Antwerpen im 16. Jahrhundert, Amsterdam im 17. Jahrhundert, London im 18. und 19. Jahrhundert bis zu New York im 20. Jahrhundert – die jeweils wohlhabendsten Städte ihrer Zeit. Das Ergebnis ist ein Cadavre Exquis der wichtigsten Bauwerke dieser Städte, ihrer Mäzene und der politischen Ereignisse, die zu ihrem Wohlstand und Niedergang führten.


Stadtherr von Florenz

Stadtherr von Florenz

Stadtherr von Florenz

1389 – 1464

1416 – 1469

1449 – 1492

Piero der Gichtige

Lorenzo der Prächtige

Cosimo de' Medici

Stadtherr von Florenz

öffentliche Bauherrn

1360 – 1429 Giovanni di Bicci de' Medici

Die Stadtverwaltung baut den Palazzo Vecchio Die Stadtverwaltung baut die Loggia dei Lanzi ng baut die Kathedrale

1400 In Florenz wird das neue Catasto-Steuersystem eingeführt

Giovanni di Bicci de’ Medici gründet die Banco Medici

Ciompi-Aufstand

Der Schwarze Tod

1300

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öffentliche Bauträger private Bauträger

Filippo Strozzi baut d Giuliano di Lionardo Gondi baut Giovanni di Paolo Rucellai baut die neue Fassade der Kirche Santa Maria Novella Die Familie der Medici baut die Basilica di San Lorenzo Giovanni di Bono Boni baut den Palazzo Antinori Luca Pitti baut den Palazzo Pitti Cosimo de' Medici baut den Palazzo Medici Riccardi Giovanni di Paolo Rucellai baut den Palazzo Rucellai Die Florentiner Seidengilde baut das Ospedale degli Innocenti

Der Franziskanerord

private Bauherrn

Franziskanerorden

Giovanni di Bicci de' Medici Cosimo de' Medici

Giovanni di Paolo Rucellai

Flippo Strozzi der Älter

1209 –

1360 – 1429

1389 – 1464

1403 – 1481

1428 – 1491

Bankier

Bankier

Bankier

Bankier


Fleischergilde

Augustinerorden

Hanse

Jan G.Bicker

Joan H. van Maarsseveen

Andries de Graeff

Jacobus Trip

1224 –

1358 – 1862

1591 – 1653

1599 – 1661

1611 – 1678

1627 – 1670

Kaufmann

Investor

Politiker

Waffenhändler

Die Augustinermönche bauen die Sankt Andreaskirche

Die Gilden bauen ihren Hauptsitz am Grote Markt

Die Niederländische Ostindien-Kompanie baut ihren Hauptsitz

Patrizierfamilien bauen ihre Häuser an der Goldenen Kurve Der Dominikanerorden baut die Sankt Pauluskirche Zweiter Englisch-Niederländischer Krieg

Tulpenmanie

Der Erwerb Manhattans

Die Niederländische Ostindien-Kompanie wird gegründet

Antwerpen fällt zurück an Spanien

Die Spanische Furie

Der Achtzigjährige Krieg beginnt

Mit dem Westfälischen Frieden endet der Achtzigjährige Krieg Erster Englisch-Niederländischer Krieg

Piero di Lorenzo de' Medici liefert Florenz an Karl den VIII. von Frankreich aus Die Banco Medici wird aufgelöst

Dritter Englisch-Niederländischer Krieg (Katastrophenjahr)

Niederländische Ostindien-Kompanie

1600

1500 1400

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Die Stadtverwaltung entwickelt die vierte Stadterweiterung Die Stadtverwaltung entwickelt die dritte Stadterweiterung Die Stadtverwaltung entwickelt die zweite Stadterweiterung Die Stadtverwaltung entwickelt die erste Stadterweiterung

Bürgermeister

Bürgermeister

Neunfacher

Dreizehnfacher

1558 – 1625

1599 – 1661

Frans H. Oetgens

Joan H. van Maarsseveen

Die Stadtverwaltung baut die Oosterkerk Die Stadtverwaltung baut das Rathaus Die Stadtverwaltung baut die Westerkerk Die Stadtverwaltung

Die Stadtverwaltung baut das Rathaus

Die Stadtverwaltung baut die Noorderkerk

Ältere

nerorden baut die Basilica Santa Croce

Die Hanse baut das Kontorhaus 1602 – 1799

baut den Palazzo Gondi

baut den Palazzo Strozzi Unternehmer 1519 – 1556 Gilbert van Schoonbeke

Gilbert van Schoonbeke entwickelt ein Drittel der Stadtfläche Die Stadtverwaltung baut die Börse

