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GEHEN bedeutet, sich fortzubewegen. Sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Es bedeutet auch, voranzukommen, sich zu verbessern, sich weiterzuentwickeln und offen zu sein für Innovation. Die Walking Society ist eine virtuelle Gemeinschaft, in der jeder willkommen ist – unabhängig von seinem sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder geographischen Hintergrund. Einzeln und als Zusammenschluss fördern sie Vorstellungskraft und positive Energie, indem sie innovative Ideen und Lösungen entwickeln, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – auf einfache und ehrliche Weise. CAMPER bedeutet im Mallorquinischen Bauer. Die Entbehrungen, die Einfachheit und die Intimität des ländlichen Lebens, vereint mit mediterraner Geschichte, Kultur und Landschaft – all das beeinflusst die Ästhetik und die Werte unserer Marke. Unser Traditionsbewusstsein und unsere Wertschätzung für Kunst und Handwerk sind die tragenden Säulen unseres Versprechens: Wir legen Wert auf Vielfalt und bieten nützliche, originelle und hochwertige Produkte, die wir durch Innovationen, neue Technologien und unseren Sinn für Schönheit stets weiter entwickeln. Kultur und Menschlichkeit sind die Grundlage unseres unternehmerischen Handelns. KORSIKA hat als eine der größten Inseln im Mittelmeerraum eine große kulturelle und landschaftliche Vielfalt zu bieten, die von der Mischung aus italienischem und französischem Lebensgefühl und dem engen Nebeneinander von Bergen und Meer geprägt ist. THE WALKING SOCIETY In der zwölften Ausgabe von The Walking Society besuchen wir ein echtes Gebirge, das aus dem Mittelmeer ragt. Dabei erleben wir eine Vielfalt – die hier oft gleichbedeutend mit Komplexität ist – an Wechselbeziehungen, Konflikten und Entwicklungen, die an diesem kleinen, gelegentlich wie eine Welt für sich wirkenden Flecken im weiten Meer stattgefunden haben. WALK, DON’T RUN.
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Beim Blick von Korsika aus in Richtung Festland sieht man zuerst die toskanische Küste. Würde ein Riese zum Hafen von Livorno auf dem italienischen Festland springen wollen, dann könnte er die kleinen Inseln dazwischen als Trittsteine benutzen: zuerst Pianosa, dann Elba und zuletzt Capraia. Bastia, Korsikas größter Hafen und die frühere Hauptstadt, liegt unmittelbar unter dem felsigen „Zeigefinger Korsikas“, der auch als Cap Corse bekannt ist. Die 1378 von den Genuesen gegründete Stadt Bastia besteht aus zwei Teilen, Terra Nova rund um die Befestigungsanlage, und Terra Vecchia, die tiefer gelegene Altstadt mit dem Hafen. Als Bewohner der Republik Genua sprachen die Korsen bis ins 18. Jahrhundert Italienisch und trieben ihren Handel hauptsächlich mit Ligurien und der Toskana auf der terra ferma, dem Festland. Dass die Insel ein italienisches und ein französisches Herz hat, kann man an den Graffitis im Zentrum von Bastia ablesen. Einige sind Unabhängigkeitserklärungen auf Korsisch, andere freche Kommentare zum Thema Fußball. Das fett gesprühte Wort „Champions“ feiert den Aufstieg der Mannschaft in die Ligue 2, die zweite französische Fußballliga, der mit Italiens Finalsieg bei der Europameisterschaft zusammenfiel. Das Nationalmuseum thront hoch oben in der alten Zitadelle. Von seinen Fenstern aus 6
Brutus Sandal S/S 2022 Auf einer Fläche von über 8500 Quadratkilometern leben knapp 340.000 Einwohner, eine im Vergleich zum Rest von Frankreich äußerst geringe Bevölkerungsdichte. Dennoch ist die Zuwanderungsrate fast vierzigmal so hoch wie auf dem Festland und damit recht beachtlich.
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Thomas Marfisi ist Schauspieler und Sänger und pendelt zwischen Paris and Bastia. Sein Musikstil orientiert sich am Classic Rock und Indie.
Maeve ist 30 Jahre alt und wurde in Bastia geboren. Nach zehn Jahren in Toulouse lebt sie wieder auf der Insel, wo ihr Bruder ein Kino betreibt. Nach einer Ausbildung auf dem Festland arbeitet sie jetzt als Fotografin und Visagistin.
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Yannick ist der Gründer des Landwirtschaftsbetriebs SoloBio, der in Linguizzetta schon seit 2018 nach den Grundlagen der Permakultur arbeitet. Als Bauer setzt er auf den respektvollen Umgang mit Land und Menschen.
Saoirse zog im Juli 2021 aus der Bretagne nach Bastia. Sier arbeitet als Fotoassistent*in und Lichttechniker*in. Saoirse mag vor allem das Klima auf Korsika, wo die Sommer um einiges länger sind als in Nordfrankreich.
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Auch wenn der Mittelmeerraum an Naturschönheiten wahrlich nicht arm ist, lässt sich unschwer erkennen, warum Korsika den Beinamen „Insel der Schönheit“ trägt. Keine andere Insel verfügt über ein so vielfältiges und außergewöhnliches Ökosystem.
kann man das Meer und an klaren Tagen die toskanische Küste am Horizont sehen. Vor Bastia erstreckt sich das Wasser, dahinter erheben sich schroff die Berge. Der Boulevard Paoli ist die Hauptstraße der Neustadt und trägt den Namen von Pasquale Paoli, dem korsischen Nationalhelden. Dieser rief 1755 die Unabhängigkeit aus, führte eine neue Verfassung und ein neues Rechtssystem ein und machte Corte im Zentrum der Insel zur Hauptstadt, in der er obendrein eine Universität gründete. Nachdem Frankreich die Insel Capraia erobert hatte, sollte sie die Republik Genua beim Kampf gegen Paoli und dessen neue korsische Armee unterstützen, was ihr auch gelang. Im Gegenzug wurde die Insel französisches Staatsgebiet. Nachdem Paolis zweiter Versuch auf Machtübernahme 1793 scheiterte, floh er für immer ins Exil nach England. Wie es der Zufall will, kam der eminente Franzose Napoleon Bonaparte nur wenige Wochen nach dem Ende von Pasquale Paolis Unabhängigkeitsbestrebungen auf der Insel an der Peripherie des französischen Reichs zur Welt. Korsika ist ein wiederkehrendes Thema in den Geschichten des deutschen Autors W.G. Sebald. Eine wunderbare Beschreibung der geografischen und kulturellen Zweiteilung der Insel findet sich in der Geschichte Die Alpen im Meer. Dass die Korsen ein Bergvolk sind, ist nicht zuletzt in ihren kulinarischen Traditionen spürbar, in denen vor allem die Schafzucht eine große Rolle spielt. Auf dem Wochenmarkt von Bastia findet man den 11
einheimischen Käse brocciu – frisch oder gereift – und figatellu, eine Wurstspezialität aus pikanter Schweineleber. Die etwa dreihunderttausend Einwohner Korsikas sind eher raue, temperamentvolle Typen. Ein großer Teil der Insel ist unberührt, ein Viertel davon gehört zum regionalen Naturpark. Im Sommer füllt sich die Insel, im Herbst leert sie sich – das übliche Schicksal der Mittelmeerinseln, fröhlich und bedrückend zugleich. In dem Prosastück Campo Santo beschreibt Sebald „eine Aura der Schwermut ..., die sich, sogar an den strahlendsten Tagen, wie ein Schatten über die grüne Blattwelt der Insel legte“.
CHARLOTTE VANNUCHI S. 15 Sie stammt aus Cargese und wuchs auf dem Festland auf, doch die Musikerin und DJ ist das neue Gesicht Korsikas: europäisch, jung und fest auf der Insel verwurzelt. PARC RÉGIONAL DE CORSE S. 23 Ein Ausflug in die Berge, einem in Europa einzigartigen Naturparadies. Große Raubvögel, alte Felszeichnungen und Teiche, an denen die Stille regiert. A SIGNORA CAPRA S. 32 Auf Korsika ist die Ziegenhaltung eine Kunst und ein Beruf zugleich, eine Tradition, die auch heute noch von enormer Bedeutung ist – ein Stück Wirtschafts-, Küchen- und Kulturgeschichte in einem. A LINGUA CORSA S. 41 Für ein Volk auf der Suche nach seiner Identität ist die Sprache ein unverzichtbares Instrument. Der korsische Dialekt ist ein Spiegel der komplexen Vergangenheit der Insel. A BUCCIA S. 51 Ein Tag in Bastia beim bucce, einer französischen Leidenschaft, die auf Korsika schon fast religiöse Züge annimmt. FURMAGLIU S. 77 Ohne Käse kein Korsika. Eine kulinarische Reise durch die Berge des Département Haute-Corse, wo diese Spezialität noch immer nach den überlieferten Rezepten hergestellt wird. CARTA PUSTALE S. 89 Sieben kleine Postkarten in Briefmarkenformat, siebenmal typisch Korsisches, angefangen bei einem Kuhstrand bis hin zur traditionellen Wurst. U CULTELLU p.96 Ein Schafzüchter braucht das richtige Werkzeug. Die Qualität der korsischen Messer ist weit über die Inselgrenzen hinaus ein Begriff. IM TEMPO DER NATUR S. 105 Die Natur, die Berge und das Mittelmeer hautnah erleben. Ein Dialog zwischen Miguel Fluxa, CEO von Camper, und Jeff Mercier. ISABELLE BUZZO UND JEAN-PHILIPPE SPINELLI S. 117 Architektur und Innovation, die Berge und das Meer. Eine Unterhaltung mit Buzzo Spinelli Studio über Korsikas Architektur von gestern und heute.
