Caren Huckle
Master of Arts LandschaftsarchitekturTU München
Caren Huckle
Master of Arts LandschaftsarchitekturTU München
Untersuchung einer touristischen Landschaft und das Potenzial des differenziellen Raumes
Die alpine Tourismusregion Oberengadin hat durch die Globalisierung und dessen Streben nach stetigem Wachstum und Optimierung einen starken Wandel erfahren. Durch den Ausbau von Hotels, Liftanlagen, Ferien- und Zweitwohnungen und vielen weiteren Freizeitanlagen ist eine hohe Dichte an urbanen Strukturen zu erkennen. Gleichzeitig zeugt das Tal von einer einzigartigen Eigenart, welche durch eine zuvor bestehende Abgeschiedenheit, eine alpine Naturdynamiken, Kulturen und traditionell bäuerliche Bewirtschaftungsformen entstanden ist.
Die aktuelle Entwicklung des Tals lässt den Interessenkonflikt der Raumentwicklung deutlich spüren: Die Priorisierung der kapitalistischen Interessen zeigen Defizite in der Berücksichtigung sozialer und ökologischer Anliegen auf. Der stetige Ausbau der Tourismusbranche führt zu einer Verdrängung der traditionellen Eigenart, des sozialen Raumes als einen alltäglichen Lebensraum und bedeutet einen massiven Eingriff in die sensible alpine Landschaft.
Henri Lefebvre setzt sich in seiner soziologischen Theorie mit der industriellen Trennung von Funktionsräumen auseinander. Er entwirft die Utopie eines differenziellen Raumes, welche durch das Aufeinandertreffen von Verschiedenheiten und Differenzen entsteht.
Die Anwendung der Theorie über den differenziellen Raum im Oberengadin birgt das Potenzial, eine Entwicklung zu fördern, die zu einem vielfältigen und dadurch zu einem nachhaltigen und zugleich zukunftsgerechten tourismusgeprägten Alpental führt.
The alpine tourism region of the Upper Engadin has experienced a strong change due to globalization, and its striving for constant growth and optimization. Due to the constrction of hotels, lifts, holiday apartments, secondary residence and many other leisure facilities, a high density of urban structures can be seen. At the same time, the valley bears witness to a unique character, which has been created by a previously existing isolation, alpine natural dynamics, cultures and traditional rural forms of cultivation.
The current development of the valley clearly reveals the conflict of interests in spatial development: the prioritization of capitalist interests reveals deficits in the consideration of social and ecological concerns. The constant expansion of the tourism industry leads to a displacement, of the traditional character, of the social space as an everyday living space and means a massive interferences in the sensitive alpine landscape.
Henri Lefebvre deals in his sociological theory with the industrial separation of functional spaces. He designs the utopia of a differential space, which is created by the encounter of diversities and differences.
The application of the theory about differential space in the Upper Engadine holds the potential to promote a development that leads to a diverse and thus to a sustainable and future-oriented alpine valley characterized by tourism.
1.1 Problematik und Motivation
1.2 Herangehensweise und Theorie-Findung
1.3 Zielsetzung
2 Der Ort: Das Tal Oberengadin
2.1 Kontext und Eingrenzung
2.2 Kurzbeschreibung des Ortes
2.3 Tourismusgebiet
3.1 Auslöser der Thesen
3.2 Eine einseitige Raumentwicklung, ein verkehrter Interessenskonflikt und die Lösung
4.1.1 Tourismusindustrie
4.1.1.1 Entwicklung des modernen Alpentourismus im Oberengadin
4.1.1.2 Konkurrenzdruck der Tourismusindustrie
4.1.2 Charaktere der Alpinen Resorts
4.1.2.1 Gute Erreichbarkeit und stadtähnliche Infrastruktur
4.1.2.2 Urbanität mit Inselstruktur
4.1.2.3 Zyklische Urbanität
4.1.2.4 Starke Zersiedelung
4.1.2.5 Wirtschaftliche Monostruktur
4.1.2.6 Überlagerung der alpinen Kultur
4.2.1 Abgeschiedenheit und Autonomie
4.2.2 Kultur
4.2.3 Naturdynamik
4.2.4 Landschaft
4.3.1 Zusammenfassung der Analyse
4.3.2 Die Gefahr des Verlustes der Eigenart
4.3.3 Die Eigenart als Dienstleister des Tourismus
4.3.4 Zusammenfassung der Akteure
5
5.1 Differenzen als Potenzial
5.2 Die Theorie: Der differenzielle Raum
5.3 Der Tourismus und die Marke als Tauschwert
5.4 Ein Tal voller Gegensätze
6.1 Konzept 6.2 Maßnahmen zur Förderung von Differenzen 6.3 Kritische Reflexion
Problematik, Motivation, Herangehensweise und Zielsetzung
Trends in der Tourismusbranche verändern sich kontinuierlich. Sie ersetzten sich nicht, sondern addierten sich meist (Heuchele et al. 2014: 80) Folglich stehen Tourismusdestinationen stetig unter dem Druck, diese Trends bedienen zu müssen. So kam es in den letzten Jahrzehnten dazu, dass sich das Oberengadin durch den Ausbau von Hotels, Liftanlagen, Ferien- und Zweitwohnungen und vielen weiteren Freizeitanlagen zu einer der bekannten und großen Destination für Sommer- sowie Wintersport in der Schweiz entwickelt hat. Die alpinen Tourismusorte haben sich zu urbanen Gebieten entwickelt (ETHSB 2005: 900)
Die Position als Pionier im modernen Wintertourismus sowie die professionelle Vermarktung des Tals als Ort des „glamourösen Lifestyles“ und als „Paradies für Sportler und Abenteurer, ein Ort der Inspiration und Ruhe, ein Tal mit echter Natur und voller kultureller Schätze.“ (ESTM AG 2021a) führte zu einer nationalen sowie internationalen Ausrichtung des Tals.
Werner Bätzing verfolgt diese Veränderungen der alpinen Orte in alpine ‘Freizeitorte‘ kritisch. „Während die Menschen in der vorindustriellen Zeit das Hochgebirge der Alpen zum Lebens- und Wirtschaftsraum umwandelten, dabei seine Arten- und Landschaftsvielfalt erhöhten und für seine langfristige ökologische Stabilisierung Verantwortung übernahmen, zerstören die kurzfristig ausgelegten modernen Nutzungen die biologische Vielfalt, die ökologische Stabilität, ein dezentrales Wirtschaften und eine langfristige Umweltverantwortung
– dadurch verschwinden die Alpen allmählich wieder als menschlicher Lebens- und Wirtschaftsraum.“ (Bätzing 2015a: 9)
Der Wunsch nach Veränderung in der Raumplanung zeigt sich in der Zustimmung der Bürger:innen zur Zweitwohnungsinitiative im Jahr 2012, die einen Zweitwohnungsanteil von 20% der Gemeinde nicht mehr überschreiten darf (ARE 2021). Besonders in der Gemeinde St. Moritz, die sich zu einem exklusiven Ferienort entwickelt hat, ist der Wunsch der Bevölkerung nach mehr öffentlichen Begegnungsflächen, einer belebten Dorfmitte und beispielsweise normalpreisigen Kulturangeboten abseits der tourismusorientierten Attraktionen da (St. Moritz Gemeinde 2018: 19)
Wie Bätzing thematisiert, zeigen sich neben soziokulturellen Defiziten auch Schwierigkeiten in der Verantwortung der Umweltbelastung. Es bestehen große Konflikte in der Zielsetzung der Tourismusund Baubranche und im Erhalt wichtiger ökologischer Flächen und Natur- und Kulturerbe, sowie beim Natur-, Landschafts- und Denkmalschutz, wie die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz und der Schweizer Heimatschutz es thematisieren (NZZ 2007).
Beim Betrachten des Ortes wird schnell ersichtlich, dass hier der Tourismus viel Raum einnimmt. In den Gemeinden reihen sich Hotels an Hotels, welche oft keine archetypische alpine Gestaltung aufweisen und die Landschaft wird von Sportinfrastruktur dominiert. Viele Gemeinden wirken in den Nebensaisons wie ausgestorben, weisen geschlossene Fensterläden und Geschäfte auf.
Dennoch zeugen Naturdynamiken, Kulturen und traditionell bäuerliche Bewirtschaftungsformen von einer einzigartigen Eigenart. Diese Strukturen wurden jedoch von einer Raumentwicklung, die einem wirtschaftlichen Interesse folgt, stark beeinflusst und verdrängt.
Aus einer sehr großen persönlichen Faszination für alpine Landschaften und der schon länger bestehenden kritischen Haltung gegenüber alpinen Tourismusgebieten, nachdem ich selbst ein halbes Jahr in solch einem Gebiet gelebt habe, entstand meine Motivation, meine Masterthesis über eines dieser stark frequentierten Tourismusgebiete in den Schweizer Alpen zu verfassen. Die Globalisierung, und deren Streben nach stetigem Wachstum und Optimierung erreichen auch die besonderen und einzigartigen Orte in den Alpen und stellen sie vor neue Herausforderungen.
Besonders hat mich die Frage beschäftigt, wie eine zukunftsfähige Lösung für diese Orte aussehen kann, damit diese nachhaltig und langfristig bestehen bleiben können und nicht unter dem Druck des Kapitalismus zerbrechen.
Daraus stellen sich mir die Fragen: Ist die Besonderheit und dadurch die Eigenart des Tals durch den starken Einfluss des Urbanen gefährdet? Bedeutet dies einen Verlust der Identität des Ortes?
Wie stark lassen sich urbane Strukturen ablesen?
Wie kann ein zukunftsfähiges Konzept für diese Region aussehen? Wäre es möglich, die Eigenart und die Urbanität in einem Raum gleichzeitig zuzulassen?
Nachdem das Problem formuliert war, hatte ich mich mit Literatur auseinandergesetzt, die sich mit den beschriebenen Prozessen und Veränderungen solcher alpinen Tourismusorte beschäftigt.