Die Stadtverwaltung baut die Zuiderkerk

Die Stadtverwaltung baut die Liebfrauenkathedrale

Die Stadtverwaltung baut die Börse

Bürgermeister

Bürgermeister

Bürgermeister

Sechzehnfacher Zehnfacher

Zehnfacher

Zehnfacher

1547 – 1626

1586 – 1652

1599 – 1664

Cornelis P. Hooft Pieter C. Boom

Andries Bicker

Cornelis de Graeff

? – 1609

Lancelot van Ursel 1499 – 1573

Bürgermeister

Sechzehnfacher Bürgermeister


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Für Ruh


Eindrücke aus Aşgabat S 22

Ein wohlwollender Diktator mit Geschmack S 30 21

hm


marmorverkleideten Gebäuden.

FOTO: A MOS CHAPPLE

22 Aşgabat, die Hauptstadt von Turkmenistan, besitzt die weltweit höchste Dichte an


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PhantomUrbanismus – Angolas Geisterstädte

No Choice over Our Heads – Selbstbau in Almere S 126

Reinier de Graaf Besser als zuvor – Die erstaunliche Transformation Tiranas S 86

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Eindrücke aus Angola S 58

Kreation, Kalkulation, Spekulation – Eine kurze Geschichte der Immobilienentwicklung S 34


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2018 leiteten wir ein Projekt an der Harvard GSD, das sich mit neu geplanten Städten beschäftigte, die zwar gebaut, aber nicht bewohnt wurden. Eines der eindrucksvollsten Beispiele, auf das wir bei unserer Recherche stießen, befand sich in Angola: Insgesamt 15 neue Städte, alle von chinesischen Firmen errichtet, die meisten leer stehend. Gelegentlich wird auch in den westlichen Medien über diese Städte berichtet. Da wir keine direkten Informationen aus Angola erhielten, beschlossen wir, dorthin zu reisen, um uns einen Eindruck vor Ort zu machen.


bis sie von der angolanischen Regierung erworben werden.

FOTO: ALEX RE TEGAN

60 Die einzigen beiden Üffentlichen Gebäude in dem Wohngebiet sind derzeit geschlossen,


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No Choice Over our Heads – Selbstbau in Almere

PhantomUrbanismus – Angolas Geisterstädte S 52

Eindrücke aus Almere S 134

Jacqueline Tellinga

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Boden für alle – Der Kampf um München S 94

Besser als zuvor – Die erstaunliche Transformation Tiranas S 86

Einfache Antworten auf einfache Fragen – Der Architekt als Bauherr S 118

Make Architecture Great Again – Der Architekt als Immobilienentwickler S 66


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Sein Haus mit den eigenen Händen zu bauen, ist in westlichen Ländern mittlerweile zur Seltenheit geworden. Allerdings erlebt diese Methode seit der Finanzkrise 2008 ein eindrucksvolles Comeback in den Niederlanden. Im erst vierzig Jahre alten Almere, das momentan die siebtgrößte Stadt des Landes ist, stellt der Selbstbau mittlerweile eine echte Alternative zum von Projektentwicklern dominierten Immobilienmarkt dar. Jacqueline Tellinga, Vorstandsmitglied des Verbandes Niederländischer Stadtplaner (BNSP), plädiert deshalb für den Selbstbau.


F Früher bauten die Bürger ihre Städte selbst. Ein Beispiel dafür sind die Amsterdamer Kanalhäuser aus dem 17. Jahrhundert, die von Privatleuten zu privaten Zwecken errichtet wurden. Heutzutage sieht die Lage anders aus: Florierende Städte wie Amsterdam sind in das Blickfeld des internationalen Kapitals geraten, und gerade die Kanalhäuser sind mittlerweile vor allem eine Investitionsmöglichkeit für Dritte. Das Phänomen des Buy-to-Let, bei dem die Investoren Wohnungsbauten kaufen und teuer weitervermieten – in der Regel, nachdem sie in get rennte Apartments aufgeteilt wurden –, ist mittlerweile Standard.