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Brutus Sandal S/S 2022 Die alte Hauptstadt der Insel ist Bastia, eine von den Genuesen gegründete Stadt an der Ostküste. Doch 1769 wurde Ajaccio zum Geburtsort Napoleons, des bekanntesten Korsen (und Franzosen) der Welt, der die Stadt 1811 zur Hauptstadt der Insel ernannte.
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Eine Unterhaltung mit
Charlotte Vannuchi
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Charlotte Vannuchi ist gerade erst in Ajaccio gelandet. Nach Cargese, ihrem Geburts- und Wohnort, führt eine einstündige Autofahrt entlang der Sandstrände und der schroffen Felsküste des Golfs von Sagone, einer der schönsten und nur von wenigen Touristen besuchten Gegenden Korsikas. Charlotte steht stellvertretend für viele Korsen aus ihrer Generation: eine Mittzwanzigerin, die hier geboren und aufgewachsen ist, jetzt aber zwischen der Insel und Frankreich pendelt. Ihre Arbeit gibt ihr die Freiheit dazu, denn sie ist eines der spannendsten neuen Talente in Frankreich und Europa, mit Auftritten als DJ „Charlotte“ in New York, Paris, Ibiza, Berlin und im angesagten Londoner Club Fabric. Ihr Lebensmittelpunkt ist Paris, doch sie legt regelmäßig in den Clubs und vor allem im Sommer auf den Festivals auf Korsika auf. Während des Lockdowns verbrachte sie einige lange und einsame Monate in Cargese und begab sich auf die Suche nach ihren nach wie vor starken Wurzeln, die bei Inselmitbewohnern stets stark ausgeprägt sind.
Wie war deine Kindheit auf Korsika?
Wie stark beeinflusst Korsika deine Musik?
Mein Vater war Profifußballer und musste daher aus beruflichen Gründen die Insel verlassen, so dass wir nicht durchgängig auf Korsika lebten. Aber wir waren jeden Sommer für mindestens zwei Monate hier. Da Ferien waren, habe ich Korsika irgendwie intensiver erlebt als Frankreich. Es ist etwas ganz anderes, als Kind einfach so den ganzen Sommer auf der Insel am Strand zu sein ... Ich glaube, dass sich jedes Kind auf Korsika frei, aber gleichzeitig sicher fühlt. Ich habe mich in Frankreich noch nie so sicher gefühlt wie hier. Vielleicht liegt es an diesem Gefühl für die Natur.
Als ich 16 war, riefen mich ein paar Leute von einem Musikfestival in Cargese an. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen aufgelegt und das Festival war in den Jahren davor ordentlich gewachsen. Ich bin sofort von Marseille nach Cargese, um dort aufzulegen. Das war mein bis dahin größtes Line-up und dann auch noch in meinem Heimatdorf auf Korsika! Es ist schon seltsam – man geht weg, um als Musikerin Karriere zu machen, und dann spielt man zum ersten Mal auf einem Festival vor 2000 Leuten im eigenen Heimatdorf. Das hat mich umgehauen.
Wie ein nie endender Sommer.
Bist du jetzt häufiger hier?
Genau, und zwar jedes Jahr, denn unser Haus stand in Cargese, einem kleinen Dorf bei Ajaccio. Am Strand von Cargese habe ich auch viel Fußball gespielt.
Ich bin immer häufiger hier, vor allem wegen der Lockdowns in den letzten Jahren. Ich habe mehr Zeit auf Korsika verbracht als in Paris.
Aber deine Erziehung, sowohl kulturell als auch schulisch, war schon eher französisch geprägt?
Was ist das erste Bild oder Gefühl, das dir zu Korsika einfällt?
Ich bin in Marseille zur Schule gegangen, aber mit 18 dann zum Studium der Musikproduktion nach Paris gezogen. Mein erster Auftritt in einem Club war in Marseille, mit Blick auf das Mittelmeer. 16
Etwas Persönliches und Tiefgreifendes, denn ich habe vor kurzem einen meiner besten Freunde verloren, hier auf Korsika. Meine Beziehung zur Insel ist seitdem noch intensiver geworden. Er hieß Maxime und kämpfte für ein besseres Korsika. Wir hatten die gleiche Sichtweise auf die Insel.
Peu Stadium S/S 2022
Charlotte Vannuchi tritt unter dem Namen Charlotte sowohl als Solokünstlerin als auch zusammen mit DJ Louison Savignoni als Charly & Scotch auf.
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Ist das derselbe „Massimu“ (der korsische Name, der „Maxime“ auf Französisch heißt), dessen Name überall in Bastia, beziehungsweise überall auf Korsika an den Wänden steht? Genau, er war einer meiner besten Freunde von hier. Was fällt dir noch ein? Mein Opa. Bei meinen ersten Auftritten war er so stolz auf mich. Zu meinem Auftritt auf diesem Festival in Cargese kam nicht nur er, sondern das ganze Dorf. Ich fühle eine grenzenlose Liebe zu dieser Insel. Wie war deine Teenagerzeit auf Korsika? Sie hat Spaß gemacht! Es war vielleicht nicht ganz so ereignisarm, denn manchmal geht es hier schon ganz schön, sagen wir mal, wild zu. Kinder gelten auf Korsika als sehr kostbar, fast heilig. Aber es hat Spaß gemacht, weil man hier eine sehr sichere Kindheit haben kann. Ich konnte den ganzen Tag bis zum Dunkelwerden allein rumstromern. Diese Art von Sicherheit und Vertrauen habe ich auf dem Festland noch nie erlebt. Besteht eine Verbindung zwischen deiner Musik und dem Mittelmeerraum? Schließlich hatten Ibiza und die Balearen einen großen Einfluss auf die House-Musik. Das stimmt zwar, allerdings gehört Korsika nicht wirklich zu dieser Szene. Elektro hat hier noch nie eine Rolle gespielt und soweit ich weiß, hat Ajacco noch nicht mal einen Plattenladen. Aber es gibt die Clubs und jede Menge Musikfestivals wie Cargese Soundsystem, Calvi On The Rocks und Era: Ora in Ajaccio. Wie entstand deine Liebe zur Musik? Ich saß bei meinem Vater im Auto auf der Fahrt vom Flughafen Ajacco nach Cargese und es lief ein Stück von St. Germain. Das hat etwas in mir geweckt. Ich war sofort in Acid Jazz verliebt. Mein Vater steht total auf diese Musik und mittlerweile logischerweise auch auf Elektro. Er kommt so oft wie möglich zu meinen Auftritten. Wann hast du beschlossen, die Musik zu deinem Beruf zu machen? Da war ich schon älter, in Marseille. Das war mein erstes Mal in einem Club. Vorher hatte ich Angst vor Clubs. Ich dachte, dort würde nur Beyoncé gespielt, denn meine große Schwester hörte das damals und ich hatte keine Ahnung, wie man dazu tanzt! Doch dann passierte etwas in dem Club, das mich zutiefst beeindruckte: Da waren wildfremde Menschen im selben Raum und durchlebten in diesem gemeinsamen Moment dieselben Gefühle. Ich schaute auf den DJ und dachte: Diese vereinigenden Vibes kommen von dieser einen Person, er ruft in den unterschiedlichen Menschen diese Gefühle hervor. Könnte die Wiedereröffnung der Clubs nach dem Lockdown die Menschen neu und anders zusammenbringen? Vielleicht als energiegeladenere Rückkehr zum Gemeinschaftsgefühl nach den Monaten der ungewollten Distanz?