Das ETH Studio Basel, Werner Bätzing und die Vermarktung des Tals spielen im weiteren Verlauf meiner Thesis eine wichtige Rolle. Diese drei ‘Akteure‘ vertreten unterschiedliche Positionen zu alpinen Tourismusgebieten, welche sich gegenseitig bestätigen, sich ergänzen, aber auch stark gegenseitig widerlegen. Die Positionen der Akteure bilden die Auslöser meiner aufgestellten Untersuchungsthesen, die mit der folgenden Arbeit beantwortet
Die resultierende Erkenntnis der räumlichen Analyse bildet das Kriterium für die angewandte Theo-
rie, welche in Kapitel 5 beschrieben wird. Henri Lefebvre setzt sich in seiner soziologischen Theorie mit dem differenziellen Raum auseinander. Er adressiert das Potenzial von Differenzen, welche auch im Oberengadin vorzufinden sind.
Im Kapitel 6 werden Vorschläge einer Strategie für das Oberengadiner Tal erarbeitet, um die zuvor gemachten Erkenntnisse anzuwenden. Aufbauend auf der räumlichen sowie der theoretischen Analyse, wird ein Konzept entwickelt, welches anhand unterschiedlicher beispielhafter Maßnahmen im Tal angewandt wird.
Die in Kapitel 1.1 beschriebene Entwicklung veranlassten mich, meine Masterarbeit über das Oberengadin als eine Tourismuslandschaften zu verfassen.
Ziel der Analyse:
1.3 Zielsetzung werden sollen. Sie bilden zudem die Basis der vorgenommenen Analyse in Kapitel 4. Die Beschreibung von Eigenschaften und Herausforderungen von alpinen Tourismusorten des ETH Studio Basel bestimmt die räumliche Analyse in Kapitel 4.1. Hier werden urbane Entwicklungen analysiert. Die Beschreibung Werner Bätzings bestimmt das Kapitel 4.2. zur Analyse der lokalen und natürlichem Besonderheiten des Tals. Der Analyse werden Ergänzungen weiterer alpinspezialisierten Forschungen hinzugefügt.
Das Tal soll mit seinem komplexen Gefüge von traditioneller Eigenart und urbanen Strukturen verstanden werden. Dafür ist es wichtig die Entwicklung, welche mit der Entstehung des alpinen Tourismus entstanden ist und den momentanen Ist-Zustand zu begreifen. Dies geschieht anhand der Methode des Mappings. Dazu werden einzelne Orte analysiert, in denen die genannten Punkte am stärksten hervortreten und abzulesen sind.
Ziel der angewandten Theorie: Es wird geprüft, ob die Theorie Lefebvre über den differenziellen Raum und seine Kritik der Trennung auf das Oberengadin anwendbar ist und welche Voraussetzungen dafür gegeben sind, damit das Oberengadin mit der Theorie behandelt werden kann.
Wenn dies gegeben ist, ist es das Ziel, eine Analyse durchzuführen, die auf der Theorie Lefebvres basiert. Zudem soll das Potenzial des differenziellen Raumes im Oberengadin herausgearbeitet werden. Dies geschieht auch hier anhand der Methode des Mappings.
Ziel des Konzepts: Das Konzept ermöglicht es, den Berührungspunkt zwischen der Raum-Theorie und der Landschaftsarchitektur zu schaffen. Das Konzept ist das Ergebnis der angewandten Theorie auf den Ort und es soll dies ästhetisch zum Ausdruck bringen. Durch die Aufstellung des vorgeschlagenen Konzepts, könnte die Arbeit zu einem ästhetischen, auf einer wissenschaftlichen Grundlage basierenden Lösungsansatz werden und dabei die Komplexität und die Problematik alpiner Tourismuslandschaften adressieren.
Ziel der gesamten Arbeit: Schlussendlich soll die Arbeit einen Lösungsansatz bieten, wie mit alpinen Tourismuslandschaften planerisch umgegangen werden kann, um diese vor dem vollständigen Verlust der Eigenart bewahren zu können, aber zugleich auch die Entwicklung des globalen Urbanisationsprozesses zulässt. Folglich kann möglicherweise eine Synthese aus Traditionellem und Neuem geschaffen werden, die dem Ort eine neue vielfältige und nachhaltige Zukunft bietet.
Abb06 Aufbauprozess der Arbeit
Kontext, Kurzbeschreibung und Tourismusgebiet
Das Untersuchungsgebiet befindet sich im südlichen Teil des Kantons Graubünden in den Schweizer Alpen und grenzt an Italien an (Abb08). Politisch betrachtet, befindet sich das Tal in der Region Maloja, welches sich aus dem Kreis Bergell und dem Kreis Oberengadin zusammensetzt (Abb09)
Der Perimeter des Raumes, welcher in meiner Thesis behandelt wird, ergibt sich somit nicht aus den Verwaltungsgrenzen, sondern zum einen aus der natürlichen Topografie, welche das Tal mit seinen Seitentälern räumlich definiert (Abb11) Zum anderen, da der südliche Teil des Oberengadins von jenem räumlichen Umstrukturierungsprozesse betroffen ist, welche Hauptbestandteil der Thesis ist. Es schien mir daher sinnvoll, den Perimeter auf das südliche Oberengadin zu begrenzen, einschließlich der Gemeinde Maloja, die politisch zum Verwaltungskreis Bergell gehört, aber räumlich das Ende des Tals bildet.
Um das Betrachtungsgebiet vom gesamten Kreis Oberengadin zu unterscheiden, wird im Folgenden ‘der südliche Teil des Oberengadins‘ betreffend, die Bezeichnung Oberengadin gewählt, wenn explizit vom Betrachtungsperimeter gesprochen wird. Handelt es sich um das gesamte Tourismusgebiet Oberengadin (womit die Gemeinde Maloja eingeschlossen ist) oder um den gesamten Kreis Oberengadin werden diese auch so genannt.
Das Betrachtungsgebiet (Abb11) schließt die Gemeinden Samedan, Celerina, Pontresina, St. Moritz, Silvaplana, Sils und den Gemeindeteil Maloja ein. Die Gemeinden umfassen eine ständige Wohnbevölkerung von ca. 13.500 Personen (AWT 2021b). Das Oberengadin ist eine beliebte Tourismusdestination und bietet im Winter sowie im Sommer ein großes Angebot an Freizeit- und Sportmöglichkeiten und Unterkünften. Wie die meisten Skigebiete, hat auch das Oberengadin in den 70er Jahren einen starken Bauboom erlebt, wodurch besonders die Gemeinden St. Moritz, aber auch Celerina und Pontresina um ein Vielfaches angewachsen sind. St. Moritz hat sich zu einem touristischen Zentrum entwickelt, welches städtische Strukturen aufzeigt (ETHSB 2005: 916) Doch auch der südliche Teil des Tals, sowie das Berninatal erleben durch die Attraktivität des Tourismusgebiets, mit einzigartiger Seenlandschaft, schneereichen Wintern und mildem Sommerklima einen hohen Baudruck.
Das Oberengadin ist ein Hochtal auf 1600 bis 1800 Höhenmetern. Zwischen den Albula-Alpen, den Bernina-Alpen und den Livigno-Alpen (Abb10), bildet sich der flach ausgeformte Talboden des Oberengadins mit drei durch den Inn verbundenen Seen, der Oberengadiner Seenplatte und den Berninatal mit deren gleichnamigen Fluss aus. Die mächtigen Bergflanken bilden mehrere seitliche Nebentäler aus: Das Fextal, gelegen zwischen Maloja und Sils und das Berninatal welches sich wiederum zum Rosegtal und Mortatschtal öffnet. Am
topografischen Höhenpunkt dieser beiden Seitentäler des Berninatals, befinden sich die im letzten Jahrhundert stark zurückgegangen Gletscherzungen des Roseggletschers und des Morteratschgletschers.
Das Oberengadin zeugt von einer starken Reliefenergie. Während die auf Talebene befindlichen Seen auf einer Höhe von 1800 Höhenmeter liegen, zählen die Gipfel der mächtigen Bergflanken, die das Tal topografisch rahmen bis zu 3400 Höhenmeter, die Berggipfel der Gletscherzungen bis zu 4049 Höhenmeter.
Die Landschaft wird durch starke topografische Kontraste, die Seenkette, offene und dichte Waldflächen, sowie Siedlungsräumen und einer starken Dichte von touristischer (Berg-)Infrastruktur geprägt. Auf Talebene befinden sich landwirtschaftlich geprägte Flächen und dichte Waldgebiete, die durch die typische vorindustrielle Kultivierung des Landes mit hauptsächlich Viehbeweidung auf eine Höhengrenze von circa 2000m ü. M. zurückgedrängt wurden. Innerhalb und oberhalb dieser Waldgrenze befindet sich Offenland mit Weilern und den Ställen, den Maiensäßen (Abb12). Besonders im westlichen Teil des Gebietes sind diese landwirtschaftlichen Strukturen zu erkennen. Im östlichen Teil ist die Landschaft stark von größeren Siedlungsflächen geprägt (Abb13)
Die Bergflanken werden von Liftanlagen erschlossen, die mit den teilweise massiven Bergstationen die Landschaft prägen.
Anbindung
Der Verlauf des Flusses Inn Richtung Norden stellt die Verbindung zum nördlichen Teil des Oberengadins sowie dem Unterengadins dar. Im Osten kann über den Julierpass Chur erreicht werden. Über den Malojapss, sowie über den Berninapass besteht die Verbindung nach Italien. Das Tal ist seit 1820 durch die Passstraße, sowie die Rhätische
Bahn, die seit 1929 die Bahnverbindung nach Chur und Davos, sowie über den Berninapass nach Italien ermöglicht, erschlossen. Überregionale Wanderrouten, wie die Route 25 und 33, führen durch das Tal.
Ein 1938 errichteter Flughafen, der seit den 50er Jahren auch privat erreichbar ist, bindet das Tal an den Luftverkehr an.
Es bestehen drei große Skigebiete im Oberengadin: Mit dem Bau der Drahtseilbahn im Jahr 1928 entstandene St. Moritz - Corviglia, Corvatsch-Furtschellas und Diavolezza-Lagalb. Daneben existieren kleine Anlagen mit Schlepp- und Sesselliftanlagen in Maloja sowie in Pontresina.