Make Architecture Great Again – Der Architekt als Immobilien Phantomentwickler Urbanismus – S 66 Angolas Geisterstädte S 52 Eins von acht Amsterdamer Häusern befand sich 2017 im Besitz von Investoren.1 (Die Studie über die größten Immobilienbesitzer Amsterdams stützt sich auf die öffentlich zugänglichen Angaben des Grundbuchamts). Amsterdam ist nicht die einzige Stadt, die von dieser Entwicklung betroffen ist. Auch deutsche Städte wurden vom internationalen Kapital zum rentablen Sparschwein auserkoren, da sie verglichen mit London und Paris über relativ günstige Immobilien verfü-

In China wurde diese Form der Immobilienspekulation mittle r wei le fü r wi r t scha f t l ich schädlich und sogar für unmoralisch erklärt. Präsident Xi Jinping hat deshalb eine zwingende Abkühlung des Immobilienmarkts angeordnet. Die unsichtbare Hand? In unserem Jahrhundert konzentriert sich das private Betei-

ligungskapital – und damit die Macht – zunehmend in den Händen einiger weniger. Nirgends ist das so stark spürbar wie auf dem Immobilienmarkt, wo mächtigere und besser organisierte Gruppen einen Verdrängungsprozess initiieren, der die privaten Bemühungen, in ein Eigenheim zu investieren, zunichte macht. Aus diesem Grund wird häufig appell ie r t, den Wohnungsma rk t auch für private Akteure zu öffnen. In diesem Zusammenhang sollte man auf das Buch „The Invisible Hand? How Market Economies Have Emerged and Declined Since AD 500“ des Wirtschaftshistorikers Bas van Bavel verweisen.2 Van Bavel stellt darin die These auf, dass bedeutende Marktwirtschaften nach ihrer Entstehung und Blütezeit unweigerlich dem Untergang geweiht sind. Diese Aussage belegt er mit drei Beispielen erfolgreicher vorindustrieller Marktwirtschaften im westlichen Eurasien: dem Irak im frühen Mittelalter, Italien im Hochmittelalter und den Niederlanden im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Anschließend zieht er Parallelen zu England und den Vereinigten Staaten in der Neuzeit. Der Verlauf ist immer der gleiche: Gewöhnlich generieren die Marktwirtschaften in der Anfangsphase Wachstum, belohnen Eigeninitiative oder Unternehmergeist und steigern so die Produktivität. In dieser frühen Phase kommt es oft zu wichtigen technologischen Fortschritten. Mit dem damit verbundenen Aufkommen einer neuen Elite – einer unweigerlichen Folge des Aufschwungs, der zuvor stattgefunden hat – ändern sich dann die Spielregeln. Die neuen Eliten werden zu einer politischen Kraft, die eigennützige Interessen verfolgt. Als Folge nimmt die Ungleichheit wieder zu, und die wirtschaftliche Entwicklung stagniert. Wenn die Eliten erst einmal zwei der drei Produktionsfaktoren in ihren Besitz bringen – Boden und Kapital –, bleibt dem Rest der Bevölkerung lediglich ihre Arbeitskraft als dritter Produkti-

onsfaktor, was mit einem sozialen Abstieg verbunden ist. Van Bavels Feststellungen stehen im Widerspruch zur neolibe ralen Vo rstel lung eines Markts als neutralem Mechanismus, der es scheinbar jedem ermöglicht, daran teilzunehmen, um Wohlstand zu erlangen. Nach van Bavels Meinung sind stattdessen Unfreiheit und Ungleichheit der Regelfall. Ausnahmen gibt es nur in den Gesellschaften, die sich nach dem Bottom-upPrinzip organisieren. In diesen gleichberechtigten Gesellschaften, in denen die Kontrolle nicht mehr ausschließlich in den Händen des Königs, des Adels oder anderer Eliten liegt, kann sich ein offener Markt entfalten: „Wir müssen die Vorzüge des Markts erhalten, aber der Dominanz der Eliten entgegenwirken.“ Utopische Modelle und Mikrogesellschaften Wer wie ich umfangreiche Erfahrung im Bereich der Entwicklung von partizipativen Stadtvierteln hat, erkennt die Tendenz, dass Bürger, die ihre Häuser selbst bauen wollen, zunehmend vom „sogenannten“ Markt verdrängt werden. Auch die Legitimität des Selber-Bauens wird stark hinterfragt. Für alle, die sich für den Zusammenhang zwischen Selbstversorgung und sozialem Engagement interessieren, lohnt sich ein Blick auf die folgenden drei Beispiele: das System von Walter Segal, das Baugruppenmodell und die Entwicklung der Schrebergärten. In den 1970er- und 1980er-Jahren bauten zweihundert Familien in Großbritannien eigenhändig ihre Wohnhäuser und verwendeten dabei das System des Architekten Walter Segal. Was diese Menschen verband, war ihr Unternehmungsgeist. Allerdings hatte keiner von ihnen genügend Geld, um sich ein konventionelles Eigenheim leisten zu können. Deshalb entschieden sie sich für Segals System – ein Holzrahmen mit Wärmedämmung und wasserundurchlässiger Hülle –, da es eine schnelle und ökonomische Bauweise