Meiner Meinung nach geht das sogar über die Musik hinaus. Als Teil der LGBTQ+-Community erleben wir in bestimmten Clubszenen gerade eine tiefgreifende Phase der Bestätigung. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich mich als Individuum in Clubs oder in der Nacht besser ausdrücken kann. Und ich glaube, dass es immer noch Menschen gibt, die tagsüber nicht ganz frei sind und erst nachts zu sich selbst finden. Clubbing ist also auch unter diesem Gesichtspunkt wichtig, es ist eine Art von Kultur. Und Kultur brauchen wir wirklich. Trittst du schon wieder auf? Ist es anders als früher? Es ist anders, denn wenn man etwas Verlorenes wieder bekommt, ist der Verlust trotzdem immer präsent. Man vergleicht also mit früher und merkt, wie schwierig der Verzicht war. Doch es ist auch anders, weil sich die Menschen ja ebenfalls verändert haben. Manchmal ist die Begeisterung größer, dann wiederum stimmt das Feeling nicht und man merkt, dass immer noch eine gewisse Angst da ist. Ist die Welt der Nachtschwärmer sicherer als die Gesellschaft am Tag? Nicht unbedingt. Ich persönlich habe noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber das soll nichts heißen. Die Nacht ist schließlich nur ein weiterer Teil der Gesellschaft, und wenn die Gesellschaft nicht inklusiv ist, dann kann es auch die Nacht nicht sein, besonders für die LGBTQ+ Community. In den letzten Jahren ist Queersein irgendwie „in Mode gekommen“ und manche Orte tun nur so, als wären sie queer, sind es aber gar nicht wirklich. Für die ist es nur ein Etikett. Sprechen wir nochmal über dein Leben jenseits von Korsika. Hast du bisher außer auf Korsika nur in Paris gelebt? Nein, ich bin als Kind wegen der Arbeit meines Vaters bestimmt zehnmal umgezogen. Und als du dann volljährig warst? Nur Marseilles und Paris. Ich bin nach Paris, um dort Elektronische Musik zu studieren und einfach dort geblieben. Und ein paar Monate im Jahr Korsika, klar. Welcher deiner Auftritte hat dir besonders gefallen? Der Club der Visionäre in Berlin war echt super, das war die Releaseparty für mein Album. Ich hatte es zu dem Zeitpunkt noch nie live gehört und während ich mitten im Set war, kam einer vom Mastering zu mir und gab mir eine Platte ohne Aufkleber. Als ich wissen wollte, was das sei, sagte er „dein Album“. Ich habe sie aufgelegt, zuerst über Kopfhörer und dann über die Boxen gehört und es war ein einmaliges Gefühl. Wie heißt das Album? Es heißt „777“ und ich habe es in meinem Studio in Paris produziert. Das neue Album, das bald rauskommt, entstand allerdings auf Korsika.
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„Meine Teenagerjahre auf Korsika haben echt Spaß gemacht! Es war vielleicht nicht ganz ereignisarm, denn manchmal geht es hier eher wild zu. Kinder gelten auf Korsika als sehr kostbar, fast heilig. Aber es hat Spaß gemacht, weil man hier eine sehr sichere Kindheit haben kann. Ich konnte den ganzen Tag bis zum Dunkelwerden allein rumstromern. Diese Art von Sicherheit und Vertrauen habe ich auf dem Festland noch nie erlebt.“
Wer hat dir das Auflegen beigebracht? Weitestgehend ich mir selbst. Mit 16 habe ich meine Eltern wissen lassen, dass mein Berufswunsch DJ sei. Da ich aber in der Schule eher schlecht war, meinte meine Mutter, dass ich erst die Schule abschließen soll. Sie ist wahrscheinlich nicht davon ausgegangen, dass ich das durchziehe! Ich machte also meinen Schulabschluss und dann fanden wir diese Musikschule in Paris, die aber nicht besonders interessant war, weshalb ich schließlich mehr in den Clubs als in der Schule lernte. Frankreich ist stark vom europäischen Elektro beeinflusst. Du hast schon St. Germain und Acid Jazz genannt, dann ist da noch French House. Liegen deine musikalischen Ursprünge in Frankreich? Nein, nicht in Frankreich. Ich mag French House zwar, aber das ist nicht so mein Ding. Mich hat eher der englische House beeinflusst. Es gibt nicht viele korsische Künstler und Künstlerinnen in Europa. Siehst du dich als Vorreiterin? Ich? Nein, überhaupt nicht! Ich verstehe, was du meinst, aber auf mich trifft das nicht zu. Es gibt so viele talentierte Leute auf Korsika, von denen die meisten aber nicht nach Frankreich gehen, sondern auf der Insel bleiben. Das Verhältnis von Frankreich und Korsika ist nicht unproblematisch und das merkt man. Ich sehe mich nicht als Vorreiterin. Ich bin halt einfach anders, weil ich nicht hier geblieben bin. Freunde von mir in Ajacco machen Musik und die ist echt gut. Wenn ich auflege, denke ich manchmal an alle, die auf Korsika geblieben sind und dass sie wirklich mehr Aufmerksamkeit verdienen. Was fehlt dir auf dem Festland?
Korsika ist aus deiner Musik nicht wegzudenken. Das stimmt. Bei meinem letzten Treffen mit Maxime sagte er: „Lass uns eine Platte zusammen machen, du machst die Musik und ich singe dazu auf Korsisch“. Auf dem einstündigen Flug nach Paris habe ich die Musik komponiert, die kompletten sechs Minuten. die kompletten sechs Minuten. Manchmal schreibe ich monatelang nichts und dann wieder flutscht es einfach so. Hat dir deine Kindheit auf Korsika eine besondere Beziehung zur Natur vermittelt? Auf jeden Fall. Der Vergleich hinkt zwar ein bisschen, aber wenn ich in Marseille bin, wo es auch schöne Natur gibt, ist es doch meist ganz schön dreckig. Hier auf Korsika würde man niemals Kinder dabei beobachten, wie sie ihren Abfall einfach am Strand fallen lassen. Das macht man hier nicht. Hier gibt es nicht viel außer der Natur und vielleicht läuft deshalb alles ein bisschen anders als auf dem Festland. Man weiß die Natur zu schätzen und man passt auf sie auf. Bei uns heißt die heimische Pflanzenwelt „maquis“. Daher hast du recht, wir haben eine ganz andere Einstellung zur Natur.
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Ohhh... alles. Die Art, wie die Leute reden. Wie sie leben. Die Natur. Hier ist mein Zuhause. Gibt es etwas, was du nur hier auf der Insel machst? In Cargese versuche ich immer, so früh wie möglich aufzustehen und allein einen Spaziergang zu machen. Von meiner Küche aus kann ich den Sonnenaufgang über dem Meer beobachten und ich versuche immer, schneller als die Sonne draußen zu sein – wie bei einem Wettbewerb. Wenn ich hier bin, werde ich wieder zum Kind.
PARC RÉGIONAL DE CORSE
Die alte Hauptstadt Corte liegt im Zentrum Korsikas, inmitten der bis zu zweitausend Meter hohen Berge, die das Rückgrat, den zähen Charakter, vielleicht sogar einen Teil der Seele der Insel ausmachen. Korsika ist die wasserreichste der Mittelmeerinseln. Einer der eindrucksvollsten natürlichen Seen ist der Gletschersee Melo auf über 1700 Metern Höhe. Auf dem Weg vom Meer in die Berge fährt man auf leeren Straßen zwischen stillen Nadelbäumen und unbeirrt grasenden Kühen. Wo die Straße endet und man zu Fuß weitergehen muss, verleiht die Sonne den Granitwänden einen grünen oder roten Anstrich. Der Aufstieg zwischen talwärts fließenden Wasserläufen und den leuchtenden Farben der Moose ist nicht schwer. Nach einem kurzen Marsch gelangt man zum bekannten Capitellosee auf fast 2000 Metern Höhe. Er ist zwar die meiste Zeit des Jahres zugefroren, doch wenn nicht, dann schimmert er in Grün- und Blautönen. 23
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Dem 1972 eröffneten Park kommt eine wesentliche Bedeutung für den Erhalt der Natur zu, denn seit fast fünfzig Jahren leistet er einen wichtigen Beitrag zum Schutz der gewaltigen Vielfalt der inseltypischen Flora und Fauna. Bei einem Spaziergang durch die Felsen und das Gesträuch abseits des Flusslaufs des Restonica, einem der wichtigsten Flüsse in diesem Teil Korsikas, sieht man am Himmel gelegentlich große Raubvögel ihre Kreise ziehen. Es handelt sich um Rotmilane, die auch auf Sizilien, Sardinien und in den süditalienischen Apenninen vorkommen. Bald kann man mit etwas Glück vielleicht sogar die imposante Silhouette des Bartgeiers, einem der Wahrzeichen der Insel, entdecken, dessen Population sich nach einem drastischen Rückgang am Anfang des Jahrhunderts dank des Parks in jüngster Zeit wieder erholen konnte. Die Berggipfel, die den See wie große Vorhänge umgeben, sind kristallinen Ursprungs, wie an ihren scharfen, zerklüfteten Formen zu erkennen ist. In dieser Höhe stehen nur wenige Bäume. Etwas weiter westlich wird die Landschaft der Insel jedoch regelmäßiger, bevor sie zum Tyrrhenischen Meer hin abfällt. Hier ist die Insel am waldreichsten und mit Kastanienwäldern dicht bewachsen.
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Das Wahrzeichen des Regionalen Naturparks von Korsika ist das für die Insel charakteristische Mufflon. Die Population zählt ungefähr 500 Tiere, die hauptsächlich in zwei Gebieten vorkommen: auf dem Monte Cinto, dem höchsten Berg, und auf dem Bavella-Massiv im Süden der Insel.
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Wabi S/S 2022
Korsika und der Naturpark sind die Heimat vieler Vogelarten. Neben dem Bartgeier leben hier der Steinadler, der Wanderfalke, der Habichtsadler und der Fischadler. Der Korsenkleiber und die Möwe sind endemische Arten, die nur hier leben und nisten.