Alle Anlagen sind mit einem einzigen Liftticket befahrbar, das heißt, sie schließen sich mit der Anlage in Zuoz zu einem großen Skigebiet zusammen. Das Tourismusgebiet Oberengadin zählt mit insgesamt 350km Pisten zu den großen Skigebieten der Alpen. Die Skigebiete sind hochtechnisch ausgestattet, sodass sie fünf Wintermonate vielfältige Anlagen, Pistenschwierigkeiten und Sportmöglichkeiten für nahezu alle Wintersport-Arten anbieten. Neben den Bergsportarten richtet das Skigebiet jährliche Events, wie Freeski, Snowboard und Ski World Cups aus.
Im Sommer bietet das Gebiet 580km Wanderwege, Mountainbike Trails, Kletteraktivitäten und sechs Badeseen für verschiedenste Wassersportarten. 13 der 58 Liftanlagen sind im Sommer betrieben und gewährleisten auch hier eine starke Frequentierung der Berge.
Dienstleistungen wie Ski- und Snowboardschulen, Bergführungen und Verleih bieten einen ‘RundumService‘. Neben Gästeunterkünften, Gastronomien und Freizeitaktivitäten im Tal, werden diese auch auf höheren Berglagen angeboten. Der SAC betreibt fünf SAC-Hütten im Oberengadin.
1,5 Mio Logiernächte
0,5 Mio Ankünfte
217 Hotels
1528 Ferienwohnungen
58 Winterliftanlagen
13 Sommerliftanlagen
65.000 Personenbeförderung/h
350km Skipisten
2 Snowparks
480km Loipen
240km Winterwanderwege
14km Schlittelwege
13 Eislauf-Bahnen
580km Wanderwege
400km Mountainbike
2 Klettersteige
17 Hochseilgärten
6 Badeseen und Wassersport
Auslöser, eine einseitige Raumentwicklung, ein verkehrter Konflikt und die Lösung
„...ein Ort der Inspiration und Ruhe, ein Tal mit echter Natur und voller kultureller Schätze.“ 2021b
„Top of the World“
„Hier verschmelzen Glamour, Lifestyle, Sport und wilde Natur zu einem exklusiven Cocktail, der jede Großstadt in den Schatten stellt. 2021c
Engadin St. Moritz Tourismus AG: Werner Bätzing: ETH Studio Basel:
„die konkrete Landschaft [wird.] zur Kulisse degeneriert und austauschbar“ 2015: 177
3.1 Auslöser der Thesen geworbenen Erlebnisse erwarten. Das heißt die Vermarktung ist das Medium, welches für die Erwartungshaltung verantwortlich ist, die der Besuchende mit sich bringt, wenn er sich im Ort befindet und diesen erlebt.
„Alpine Resorts sind urbane Gebiete“ 2003, 213
„Die städtische Kultur hat die alpine überlagert“ 2003, 213
„The once so impressive landscape, with their diversity and regional character, are being replaced by spaces that have no identity, that are similar to leisure parks and urbanised areas, and which are merely being consumed.“
2019: 46
In der Recherche haben sich drei wesentliche Einflussgeber herausgestellt, welche meine Untersuchungsthesen angestoßen haben: Die Engadin St. Moritz Tourismus AG als die Vermarktung des Tourismusgebiets Oberengadin, das ETH Studio Basel mit dessen Band ‘Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait‘ und Werner Bätzing als Alpenforscher. (Abb17)
Vermarktung des Tourismusgebiets
Der erste Akteur, welcher in der Untersuchung des Raumes eine wichtige Rolle spielt, ist die Vermarktung des Tals. Die Wichtigkeit dieser Position spiegelt sich in der Fernwirkung wider. Die Vermarktung ist das Medium, welches Bilder und Eindrücke nach außen kommuniziert.
Besonders durch die Vermarktung werden all diejenigen angesprochen, die als Gast das Tal besuchen und die produzierten Bilder und an-
Werner Bätzing (*1949) ist Geograf und Alpenforscher. Bätzing hat in den vergangenen Jahren mehrere Werke über die Entwicklung der Alpen, über ihre ökonomischen, sozialen sowie ökologischen Zustände und mögliche Entwicklungen erforscht und verfasst. Er beobachtet die Entwicklung der Alpen sehr kritisch und beschreibt den starken Einfluss der Globalisierung. Er befürchtet das Verschwinden der traditionellen Kulturlandschaft und somit auch der wertvollen Räume, die von einem regionalen und diversen Charakter zeugen.
Bätzing beschäftigt sich intensiv mit der Eigenart der alpinen Räume, wie diese entstehen, wodurch sie lesbar sind und welchen Veränderungen sie unterliegen. Darum scheint es mir essenziell wichtig, Werner Bätzing als einen der drei wichtigen Akteure in der Arbeit aufzunehmen und dessen Position mit einzuarbeiten.
Das ETH Studio Basel ist ein 1999 gegründetes Studio der ETH Zürich. Mit den Architekten und Studioleitern Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Roger Diener, Marcel Meili sowie dem Soziologen und Geografen Christian Schmid veröffentlichte das Studio den Band ‘Die Schweiz - ein städtebauliches Portrait‘.
‘Die Schweiz‘ ist ein Portrait, welches ein neues Bild der differenzierten urbanen Schweiz aufzei-
gen soll. Das Portrait definiert durch räumliche vorhandene Trends und Transformationsprozesse fünf unterschiedliche Typologien (Abb16). Diese fünf Typologien sollen Entwicklungen, Prozesse und Veränderungen in den jeweiligen Regionen aufzeigen und somit ein Bewusstsein zu den Differenzen der Typologien schaffen. Der Band hatte für viel Aufregung gesorgt, da das traditionelle Bild der Schweiz auf den Kopf gestellt wurde. Besonders die Typologie ‘Alpine Brache‘ wird kritisiert. Laut Schmid sei es jedoch wichtig zu verstehen, dass die Typologien weder abgewertet noch bevorzugt werden sollen, sondern das Portrait Ist-Zustände und Transformationsprozesse beschreibt (Schmid, Salm 2015).
Metropolitanregionen Städtenetz
Stille Zonen
Alpine Resorts
Alpine Brachen
Abb16 Typologien der urbanen Schweiz
Die drei Akteure vertreten unterschiedliche Positionen über alpine Tourismusorte: Die Vermarktung beschreibt das Oberengadin als einen extravaganten Lebensstil in unberührter Natur, das ETH Studio Basel spricht von einem Urbanisierungsprozess und Bätzing spricht sich als Kritiker der Globalisierung, welche die Eigenart verdrängt, aus. Diese Widersprüchlichkeit sowie der Interessenskonflikt der Raumentwicklung, welcher in Kapitel
1.1 thematisiert wird, führt mich zu folgenden Untersuchungsthesen die ich im Laufe meiner Arbeit prüfen möchte:
1.
Die Tourismusbranche darf nicht alleiniges Kriterium für maßgebliche, lenkende und strukturgebende Entscheidungen der Raumentwicklung des Tales sein.
Die aktuelle Entwicklung des Tals, die einer reinen wirtschaftlichen Logik folgt, birgt die Gefahr des Verlustes der Eigenart
Diese Priorisierung der kapitalistischen Interessen zeigt zudem Defizite in der Berücksichtigung sozialer und ökologischer Anliegen auf. Wird keine gleichgewichtige Berücksichtigung der Anforderungen an den Raum geschaffen, wird das Tal seine Qualitäten in jeglicher Hinsicht abseits des Tourismus verlieren.
Dieser Interessenskonflikt ist in dem Sinne ein verkehrter Interessenskonflikt Der Tourismus des Oberengadin ist von der Eigenart des Tals essenziell abhängig, welche er jedoch durch seine kapitalistische Logik verdrängt.
Dieser scheinbare Interessenskonflikt kann vielmehr als eine Ansammlung von Gegensätzen betrachtet werden. Das Bestehen von Gegensätzen und Verschiedenheiten ist eine Bereicherung und schafft Vielfalt
Die Anwendung der Theorie über den differenziellen Raum im Oberengadin birgt das Potenzial, eine Entwicklung zu fördern, die zu einem vielfältigen und dadurch zu einem nachhaltigen und zugleich zukunftsfähigen tourismusgeprägten Alpental führt.
3.2 Eine einseitige Raumentwicklung, ein verkehrter Interessenskonflikt und die Lösung?2. 3.
Im Folgenden werden Analysen an konkreten Orten vorgenommen, die sich aus den Positionen der Akteure ableiten.
Die in Kapitel 4.1 vorgenommene räumliche Analyse basiert auf der Position des ETH Studio Basel „die Alpinen Resorts sind urbane Gebiete“ (ETHSB 2005: 213). Geprägt von der Tourismusindustrie hat sich das Oberengadin zu einem komplexen Raum entwickelt, in dem viele urbane Strukturen abzulesen sind. Im folgenden Kapitel werden diese urbanen Charaktere genauer betrachtet.
In Kapitel 4.2 wird eine Analyse vorgenommen, die auf der Position von Werner Bätzing basiert. Hier werden Strukturen untersucht, die von einer Eigenart zeugen, welche vorwiegend aus lokalen und natürlichen Bedingungen entsteht.
Die Strategie der Vermarktung wird in Kapitel 4.1.1 erläutert. Die weitere Analyse dieses Akteures folgt in Kapitel 5.3.
In Kapitel 4.3.1 wird das Fazit der räumlichen Analyse gezogen.
In diesem Kapitel werden die Strukturen analysiert, die das ETH Studio Basel Alpinen Resorts zuschreibt.
Sind diese Strukturen im Oberengadin vorhanden?
In welcher Form treten sie auf? Wie verändern sie den Raum? Welche zukünftige Entwicklung wird prognostiziert?
Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel beantwortet werden.
52)
4.1.1.1 Entwicklung des modernen Alpentourismus im Oberengadin
Der moderne Alpentourismus ist eine relativ neue Erscheinung in der menschlichen Zeitrechnung.
Bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde das Gebirgsmassiv als Hindernis der Verbindung von Süden nach Norden Europas wahrgenommen. Die wilde Natur und die Urgewalt, die es verkörperte, wurde als furchteinflößend bezeichnet. Mitte des 18. Jahrhunderts unternahmen Wissenschaftler erste Gipfelbesteigungen, wie die des Mount Blanc, um die Alpen für wissenschaftliche Zwecke zu erkunden. Folglich wurden die Alpen Objekt der Wissenschaft und Forschung. Neben dem Team aus Wissenschaftlern und Forschern begleiteten
Maler die Expeditionsreisen in die Alpen, um realitätsnahe Aufnahmen der Gebirge anzufertigen. Immer mehr Maler und Dichter unternahmen fortan, geleitet vom Interesse an der beeindruckenden und mysteriösen neuentdeckten Landschaft, Reisen in alpine Gebiete. (Lob 2002)
Diese Verschmelzung von wissenschaftlichem und ästhetischem Interesse bewirkt einen Wandel in der Wahrnehmung der Alpen. Wo zuvor nur wenige Touristen die Berglandschaft aufsuchten, denn der Aufenthalt stellte mehr ein Abenteuer als Erholung dar, findet eine entscheidende „kulturelle Neubewertung des Mensch-Natur-Verhältnisses“ (Bätzing 2015a: 172) statt. Die ästhetische Entdeckung der Alpen führt zu einer neuen Betrachtung der Alpenlandschaft von außen und verändert die Distanz zur Natur. Anstelle einer furchteinflößenden Landschaft rückt nun die verheißende Land-
Die ästhetische Entdeckung der alpinen Landschaften führt zu einem starken Anstieg von touristischen Reisen in den Alpen(Abb19).
Im 16. Jahrhundert entdeckt man in St. Moritz eine Heilquelle, einen Sauerbrunnen, worauf einzelne Kurgäste den Ort aufsuchen, um dort Gesundheitsbäder zu nehmen (HLS 2021a) Wie in vielen anderen Regionen der Schweiz, wird auch im Oberengadin Mitte des 19. Jh. eine Sektion des Schweizer Alpenclubs gegründet, die sich aus einer kleinen Gruppe von Bergsteigern und Einheimischen zusammensetzt (SAC 2021). Diese erzeugen durch das Anlegen von Wanderwegen und Errichtungen von Hütten die ersten touristischen Ansätze. Diese touristischen Anfänge sind zu Beginn wirtschaftlich wenig relevant, dennoch legen sie den Grundstein kommender Entwicklungen und eines alpinistischen Images (Bätzing 2015a: 173)
Der eigentliche Beginn des modernen Tourismus geschieht mit Einzug der Belle-Époque-Phase, in der ein massiver Ausbau des Eisenbahnnetzes stattfindet und Grand Hotels in den Hochalpen errichtet werden(Abb20). Dies führt dazu, dass sich zahlungskräftige Gäste aus der Oberschicht für längere Zeit in den Sommer- sowie später erstmals auch in den Wintermonaten in den Alpen aufhalten. (Bätzing 2015a: 172)
Solche mondänen Hotelanlagen, lassen sich vermehrt auch im Oberengadin finden. St. Moritz sei der Ort, an dem der moderne Wintersport erfunden wurde, so die Engadin St. Moritz Tourismus AG. Der Hotelier Johannes Badrutt ließ das noch heute bestehende Grand Hotel Kulm errichten und lockte mit geschicktem Unternehmergeist, zah-
lungswillige internationale Gäste nach St. Moritz, welche dort im Jahr 1864/65 über mehrere Wochen erstmals den Winter verbrachten. (ESTM AG 2021d)
In kurzer Zeit entstehen, ausgehend von der touristischen Anziehungskraft von St. Moritz weitere zahlreiche luxuriöse Hotelanlagen, welche die stetig wachsende Nachfrage bedienen. Das Dorf ver14-facht seine Bevölkerungszahl im Vergleich zu 1850 innerhalb sechs Jahrzehnten und verzeichnet im Jahr 1910 ca. 3.200 Personen (HLS 2021a). Nach einem wirtschaftlichen Einbruch während der Kriegszeit, werden 1948 die Olympischen Winterspiele im Oberengadin ausgetragen und erste Skiliftanlagen errichtet. Dies führt dazu, dass ab den 1920ern die Wintersaison zur zuvor wichtigeren Sommersaison wirtschaftlich interessanter wird. Es entstehen später neben mondänen Hotels auch kleine Hotels und Ferienwohnungen, um die Mittelschicht als Gäste zu gewinnen. (Bätzing 2015a: 173)
Heute zählt das Tourismusgebiet Oberengadin mit jährlich circa 1,5 Millionen Logiernächten (BFS 2021a) neben weiteren alpinen Tourismusregionen, wie Zermatt und Davos in der Schweiz zu den Regionen mit einer sehr hohen touristischen Attraktivität. Neben dem Vorteil, Pionier im Alpentourismus zu sein, zeichnet sich die Schweiz, sowie das Oberengadin mit einer hohen Nachfrage von internationalen Gästen aus (Bätzing 2015a) Stetige Ausbauten der Winteranlangen und Sommerattraktionen führen zu einer starken Verzahnung des Oberengadins mit der Tourismusindustrie. Dies führt dazu, dass im Tourismusgebiet Oberengadin der Tourismus einen Anteil von 68% der gesamten wirtschaftlichen Wertschöpfung der Region aufweist. (ESTM AG 2019a)
Abb19 Golfplatz in Samedan mit Gebirgskulisse um 1900Seit Beginn des modernen Alpentourismus ab Ende des 19. Jahrhunderts findet eine strategische Vermarktung des Oberengadins satt. Heute nimmt die Engadin St. Moritz Tourismus AG diese Vermarktung vor. Es entsteht neben der Marke ‘St. Moritz‘, die die gleichnamige Gemeinde umfasst, die Marke ‘Engadin‘, die das gesamte Tal Oberengadin repräsentiert. Laut den Zielen der Engadin St. Moritz Tourismus AG werden diese beiden Marken bewusst unterschiedlich positioniert, um auf die verschiedenen Megatrends (siehe Anhang)A die das deutsche Zukunftsinstitut definiert hat, zu reagieren und bestmöglich abzudecken. ‘St. Moritz‘ wird mit dem Image „extravagant“ belegt, welches sich von einer Alpendestination „zu einem extravaganten urbanen Lifestyle Ort in den Bergen entwickeln“ soll (ESTM AG 2019a) Das ‘Engadin‘ wird mit dem Image „Sehnsucht“ belegt, welches „Vitalität, die Selbstverwirklichung und die Entschleunigung als Reisemotiv“ bestimmt (ESTM AG 2019a).
Diese Marketing-Strategien sind deutlich am jeweiligen Internetauftritt abzulesen (Abb21) Das Engadin wirbt mit einer „Weite“, einem besonderen „Licht“ und einem „Ort der Inspiration und Ruhe, ein Tal mit echter Natur“ (ESTM AG 2021b). St. Moritz verkauft mit seinem Slogan „Top of the World“ eine Exklusivität und einen „Lifestyle ganz besonderer Art“ (ESTM AG 2021c).
Abb21 Auszug des Internetauftritts und Logos der Engadin St. Moritz Tourismus AG
Die gezielte artifizielle Vermarktung der Region ist ein Indiz dafür, dass die Tourismusindustrie dem Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist. Trotz Pionierfunktion im Alpentourismus unterliegt die Schweiz durch den starken Fall des Schweizer Franken und der hohen Preise des Binnenmarkts (ETHST 2003: 214) einem starken Preis-Wettbewerb mit Ländern wie Österreich, Frankreich, Italien und Slowenien. Dadurch wird der Aufenthalt in der Schweiz für internationale Gäste zum Luxusprodukt. Zudem tragen die fortschreitende weltweite Verbesserung der Infrastruktur, Prozesse der Liberalisierung (Öffnung vieler Grenzen) (Bätzing 2005: 176) sowie der unerbittliche Preiskampf von Flugreiseanbietern dazu, dass sich die Schweiz in einer globalen Urbanisierung der Tourismusindustrie (ETHST 2003: 214) behaupten muss. Plötzlich steht nicht mehr nur noch das Nachbarland Österreich als Alternative der Urlaubsdestination zur Auswahl, sondern auch das 12.000km entfernte Japan.
Eine stetig steigende Nachfrage des Tourismus, wie es in der Hochphase zwischen 1955-85 geschah, führte zu hohen Investitionen und dem Ausbau der Sportanlagen. Heute müssen diese Anlagen mit hohen Kosten instandgehalten oder stetig erneuert werden. (Bätzing 2015: 176f)
Der Wintertourismus schafft es durch stetige Innovationen bei neuen Sportgeräten wie das Snowboard oder den Carving-Ski, welche die junge Generation ansprechen, sowie Investitionen in neue Anlagen, den Trends und Ansprüchen der Winter-
gäste gerecht zu werden. Wo im Sommer bis in die 1980er Jahre die Naturerfahrung durch Wandern und Klettern im Vordergrund stand, tritt der Aktivsport, wie Mountainbiking, Sportklettern, Trailrunning, Paragliding, Windsurfing etc. in den Fokus. Diese hoch spezialisierten Sportarten erfordern nun, wie im Winter, auch für die Sommersaison zusätzliche Investitionen in Anlagen und technische Infrastrukturen. (Bätzing 2015: 177). Hier ist ein grundlegender Wandel in der Funktion und Wahrnehmung der Gebirgslandschaft zu erkennen. Die Landschaft wird nicht mehr durch die Erfahrung selbst geschätzt, sondern die eigene Körpererfahrung steht, wie im Winter nun auch im Sommer, im Vordergrund. Die Gebirgslandschaft wird zu einem einzigen Sportgerät und übernimmt die Funktion einer Hintergrundkulisse. Dadurch wird sie austauschbar. (Bätzing 2015: 177)
Neben der rücklaufenden Tendenz des Tourismus seit 1985 und den Veränderungen der Trends, ist das Tal durch den Klimawandel von ökologischen und hydrologischen Veränderungen betroffen. Eines an der ETH Zürich entworfenes Forschungsmodell zum Klimawandel schätzt ab dem Jahr 2070 einen Rückgang des Niederschlags um ca. -8% und eine Temperaturerwärmung um ca. +3,2°C für die Region (GKG 2021: Themenkarte BAFU: Wald im Klimawandel; Remund et al. 2016) Häufiger auftretende Extremwetterereignisse, wie Trockenheit und Hitze, wirken sich durch Abschmelzen des Permafrosts auf die Wasserkapazitäten und Bodenfestigkeit aus (St. Moritz Gemeinde 2018: 18)
Die Schneefallgrenze wird schon im Jahr 2050 bei 1.200 Höhenmeter liegen. Durch eine massive Aufrüstung von Schneekanonen, der Errichtung von Wasserspeicherseen und das Abdecken von Eisflächen im Sommer wird versucht, der Schneearmut und der Eisschmelze entgegenzuwirken. (BAFU 2017)
Auf lange Sicht hat der Wintertourismus jedoch keine Zukunft mehr. Dafür wird aufgrund von ansteigenden Temperaturen durch den Klimawandel die Nachfrage im Bereich des Sommertourismus wegen des kühleren Alpenklimas ansteigen. (Heuchele et al. 2014: 77f)
Das ETH Studio Basel öffnet mit ‘Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait‘ eine neue Perspektive, die Schweiz aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Studio betont, es bedarf neue Ansätze, um die Schweiz mit den aktuellen stattfindenden Urbanisierungsprozessen ganzheitlich zu begreifen, denn klischeebehaftete Bilder von einer unberührten Bergidylle seien nicht mehr zeitgemäß und Stadtmodelle übersehen die aktuelle Entwicklung: die Urbanisierung hat jeden Fleck der Schweiz erreicht, so das ETH Studio Basel. (ETHSB 2005: 164).
