STEIN 12/2020

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STEIN

S 12 | 2020

MINERALISCHE WERKSTOFFE FÜR ARCHITEKTUR UND HANDWERK

HOTELUMBAU

DIE PERFEKTE WELLE ÜBERRASCHEND

TRENDIG

VERNETZT

Ein Steinmetz macht eine spannende Entdeckung, als er ein Grabmal adoptiert und anschließend restauriert

Mit dem Elektofahrrad können Handwerker ihre Kundenbesuche erledigen und gleichzeitig die Umwelt schonen

Wenn verschiedene Gewerke zusammenarbeiten, entstehen oft grandiose Projekte in der Innenausstattung


NACHHALTIG Bagnara Selection Alps Glitter, Südtirol Unser exklusiver Glimmerschiefer aus dem Südtiroler Passeiertal zeichnet sich durch seine dunkelroten Granateinschlüsse und weißen Quarzadern aus. Besonders im Wechselspiel von Licht und Schatten verleiht dieser Naturstein jedem Raum eine einzigartige und edle Note. Mit Alps Glitter entscheiden Sie sich für einen nachhaltigen, strapazierfähigen und säurebeständigen Naturstein, der sich auch als Küchenarbeitsplatte eignet. Besuchen Sie unsere Homepage oder kontaktieren Sie uns persönlich für nähere Informationen.

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EDITORIAL

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

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orona und kein Ende. Nachdem sich die Wogen im Sommer ein wenig geglättet hatten, hat sich das Virus im Herbst wieder mit Macht zurückgemeldet und Europa eine neue Lockdown-Welle beschert. Was bedeutet dies für das Handwerk?

Magazin

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Laut einer Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) vom August dieses Jahres haben mehr als die Hälfte der deutschen Handwerksbetriebe mit negativen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu kämpfen. Da zahlt es sich aus, dass das Handwerk auch in Vor-Corona-Zeiten überwiegend gut gewirtschaftet hat und die meisten Betriebe einen vertrauensvollen Kontakt zu ihrer Hausbank pflegen. In der Krise wird dies honoriert. Losgelöst von staatlichen Covid19-Fördermaßnahmen, berichten lediglich neun Prozent der befragten Betriebe von Problemen beim Kreditzugang. 80 Prozent sehen aktuell zumindest keine Gefahr der bilanziellen Überschuldung. Allerdings kann dies zeitversetzt im 4. Quartal 2020 auch anders aussehen.

STEIN

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Hotel und Möbel I Maschinenunterstützte Oberflächenbearbeitung I E-Mobilität

MINERALISCHE WERKSTOFFE FÜR ARCHITEKTUR UND HANDWERK

Mit einem ganz besonders kreativen Konzept für die kommenden Jahre hatten sich die Besitzer des Hotel Llevant an der Costa Brava bereits vor zwei Jahren beschäftigt. Alexandra Nyseth hat sich diese außergewöhnliche Herberge an der Costa Brava und das dort verarbeitete Material näher angesehen. Ihr Bericht beginnt auf Seite 6. HOTELUMBAU

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stein-magazin.de

DIE PERFEKTE WELLE

Titelbild: Lorenzo Vecchia

Wie Unternehmen, Mitarbeiter und Führungskräfte durch ein Umfeld permanenter Verunsicherung manövrieren, hat unsere Autorin Annette Mühlberger im Interview mit Zukunftsforscher Tristan Horx für Sie herausgefunden. Das macht Mut. Lesen Sie mehr zu möglichen Zukunftsstrategien ab Seite 44.

ÜBERRASCHEND

TRENDIG

VERNETZT

Ein Steinmetz macht eine spannende Entdeckung, als er ein Grabmal adoptiert und anschließend restauriert

Mit dem Elektofahrradkönnen Handwerker ihre Kundenbesuche erledigen und gleichzeitig die Umwelt schonen

Wenn verschiedene Gewerke zusammenarbeiten, entstehen oft grandiose Projekte in der Innenausstattung

Inspiriert durch einen Strandspaziergang an der Costa Brava entdeckte der Architekt Pau Llimona ein besonderes Phänomen der Küstenregion: Wellen, die das Zeug haben, gelegentlich ganze Gebäude in Ufernähe zu überfluten. Diese sogenannten Levantadas machte er sich kreativ zueigen und ließ sie in sein Gestaltungskonzept für den Umbau der Innenräume des kleinen Luxushotels Llevant einfließen. Die Hotelgäste erleben nun sehr eindringlich die besondere Verbindung zwischen der Küstenregion und dem naturmächtigen Mittelmeer. Mit Neolith fand er einen Stein, der diese Effekte einzigartig erlebbar macht.

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Wie die Umnutzung eines modernen Bürogebäudes zu einem Hotel unter Einsatz von hochwertigem Naturstein zu einer vorzeigbaren Erfolgsstory werden kann, hat Sofia Glasl in München verfolgt. Ab Seite 22 führt sie durch das gesamte Gebäude. Echte Hingucker in den Bädern sind dabei exklusive Waschtische aus Passeirer Gneis. Lassen Sie sich überraschen. Ein nachhaltiges Mobilitätskonzept für Steinmetze stellen wir ab Seite 52 vor. In Stuttgart erledigt Heinz Blaschke fit und fröhlich seine Kundenbesuche mit dem E-Lastenfahrrad und arbeitet am Friedhof mit seinem zukunftsweisenden Hybridkran.