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A SIGNORA CAPRA Sie weiden ganz allein (abgesehen vom friedlichen weißen Hütehund) in den Bergen von Haute-Corse, ohne dass ein Hirte zu sehen ist. Sie haben sich dieses Vertrauen verdient. Dank ihrer einzigartigen Zähigkeit können sie auch auf den schwierigsten Pfaden ihre Kletterkünste zeigen. Die seit 2003 offiziell als Rasse anerkannten korsischen Ziegen leben schon seit Jahrtausenden auf der Insel und sind ein wesentlicher Bestandteil der korsischen Kultur, was durchaus, aber nicht ausschließlich, einen kulinarischen Grund hat. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden sie auf der ganzen Insel gezüchtet, vor allem im gebirgigen Norden. Die dabei verwendeten traditionellen Schäfereimethoden, wie zum Beispiel der Wechsel zwischen Sommer- und Winterweide, kommen auf dem Festland heute nur noch selten zum Einsatz. Korsische Ziegen sind stark, widerstandsfähig gegen Krankheiten und so agil, dass sie problemlos große Strecken in den unwegsamen Bergen der Insel zurücklegen können. Dank ihres langen Fells, das wie ein Schutzschild wirkt, vertragen sie sowohl die sommerliche Hitze als auch die Unbilden des Winters.
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BONGHJORNU GUTEN MORGEN COMU SETI? WIE GEHT‘S? GRAZIA DANKE MANGHJÀ ESSEN BEIE TRINKEN PRISUTTU SCHINKEN CASGIU KÄSE GHJUVENTÙ JUGEND OMU MANN TÀVULA TISCH AVIÒ FLUGZEUG ZITELLU KIND POMU KARTOFFEL GARA BAHNHOF
Corsu für Anfänger 42
Der Mensch reist nie allein. Meist führt er Waren, Gebrauchsgüter und Werkzeuge mit sich. Auch Althergebrachtes begleitet ihn auf der Reise, zum Beispiel ein Kompass zur Orientierung und eine scharfe Waffe, die mit Bedacht zu gebrauchen ist. Und dann ist da noch die Sprache, das wichtigste Gepäckstück für die Identität eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft. Sprache ist wie ein Fels. Untersucht man die Schichten, die sich über Jahre und Jahrhunderte gebildet haben, lassen sich Spuren von Migration, feindlichen Übernahmen und sogar von flüchtigen Begegnungen finden. In jeder Sprache stecken die fossilen Überreste der Vergangenheit, und das Korsische bildet da keine Ausnahme. Dem Korsischen wird oft eine enge Verwandtschaft mit dem Sardinischen nachgesagt, was vielleicht an der häufigen Verwendung des Vokals „u“ in beiden Sprachen und mit Sicherheit an der Nähe der Inseln liegt, die nur die knapp 15 Kilometer entfernte Straße von Bonifacio trennt. Beim Anblick der Umrisse des toskanischen Archipels vor der Ostküste erkennt man jedoch, dass die korsische Sprache viel stärker mit dem an der tyrrhenischen Küste des Nachbarstaates gesprochenen Italienisch verbunden sein muss. Ähnlich wie die Inseln eine geografische Brücke zwischen der Toskana und Korsika bilden, stellt die korsische Sprache ein starkes linguistisches Bindeglied dar, das die Jahrhunderte überspannt und die beiden Küsten miteinander in Beziehung setzt. Auch wenn die mittelalterliche Geschichte Korsikas vor der französischen Eroberung untrennbar mit der Republik Genua verbunden ist, hat sich die korsische Sprache noch viel früher, nämlich in den ersten drei Jahrhunderten des ersten Jahrtausends entwickelt, als die Insel unter der Verwaltung der Republik Pisa stand. 43
Es war eine entscheidende Zeit in der Geschichte der Insel, denn sie geriet in den Einflussbereich der Republik Pisa, die zu den politisch, wirtschaftlich und kulturell wichtigsten Mächten im Mittelmeerraum gehörte. Korsikas Bevölkerung wuchs und fing an, Pisanisch zu sprechen, einen toskanischen Dialekt, der dem heutigen Italienisch ähnelt. Als die Insel eine Blütezeit erlebte, wurde sie auch zur wertvollen Beute, denn sie war groß, unberührt und lag in Griffweite der beiden verfeindeten Republiken. Im Jahr 1284 fand vor dem Hafen von Livorno, dort, wo heute die Fähren zwischen Bastia und der Toskana ablegen, die historische Schlacht von Meloria statt. Sie markierte den Beginn des Niedergangs von Pisa und den Sieg der Republik Genua, die an diesem Tag Anfang August ihre bis ins 17. Jahrhundert reichende Herrschaft antrat. Dennoch hatte sich das Toskanische in den ersten drei Jahrhunderten in der felsigen Landschaft Korsikas fest etabliert, während sich der genuesische Dialekt nicht durchsetzen konnte. Das Toskanische wurde allmählich zur mündlichen und schriftlichen Amtssprache, selbst in der Oberschicht, wo es das Lateinische verdrängte. Dieser Einfluss ist auch heute noch spürbar, denn die Gemeinsamkeiten zwischen dem modernen Korsisch und dem alten Toskanisch zeigen sich sowohl im Wortschatz als auch in der Lautbildung und der Satzstruktur. Die Ähnlichkeit mit dem heutigen Italienisch ist frappierend: In Corte, Bastia oder Ajaccio hört man eine Sprache, die man fast fehlerfrei versteht und in der man sich verständigen kann, ohne jemals Korsisch gelernt zu haben. Auch unter französischer Herrschaft am Ausgang des 18. Jahrhunderts blieb das korsische Italienisch die vorherrschende Sprache des einheimischen Adels, bis es 1859 vom Französischen als einzige Amtssprache abgelöst wurde. 44
U BABBU DI A PATRIA So wird Pasquale Paoli, der Freiheitskämpfer Korsikas, auf Korsisch genannt. Der „Vater des Vaterlands“ rief 1755 die kurze Phase der Unabhängigkeit der Insel aus. 45
CISMONTAN ODER SUPRANACCIU Die korsische Mundart im Nordwesten der Insel, besonders um Bastia und Corte. Sie ist die am häufigsten gesprochene und am meisten vereinheitlichte Variante.
OLTRAMONTANO ODER SUTTANACCIU Diese sehr archaische und traditionelle Variante wird im südlichsten Teil der Insel gesprochen, insbesondere in den Bezirken Sartene und Port-Vecchio.
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In dieser Zeit begann eine intensive Alphabetisierungskampagne, allerdings ausschließlich in französischer Sprache. Die Sprache, die wir als heutiges Korsisch kennen, wurde zunehmend nur noch mündlich verbreitet und nie schriftlich festgehalten. Auch wenn Pasquale Paolis Unabhängigkeitskampf schon über ein Jahrhundert in der Vergangenheit lag, ist die Sprache ein mächtiges Instrument, das im Laufe der Geschichte zu unzähligen Wandlungen fähig ist. Das Italienische war nun nicht mehr Amtssprache, aber es wandelte sich von der einstigen Sprache des Adels und der Mächtigen zur Sprache des Widerstands – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung. Es sollte viele Jahre, zwei Weltkriege und eine kurze Zeit der faschistischen Besatzung (in den 1930er Jahren, als Frankreich von den Achsenmächten besetzt war) dauern, bis sich die heutige korsische Sprache vom Altitalienischen löste und zum Symbol einer stolzen und gewissermaßen neuen korsischen Identität wurde. Wer heute durch die genuesischen Gassen von Bastia spaziert oder die vielen Serpentinen in den Bergen der Insel hinauf fährt, kann die korsischen Graffitis an den Wänden nicht übersehen. Es sind Botschaften zur Feier der heimischen Fußballmannschaft, zur Erinnerung an Helden und Märtyrer oder zur Bekundung der eigenen Identität. Riacquistu hieß die kulturelle Bewegung der 1970er Jahre, die sich um eine Aufwertung des Korsischen im Kulturleben der Insel bemühte. Zu dieser Zeit war Französisch die vorherrschende Sprache, das Korsische war zwar weit verbreitet, wurde aber nur noch mündlich tradiert. Im Jahr 1970 wurde die korsische Rechtschreibung zum ersten Mal vereinheitlicht und in einem Handbuch veröffentlicht. Die nach der französischen Eroberung 1768 geschlossene Universität Corte feierte 1981 ihre Wiedereröffnung – und wurde selbstverständlich nach Pasquale Paoli benannt.
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Trotz der Bemühungen, die Sprache in einer vereinheitlichten Form zu verbreiten, wird Korsisch nach wie vor eher gesprochen als geschrieben, jedoch von mehr Sprechern als zuvor. Laut einer Erhebung von 2013 verfügt fast ein Drittel der Inselbevölkerung über gute Sprachkenntnisse, wobei es nicht verwundert, dass der Anteil in der älteren Bevölkerung höher als in den jüngeren Altersgruppen ist. Der Wiederbelebung der korsischen Sprache stehen jedoch zwei Hindernisse gegenüber: Zum einen die fehlende Weitergabe der Sprache zwischen den Generationen, denn trotz Zweisprachigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung wird Korsisch nur selten an die nächste Generation weitergegeben. Das zweite Hindernis ist die institutionelle Blockadehaltung. Die Idee einer offiziellen Zweisprachigkeit auf Korsika wird im Elysée-Palast nicht gern gesehen, wie von vielen Präsidenten und Premierministern betont. Zwar wird die Sprache seit einigen Jahren in den Schulen unterrichtet, aber das nur wenige Stunden pro Woche, was die Gefahr birgt, dass sie zum reinen Schulfach wird, das die Sprache weder lebendig noch zeitgemäß wiedergibt. Weil der Korsischunterricht nicht verpflichtend ist, wird die Sprache zwar noch in der Grundschule gelehrt, aber beim Übergang in die weiterführenden Schulen in etwa acht von zehn Fällen ganz aufgegeben. Die UNESCO sah sich daher veranlasst, Korsisch in die Liste der vom Aussterben bedrohten Sprachen aufzunehmen. An den Wänden, auf den Landkarten, in den Familiennamen und in den traditionellen Rezepten mit Fleisch und Käse vom sonntäglichen Wochenmarkt ist zwar Korsisch noch immer präsent, doch ein wachsender Prozentsatz der Korsen verliert allmählich die eigene Sprache.