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gen. Unter Investoren gilt Berlin als Aldi des Wohnungsmarkts. Dadurch ist der Immobilienmarkt in Deutschland stark unter Druck geraten, eine Situation, die in der ARD-Reportage „Ungleichland“ eindrucksvoll beschrieben wird. Im Mittelpunkt der Reportage steht der Multimillionär, Investor und Immobilienentwickler Christoph Gröner, der Immobilien ausschließlich spekulativ entwickelt, um so das „Kapital arbeiten zu lassen“. Entwicklungen, wie sie in Berlin und Amsterdam zu beobachten sind, führen dazu, dass die Mieten in den davon betroffenen Städten nicht mehr bezahlbar sind, wodurch sich die Lebensqualität der Quartiere drastisch verändert. Eine Gewinnmaximierung der Mieteinnahmen als vorrangiges Motiv führt zu einer hohen Fluktuation der Mieter und als Folge zu einem Verfall des sozialen Gefüges. Durch Buy-toLet sammelt sich der Wohnungsbestand bei den Wohlhabenden, die gar nicht vor Ort leben, gleichzeitig aber die Preise in die Höhe treiben. Noch problematischer ist das Buy-to-Leave-Prinzip, bei dem Investoren ihre Wohnungen vorsätzlich nicht vermieten, da Mieter zu einem Hindernis bei m Wei te r ve rkau f ei ne r Wohnung werden könnten. Die Folge ist Leerstand.


preise als auch die Baukosten gemeinsam zu tragen. Die Bewohner müssen allerdings von Anfang an viele Entscheidungen zusammen treffen, was die Bereitschaft zu einer intensiven Zusammenarbeit voraussetzt. Ein weiteres Beispiel für Gemeinschaftssinn und Selbstorganisation sind die Schrebergärten, die in die Anfänge des

te Elemente werden gemeinsam unterhalten. Man könnte in allen drei Fällen zu dem Schluss kommen, dass hier ein besonders großer sozialer Zusammenhalt vorhanden ist, aber in Wirklichkeit ist der Hauptanteil der (ökonomischen) Aktivitäten privater Natur: Alle Häuser und Gärten sind privat; die Eigentumsrechte werden nicht gemeinschaftlich geteilt. Deshalb sollte der Selbstbau nicht allein nach den Kriterien der Gemeinscha f tsbildung beur teilt werden. Sein Wesenskern liegt in der wi r tschaftlichen Logik, die er freisetzt – indem er die bislang ungenutzten Ressourcen und Fähigkeiten von Hunderten oder Tausenden von Menschen mobilisiert, was unweigerlich zum Wohlstand und Selbstbewusstsein der Beteiligten führen wird. Homeruskwartier: 1.400 Parzellen zum Selbstbau

Homerusk war tier 2016. Die ersten 350 Parzellen kamen di rekt vor Beginn

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der Finanzkrise auf den Markt. Während bei privaten Bauträgern ein zunehmender Mangel an E igenkapital her rschte, investier ten und bauten die Selbstbauer weiterhin. Jacqueline Tellinga war in den Jahren 2006 bis 2015 „concept en gebiedsontwikkelaar“ des Homeruskwartiers.

schaftsgefühl der zukünftigen Bewohner. Jeder arbeitete an seinem eigenen Haus, aber bei der Errichtung des Gebäuderahmens fassten alle mit an. Bis heute ist es nicht zu erklären, warum Segals System keine größere Verbreitung fand – sei es bei Einfamilienhäusern oder im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Die Baugruppen in Deutschland beruhen auf einer ähnlichen Idee. Die erste deutsche Baug r uppe wu rde i n den 1990er-Jahren in Freiburg gegründet. Dieses Modell, eine alternative und gemeinschaftliche Art des Wohnens, war so erfolgreich, dass es von anderen Gruppen in Berlin, Hamburg und Tübingen übernommen und in der Folge zu einem gängigen Stadtentwicklungskonzept wurde. Während der Finanzkrise fassten einzelne Baugruppen sogar in Amsterdam, Delft und Rotterdam Fuß. Ihr Konzept basiert auf der Idee, sowohl die Grundstücks-