Viel Spaß bei der Lektüre von STEIN wünscht Ihnen Ihre Steinredaktion Redaktion@stein-magazin.de

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INHALT

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Eine Hommage an den Moderne Elemente Ozean: denFriedhöfe Decken könnenAnalte und auf den Böden im auflockern, wenn sie Hotel der sich, Llevant wie hierhat in Altdorf Architekt das Meer ins bei Nürnberg, zurückHaus geholt. der nehmen undInnicht Rezeption sind die in den Vordergrund Wogen noch sanft. drängen.

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Ein hat in EinSteinmetz unter Denkmalseiner schutzHeimatstadt stehender Pirna eininhistorisches Bunker München Grabmal adoptiert.renowurde behutsam Beim hat mit er viert Abbau und innen Spuren entdeckt,„Fade die dem Naturstein zum einstigen Besitzer to Grey“ ausgelegt. führen.

STEIN ONLINE

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Mit Mut, Dynamik und besonderen handwerklichen Fertigkeiten werden Stein verarbeitende Unternehmen auch die kommenden Monate unbeschadet überstehen.

SCHÖNE WELT DER STEINE

STEIN – auf Facebook Wissenswertes rund um das Thema Naturstein gibt es auf facebook.com/stein.magazin

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Die perfekte Welle Mit gesintertem Neolith hat ein Architekt Meereswogen in ein Hotel geholt.

STEIN – die Webseite Fachliches, Interessantes, aber auch Skurriles finden Sie auf unserer Homepage stein-magazin.de

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Kante zeigen Wie die thüringische Steinmanufaktur MCR ihr Portfolio um Natursteinmöbel erweitert.

STEIN – der Newsletter Regelmäßig Neues aus der Stein-Welt, zu abonnieren auf stein-magazin.de

ZUM SAMMELN Die neue STEINKUNDE In dieser Ausgabe: Rosso Balmoral FG KUNDE

Handelsname:

ROSSO BALMORAL FG

STEINE BEARBEITEN 22

Vom Modernen zum Gemütlichen Beim Umbau eines Bürogebäudes zum Hotel hat Naturstein das nötige Flair mitgebracht.

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Rosso Balmoral FG Die STEINKUNDE stellt einen Naturstein aus Vehmaa in Finnland vor.

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Das Grab der Bildhauer Ein Steinmetz aus Pirna ist bei der Restaurierung eines Grabmals auf Spuren eines Kollegen gestoßen.

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Exklusive Oberflächen Mit dünnen Keramikoberflächen haben sich Steinmetze in der gehobenen Innenausstattung etabliert.

● Petrografische Familie:

Granit ● Typische Farbe:

Rot ● Herkunftsort:

Vehmaa / Varsinais-Suomi Finnland ● Liefernachweis:

Finska Steinindustri AB

Foto: Abraxas Stone experts/Giesen

● GEOLOGIE/PETROGRAFIE

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Rosso Balmoral wird in der Literatur häufig auch als präkambrischer Granit bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Altersangabe des Gesteins. Präkambrische Gesteine sind sehr alt. Sie entstanden noch vor dem Paläozoikum (Erdaltertum). Rosso Balmoral wird auf circa 900 Millionen Jahre, in der Ära des Neoproterozoikums, datiert. Der Abbau erfolgt im Südwesten Finnlands, in der Region Varsinais Suomi. Typisch für den Rosso Balmoral FG ist sein intensiver roter Farbton. Dieser wird durch fein dispers verteiltes Hämatit, das in den Alkalifeldspäten eingelagert ist, hervorgerufen. Die Feldspäte weisen einen Durchmesser von circa zwei bis fünf Millimetern auf. Ihre Verteilung und Farbintensität ist sehr gleichmäßig. Sein Gehalt an Quarz liegt bei circa 36 Prozent, was weit über der Mindestmarke von 20 Prozent Quarzgehalt liegt, die für die petrografische Bezeichnung als

Granit erforderlich ist. Die Quarze kristallisierten bei der Entstehung des Gesteins erst relativ spät aus und verfüllten die Zwickel zwischen den Feldspäten. Weiterhin enthält dieser Stein wie alle Granite Glimmer, die hier mit einem Anteil von circa sieben Prozent als Nebengemengeteil auftreten.