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A BUCCIA
Hier in der Gegend ist bucce nicht nur ein unschuldiger Zeitvertreib. Es ist ein Sport. Mehr als ein Sport. Schließlich sind wir im Mittelmeerraum, wo sich Freizeitvergnügen und Leidenschaft mit Hingabe mischen, wo die Grenzen zwischen Kampf und Spiel verschwimmen und eher die Instinkte als der Verstand die Oberhand gewinnen. Das Mittelmeer und bucce gehören seit jeher zusammen. Das Spiel in seiner heutigen Form entstand etwas weiter nördlich, auf dem schmalen Meeresstreifen, der die Insel von der Provence trennt. Pétanque, wie das Spiel in Frankreich heißt, leitet sich von dem Ausdruck pés tanqués ab, was so viel wie „Füße zusammen“ bedeutet. Es handelt sich dabei um eine Weiterentwicklung eines alten provenzalischen Spiels, das nach ähnlichen Regeln, aber mit einem Anlauf vor dem Wurf und einem längeren „Terrain“ (oder Spielfeld) als heute üblich gespielt wurde. In Bastia ist die Begeisterung für bucce besonders groß und jedes Viertel hat sein eigenes Spielfeld. Im Dorf Cardo versteckt sich der kleine Platz hinter der Kirche und wird gelegentlich von den Fußbällen der auf dem Friedhof spielenden Kinder malträtiert, während in der Stadt Arinella riesige und moderne überdachte Plätze direkt am öffentlichen Strand der Stadt liegen. Jedes Jahr findet hier die Bucciata Bastiaccia statt, ein großes Turnier, an dem fast dreitausend Pétanque-Spieler teilnehmen. An fünf Tagen strömen hunderte Mannschaften und über fünfzigtausend Zuschauer aus Griechenland, Portugal, Italien und sogar Madagaskar nach Bastia. Der Place Saint-Nicolas verwandelt sich in ein riesiges Spielfeld unter freiem Himmel, gesäumt von Fernsehteams aus aller Welt. Die Knie beugen sich langsam, die Augen blicken in die Kamera. Die Hände schwingen die Kugel, bevor sie sie in Richtung des buccinu (die Zielkugel) werfen. Der Wurf kann ein piumbà sein, der einem von oben herab stoßenden Falken ähnelt, oder ein schjuccà, der wie eine Gewehrkugel hervorschnellt. Auch hier ist die bucciata nicht nur ein unschuldiger Zeitvertreib, sondern ein jahrhundertealter Kampf. 51
Die Confédération Mondiale des Sports de Boules hat beim Internationalen Olympischen Komitee die Aufnahme von Pétanque als olympische Sportart für die Olympischen Spiele 2024 in Paris vorgeschlagen.
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Der Begriff pétanque stammt vom Provenzalischen „ped tanco“ ab, was so viel wie „geschlossene Füße” heißt und sich auf die vorgeschriebene Fußstellung beim Spiel bezieht.
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CINCINE Der Wurfkreis im Sand, aus dem heraus die Spieler die Kugel in Richtung buccinu werfen.
BUCCINU Die Zielkugel, eine kleine Holzkugel, die zuerst geworfen wird. Die übrigen Kugeln müssen der Zielkugel so nahe wie möglich kommen.
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PIUMBÀ Ein hoher Wurf, durch den die eigene Kugel an den gegnerischen Kugeln vorbeifliegt und nach dem Aufprall nur ein kleines Stück weit rollt.
SCHJUCCÀ
Camaleon S/S 2022, Peu Rambla S/S 2022.
Ein dynamischer horizontaler Wurf, mit dem versucht wird, die gegnerischen Kugeln direkt und ohne vorherigen Bodenkontakt zu treffen.
Die erste Weltmeisterschaft wurde 1959 ausgetragen. Mit 29 Goldmedaillen war Frankreich nicht zu schlagen. Die Schweiz an zweiter Stelle gewann gerade einmal 4 Medaillen.
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Der französische Einfluss lässt sich am Medaillenspiegel ablesen: Ehemalige Kolonien wie Marokko und Tunesien haben die Weltmeisterschaft dreimal gewonnen, Madagaskar zweimal und Algerien einmal.
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Camaleon S/S 2022, Peu Rambla S/S 2022, Runner K21 S/S 2022, Twins S/S 2022.
Casi Myra S/S 2022
Karst S/S 2022
Set S/S 2022
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Taylor S/S 2022
Durchquert man Korsika von Norden nach Süden, wechselt die Landschaft mit einer fast unheimlichen Geschwindigkeit ihr Gesicht. An den kältesten Tagen, frühmorgens, wenn wir durch kleine Nebelfelder die Berge hinauf klettern, herrscht diese Inselstille. Die Wälder atmen. Korsika ist eine Insel voller Wasser, voller Seen, Flüsse, Meere und Regen. Der allgegenwärtige Geruch der Berge, und doch ist das Meer stets am Horizont zu sehen.
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Der berühmte schwarze Strand von Nonza besteht aus kleinen, von der Brandung geschliffenen Kieselsteinen. Die Touristen benutzen hellere Steine um Schriftzüge und Zeichnungen zu verfassen, die man von der Klippe mit der alten Burg aus bewundern kann. Am Ende des Sommers, wenn Sonnenschirme und Menschen längst verschwunden sind, sind die Schriftzüge noch immer da, wie eine unauslöschliche Erinnerung. Eine Erinnerung für den nächsten Sommer.
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Karole S/S 2022
Brutus Sandal S/S 2022
Pix S/S 2022
FURMAGLIU
Ende Juli wandern die Ziegen ins Hochgebirge, um dort von August bis Oktober zu weiden. Hier sind sie vor der Hitze geschützt und finden noch Wasser, das in den niedrigeren Lagen kaum noch vorkommt, wenn die Flüsse in der Hitze um die 30°C austrocknen. Der November bringt das Ende der Sommerweide und es ist Zeit für den Abstieg. Jetzt werden die Lämmer geworfen und die Milch für die Käseherstellung gewonnen. Alles hängt zusammen, nichts wird verschwendet: Zeit, Jahreszeiten, Materialien oder Arbeitskraft. Die Hirten verständigen sich untereinander eher auf Korsisch als auf Französisch, und man kann die geschlossenen Vokale der Sprache erkennen, die eine gar nicht so weit entfernte Verwandte der toskanischen und kalabrischen Dialekte Italiens ist. Auf Stahltischen rühren sie in großen Eimern Molke, die durch die Hitze eindickt. Mit kleinen Plastikkörben schöpfen sie die Brocken in die Reifekörbe, die dem brocciu seine charakteristische Form geben. Der Brocciu ist der Nationalkäse der Korsen. Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts schrieb der Pariser Schriftsteller Émile Bergerat „wer ihn nicht gekostet hat, kennt nicht die Insel“. Brocciu gibt es nicht das ganze Jahr über, sondern meistens im Winter und in den ersten Frühlingsmonaten als cremiger Frischkäse. Es gibt aber auch monatelang gereifte Varianten. Filippo, einer der Hirten, ist mit der Herstellung des neuen Käses fertig, reinigt den nun leeren Eimer und die Arbeitsfläche mit einem Strahl kochenden Wassers und schneidet ein Stück von einem einige Tage alten brocciu ab. Draußen tummeln sich die jungen Ziegenkinder zwischen den Felsen, wo der Boden noch feucht vom letzten Regen ist. Während der Saison der Käseherstellung ist die Luft frisch und die Temperatur sinkt nachts oft unter Null. Die Tage in den Bergen beginnen früh. Filippo gießt sich einen Kaffee aus dem italienischen Espressokocher ein. Er legt den Käse auf ein Stück Brot, obendrauf ein Stück Wurst und zum Schluss einen Tropfen Brandy, selbstverständlich ebenfalls selbst gebrannt. 77
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Pelotas Ariel S/S 2022, Runner S/S 2022, Pix S/S 2022.
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Karst S/S 2022
Wie auf Sardinien gibt es auch hier einen Käse mit Würmern, der casgiu merzu, also „verdorbener Käse“ heißt. Während der Reifung legt eine Fliegenart ihre Eier in der Rinde ab, aus denen dann Maden schlüpfen, die die Konsistenz des Käses verändern.
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BROCCIU BASTILICACCIU CASGIU MERZU SARTINESU CALINZANINCU NIULINCU VENACO 83
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Runner Up S/S 2022
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Pix S/S 2022
Fast alle Käsesorten auf Korsika werden aus der Milch von Schafen oder Ziegen hergestellt, denn diese Tiere waren aufgrund der bergigen Orographie der Insel schon immer am einfachsten zu züchten.