Die Theorie der Produktion des Raumes von Henri Lefebvre bildet die theoretische Grundlage des Bandes. Die Typologien sollen das „Bild einer differenzierten urbanen Schweiz“ (ETHSB 2005: 221)
aufzeigen. Diese Typologien haben sich durch die dort stattfindenden Trends und Transformationsprozesse dargelegt. Es soll deutlich gemacht werden, dass jede Typologie Unterschiede aufweist. (ETHSB 2005: 165ff)
Das Oberengadin wird als Alpines Resort beschrieben. Diesen Alpinen Resorts werden urbane Charaktere zugeschrieben. Im Folgenden wird geprüft, ob diese Eigenschaften im Oberengadin aufzufinden sind und sie werden anhand des konkreten Raums analysiert.
Abb22 Zeitliche Entwicklung der Infrastruktur im Oberengadin
4.1.2.1 Gute Erreichbarkeit und stadtähnliche Infrastruktur
Alpine Tourismusorte zeugen von einer guten Erreichbarkeit und einer Infrastruktur, die der städtischen Infrastruktur stark gleicht (ETHSB 2005: 900).
Die Entwicklung der Infrastruktur im Oberengadin lässt den Trend zu einer stetig steigenden Erreichbarkeit erkennen:
Das Tal wurde zur Bronzezeit erstmals über den Berninapass erschlossen, als Hirten aus dem Poschiava Tal auf fruchtbare Weiden stoßen (ALG 2016: 13f). Die Römer errichten Wege über den Malojapass, den Julierpass sowie den Berninapass, wobei letzterer eher eine unwichtigere Rolle übernahm (HLS 2021b). Mit dem weiteren Ausbau der
Wege nimmt die Besiedelung des Tals im 12./13.
Jh. deutlich zu (ALG 2016: 13f)
Die Errichtung einer Straße im Jahr 1776 über den Malojapass und der weitere Ausbau der Passstraße um 1820 ermöglichen eine von Kutschen befahrbare Erschließung aus dem Bergell und Italien.
Im gleichen Jahrzehnt ermöglicht ein Straßenausbau eine sichere Verbindung über den Julierpass, sowie die 1842 errichtete Straße über den Berninapass (Abb22 Karte1). (HLS 2021b)
Um 1850 wird das Oberengadin mit dem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Postkurs - das heutige Postauto - ausgestattet.
In der Belle-Époque werden mondäne Hotels im Tal errichtet und erste Drahtseilbahnen erschlie-
ßen vom Talboden aus die Bergflanken in Höhen von 2.005m. Besonders die Erschließung durch das Eisenbahnnetz, das zwischen 1903-13 die Verbindung von Davos und Chur nach St. Moritz, sowie die Verbindung über den Berninapasse (2235m ü. M.) nach Italien ermöglicht, löst eine wahre Euphorie aus und trägt stark zum Tourismus Anfang des 20 Jh. bei (Bätzing 2015a: 172) Wo zuvor abenteuerliche Expeditionen erforderlich waren, um die Gipfel der Gebirge zu erreichen, gestatten dies der stetig wachsende Ausbau von Drahtseilbahnen und Liftanlagen auf eine sichere und bequeme Art. Die Eröffnung des Flugplatzes 1934 gewährleistet eine weitere schnelle Erreichbarkeit des Tals (Abb22 Karte2)
So kommt es, dass es immer mehr Menschen ermöglicht wird, auf einfachem und bequemem Weg das alpine Hochtal zu erreichen.
Der weitere Ausbau von Straßen und Unterkünften, wie Hotels, Ferienwohnungen und Zweitwohnungen, erlauben lange Aufenthalte direkt im Gebirgstal.
In der Zeit von 1955-1985 kommt es durch das Hoch des Massentourismus, an dem nun „erstmals auch die Unterschicht beteiligt war“ zu weiteren Ausbauten von Erschließungsinfrastruktur (Abb22) Karte3) um die entstehenden Siedlungen zu versorgen und den Ansturm des Massentourismus, der hauptsächlich durch den Individualverkehr geschieht (KRIP 2011)B, bewerkstelligen zu können. (Bätzing 2015a: 176)
Der Ausbau der Infrastruktur auf hohen Lagen nimmt ein immer größeres Ausmaß ein, welches ein besonderer Verlust der fragilen und einzigartigen Gebirgslandschaft bedeutet, wie der Vergleich von Abb24 zu Abb25 aufzeigt.
Besonders die Lage der Gondelstationen, welche die Erreichbarkeit weiterer Gebirgshöhen ermöglicht, löst in den Siedlungen flächige Bauvorhaben aus, die ganze Dorfteile wie zum Beispiel Silvaplana Surlej an der gleichnamigen Gondelstation in den 60ern Jahren entstehen lässt.
Die Seitentäler hingegen sind noch heute nur zu Fuß, mit dem Fahrrad oder per Pferdekutsche erreichbar und haben dadurch weitgehend ihren traditionell bäuerlichen Landschaftscharakter bewahrt.
Neben einer stark ausgebauten Verkehrsinfra-
1955/3.057Hm Sesselbahn Piz Nair
Unten ist die Bergstation der Corviglia Standseilbahn sowie ein Sessellift zu erkennen, welche den Berg auf einer Höhe von 2008m erschließt.
Die Erschließung ist um ein Vielfaches angestiegen. Es wurden weiter Liftanlagen, Hütten und breite Wege errichtet. 2014 wurde hier der Speichersee Lei Alv errichtet.
2015/2.530Hm
Speichersee Lei Alv
1928/2.486Hm
Corviglia-Bahn
1928/2.010Hm
Villenviertel Chasellas
1913/2.005Hm
Chantarelle-Bahn
1865/1.835Hm
Kulm-Hotel 1820/1.822Hm
Passstraße 3
1838/1.822Hm
Flugplatz Samedan
Abb23 Zeit = Höhenmeter
Anhand der Grafik ist zu erkennen, wie sich die Erreichbarkeit im Laufe der Zeit ausgebildet hat.
Je später wir in der Zeit fortschreiten, desto mehr werden die Höhen erschlossen.
struktur ist eine hohe Dichte an Freizeit-, Kulturund Versorgungsinfrastrukturen zu finden: (Kunst-) Museen, internationale Restaurants und Bars, Nachtclubs, Golfplätze, Tennisplätze, WassersportClubs, Ausbildungsstätten, Gewerbegebiete etc. sind in jeder Gemeinde vorzufinden.
Die Erreichbarkeit führt zu einem zunehmenden Anspruch an den Raum, denn neue Märkte wie der Tourismus, der Zweitwohnungsbau und der Ausbau weiterer Industrien (Einzelhandel, Gastronomien, Gewerbeflächen, Wasserkraftwerke etc.) entstehen im alpinen Tal. Es werden Aufenthalte mit kurzer bequemer Anreise möglich und das Tal rückt in das Interesse einer breiten Gästemasse.
Die Distanzen zwischen Urbanen und Abgelegenen verringern sich und die Verbindung zu Metropolitanräumen wird stärker. Dadurch kommt es zu Strukturen, wie einer dichten Infrastruktur (Verkehr, Versorgung, Freizeit und Kultur), die städtischen Strukturen gleichen.
Die „Grenzen [der Alpinen Resorts] sind wenig durchlässig“ (ETHSB 2005: 900), denn die „starke topografische Kammerung verleiht [ihnen] einen ausgeprägten Inselcharakter“ (ETHSB 2005: 904)
Der Zusammenschluss der einzelnen Liftanlagen zu einem Tourismusgebiet, bewirkt einen räumlichen Zusammenschluss der einzelnen Gemeinden. Aufgrund der hohen Dominanz des Tourismus als ökonomische Kraft, wie in 4.1.2.5 beschrieben wird, verbindet die Marke Engadin die Räume zu einer wirtschaftlichen Einheit. Das ‘Rundum-Paket‘ (Abb26) welches neben dem Wintersport und dem Wandern am Berg, Erfahrung und Aktivitäten im Tal, in und auf den Seen, Dienstleistungen, wie Verleihservice, Skischulen und Wellness, Gastronomien auf dem Berg, nahe und innerhalb der Unterkünfte anbietet, stellt eine hohe Dichte an Freizeit- und Versorgungsinfrastruktur konsumierbereit zur Verfügung. Dadurch kommt es zu einem inselartigen Bewegungsradius der Gäste innerhalb des Tourismusgebiets.
Innerhalb der Inselstruktur des Tourismusgebietes lassen sich weitere Kammerungen erkennen: Gerade die Raumentwicklung, welche eine hohe Ansammlung von touristischen Elementen, wie Zweitwohnungssitze, Hotels, Freizeitinfrastruktur etc. in der Nähe der touristischen Anziehungspunkte, den Talstationen zulässt, bewirken weitere inselartige Bewegungsradien der Gäste. Beispielsweise besitzen einzelne Hotelanlagen eigene Zugänge zu den Pisten, die gegenüberliegende Luxuseinkaufsstraße des Badrutt‘s Palace und der Abhol-
service am Flughafen oder am Bahnhof schränken den Kontakt nach Außen ein und gestalten das Verlassen des Gebietes während dem Aufenthalt als überflüssig.