● ARCHITEKTUR Rosso Balmoral FG hat in Deutschland sicherlich einen geringeren Bekanntheitsgrad als der, ebenfalls aus Finnland stammende, Rosso Balmoral RG. Im Wesentlichen unterscheiden sich die beiden Typen in der Größe der enthaltenen Feldspäte. Während es sich beim Rosso Balmoral RG um einen mittel- bis grobkörnigen Granit handelt, dessen Feldspäte einen Durchmesser von bis zu 35 Millimetern erreichen können, handelt es sich beim Balmoral FG eher um einen fein- bis mittelkörnigen Granit, dessen Feldspatdurchmesser im Be-

reich von zwei bis fünf Millimetern liegt. Es handelt sich um einen sehr „gutmütigen“ Stein mit extrem geringer Verfärbungsneigung. Auch die Neigung zu Verschüsselungen ist sehr gering. Das sehr dichte, kompakte Gefüge mit einer sehr geringen Wasseraufnahme von lediglich 0,15 Gew.-Prozent wirkt sich außerdem positiv auf das Verschmutzungsverhalten aus. Auch die gesteinstechnischen Werte sind innerhalb der Granite im oberen Bereich angesiedelt. Deshalb ist ein Einsatz im gesamten Innen- und Außenbereich möglich. Rosso Balmoral FG wird in großen Rohblöcken abgebaut. Die Herstellung großformatiger Werkstücke, wie Thekenabdeckungen und gewendelte Treppenstufen, stellt kein Problem dar. Das Produktportfoilio reicht von der einen Zentimeter dicken Natursteinfliese bis zu massiven Werkstücken. Dipl.-Ing. (FH) Detlev Hill www.steinkultur.eu

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Garten und Musik

Harmonien, Kontraste, Herausforderungen

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Mit dem Lastenfahrrad zum Kunden unterwegs: Ein Steinmetz aus Stuttgart erledigt kurze Wege mit dem E-Bike. So schont er die Umwelt und hält sich nebenbei noch fit.

Garten und Musik

Harmonien, Kontraste, Herausforderungen

KUNDEN GEWINNEN 44

Jetzt die Zukunft planen! Wie Unternehmer durch die Krise kommen, und welche Fragen sie sich dabei stellen sollten.

CHANCEN NUTZEN 52

Wenn nicht jetzt, wann dann? Wie ein E-Lastenrad einem Steinmetz den Alltag erleichtert und ihn gleichzeitig fit hält.

PANORAMA 58 62

Sphingen am Münchner Nordfriedhof Termine, Produkte und mehr

RUBRIKEN 65 66 74

Vorschau Impressum STEINLUPE: Sabine Patscheider (43), Verkaufsleiterin Lasa Marmo

Garten und Musik – zwei Kunstrichtungen, die eng miteinander verbunden sind. Wie die Musik beruht die Gartenkunst auf Spannung durch Gegensätze, aber zugleich auch auf Harmonien und Zusammenspiel. Diese Symbiose zeigt sich auch im historischen Abriss: Im 18. und 19. Jahrhundert haben nicht nur die Malerei und die Literatur die Gestalter der Englischen Landschaftsgärten inspiriert, sondern auch die Musik. Spätestens seit dem Barock sind Freilufttheater aus den Gärten nicht mehr wegzudenken. Bis heute hat sich die Freude am Musizieren und Feiern im Grünen erhalten – und stellt die Städte vor große Herausforderungen. Sind Gärten und Parks doch zugleich Oasen der Ruhe und der Natur. Die Beiträge im Buch spannen einen weiten Bogen in diesem facettenreichen Themenfeld auf. DGGL-Themenbuch 15 | Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e.V. Garten und Musik 120 Seiten, kartoniert € 19,-‚

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SCHÖNE WELT DER STEINE

Der erste Coffeetable namens „Straight“ steht mittlerweile schon beim Kunden. Gefertigt hat MCR den kleinen Couchtisch aus „Black Horse“, einem brasilianischen Granit

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SCHÖNE WELT DER STEINE

Foto: MCR

KANTE ZEIGEN

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Möbel aus Naturstein Die thüringische Natursteinmanufaktur MCR hat ihre Produktpalette der Designlinie „n’Stee“ erweitert: Neben monolithisch wirkenden Küchenblöcken kann der Kunde jetzt auch Steinmöbel für den Wohnbereich bestellen. Der neue Onlineshop macht zudem eine Konfiguration bequem von zu Hause aus möglich. Von Tanja Slasten 15


SCHÖNE WELT DER STEINE

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WENN MÖBEL REDEN KÖNNTEN Während die äußere Hülle der Kommoden immer komplett aus Naturstein besteht, fertigt das MCRTeam das Innenleben, den Korpus und die Schübe, aus Echtholz. Hier kann der Kunde zwischen drei Holzarten wählen: Ahorn, Eiche und Nussbaum. Pulverbeschichtete Metallfüße komplettieren die kreativen Steinunikate. Sämtliche Wohnmöbel (bis jetzt sechs verschiedene Couchtische, vier Sideboards, eine Outdoor-Sitzbank und ein Waschtisch), kann sich der Kunde seit Juni diesen Jahres im neuen Onlineshop unter „nstee.de“ in Ruhe anschauen, nach eigenem Belieben konfigurieren und anschließend bestellen. So auch die Kommoden namens „Ear“ und „Mouth“. Die Idee zu den beiden Entwürfen hatte Rusch nach einem Besuch bei seinem Großvater: „Mein Großvater sagte etwas wie ‚Zum Glück können Möbel nicht reden‘ oder ‚Was Möbel alles hören‘. Daraus ist die Idee zu den beiden Möbeln entstanden.“ Die Kommode „Ear“ ist über zwei Meter lang und steht auf drei, schwarz pulverbeschichteten Metallplatten. Die mit Naturstein verkleideten acht Holzschübe (zwei Reihen à vier Schübe) sind mit einer „push to open“-Funktion ausgestattet, sodass man