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CARTA PUSTALE
LI POZZI Die Pozzi in der Mitte der Insel gehören zu den atemberaubendsten landschaftlichen Schönheiten Europas. Die grünen Wiesen im Hochmoor nahe Ghisoni und Col de Verde sind von kleinen Seen durchzogen, in denen sich der Himmel spiegelt.
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PISCIA DI GALLO In der Nähe von Porto-Vecchio im Süden Korsikas. Piscia di Ghjaddu ist ein beeindruckender Wasserfall mit 60 m Höhe, der in den ruhigen Rio dell’Oso fließt.
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BARCAGGIO Die für Korsika so typische Mischung aus Meer und Gebirge manifestiert sich nirgendwo so vollkommen wie am Strand von Barcaggio am Cap Corse. Die spektakuläre Dünenlandschaft direkt am Mittelmeer wissen auch Kühe sehr zu schätzen.
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FIGATELLU Ohne Wurstspezialitäten keine korsische Küche! Eine echte Spezialität sind die figatelli genannten Würste aus frischer Schweineleber und Innereien, verfeinert mit Knoblauch und diversen Gewürzen, die traditionell zu Kastanienpolenta und brocciu gegessen werden.
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BONIFACIO Bonifacio ist die Perle im Süden Korsikas, eine Stadt, die in einer Kalksteinbucht an einem kristallklaren Meer erbaut wurde. Die Felsen sind voller Höhlen und Buchten, die traditionell von den einheimischen Fischern genutzt werden.
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MUSCHELN Auf Korsika ist die Muschelzucht seit der Römerzeit weit verbreitet, vor allem im Teich der Diana am Tyrrhenischen Meer. Die korsischen Austern sind in der Regel von hoher Qualität und werden vor Ort verkauft. Sie zeichnen sich durch ihren nussigen Geschmack aus.
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CALANQUES DE PIANA Im Nordwesten Korsikas stehen in Piana in der Nähe von Ajaccio die spektakulären Calanques: bizarre Felsformationen aus rotem Granit, die sich wie übergroße Skulpturen aus dem Meer erheben.
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U CULTELLU Die bis mindestens ins 19. Jahrhundert hinein von Landwirtschaft und Schafzucht lebenden Korsen haben einfache und vielseitige Werkzeuge wie das Messer schon immer geschätzt. Messer gelten hier als Begleiter, nicht nur als Werkzeug. Sie sind unverzichtbar und wertvoll. Das am häufigsten anzutreffende „echte“ korsische Messer ist das curnicciolu oder „kleine Horn“, das heute als „Hirtenmesser“ bekannt ist – und der Grund dafür ist leicht zu erraten. Herkömmlicherweise nahm man für den Griff, was gerade so zur Verfügung stand, wobei nichts verschwendet wurde, nicht einmal die Hörner der Ziege. Das Messer diente zum Schneiden von Käse, Schilf und anderen Pflanzen sowie zum Schnitzen, war aber kein Verkaufsartikel. Ein weiteres leichtes, dünnes und elegantes korsisches Messer, das sogenannte stiletto, hat ebenfalls genuesische Wurzeln und sein reich verzierter Griff wurde von Männern und Frauen stolz am Gürtel getragen.
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IM TEMPO DER NATUR
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Ein Gespräch zwischen MIGUEL FLUXA, CEO von Camper, und dem Alpinisten JEFF MERCIER.
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MIGUEL: Deine bisherige Laufbahn ist eng mit den französischen Alpen verbunden. Jetzt hat es dich nach Korsika verschlagen, wo du unter anderem als Bergretter arbeitest. Was genau ist darunter zu verstehen? JEFF: Wie ich zur Bergrettung kam, ist eine lustige Geschichte. Ich musste nämlich selbst ein paar Mal gerettet werden. Da war ich noch jung und wohl zu unvorsichtig. Aber beide Male hatte ich Glück und mich hat ein Hubschrauber aufgelesen. MIGUEL: Wo war das? JEFF: In den Alpen. Ich bin in der Nähe von Chamonix aufgewachsen. Der Beruf war gewissermaßen naheliegend. Ich bin unglaublich gern in den Bergen unterwegs und glaube, dass in jedem von uns ein instinktiver Antrieb zu helfen steckt. In Frankreich ist Bergrettung ein anerkannter Beruf, da haben wir also Glück und können ganzjährig arbeiten. Was bedeutet, dass ich gar nicht mehr aus den Bergen raus muss. In den Bergen ist man mal der Retter und mal der Gerettete. MIGUEL: Wie ist das Leben auf Korsika so? Ich bin auf Mallorca geboren, daher ist für mich das Leben auf einer Insel etwas ganz Natürliches, obwohl es schon ungewohnt sein kann. 107
„Camper bedeutet Bauer, jemand, der das Land bestellt. Für uns war Nachhaltigkeit von Anfang an wichtig. Die Bauern auf Mallorca haben für ihre Schuhe einfach alte Reifen und sonstige Reststoffe wiederverwendet.“
Miguel Fluxa 108
JEFF: Anfangs muss man sich an den „Inselzustand“ erstmal gewöhnen. Ich kann nicht einfach in ein Auto steigen und losfahren, um meine Familie in Frankreich zu besuchen, sondern ich muss warten, bis ein Boot ablegt. Das ist mehr Aufwand. Andererseits ist es super, eine neue Welt zu entdecken. Ich habe ja immer in den Alpen, in den Bergen, gelebt und der Umzug nach Ajaccio war eine willkommene Abwechslung. Korsika ist noch ungezähmt. Es gibt zum Beispiel keine Fernstraßen und die Landstraßen sind schmal. Da läuft alles gemächlicher ab. MIGUEL: Man muss sich damit abfinden, dass man das Tempo nicht mehr selbst bestimmen kann. Alles ist langsamer, was heutzutage ja selten geworden ist und sehr viel mit dem Einklang mit der Natur zusammenhängt. Wie es im Motto unserer Walking Society heißt: Walk, Don’t Run – also „gehen statt rennen“. Dann gibt es noch die Berge. Worin liegt der Unterschied zu den Alpen auf dem Festland? JEFF: Da es keinen Schnee und keine Gletscher gibt, sind sie nicht so gefährlich, denn die größte Gefahr sind die Lawinen. MIGUEL: Welcher ist der größte Berg hier? 109
JEFF: Er heißt Monte Cinto und hat ungefähr 2700 Meter. Aber er ist „trocken“, mit Felswänden, die man so in Chamonix nicht findet. Es ist eine andere, eine felsigere Art von Berg. MIGUEL: Du kletterst auch schon viele Jahre an Eiswänden. Was fasziniert dich am Eis? JEFF: Das ist eine lange Geschichte. Ich war früher viel Alpinklettern und da lernt man, wie man sich an einer senkrechten Wand bewegt. Aber auf Eis ist es anders, da kann man seine Route selbst bestimmen und muss niemandem nachsteigen. Vor allem diese totale Freiheit gefällt mir am Eis, dass ich mir den Weg selber suchen kann. Aber klar, man muss sich in das Eis eindenken, es kann abbrechen oder zu dünn sein. Das erfordert Können. Ich mag es, eine Beziehung mit dem Eis einzugehen, ich mag, wie es lebt! Je nach Jahreszeit wird es im Winter dicker und im Frühjahr dünner oder schmilzt ganz. Für die optimalen Voraussetzungen muss man den richtigen Zeitpunkt erwischen. Es ist in erster Linie eine Verbindung mit der Natur, denn wenn man zu früh dran ist, könnte das Eis instabil sein, wenn man zu lange wartet, kann es zu warm und damit zu gefährlich werden. Es ist die Natur, die den richtigen Zeitpunkt bestimmt, um zum Beispiel einen gefrorenen Wasserfall zu besteigen. Man bekommt das Gefühl, dass da nicht der Mensch das Sagen hat. 110
MIGUEL: Woher weißt du, ob das Eis sicher und fest genug ist? Kannst du hundertprozentig sicher sein? JEFF: Bei einem gefrorenen Wasserfall ist das recht einfach. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung kann ich das durch bloßes Ansehen erkennen. Aber ich will immer an meine Grenzen gehen. Außerdem muss man die Lawinengefahr im Hinterkopf haben, denn an gefrorenen Wasserfällen bilden sich leicht Lawinen. Da muss man sich jede einzelne Bewegung sehr gut überlegen. Sollte ich lieber höher oder tiefer gehen? Ab einer bestimmten Höhe ist man gezwungen, zum Gipfel weiterzusteigen. Ab da kommt es nur noch auf die Erfahrung, die Technik und den Instinkt an. Am meisten mag ich beim Klettern die Abwechslung von Fels und Eis in einer Wand. MIGUEL: Der Klimawandel ist ein echtes Problem und in den Bergen ist er deutlicher zu spüren als anderswo. Was sind da deine Erfahrungen? JEFF: An den Gletschern kann man die Auswirkungen des Klimawandels wahrscheinlich am besten erkennen, denn sie schrumpfen jedes Jahr. Bei gefrorenen Wasserfällen ist das anders, denn der Klimawandel bedeutet nicht unbedingt weniger Kälte. 2020 hatten wir einen sehr kalten Januar und an machen Stellen tauchte auf einmal das erste Eis seit 20 Jahren 111
auf! Dort hast du keine unmittelbaren Auswirkungen. Aber an den Gletschern schon, die ja ein wichtiger Teil meines Lebens als Bergsteiger waren. Durch die Veränderung erkenne ich vieles nicht wieder. Beim Klettern an einem gefrorenen Wasserfall steigt man von unten nach oben. Bei einem Gletscher ist das anders. Die sind viel flacher und man darf kein Loch und keine Spalte ignorieren. Das ist das Gegenteil vom Klettern: Man lässt sich von oben in die Gletscherspalte fallen und sucht dann die interessanteste Route zum Rausklettern. Kurzum, auf dem Gletscher merkt man, wie sich die Durchschnittstemperatur jedes Jahr verändert. MIGUEL: Kennst du auch verschwundene Gletscher? JEFF: Mein erster Gletscher mit 14 war der Bossons bei Chamonix. Würden wir den jetzt Ende November besteigen wollen, dann würden wir keinen einzigen Eisflecken mehr finden. An seiner Stelle wachsen jetzt Gras und Sand ... er hat sich mittlerweile auf 3000 Meter zurückgezogen. Wenn man sich vor Augen hält, das dort mal Eis war, wo man jetzt herumspazieren kann, dann ist das schon gewaltig. Ich war vor einiger Zeit in Island mit Bergsteigern von dort klettern und die erklärten mir, dass es vor 20 Jahren Eiswände
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„Ich habe ja immer in den Alpen, in den Bergen, gelebt und der Umzug nach Ajaccio war eine willkommene Abwechslung. Korsika ist noch ungezähmt. Es gibt zum Beispiel keine Fernstraßen und die Landstraßen sind schmal. Da läuft alles gemächlicher ab.“
Jeff Mercier 113
gab, die heute verschwunden sind. Ich möchte übrigens einen Film drehen, in dem ich Einheimische und Kletterer treffe und mit ihnen über diese Themen spreche. Der Film wäre zwar auch sportlich und actionreich, aber vor allem ginge es mir um die Sensibilisierung für das Thema. MIGUEL: Wir müssen vor allem ein kollektives Bewusstsein für die aktuelle Situation schaffen und wie es uns gelingen kann, den kommenden Generationen eine Zukunft zu sichern. Du siehst es bei den Gletschern und wie sie sich verändern; ich kenne das vom Meer. Als ich noch klein war, gab es viel mehr Fische im Meer um Mallorca. Man muss kein Experte sein, damit einem sowas auffällt. Auch das Meer ist ein empfindliches Ökosystem und es muss unbedingt geschützt werden.