Der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, des Postautos und der Rhätischen Bahn, schaffen eine gute Anbindung in den umliegenden Kontext.
Die Rhätischen Bahn, die zum UNESCO-Welterbe zählt, wird neben der Personenbeförderung auch als touristisches Erlebnis genutzt, um über Pässe und durch Täler die alpine Landschaft zu bestaunen. Sie bewirkt einen hohen Transit der Distanzen zwischen Chur, Davos, Klosters, dem Unterengadin und über den Berninapass nach Italien.
Die verkehrlich wichtige Verbindung über den Ma-
lojapass nach Italien ins Tessin stellt eine weitere Auflösung der Kammerung des Tourismusgebiets dar.
Die hohe Dichte an touristischer und kultureller Freizeitinfrastruktur veranlasst die Gäste sich innerhalb eines inselartigen Bewegungsradius zu bewegen. Die Ränder dieser Insel definiert das Tourismusgebiet. Die topografischen Bedingungen, bewirken einen Einschluss der angrenzenden Täler, die durch touristische Infrastruktur bespielt werden.
Der hohe Transit über die umliegenden Pässe, sowie die öffentlichen Verkehrsmittel wirken der topografischen Kammerung des Oberengadins jedoch entgegen.
Abb26 ‘Rundum-Paket‘ des Tourismusgebiets
Terrassen Verschwun Verbuschun
bewohnt werden, da sie hauptsächlich aus Hotels und Ferien- oder Zweitwohnungen bestehen, welche direkt an den Bergbahnen gelegen sind.
Für ständige Bewohner sind diese Gebiete relativ unattraktiv, da sie auf die Bedürfnisse des Temporären ausgelegt sind. Sie weisen keine qualitativ öffentlichen Aufenthaltsflächen auf, zeugen von einer starken Präsenz des Verkehrs (Parkplätze, breite Verkehrsstraßen, welche nur zur Erschließung dienen), von einer hohen Lärmbelastung
durch Saisonbetrieb (Verkehr und Bahnen) und der Einzelhandel ist auf touristische Bedürfnisse ausgerichtet.
Es sind zyklische Strukturen abzulesen (Abb27) Während der Hochsaison stark ausgelastete Hotels, Ferienwohnungen und Zweitwohnungen sind zwischen den Saisons unbewohnt und abgeriegelt [1], wie die Abb28 zeigt. Parkplätze sind überfüllt oder stehen vollständig leer 2], wie die Abb29 zeigt. Der Einzelhandel erzielt während der Haupt-
saisons seinen wichtigsten Umsatz und ist neben den Lebensmittelläden und den Freizeiteinrichtungen während der Zwischensaison geschlossen oder öffnet zu verkürzten Öffnungszeiten [3]. Für die Bewohner:innen, die dieser periodischen Fluktuation ausgesetzt sind, stellen die zyklischen Veränderungen einen „heftigen Wechsel“ dar (St. Moritz Gemeinde 2018: 10). Im Rätoromanischen spricht man von der stagiun morta (= dt. Tote Zeit).
Wald See See
Landwirt
temporäre Brachflächen
Hotelanlagen
Hotels geschlossen
bewohnt nicht erkennbar
saisonal betriebene Bergbahn mit Einzelhandel
Abb27 Temporäre Strukturen Silvaplana Surlej zwischen den Saisons
saison betrieb *
2 1
Erhalten Gemeinsch
touristisch
Abb30 Logiernächte Oberengadin 2019
Abb28 Verschlossene Fensterläden der temporär genutzten Zweit- und Ferienunterkünfte
42 43 Analyse 4
200.000 Jan Feb Mar Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 100.000 200.000
Abb29 Temporäre Brachen in der Hochsaison
Alpine Resorts weisen eine starke Ausdehnung der Siedlungsflächen auf. (ETHSB 2005: 900)
Im Oberengadin kommt es durch die steigende Erreichbarkeit und den dadurch zunehmenden Anschluss an die Städtenetze, wie im Kapitel 4.1.2.1 erläutert, zu einer hohen Attraktivitätssteigerung des Tals. Daneben steigt die Anzahl der Bevölkerung und der Lebenswohlstand nimmt zu (Schwick 2010: 5). Schon Ende des 19. Jh. kommt es zum Bau vieler Hotelanlagen, welche innerhalb den Dorfzentren oder in die freie Landschaft errichtet werden. Mit der Errichtung der ersten Liftanlagen beginnt der massive Ausbau von Infrastrukturen und ein stetiger Anstieg der Gemeindeflächen. Mit Beginn des Massentourismus werden neue Bauflächen ausgewiesen, Hotelanlagen und Privathäuser breiten sich auf der Talebene aus. (vgl. Bätzing 2015a)
Landschaftseingriff
Es kommt zu einer großflächigen Überbauung der Landschaft. Wie an (Abb32) zu erkennen, dehnte sich die Siedlungsfläche Pontresina innerhalb von 120 Jahre ungefähr um das Doppelte aus und es entstanden ganze Gemeindeteile, wie St. Moritz Chasellas (Abb31) und Silvaplana Surlej auf zuvor landwirtschaftlich genutzten, mit Maiensäßen und Alpen besetzten Flächen. Nicht nur die entstehenden Gebäude, sondern auch die dadurch benötigte Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur stellen eine Beanspruchung des Bodens dar. Erschließungsstraßen und Wasser- und Energieversorgungen müssen die Grundstücke, die im Verhältnis zum historischen Gemeindekern (Abb33) viel stärker gestreut sind, erreichen (Schatz 1975).
Abb32 Gemeindeentwicklung Pontresina 1900 und 2021
Daneben werden die großflächigen Grundstücke als saubere, hochgepflegte Gärten, mit wenig biologischer Vielfalt ausgebildet, die eine starke Abgrenzung zur umgebenden Landschaft aufzeigen (Abb34). Diese Entwicklungen haben einen hohen Versiegelungsgrad des hochwertigen Bodens, einen starken Eingriff in das Ökosystem und einen extremen Rückgang der einzigartigen, über Jahrhundert gewachsenen Kulturlandschaft zur Folge (Schwick 2010: 7).
Abb31 Gemeindeentwicklung Chasellas 1900 und 2021
Entleerung und Veränderung der Dorfkerne Neben dem starken Landschaftseingriff, löst die Zersiedelung eine zunehmende Entleerung der Dorfkerne aus. Wo früher Dorfplätze, Kirchen, Kreuzungen und Straßen, Orte der Gemeinschaft (vgl. ETHSB 2005: 358,366) mit sozialen Funktionen der Begegnungen, des Austauschs, Marktgeschehens, Viehtreibens etc. waren, sind diese durch die dezentrale Siedlungsstruktur, die in sich gekehrte Architektur der Einzelhäuser und den hohen Zweitwohnungsanteil (Schatz 1975) entkernt und leer. Sie haben ihre öffentliche und gemeinschaftliche Funktion verloren. Diese Entleerung ist besonders in Sils zu beobachten, wo der ZweitwohnungsanteilD bei circa 70% liegt und je Einwohner:in 3,19 warme BettenE gezählt werden (Abb35) (DVS 2021; ESTM AG 2019a) Die Dorfstraße wirkt außerhalb des Saisonbetriebs verlassen und macht durch die in touristische Unterkünfte transformierten historischen Bauernhäuser einen anonymen Eindruck. Sie dient mehr zur Inszenierung eines bäuerlichen Dorfes, als dass sie von einer belebten gemeinschaftlichen Dorfmitte zeugt. Auch die Dorfplätze und Straßen haben in St. Moritz an ihren tradi-
tionellen öffentlichen Funktionen verloren, indem sich das einst kleine Bauerndorf in eine internationale touristische Alpenstadt entwickelt hat. Der ursprüngliche Dorfkern hat sich in eine hochpreisige kommerzielle Einkaufsstraße mit von Sicherheitspersonal bewachten Luxusläden entwickelt.
Der Großteil der neu errichteten Architektur hebt sich durch ihre Gestalt und Anordnung von der historischen Architektur ab. Wo früher, ortsspezifische Baumaterialien und aufwendiges Handwerk spezifische Baukulturen geschaffen haben (Caminada 2004: 22), entstehen moderne Bauten nach städtischen Vorbildern, welche eine Unabhängigkeit zur deren Umwelt aufzeigen (Bätzing, 2015b: 34).
Der Zweitwohnungsmarkt hat zur Folge, dass die Bodenpreise und somit auch die Mietpreise der Gemeinden steigen (Bätzing 2015b: 46). Dies führt dazu, dass einkommensschwächere Einheimische
gezwungen werden, in günstigere Regionen abzuwandern und zahlungskräftige Zuzügler werden durch teure Immobilien angelockt (Bätzing 2015b: 46) Der Mietspiegel ist im Oberengadin vergleichbar mit dem der Metropolen Zürich, Bern, Genf und Lausanne (Schmid 2020)F
Die Immobilien werden zu einem Luxusgut. Diese Entwicklung kommt dem Phänomen der Gentrifizierung im urbanen Raum gleich.
Auch Ende des 21. Jahrhunderts ist noch immer ein starker Anstieg von bis zu 33% der Siedlungsflächen wahrzunehmen (Abb35) Die Entwicklung der einnehmenden Zersiedelung wurde mit der mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung zur Zweitwohnungsinitiative 2012 begrenzt. Diese verhindert den weiteren Bau von Zweitwohnungen innerhalb einer Gemeinde, sobald deren Zweitwohnungsanteil über 20% liegt. (UVEK 2021)
Dies ist in jeder der Gemeinden der Fall (Abb35).