Fotos: MCR

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er Ausdruck „n’Stee ist fränkisch und heißt umgangssprachlich „ein Stein“. „Das ist der Überbegriff für die Thematik“, erklärt Stan Rusch zu Beginn des Gesprächs. Rusch leitet den Bereich Produktentwicklung und Marketing der Steinmanufaktur MCR (Marmor-Center Römhild). Das Unternehmen, das vor fast 30 Jahren von Steffen Würstl als Einmannbetrieb gegründete wurde, hat seinen Sitz im südthüringischen Römhild. Der Startschuss für „n’Stee“ fiel vor etwa zweieinhalb Jahren mit den ersten Küchenblöcken aus hochwertigem Naturstein. „Weil wir alles auf Gehrung verarbeiten können und die Küchenblöcke dadurch monolithisch aussehen, haben wir unsere Designlinie einfach n’Stee genannt“, so Rusch. Auf der Einrichtungs- und Möbelmesse (IMM) 2019 in Köln stellte MCR erstmals zwei ihrer Steinunikate vor, den Aristokrat und den Patagonia Masterpiece (n’Stee de Luxe, Stein 04/2020). Seitdem haben Steffen Würstl und sein mittlerweile rund 50-köpfiges Team viel zu tun. Und damit das auch in Zukunft so bleibt, erweitern sie stetig ihre Produktpalette. Die ersten steinernen Couchtische namens „Straight“ stehen schon bei den Kunden. „Und die erste Kommode „Ear“ wird demnächst an einen guten Kunden im Ausland geliefert“, freut sich Rusch.

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SCHÖNE WELT DER STEINE

Fotos links außen: Wie wirkt das gleiche Sideboard mit einer anderen Natursteinhülle? Diesem Thema ist das MCR-Team in einer Studie mit dem einprägsamen Namen „Fifty Shades of Stone“ nachgegangen Fotos links: Die Kommode „Renaissance of“ vereint die Antike und die 1950er Jahre. Der Korpus besteht aus Holz, umhüllt vom Naturstein Spiderman, einem brasilianischem Quarzit. Die leicht schräg stehenden Füße bestehen aus pulverbeschichtetem Metall

Zeichnungen: MCR

Zeichnungen rechts: Die Hingucker und Namensgeber der beiden Kommoden „Mouth“ (Zeichnung oben) und „Ear“ (Zeichnung unten) sind jeweils die reliefartig gefrästen Front- bzw. Seitenplatten

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auf Griffe verzichten konnte. Der Hingucker und Namensgeber sind die beiden quadratischen (60 x 60 Zentimeter großen) Seitenwangen, „die ein Ohr links und ein Ohr rechts symbolisieren sollen“, verrät Rusch. In die Seitenwangen haben die Steinmetze eine Art Relief eingefräst: sechs Abstufungen mit einer Tiefe von je vier Millimetern. Die fünf Zentimeter dicken Seitenwangen bestehen aus zwei miteinander verklebten Natursteinplatten. Der Grund sind die handelsüblichen Stärken von zwei und drei Zentimetern. „Natursteinplatten mit einer Stärke von fünf Zentimetern sind schwieriger zu bekommen. Das würde somit die Auswahl an Natursteinen einschränken“, erklärt Rusch und ergänzt: „Unsere Techniker haben an dieser Idee lange geplant, und am Ende haben wir uns gemeinsam für diese Konstruktion entschieden. Bei so einem komplexen Entwurf ist das Know-how eines jeden Mitarbeiters wichtig.“ Etwas „einfacher“ in der Machart ist das Relief des Pendants „Mouth“. Die gut einen Meter lange Kommode besitzt vier Schübe (zwei Reihen à zwei Schübe) mit nur zwei Zentimeter dicken Steinfronten. Denn das Relief besteht aus lediglich vier Abstufungen und setzt sich aus allen vier Fronten zusammen. „Dadurch sieht die Front wie eine Art Mund aus“,

meint Rusch. Die Kanten der Natursteinplatten, die den Korpus verkleiden, sind, wie bei all den anderen Steinmöbeln auch, auf Gehrung gearbeitet. Die Oberflächen werden poliert oder geledert ausgeführt, je nach Kundenwunsch. Einer weiteren Kommode hat Rusch den klangvollen Namen „Renaissance of“ gegeben. „Eine Renaissance ist immer eine Wiederbelebung einer Epoche. Ich habe die Antike und die 1950er-Jahre bei dieser Kommode miteinander vereint“, erklärt er die Namensgebung. Der mit Naturstein verkleidete Korpus mit seinen zwei Schüben ist gut einen Meter breit und 52 Zentimeter hoch. Die obere und die untere Abdeckplatte ragen an den Seiten des Korpus etwas hervor „in Anlehnung an frühere Bauten“, so Rusch. Getragen wird der Korpus von 30 Zentimeter hohen, schwarz pulverbeschichteten Metallfüßen. „Den 1950er-Jahre-Charakter bekommt die Kommode durch die schräg wegstehenden Füße“, verdeutlicht er und fügt hinzu: „Dieses besondere Detail ist, durch die Planung einer unserer Techniker umsetzbar gemacht worden und essenziell.“ Eine „Renaissance of“ steht in einem Showroom in Frankfurt am Main. Für das Musterstück hat sich das MCR-Team für den extravaganten Spiderman