Der Strand von Nonza ist eine Augenweide, denn er ist vollkommen schwarz. Allerdings nicht weil er aus vulkanischem Gestein besteht, sondern wegen einer stillgelegten Asbestmine, von der allerdings keine Gefahr mehr ausgeht. Man kann also unbeschwert den Anblick der grauglänzenden Steine im Meeresschaum genießen.
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Eine Unterhaltung mit
Isabelle Buzzo und Jean-Philippe Spinelli
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Isabelle Buzzo und Jean-Philippe Spinelli sind Arbeits- und Lebenspartner und außerdem die Gründer des seit 2014 auf Korsika und in Paris angesiedelten Architekturbüros Studio Buzzo Spinelli. Beide sind echte Korsen. Jean-Philippe wurde in Bastia, im bergigen Norden der Insel geboren, von wo aus man auf das Tyrrhenische Meer schauen kann. Isabelle stammt aus Bonifacio, einer Halbinsel am südlichsten Zipfel Korsikas, die nur zwölf Kilometer von Sardinien entfernt liegt. Ein Garten Eden, der auf drei der vier Seiten vom Meer umgeben ist. Auf ihr gemeinsames Konto gehen bereits viele Projekte auf Korsika, wie zum Beispiel die große Restaurierung der alten Zitadelle von Bastia mit einem Fußwegesystem und Verbindungswegen zwischen Befestigungsanlage und dem Meer, wo allmorgendlich junge und alte Fischer zusammenkommen.
Wie kam es zu eurem Kennenlernen und der beruflichen Zusammenarbeit? Wir haben zusammen an der Fachhochschule in Marseille, der Ècole Nationale Supérieure d‛Architecture, studiert. Nach fünf Jahren Studium haben wir uns dann auch beruflich zusammengetan. Wie entstand die Idee, nach Korsika zurückzukehren? Wir wollten schon immer in zwei verschiedenen Umgebungen, Korsika und Paris, arbeiten. Auf Korsika können wir an Projekten arbeiten, in denen es auf die Landschaft, das kulturelle Erbe, das Meer und das Licht ankommt. Es gibt eine große Fülle an Projekten. Andererseits arbeiten wir in Paris mit städtischer Architektur im Bereich Wohnungsbau, also an Bauten, die eher in die Höhe als in die Breite gehen. Die Aufträge unterscheiden sich und die Umgebungen auch. Es ist fast so als hätten wir zwei Leben. Warum habt ihr euch für diesen Ausgleich und nicht einfach für einen der beiden Orte entschieden? Das war eher ... instinktiv. Wir kannten kein anderes Büro, das so etwas machte. Wir hatten die Idee und es funktionierte gut, also blieben wir dabei. 118
Ist es schwierig, sich erst auf eine Stadt einzulassen und dann einmal komplett umzudenken, um mit dem Meer zu arbeiten? Oder müsst ihr dabei überhaupt nicht umdenken? Im Grunde bleibt unsere Denkweise immer gleich: Wir gehen mit der gleichen Einstellung an die Projekte heran. Es macht Spaß, an einem Tag an einem großen Gebäude in Paris zu arbeiten und am nächsten Tag zum Beispiel an der Uferpromenade um die Zitadelle von Bastia. Was man bei dem einen Projekt lernt, kann man in gewisser Weise auch auf das andere anwenden. Was für eine Einstellung ist das? Könnt ihr die näher beschreiben? Wir beginnen immer mit dem Gedächtnis des Ortes. Zum Beispiel fragen wir uns, warum Bastias Zitadelle ihr heutiges Gesicht hat. Was hat sie über die Jahre, Jahrhunderte hinweg gesehen? Warum hat sie bis heute in der aktuellen Form überlebt? Und daraus folgend: Wie können wir mit dieser Geschichte arbeiten? Wir sprechen ja von den vielen Schichten der wichtigen genuesischen und französischen Geschichte – diese Schichten sind ausschlaggebend für das Verständnis für die Funktionsweise eines Ortes, für seine Bauweise. Dann suchen wir Spuren der Ereignisse, die sich dort zugetragen haben, so dass unser Entwurf stimmig und mit vergangenen
Das Projekt der Zitadelle von Bastia gewann 2021 den Overall Excellence Award der ACI Excellence in Concrete Construction Awards des amerikanischen Betoninstituts ACI.
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Brothers Polze S/S 2022
Erfahrungen angereichert ist. Das ist ganz wesentlich und etwas, das auf Korsika sehr gut funktioniert; das klappt eher weniger in Paris, denn dort hat man nicht die gleiche Beziehung zur Geschichte. Der Bau einer Uferpromenade um die alte Befestigungsanlage herum hat die ursprüngliche Funktion der Bastionen ins Gegenteil verkehrt: Was früher zur Verteidigung und zur Abwehr von Feinden abgeriegelt war, ist heute eine Bühne, von der aus man die Umgebung bewundern kann und die eine Verbindung zwischen Meer und Land herstellt. Ganz genau. Es ist schwierig, an einer Zitadelle zu arbeiten, weil sie normalerweise nach außen abgeriegelt ist. Aber die Promenade ist nicht einfach nur ein Teil der Zitadelle, sondern sie umrundet sie und tritt damit direkt in Beziehung zum Meer. Das Projekt entstand also eher im Dialog mit dem Meer als mit der Stadt? Ja, es ging darum, wieder einen Zugang zum Meer zu schaffen. Mit der Hafenerweiterung und dem Bau eines Autotunnels war im zwanzigsten Jahrhundert die alte Beziehung zwischen Bastia und dem Meer unterbrochen worden. Mit unserem Projekt sollte sie wiederhergestellt werden. Wie geht man damit um, auf einer Insel und für eine Insel zu entwerfen und zu arbeiten? Ihr seid ja ständig von dieser offenen Grenze beziehungsweise Nichtgrenze umgeben. Ja, das Meer ist immer die Grenze. In unserer Arbeit fragen wir uns immer ganz bewusst, wie wir mit den auf der Insel vorhandenen Baustoffen arbeiten können, ohne extra welche herbeischaffen zu müssen. Für das Zitadellenprojekt zum Beispiel haben wir den Stein aus den hiesigen Felswänden gewonnen, das gilt sogar für die Treppenanlage zwischen dem Hafen, der oberen Zitadelle und der Neugestaltung des Romieugartens. Was wir dabei stets im Hinterkopf behalten: Was wäre, wenn es morgen plötzlich weder Schiffe noch Flugzeuge geben würde? Was würden wir dann machen? Das ist eine Geisteshaltung, die wir mit den älteren Inselbewohnern teilen. Worauf muss man vor allem achten, wenn es um Architektur im Mittelmeerraum geht? Das Licht? Das Meer ist überall und allgegenwärtig. Es gibt eine Art von Meer in Bonifacio und eine andere Art von Meer in Bastia, und trotzdem ist es dasselbe Meer – eine Brücke zum Festland. Das gibt es nur in Korsika, die Unverwechselbarkeit auf einem winzigen Gebiet. Korsika besteht aus Stein und Licht und hat sowohl einen Fluss, den Restonica, als auch die Verbindung zum Meer. Und auf dem Weg von Bastia nach Bonifacio verändert es völlig seinen Charakter. Die klassische Streitfrage für viele Mittelmeerinseln ist ja: Ist ihre Kultur eher von den Bergen oder vom Meer geprägt? Also ... es ist ein Berg im Meer. Naja, eigentlich zwei Berge, einer aus Schiefer und einer aus Granit. Es gibt auch noch zwei andere Umgebungen, denn Bonifacio und Saint-Florent sind Kalkgebiete.