Abb35 Gemeinden in Zahlen
Tourismusarchitektur
warme Betten [Warme Betten je Einwohner:in] [Siedlungs/Landwirtschaftsfläche seit 80er Jahren]
Neben der Zersiedelung durch den Wohnungsbau fördert die touristische Architektur den weiteren Verbau der Landschaft. Das Hotel Kulm war das erste Grand Hotel, das in der Belle-Époque-Phase entstand. Es wurde von Hotelier Johannes Badrutt im Jahre 1864 errichtet und bediente Gäste aus der Oberschicht. In kürzester Zeit entstanden weitere mondäne Hotels, wie Abb36 zeigt. Diese Hotels weisen eine „erstmalige und eigenständige Tourismusarchitektur“ (Bätzing 2015a: 172) auf. Mit dem Einzug dieses Belle-Époque-Tourismus, erfuhr das Oberengadin einen neuen kulturellen Einfluss und auch die Wahrnehmung des Besuchenden der Landschaft erfuhr einen Wandel. Die Berglandschaft wurde zu einem Gemälde, das aus den luxuriösen Hotelanlagen heraus betrachtet werden konnte, ohne sich der „wilden Natur“ aussetzten zu müssen (Bätzing 2015a: 173) Es wurde möglich, den großstädtischen Lebensstil mitten im Hochgebirge zu leben und nebenbei den „Blick auf die Natur“ zu zelebrieren (Bätzing 2015a: 173)
Diese neuartige mondäne Architektur prägt heute besonders stark das Zentrum von St. Moritz und Pontresina. In Maloja, Sils und Silvaplana stehen diese Anlagen in der offenen Landschaft und erzeugen dadurch eine weite Fernwirkung.
Hinzu kommen touristische Infrastrukturen, die durch ihre Präsenz einen starken Einfluss auf die Landschaft haben. Bergstationen, wie Corvatsch, Piz Nair und Diavolezza, sitzen hoch oben auf den Gipfeln der seitlichen Bergflanken und sind von den gegenüberliegenden Hängen, sowie vom Tal-
boden aus sichtbar. Deren Luftseilbahnen strecken sich oberhalb der Gipfel entlang und dominieren mit deren Stützkonstruktion das Bergpanorama. Besonders die Bergstationen und die Luftseilbahnen bewirken durch ihren massiven Konstruktionsaufwand einen weiteren Verlust des hochwertigen Bodens auf alpinen Höhen.
Laut ETH Studio Basel weisen Alpine Resorts „keine andere wichtige ökonomische Funktion auf als den Tourismus“. (ETHSB 2005: 900)
Durch die zunehmend erleichterte Erreichbarkeit des Tals wurde der massive Ausbau des Tourismus- und des Zweitwohnungsmarktes ermöglicht. Das Oberengadin weist eine starke Abhängigkeit vom Tourismus auf, indem 68% der gesamten Bruttowertschöpfung (BWS) des Tals direkt und indirekt durch den Tourismus erzielt wird (Im Vergleich: der Anteil des Tourismus an der gesamten BWS Graubündens liegt bei 29,8%). Mit einer touristischen Wertschöpfung von 826 Mio. CHF ist das Tal somit die touristisch stärkste Region in Graubünden. Neben touristischen Leistungsträgern, die direkt vom Tourismus abhängen (100-80%), wie Tourismusvereinen, das Beherbergungsgewerbe und Bergbahnen, erwirtschaften die Eisenbahn, Unterhaltung/ Kultur/Sport, Gastronomie und der Personenverkehr zwischen 42,8-55,4% seiner Wertschöpfung indirekt durch den Tourismus. (Bühler, Minsch 2004)
Das Oberengadin ist Austräger vieler großer Sportereignisse wie der Olympischen Spiele und der FIS Alpinen Ski Weltmeisterschaften, welche eng an den Wintertourismus gekoppelt sind.
Als ein weiterer wichtiger Markt existiert das Baugewerbe mit 55,4% Abhängigkeit vom Tourismus. Daneben ist die Wertschöpfung des Detailhandels, der Banken und der Abwasser-/Abfallentsorgung zu 33,2-36% abhängig vom Tourismus. (Bühler, Minsch 2004)
Weitere Gewerbe, die in der Region eine hohe Zahl an Arbeitsplätzen stellen (Abb40), sind das Erziehungs-/Unterrichtsgewerbe und das Gesundheitswesen. Neben Primarschulen und Kindergärten, verfügt Samedan über eine Academia Engiadina, welche eine Mittelschule, die Höhere Fachschule für Tourismus Graubünden und Weiterbildungszentrum für Marketing & Digitalisierung, Sprachen, Buchhaltung und Informatik umfasst und trägt mit einem Arbeitsplatzanteil von 8,2% in der Region bei. Das Gesundheitswesen macht einen Anteil an Arbeitsplätzen von 5,9% aus und umfasst neben Apotheken, Arztpraxen, Notfallstellen, das Spital Graubünden in Samedan sowie die privaten Klinikunternehmen Gut St. Moritz und Lyceum Alpinum
Zouz AG. (AWT 2018b)
Landwirtschaft
Unübersehbar ist das Tal von einer landwirtschaftlichen Kulturlandschaft geprägt. Heute macht der Sektor Land-, Forstwirtschaft und Fischerei nur noch 0,8% der Bruttowertschöpfung in Graubünden aus (AWT 2018a) Der Anteil der Arbeitsplätze beträgt 1,95% in der Region Maloja und steht somit an zehnter Stelle (AWT2018b) Unter dem Druck der Globalisierung (s. 4.2.4 Landschaft) und durch die Versiegelung des Bodens (vgl. 4.1.2.4) schwanden die landwirtschaftlich genutzten Flächen der Gemeinden im Oberengadin innerhalb 24 Jahren im Durchschnitt um 74,4% (BFS 2021b).
Die Energieproduktion durch Wasser spielt im Kanton Graubünden eine wichtige Rolle (Schweizerischer Bundesrat, KdK, BPUK, SSV, SGV 2012: 95). Die An-
zahl und das Volumen der Gletscher machen das Oberengadin zu einem wichtigen Wasserlieferanten für Europa (ESTM AG 2019). Im Betrachtungsgebiet befinden sich zwei Wasserkraftwerke entlang der Inn. Arbeitsplätze durch die Energieproduktion werden jedoch nur wenige geschaffen: Der Anteil liegt bei 0,5% der gesamten Arbeitsplätze der Region (AWT 2018b)
Die Erläuterung zeigt, dass das Tal nicht nur räumlich, sondern auch wirtschaftlich stark vom Tourismus geprägt ist. Neben der hohen Beteiligung den der Bruttowertschöpfung, zeigt der Anteil der Arbeitsplätze (Abb40) am Beherbergungs- und Gastronomiegewerbe, die indirekte touristischen Wertschöpfungen der stärkeren Branchen auf. Die Verteilung der Arbeitsplätze zeigt eindeutig, wie abhängig die Region vom Tourismus ist. Es liegt eine eindeutige wirtschaftliche Monostruktur vor.
Das ETH Studio Basel spricht von einer „Überlagerung einer alpinen mit einer städtischen Kultur“
(ETHSB 2005: 900) und beschreibt eine kulturelle Umstrukturierung der postindustriellen Dorfkultur. Zugleich verhindert die „typische Separierung“ der Besuchenden und der Einwohner:innen einen sozialen Austausch und den Kontakt.
Die Entwicklung des städtischen Phänomens der Gentrifizierung (vgl. 4.1.2.4) lässt sich besonders an der schwindenden Zahl der rätoromanisch spre-
chenden Bevölkerung erkennen (s. 4.2.2 Kultur) Die rätoromanisch sprechende Bevölkerung repräsentiert die beheimatete Bevölkerung, welche im Oberengadin bis heute im Vergleich zu 1980 um circa zwei Drittel abgenommen hat (Abb41). Diese Entwicklung ist besonders stark in St. Moritz zu spüren, wo ein starker Wegzug gerade der jungen Bevölkerung wahrzunehmen ist (St. Moritz Gemeinde 2018)
Aufgrund des hohen Mietspiegels und des gleichzeitig hohen Zweitwohnungsanteils, ist davon auszugehen, dass die Zweitwohnungseigentümer:innen aus der Oberschicht stammen. Die soziale Problematik des städtischen Phänomens der Gentrifizierung ist deutlich zu erkennen. Diese bewirkt die Verdrängung der einkommensschwächeren Bevölkerung und schafft eine soziale Ungleichheit (bpb 2018)
Die Tourismusbranche ist ein wichtiger Arbeitgeber im Tal und schafft direkte, sowie indirekte Arbeitsplätze. Vieler dieser Arbeitsstellen sind saisonbedingt zeitlich begrenzt und ziehen durch den attraktiven Wechselkurs des Frankens internationale Arbeitnehmer an. Das Oberengadin zählt neben Schweizern circa 1.500 internationale Saisonarbeitskräfte (St. Moritz Gemeinde 2018: 11). Aus eigener Erfahrung als Saisonarbeitskraft ergibt sich außerhalb der Arbeitszeiten wenig bis keine Kontakte zu Gästen. Besonders durch den Mangel an günstigen Unterkünften, kommen Arbeitskräfte häufig in weniger attraktiven Lagen außerhalb der Zentren unter. Oft werden sogenannte SaisonierHäuser vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt,
die eine klare wohnliche Trennung der Gäste und der Einwohner:innen mit sich bringt.
Bereicherung und Veränderung
Zuzüge von neuen Einwohner:innen bedeutet grundsätzlich eine Bereicherung durch neue Kulturen und Austausch und Kontakte fördern eine soziale Heterogenität. Diese Entwicklung bewirkt eine soziale Umstrukturierung und liefert die Grundlage für eine Überlagerung unterschiedlicher Kulturen. Eine Ansammlung diverser Kulturen und Lebensweisen fördert eine soziale Durchmischung, die so auch in urbanen Regionen aufzufinden ist. Die Nähe der Metropolen durch die verkehrliche Anbindung, durch den Zuzug neuer Einwohner:innen und die internationale Ausrichtung der Gäste bewirkt eine Überlagerung der alpinen Kultur mit der einer städtischen und globalen.
Dies ist besonders durch Angebote und Einrichtungen spürbar, die städtische Strukturen aufweisen und nicht aus ortsbedingten Gegebenheiten entstanden sind. Im Oberengadin lassen sich viele solcher Freizeiteinrichtungen, wie kulturelle Angebote und Aktivitäten finden, wie in 4.1.2.2 beschrieben. Es ist erkennbar, dass die alpine traditionelle Kultur im Oberengadin durch eine städtische und globalisierte Kultur beeinflusst ist.