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STEINE BEARBEITEN

Das Grabmal in seinem ursprĂźngliche

n Zustand ...

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STEINE BEARBEITEN

DAS GRAB DER BILDHAUER Kurioser Zufall Steinmetz- und Bildhauermeister Gabriel Heimann adoptiert ein historisches Familien-Grabmal in seiner Heimatstadt Pirna und entdeckt spannende Spuren, die zum einstigen Besitzer führen: einem in der Regionalgeschichte um die Jahrhundertwende herum wichtigen Bildhauermeister. Bei der Sanierung integriert er eine Hommage an die gemeinsame Zunft. Von Anne Fischer

Foto: Anne Fischer

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ie bundesweit viele Friedhofsverwaltungen versucht auch die des Friedhofs in Pirna, historische bedeutende Grabstätten durch Patenschaften zu erhalten. Der parkartig angelegte Friedhof der Evangelisch-Lutheranischen Kirchengemeinde Pirna wurde 1870 eröffnet und beherbergt einige solcher Gräber. Gabriel Heimann, Steinmetzund Bildhauermeister mit eigenem Unternehmen, suchte sich Anfang 2020 eines davon aus: ein Familiengrab, nahezu komplett überwuchert und nicht besonders gut zu erkennen, weil der darauf gepflanzte Buchsbaum es verdeckte. „Aber ich habe gesehen, dass die Substanz gut ist, denn Wehlener Sandstein ist widerstandsfähig. Außerdem habe ich einen Handwerkerkranz erkannt und fand das Grabmal deshalb passend.“ Denn auch Hei-

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manns Vater ist Handwerker, er arbeitete als Tischler. Als der Wildwuchs auf dem Grab gebändigt war, entdeckte Heimann Elemente, die nur eines bedeuten konnten: „Knüpfel und Bildhauereisen...“ Es stellte sich heraus, dass er die Patenschaft für das Familiengrab von Heinrich Schneider übernommen hatte – einem Bildhauermeister, der um die Jahrhundertwende in Pirna und der Region Dresden wirkte. Heimann interessierte sich nun besonders für die Geschichte des Grabs und des „Vorbesitzers“. Und tatsächlich brachte der Gang ins Archiv einiges zutage: Neben einer Abschrift des Friedhofsbuchs, das interessante Aufschlüsse über die Lebenszeiten der Familie gab, fand sich im Archiv unter anderem Schneiders Sterbeurkunde, ein technischer Bauplan seiner Bildhauerwerkhalle und

... mit überwuchertem Bildhauerschmuck, der auf die Zunft hinweist

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STEINE BEARBEITEN

Koordinierte Zusammenarbeit aus Planern und Handwerkern, die gewerkeübergreifend agieren: In der Raumfabrik entstehen komplette Raumlösungen mit exklusiven Oberflächen

Maschinelle High-End-Oberflächenbearbeitung Innovative Tischlerbetriebe haben sich früh mit Interiordesign und hochwertigem Möbelbau beschäftigt. Holz und Holzwerkstoffe sowie Mineralwerkstoff ließen sich nämlich hervorragend zu Möbeln für höchste Ansprüche verarbeiten. Mit der dünnen und daher besonders leichten Keramik etablieren sich heute auch Steinmetzbetriebe als Ansprechpartner für Inneneinrichtungsprojekte – vor allem dank maschinenunterstützter Oberflächenbearbeitung. Und immer häufiger kooperieren Holz- und Steinverarbeiter bei der Fertigung einzigartiger Mobiliar- und Raumlösungen. Von Michael Spohr 36

Foto: Michael Spohr

EXKLUSIVE OBERFLÄCHEN

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STEINE BEARBEITEN

Ganzheitlicher Showroom: Die Raumfabrik-Ausstellung am Münsteraner Hafen nutzen die einzelnen Handwerkspartner für Kundengespräche ebenso wie zur Veranschaulichung der eigenen Leistungsfähigkeit

Fotos: Michael Spohr

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andwerkskooperationen sind an sich nichts Neues. Auch die Kombination aus Tischler und Steinmetz existiert seit Langem; schließlich bestehen die meisten Möbel aus einem Tragegerüst aus Holzwerkstoffen. Wenn sich dazu ein Material wie etwa Naturstein, Keramik oder Engineered Stone gesellt, welches nicht mit Holzbearbeitungsmaschinen in Form gebracht werden kann, dann benötigt der Schreiner, Tischler, Innenausbauer, Ladenbauer, Messebauer oder Raumausstatter einen Steinverarbeiter mit entsprechenden Maschinen. Mit dem Aufkommen hochwertiger Küchenarbeitsplatten aus mineralischen Werkstoffen nahm auch die Anzahl derartiger Allianzen sprunghaft zu. Der erst seit wenigen Jahren gestartete und längst noch nicht am Höhepunkt angekommene Keramiktrend sorgt nun dafür, dass immer mehr Unternehmen ihren Maschinenpark aufrüsten, um sich einen Teil des lukrativen Kuchens zu sichern.