Welches Baumaterial ist für die Architektur auf Korsika besonders wichtig? Unser Grundmaterial ist Zement. In Bastia haben wir mit Zement experimentiert und für die Zitadelle eine besondere Zusammensetzung geschaffen. Auch in Bonifacio haben wir Kalkzement verwendet. Was an Bastia auffällt, ist seine architektonische Doppelstruktur. Der ältere Teil der Stadt hat etwas von der italienischen Region Ligurien, die Gebäude sind seit der genuesischen Herrschaft eigentlich unverändert. Außerdem gibt es den Teil, der eher typisch französisch ist. Es gibt das alte Bastia aus dem siebzehnten Jahrhundert, also das Gebiet um den alten Hafen, und daneben das Bastia des neunzehnten Jahrhunderts, zum Beispiel am Place Saint-Nicolas. Das alte Bastia ist ein echtes genuesisches Viertel, denn die Zitadelle wurde von den Genuesen gebaut. Der Name Bastia stammt von „bastiglia“– „Festung“ – ab, die 1378 die Genuesen errichtet haben. Versucht ihr bei eurer Arbeit in Paris ein Stück Korsika ins nördliche Frankreich mitzunehmen? Vielleicht nicht unbedingt Korsika an sich, aber wir haben zum Beispiel Erfahrung mit Städten, in denen es in den Sommermonaten sehr heiß wird. Mit steigenden Temperaturen im Sommer hat jetzt auch Paris zu kämpfen. Wir kennen das Problem aus erster Hand und können unser Wissen in die Projekte einfließen lassen. Was ist das typisch Korsische an euch? Wurdet ihr durch etwas Bestimmtes geformt? Die sehr direkte Art – und das Bewusstsein, an einem wunderbaren Ort zu leben, der gleichzeitig gefährdet und kostbar ist. Wo liegen die größten Unterschiede zwischen dem Leben auf der Insel und auf dem Festland? Fehlt euch zum Beispiel die Ruhe von Korsika? Ja, das Leben auf Korsika ist entspannt. Im Vergleich dazu ist das Leben auf dem Festland viel komplizierter, vor allem wenn du Kinder hast. In Paris gehen wir sonnabends zum Beispiel in den Park und da treffen wir dann auf die halbe Stadt, die die gleiche Idee hatte. Hier hat man wirklich Raum zu atmen, den man in Paris oder in anderen Großstädten nicht hat. Wo wir gerade von Raum sprechen, ist die korsische Küste weniger verbaut als die von Ligurien oder Marseille, hat man hier Achtung vor den Bergen und der Natur? Im Norden ist es weniger verbaut, doch im Süden um Porto Vecchio, Calvi und Île-Rousse wurde viel gebaut. Aber das ist kein Vergleich zu Gegenden wie der Côte d‛Azur. Die Tradition ist auf allen Mittelmeerinseln ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Kultur. Inwieweit ist das ein Gewinn und inwieweit eine Erschwernis? Die Bewohnerschaft macht eine Insel aus und deshalb ist auch das kulturelle Gedächtnis wichtig. Auf Korsika gibt es 121
beide Seiten, einmal die Bewahrer, die das Alte und Authentische erhalten möchten und andererseits jene, die das Gegenteil wollen. Über das Jahr kann man zwei Arten von Korsika beobachten: Im Sommer ist die Insel sehr touristisch, im Winter ist sie fast leer. In der Hochsaison ist Korsika von Touristen überlaufen und im Winter ist es eine ganz andere Insel. Das ursprüngliche Korsika findet man erst außerhalb der Urlaubssaison. Wie schwer haben es Architekten mit ihren Entwürfen auf Korsika? Seid ihr da ungebunden oder ist es ein Ringen und Abmühen, um die Insel zu überzeugen? Nein, für vieles ist es hier eigentlich sehr einfach, wesentlich einfacher als in Frankreich, um ehrlich zu sein. Es gibt viele Möglichkeiten für innovative Projekte und wie schon gesagt, ist das Experimentieren mit Zement, Stein und Strukturen sehr wichtig für uns. Zurzeit arbeiten wir mit jemandem an einem Projekt, bei dem die korsische Schwarzkiefer zum Einsatz kommt und das gestaltet sich etwas kniffelig, weil es nur wenige Handwerker gibt, die mit dieser Holzart arbeiten. Habt ihr jemals an der Entscheidung gezweifelt, zurückzukommen und eure Kinder auf Korsika großzuziehen, oder war das von vornherein eure Absicht? Wir fanden das von Anfang an die beste Lösung für uns. War das Leben im Lockdown hier einfacher, wo weniger los ist? Auf jeden Fall. Aber das ist ja das ganze Jahr so. Wir nehmen die Kinder so zwei-, dreimal im Jahr mit nach Paris und im Sommer verreisen wir. Korsika ist nicht der Nabel der Welt, aber für den Rest des Jahres lässt es sich hier wunderbar leben. Was gefällt euch an der Insel am meisten? Das Meer. Und die Berge. Kommt darauf an, wen von uns du fragst. Ist die Insel nun eher Berg oder eher Meer? Vielleicht steckt in jeder Insel eine angeborene Angst vor dem Meer. Von dort kamen früher die Eroberer. Doch in Bonifacio ist es wegen der Zitadelle und der Nähe zu Sardinien anders, denn da gibt es kein offenes Meer. Man blickt auf Sardinien in nur zwölf Kilometern Entfernung. Die beiden Inseln haben eine nachbarschaftliche Beziehung.
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„Das Meer ist immer die Grenze. In unserer Arbeit fragen wir uns immer ganz bewusst, wie wir mit den auf der Insel vorhandenen Baustoffen arbeiten können, ohne extra welche herbeischaffen zu müssen. Was wir stets im Hinterkopf behalten: Was wäre, wenn es morgen plötzlich weder Schiffe noch Flugzeuge geben würde? Was würden wir dann machen? Das ist eine Geisteshaltung, die wir mit den älteren Inselbewohnern teilen.“
In seinem 2003 posthum erschienenen Buch Campo Santo beschreibt der Schriftsteller W.G. Sebald die im Hafen von Ajaccio anlegenden Schiffe als „große Eisberge“. Am Ende des Sommers, wenn sich an jeder Mittelmeerküste eine sanfte, angenehme Melancholie breit macht, können die zwischen Frankreich und Italien hin- und her fahrenden Fähren tatsächlich wie Miniaturnachbildungen jener Berge aussehen, die das Erscheinungsbild Korsikas bestimmen. In diesen Tagen und in den darauffolgenden Monaten beruhigt sich die Insel. Korsika atmet noch einmal tief durch und zieht sich in sich selbst zurück. Schon bald werden die nächsten Boote und die nächsten Menschenmassen zurückkehren. So wie immer. So wie jedes Jahr. 125
Walk 126
Brutus Sandal S/S 2022 Helena wurde in Ajaccio geboren, lebte aber lange in Angoulême, Nouvelle-Aquitaine. Wegen ihrer Kinder ging sie zurück nach Korsika, dieses Mal nach Bastia. Sie stellt Kreativschmuck her.
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Die korsische Wildkatze gehört zu den großen Wildkatzen und ist vermutlich mit der sardischen und der afrikanischen Wildkatze verwandt. Die Insel ist auch die Heimat des sogenannten „Katzenfuchses“, der früher als ein Fabeltier galt, heute aber tatsächlich gesichtet und näher erforscht wird.
Don’t 129
Run. 130
Pix S/S 2022 Thomas ist 45 Jahre alt und wurde in Bastia geboren. Zurzeit lebt und arbeitet er hier als Kostümbildner und Besitzer eines Ladens für Vintage- und Second-Hand-Mode. Zwischendurch lebte er zehn Jahre in Asien, genauer, in Thailand und Indien.
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Redaktion und Erstellung Alla Carta Studio Brand Creative Director Achilles Ion Gabriel Brand Art Director Gloria Rodríguez Fotografie Leonardo Scotti Set Design Emanuele Marcuccio Styling Elisa Voto Illustrationen Joe O’Donnell Texte Davide Coppo Herstellung Hotel Production Mit besonderem Dank an: Yves Andreani Jean Noël Guillaumin Luc Plavis Isabelle Porras camper.com © Camper, 2022
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Brutus Sandal S/S 2022
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€ 18