20. Jahrhunderts zurückreichen. Auch diese einzigartigen Mikrogesellschaften sind kollektivartig organisiert. Ihre Mitglieder folgen freiwillig einem umfangreichen Verhaltenskodex. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft ist bis ins kleinste Detail organisiert; Verhaltensregeln und Bauvorschriften werden in Büchern festgehalten. Ausschüsse, die sich aus den Mitgliedern zusammensetzen, überwachen die Einhaltung der Regeln. Die Pflege der Hecken erfolgt gemeinschaftlich; die Verkaufspreise der Gartenhäuschen werden vom Ausschuss bei einer Beendigung der Mitgliedschaft festgelegt, um so der Spekulation vorzubeugen. Walter Segals Projekt, die Baugruppen und die Schrebergärten sind Minigesellschaften. Es gelten allgemein verbindliche Regeln, die Mitglieder sprechen Dinge miteinander ab, und gemeinschaftlich genutz-

Hinsichtlich der bereits genannten wirtschaftlichen Logik des Selbstbaus geht das Homeruskwartier in Almere einen Schritt weiter und wendet eine breitere sozioökonomische Definition von Selbstbau an: Das Homeruskwartier ist mit 1.40 0 Parzellen das größte selbstgebaute Stadtviertel in der niederländischen Baugeschichte de r Nachkriegszeit. Es wurde nicht von einer privaten Gruppe initiiert, sondern basiert auf der Entscheidung der Stadtverwaltung unter Leitung des Stadtrats Adri Duivesteijn. Ziel des Projekts war es, Grundstücksflächen zur E rrichtung von Wohnraum direkt an die Bürger zu verkaufen; in die Wege geleitet wurde es durch das „Ikbouwmijnhuis-inAlmere“Programm aus dem Jahr 2006. Das Homeruskwartier stellt die Absprachen zwischen Stadtverwaltungen und Immobilienent wicklern infrage und verdeutlicht den Wunsch von Privatleuten, ihr eigenes Haus ohne Mittelsmann zu bauen. Gleichzeitig zeigt es auf, wie Leute wohnen und bauen wollen, wenn ihnen die Freiheit dazu gegeben wird.

Und so lassen sich auf den Parzellen bereits vielfältige Lebensentwürfe ablesen. Anhand der Broschüren und „Parzellenpässe“ können sich Interessenten für eine bestimmte Option entscheiden – ob kleine oder große Parzellen, hohe oder niedrige Baustrukturen, Reihenhäuser oder freistehende Einfamilienhäuser. Ende 2007 wurde mit dem Verkauf von 350 Parzellen begonnen; 2009 wurden weitere 300 Parzellen verkauft. Insgesamt kamen 1.400 Parzellen auf den Markt. Charakteristisch für die Planung des Homeruskwartiers ist die enorme Diversität der Gebäude. Es gibt keine ästhetische Regulierung. Nach unserer Auffassung steht die Entscheidung über die Ästhetik der Gebäude den Bauherren und damit den Selbstbauern zu. Hätten wir die zukünftigen Bewohner zur Zusammenarbeit mit einem oder mehreren Architekten gedrängt, dann wäre eine Art „Pseudovielfalt “ entstanden. Stattdessen ist jeder Parzelle eine spezielle Gebäudekubatur zugeordnet, mit der die zulässige Maximalgröße des Bauvolumens festgelegt wird. Innerhalb dieser Kubatur haben die Selbstbauer alle Freiheiten. Das Ergebnis ist eine Ansammlung von Grachtenhäusern, Reihenhäusern, Mehrgenerationenhäusern und Gartenhäusern, die von Hunderten Bürgern mit Unternehmungsgeist selbst umgesetzt wurden. Das kleinste Haus hat weniger als 5 0 Quad ratmete r, das größte Haus mehr als 1.000 Quadratmeter. Die Investitio n s s u m m e n re i ch e n vo n 100.000 Euro bis über 1,5 Millionen Euro. Ein Drittel der Häuser wurde mithilfe des Programms

Einfache Antworten auf einfache Fragen – Der Architekt als Bauherr S 118

FOTO: TOP-SHOT.NL

ermöglichte. Keiner dieser Selbstbauer hatte technische Kenntnisse, sie legten einfach los, bauten nach ihrem eigenen Zeitplan und eigneten sich das dafür notwenige Wissen im Verlauf des Projekts an. Segals System ermöglichte nicht nur ein kostengünstiges Bauen, es förderte auch das Bauen in der Gemeinschaft und dadu rch auch das Gemei n-


FOTO: ADRIE NNE NOR M AN

138 Das Haus ohne Fenster, Homeruskwartier in Almere


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