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Edler Naturstein im Kunden-WC: Die von Steinmetzmeister Daniel Hellwig aus Emsdetten gefertigte Waschtischanlage wirbt in der Raumfabrik fast von allein für dessen Fähigkeiten

STEIN stellt folgende Firmen vor: 1. PlanB Interior, Emsdetten www.planbinterior.de Hellwig Denkmal Naturstein GmbH & Co. KG, Emsdetten, www.hellwig.biz Raumfabrik Franchise GmbH, Münster, www.raumfabrik-system.de 2. Vogelsberg Innenausbau GmbH & Co. KG, www.vogelsberg-innenausbau.de Natursteinwelten Stefan Ogrczall GmbH, Zülpich, www.natursteinwelten.net 3. more interior GmbH, Grevenbroich, www.more-interior.de KMD Natursteine GmbH & Co. KG, Gotha, www.kmd-natursteine.de

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CHANCEN NUTZEN

E-Mobilität Vor dem Hintergrund von Klimawandel und Energiewende, Dieselfahrverboten, aber auch im Zusammenhang mit neuen Förderungsmöglichkeiten lohnt es sich für Handwerker, sich mit der Elektromobilität zu beschäftigen. STEIN bietet sowohl aktuelle Informationen zu Förderungen, zur aktuellen Entwicklung der E-Mobilität als auch Erfahrungsberichte eines Steinmetzes, der mit einem E-Lastenrad unterwegs ist. Von Dr. Alexandra Nyseth

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Foto: Hellwig Fotostudio/Stuttgart

WENN NICHT JETZT, WANN DANN?

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CHANCEN NUTZEN

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in Steinmetz, der sich bereits seit 2015 intensiv mit der Elektromobilität beschäftigt, ist Heinz Blaschke aus Stuttgart. „Ich wollte etwas gegen die Luftverschmutzung tun, außerdem war es mir wichtig, mit der Zeit zu gehen und bei der Arbeit den Lärm zu reduzieren. Dies ist insbesondere auf dem Friedhof von Vorteil. Dort arbeite ich mit einem Hybridkran“, erklärt Blaschke. Bereits seit Juli 2017 zählt dieser Kran zu seiner Fahrzeugflotte und seit März 2018 fährt der Steinmetz ein E-Lastenfahrrad. „Insgesamt bin ich mit dem Fahrrad schon 16.000 Kilometer gefahren“, erklärt er stolz. „Kleine Touren im Umkreis von 15 Kilometern sind gut machbar. Ich bin mit dem Fahrrad täglich rund 24 Kilometer unterwegs.“

Täglich erledigt Steinmetz Heinz Blaschke Kundenbesuche mit seinem E-Lastenrad. Dabei genießt er die frische Luft und hält sich fit

ALTES TRANSPORTMITTEL ALS E-VARIANTE Schon früher transportierten Handwerker mit dem Long John, einem Transportrad mit einer tiefer gelegten Ladefläche zwischen Lenker und Vorderrad, Werkzeug und Material. Der Bäckerjunge fuhr beispielsweise auf einem Fahrrad, über dessen Vorderrad ein Kasten montiert war, die Brötchen aus. Doch in den 1960er Jahren verdrängten Autos die Lastenräder. Dank eines Elektromotors erlebt das Lastenfahrrad seit einigen Jahren eine Renaissance. „Mit Unterstützung lassen sich 100 Kilo Zuglast komfortabel durch die Stadt kutschieren. Und stellten vor fünf Jahren noch rund zwei Dutzend Firmen in Europa Lastenräder her, sind es laut zeit online heute etwa doppelt so viele. Es gibt verschiedene Arten von E-Lastenrädern, auf zwei, drei, gar auf vier Rädern, als Heck- oder Frontlader oder auch als Mischform. Auch das Zukunftsinstitut, das sich mit Trends und Zukunftsforschung beschäftigt, bestätigt: „In den kommenden Jahren wird sich eine Vielzahl paralleler Mobilitätskonzepte für die kurzen Strecken etablieren. Die neue Liebe zum Fahrrad ist hier treibende und bestimmende Kraft.“

VIELSEITIG EINSETZBAR Auch Heinz Blaschkes E-Lastenrad ist ein Long John: „Es fährt sich fast wie ein normales Fahrrad, allerdings mit einem niederen Schwerpunkt für die Beladung. Das Fahren ist eine Sache der Übung, ich bin mit wenig Gewicht gestartet und habe mir die Routine erradelt“, erinnert sich Blaschke und fährt fort: „Ich habe das Fahrrad einen Tag Probe gefahren und dann festgestellt, dass dieser Typus sich für meine Bedürfnisse am besten eignet, weil er am stabilsten ist. Bei den Lastenrädern gibt es große Unterschiede, auch in Bezug auf die Qualität. Hier ist es wichtig, zum Fachhändler zu gehen und sich beraten zu lassen. Das Rad sollte individuell auf den Bedarf abgestimmt sein.“ Der Steinmetz transportiert mit dem Fahrrad Werkzeuge, Platten, Liegesteine, Laternen, Hilfsstoffe, Holz oder Sand. Insgesamt kann er 120 Kilogramm zuladen, und die Akkuladung hält etwa 75 Kilometer, je nach Beladung und Temperatur, im Frühjahr und Sommer kommt er weiter als im Winter. Blaschke erledigt Aufträge wie Kleinreparaturen, Beschriftungen, Liegesteintransporte und Laternenausfahren mit dem Fahrrad. Auch Botengänge und Besichtigungen gehören dazu, und manchmal radelt er auch zu Beratungsgesprächen. „Für diese Arbeiten hätte ich früher das Auto benutzt. Etwa ein Drittel an Fahrten, die ich sonst mit dem Lkw gemacht hätte, habe ich durch das Lastenrad ersetzt“, erklärt er stolz. Das, was Heinz Blaschke bereits vorlebt, deckt sich in etwa mit einem Ergebnis eines Pilotprojekts der Nationalen Klimaschutzinitiative des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) : Dies besagt, dass 42 Prozent der Pkw-Aufträge aufgrund von Auftragsentfernung und Gewicht/Volumen durch E-Lastenräder ersetzt werden könnten.

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PANORAMA

Sphingen am Münchner Nordfriedhof

Der zweite Streich In den 1960er-Jahren verschwanden vor dem Münchner Nordfriedhof zwei Sphinx-Skulpturen. Sie tauchten nie wieder auf. Jetzt füllen Rekonstruktionen aus Kelheimer Auerkalk die Leerstelle und bringen ein jahrzehntelanges Rätsel zum Abschluss. Von Carolin Werthmann

Die Ungererstraße am Münchner Nordfriedhof ist eine sehr laute Straße. Man geht nicht gern dort entlang, doch wenn man es tut, entgehen einem wohl kaum die beiden rekonstruierten steinernen Sphingen vor dem Portal der Aussegnungshalle. Dass es zwei sind, ist nicht selbstverständlich. Lange waren die Sockel links und rechts des Treppenaufgangs blank geblieben. Erst im vergangenen Jahr war dort die erste von beiden Skulpturen platziert und enthüllt worden, was umso sichtbarer machte, dass die zweite fehlte. Da thronte es nun zur linken Seite des Eingangs, dieses Mischwesen mit Hahnenkopf und Löwenkörper, gekleidet in Kelheimer Auerkalk, der im Sonnenlicht blendend weiß glänzt. Als vor wenigen Monaten dann, an einem sehr heißen Tag Ende Juli, endlich die zweite Sphinx die Leerstelle vor dem Nordfriedhof füllte, war das Bild der Aussegnungshalle so vollständig, wie sich das Architekt Hans Grässel zu Beginn des 20. Jahrhunderts gedacht hatte. Zwei Sphingen sollten wie Wächter das Tor zwischen Leben und Tod flankieren. Und damals, 1899, taten sie das auch. Bis sie in den 1960er-Jahren verschwanden. Man fand sie nie wieder, und es dauerte bis heute, um die Originale nachzubilden. Der Tag der Enthüllung der zweiten Sphinx ist, anders als im Jahr zuvor, nicht ohne Hygiene-Maßnahmen denkbar, es sind ja immer noch Corona-Zeiten. Trotzdem: Eine kleine Gruppe Interessierter hat sich vor dem Nordfriedhof unter der prallen Sonne zusammengefunden und sich brav auf den vorgeschriebenen

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Neues kulturgeschichtliches Bewusstsein Auch Heißerer ist am Tag der Enthüllung gekommen, trägt Jackett mit Fliege und Kappe auf dem Kopf, und bezeichnet die Rekonstruktion der Sphinx als ein „kleines Wunder der Neubesinnung und Korrektur“, das noch dazu mit Schriftsteller Thomas Mann zu hat. Mann ließ gleich zu Beginn seiner Novelle „Tod in Venedig“ von 1912 die Erzählerfigur durch München

Foto: Caro Werthmann

Wächter am Portal des Münchner Nordfriedhofs: die zweite Sphinx wurde kürzlich ergänzt

Abstandsmarkierungen positioniert. Münchens dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) spricht von einem „geschichtsträchtigen Kunstwerk“, für dessen Rekonstruktion „viel Liebe fürs Detail“ notwendig gewesen sei. Diejenigen, deren Engagement sie meint, stehen ein paar Meter weiter vor ihr im Publikum: Steinbildhauerin Barbara Oppenrieder, Steinmetzmeister Wolfgang Gottschalk und Markus Steininger, Obermeister der Steinmetz-Innung München-Oberbayern. Die Innung hatte die Rekonstruktion im vergangenen Jahr anlässlich des 200. Jubiläums der kommunalen Friedshofs- und Bestattungskultur München initiiert. Gottschalk und Oppenrieder waren die ausführenden Künstler. Mehr als ein Jahr lang recherchierten die beiden intensiv zu den verschwundenen Originalen, mussten anhand von wenigen, noch dazu schlechten Fotos nachvollziehen, wie die ursprünglichen Sphingen ausgesehen hatten. Zwei Wochen vorher. Gottschalk und Oppenrieder sitzen auf einer Bank vor ihrer provisorischen Bauhütte, wenige hundert Meter von der Aussegnungshalle des Nordfriedhofs entfernt. Sponsor für die Hütte war die Stadt München, 2019 liefen hier noch Besucher und Steinmetzschüler umher. Die Besucher deshalb, um Gottschalk über die Schulter zu schauen, die Steinmetzschüler, um ihm zur Hand zu gehen. Diesmal reiste nur ein Kollege und Freund aus Regensburg zur Unterstützung an, der Steinmetzmeister und Biobauer Olaf Klein. Die Sphinx ist so gut wie fertig, steht aufgebahrt neben dem 1:1-Modell im Inneren, nur noch die „Hochzeit zwischen Kopf und Rumpf“, wie Oppenrieder sagt, fehlt. Die beiden wirken zufrieden, ausgeglichen, weil sie wissen, dass die Arbeit getan und gut geworden ist, weil sie das zusammen gemacht haben, dieses Puzzlespiel, das irgendwie auch Schnitzeljagd war, eine Suche nach den richtigen Maßen und Proportionen und fotografischen Aufnahmen aus vergangenen Zeiten. Der Mann, der großen Spaß hatte, ihnen bei der Recherche zu helfen, heißt Dirk Heißerer und ist Literaturwissenschaftler und Vorsitzender des Thomas-Mann-Forum München.

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PANORAMA

Feierlichkeiten zur Enthüllung der zweiten Sphinx. Auch die Lokalpolitik war vor Ort

Mit viel Liebe zum Detail haben die Steinbildhauerin Barbara Oppenrieder und der Steinmetzmeister Wolfgang Gottschalk auch die zweite Sphinx für das Portal des Münchner Nordfriedhofs gefertigt

Fotos: Caro Werthmann

flanieren, vorbei an der von „apokalyptischen Tieren“ bewachten Freitreppe des Nordfriedhofs. „Die beiden Sphingen, gedacht als religiöse Wächter, literarisch umfunktioniert zu apokalyptischen Tieren und burschikos als ‚Scheißviecher‘ entsorgt, kehren aufgrund eines neuen kulturgeschichtlichen Bewusstseins zurück“, sagt Heißerer. Bürokratische Willkür der Nachkriegszeit Er schildert, wie die Stadt München in den 1950er-Jahren eine hiesige Baufirma beauftragte, die Fassade des Nordfriedhofs zu erneuern. Zahlreiche Verzierungen fielen dieser Erneuerung zum Opfer, die Sphingen aber blieben zunächst verschont, waren einem Augenzeugen zufolge noch bis Anfang 1961 aufgestellt und zeigten Kriegsschädigungen. Aus einem Bericht aus dem Münchner Stadtarchiv geht hervor, die Sphingen seien auf Anweisung eines längst verstorbenen Baurats schließlich entfernt worden. Dessen Begründung lautete: Die „Scheißviecher“ müssten weg. Also kamen sie weg. Passten nicht mehr ins Konzept. Wohin, das weiß niemand so genau. Heißerer fasst ihr Ver-

S12 | 2020

schwinden als „Ergebnis bürokratischer Willkür der Nachkriegszeit“ zusammen und freut sich umso mehr, dass sie nun wieder an ihrem Platz sind, wenn auch als Kopie. Auf den schwarzweißen Abbildern der Originale sind zwar Farbe und Details der Originale kaum zu erkennen, aber dass sie filigraner geworden sind, lässt sich immerhin feststellen. Weniger wuchtig, mit hellerem Material. Die Originale sollen aus Belgisch Granit geschlagen worden sein, vermutet jedenfalls Wolfgang Gottschalk. Auch er tritt zur Enthüllung zusammen mit Barbara Oppenrieder ans Mikrofon. Eigentlich ist Gottschalk einer, der sehr gern spricht und kein Problem damit hat, den Tag mit Reden zu verbringen, aber heute hält er sich zurück, steht hinter Oppenrieder und legt die Hand auf ihre Schulter. Während ein Tuch noch die zweite Sphinx bedeckt, beschreibt sie in Versen, was die Besucher gleich zu sehen bekommen. Und wann immer man nun die Ungererstraße entlanggeht, diese sehr laute Straße im Münchner Norden, dann tut man das vielleicht nicht gern, aber es entgeht einem zumindest nicht der Anblick zweier steinerner Sphingen, die das Portal des Nordfriedhofs wieder in Balance bringen.

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