Die Problematik in dieser Entwicklung besteht im Oberengadin durch das ins Wanken geratene Gleichgewicht. Denn kommt es in Gemeinden zu einem sehr hohen Anteil von Zweitwohnungen
„fühlen sich die Einheimischen in ihrer eigenen
Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer, was zu einer weiteren Verdrängung der Einheimischen führt. Ein Bericht einer Bauernfamilie aus dem Weiler Isola , veranschaulicht diese Zurückdrängung durch den Zweitwohnungsmarkt und den daraus entstehenden Konflikt an den Raumanspruch sehr deutlich (Fam. Cadurisch 2021). Werden dann politische Entscheidungen zugunsten des wirtschaftlichen Wachstums und nicht der soziokulturellen Bedürfnisse getroffen, trägt dies zu einer weiteren Distanzierung der Einheimischen und Zugezogenen bei (Bätzing 2015a: 198).
Räumliche Trennung
Besonders problematisch ist es, wenn eine räumliche Distanz zwischen den Zugezogenen und den Einheimischen zusätzlich besteht. „Bewohner[:innen] St. Moritz beklagen einen schwindenden Zusammenhalt im Dorf. Sie wünscht sich mehr öffentliche Begegnungsorte (für den Austausch unter sich und auch mit Gästen) sowie eine Belebung der Ortsteilzentren vor allem auch in der Nebensaison. Gerade spontanere Begegnungen über Alters-, Standes- und Herkunftsgrenzen hinweg“ sind gewünscht (St. Moritz Gemeinde 2018)
Anteil der rätoromanisch sprechenden Bevölkerung 1980
Anteil der rätoromanisch sprechenden Bevölkerung 2019 Anteil der anderen Sprachen 2019
Anteile der gesprochenen Alltagssprachen im Oberengadin 1980 und 2019
Um den Fortbestand ihres Betriebes, welcher in traditioneller Form und extensiv betrieben wird, zu sichern, soll ein Stall für die Unterbringung des selbst erzeugten Heus errichtet werden. Der ursprüngliche Weiler Isola, erfuhr einen Wandel seiner Funktion und hat sich in ein Feriendorf mit in Zweit- und Ferienwohnung umfunktionierten Ställen entwickelt. Gegen den Bau des Stalles stellen sich Zweitwohnungsbesitzende, mit der Befürchtung, um den „Natur- und Landschaftsschutz“. (Fam. Cadurisch 2021). Ein Widerspruch in sich, wo doch gerade diese Art der traditionellen Bewirtschaftung diese Landschaft entstehen lässt (s. 4.2.4 Landschaft).
Im folgenden Kapitel soll die spezifische Eigenarten der Alpenregionen Oberengadin herausgearbeitet werden. Hierfür werden durch Werner Bätzing beschriebene Elemente verwendet, welche durch lokale und natürliche Bedingungen die Region charakterisieren. Zusätzlich wird die Sichtweise von Lefebvre auf die Entstehung von Eigenarten betrachtet.
Definition des Begriffs Eigenart
Nach Bätzing entstehen die Eigenarten der Alpen durch ortsgegebene Bedingungen und alpenspezifische Ressourcen. Besonders die Abgeschiedenheit, die herrschenden Naturdynamiken und die Abhängigkeit vom Boden brachte in der Vergangenheit eine Vielzahl von kleinräumigen und vielfältigen Kulturen hervor. Die hohe Abhängigkeit zum Boden setzte einen verantwortungsvollen Umgang mit der dynamischen Umwelt voraus. Folglich bildeten sich hinsichtlich Lebens- und Wirtschaftsformen ortsspezifische Eigenarten. (Bätzing 2015b: 17ff)
Die industrielle Revolution und deren Forderung nach Intensivierung und Optimierung der Prozesse, bewirke folglich die Verdrängung der traditionellen Eigenart (Bätzing 2015b: 22) Die „Verwilderung“, welche nach Bätzing die schrittweise Aufgabe der kleinräumigen Wirtschaftsweisen und die Verstädterung der Alpen schildert, ist als Verlust wahrzunehmen (Bätzing 2015b: 25f).
Folglich ist für Bätzing die Eigenart eine spezifische Entwicklung, die aus dem Nutzen eines endogenen Potenzials, also von innen heraus, hervorgebracht wird.
Auch Henri Lefebvre, welcher das Theoriegerüst des ETH Studio Basels bildet, beschreibt die Entstehung von Eigenarten aus natürlichen und lokalen Bedingungen. Diese entwickeln sich aus dem Ruralen. Er schreibt zudem den Eigenarten eine starke Isolation zu und, indem sie Verschiedenheiten aufweisen, konkurrieren sie sich gegeneinander. (Schmid 2005: 276; Schmid 2005b: 167)
Im Folgenden werden Eigenschaften analysiert, die zu einer solchen Eigenart führen.
Bätzing beschreibt die Abgeschiedenheit und die Autonomie der Alpenregionen als wichtige Faktoren, die zu einer Eigenart führen (Bätzing 2015b: 30f)
Die Schweiz ist durch eine zellulare Ordnung, die ihre Struktur im Mittelalter findet, bestimmt. Wo zuvor das Römische Reich das Land durch Grenzen gliederte und eine Abhängigkeit vom Land zur Stadt schafft, wird im Mittelalter eine Netzstruktur
geschaffen, die durch agrarische Produktion und ein Nebeneinander entsteht. Die Stadt-Land-Abhängigkeit wird schwächer. Dadurch entstehen selbstständige Entwicklungen und eine Stärkung der einzelnen Gemeinden von innen heraus. (ETHSB 2005: 308ff)
Der Föderalismus bildet eine territoriale Aufteilung in Form von Kantonen aus, dennoch bleibt die zellulare Struktur bestehen. Daraus entsteht eine Machtstruktur, welche nicht von Oben, sondern von innen heraus besteht. Die Kantone bestehen somit aus dem Gefüge der Gemeinden. (ETHSB 2005: 256,302)
Besonders alpine Dörfer zeugen von einer starken Autonomie und einem hohen Grad an Selbstversorgung. Durch die starke Abgelegenheit entwickeln sich gemeinschaftliche Arbeits- und Nutzungskooperationen, wie zum Beispiel die gemeinschaftliche Beweidung der Sömmerungsflächen durch das Vieh. (ETHSB 2005: 336; vgl. Knap 2006: 16, Caminada 2018: 16)
Die Ausbildung des konzentrierten Bauerndorfes, welches die Bauernhäuser entlang von Straßen und Kreuzungen zusammenschiebt, schafft das Bild des noch heute aufzufindenden archetypischen Bauerndorfes. Dieses „zeugt von einer bäuerlichen Energie und einer Autonomie der Dorfgemeinschaft“ (ETHSB 2005: 302) sowie einer gemeinschaftlichen Bewirtschaftung des umgebenden Landes. Daneben bildet die gebaute Kirche die Identität des Dorfes. Die Dörfer grenzen sich durch die gemeinschaftlichen kompakten Dorfstrukturen - die gebauten Dorfkerne nach Außen ab und sind „der Ausdruck einer Verzah-
nung zwischen Boden und Bedeutung“. (ETHSB 2005: 280,302,358ff)
Durch die Entwicklung zu einer wirtschaftlichen Tourismusmonostruktur haben die Gemeinden ihre Autonomie und Unabhängigkeit hinsichtlich der Selbstversorgung verloren.
Die Abbildung (Abb44) stellt eine einfache Einordnung der einzelnen Gemeinde im Oberenga-
din anhand deren heutigen Charakteristika dar. Die Einordnung folgt nach eigener Interpretation, wobei die Erkenntnisse der Analyse aus Kapitel 4.1 einfließen. Die Gemeinden haben sich teilweise zu städtischen und touristischen, temporär bewohnten Gemeinden entwickelt, andere weisen mehr Elemente einer bäuerlichen Dorfstruktur und konstantere Wohnstrukturen auf.
Abb44 Heutige Charakteristika der Gemeinden nach eigener Interpretation
bewohnt, konstant
Silvaplana Surlej
touristisch, temporär
Abb43 Gemeinden des Oberengadins Sils i.E. Silvaplana St. Moritz Celerina Samedan Samedan Pontresina Maloja BregagliaWirtschaft
„Das zentrale Charakteristikum der traditionellen Wirtschaft im Alpenraum bestand darin, dass Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen alpenspezifische Ressourcen nutzten und vermarkteten“ (Bätzing 2015b: 28).
der Erreichbarkeit hat sich verändert, das Interesse am Oberengadin als Freizeitort hat sich vergrößert, der Bedarf an Arbeitskräften hat sich erhöht
(vgl. 4.1) Dadurch kommt es zu einem Zuzug von neuen Einwohner:innen, was wiederum eine Heterogenität in der sozialen Struktur der Bevölkerung erzeugt und somit eine Bereicherung von diversen Kulturen bedeutet.
2019
Dadurch entstanden unterschiedlichste und vielfältige Kulturen in den Alpen. Ortsabhängige Umstände, individuelle Vorstellungen und Intensität bestimmten die Art des Wirtschaftens. Das Wirtschaften, die Produktion von Lebensmitteln, das Handwerk und das eng verbundene und an Naturdynamik angepasste Leben formt die Kultur der Alpenbewohner:innen. (Bätzing 2015b: 27ff)
Topografische Bedingungen
Von großer Bedeutung für die vielfältige Ausformung von Kulturen sind nicht politische Grenzen, sondern ist die Topografie, welche Ströme von tief greifenden Veränderungen, wie Kriegen, Krankheiten, religiösen Bewegungen, Flüchtlingsströmen etc. leiten. Sie wirken sich auf jedes Tal in unterschiedlichem Maße aus. Das starke Relief leitet solche Strömungen in die Täler, hindert diese durch unbezwingbare Gebirgshöhen oder leitet sie um. Die Alpen kennzeichnen sich nicht durch eine alpine Kultur aus, sondern jedes Tal weist unterschiedliche und eigene Bräuche, Essenskulturen, Traditionen, Bauweisen etc. auf (Abb46)
Es zeigt sich, dass auch im Oberengadin eine Kultur vorliegt, die sich zu ihren Nebentälern aufgrund spezifischer Bedingungen unterscheidet. Es liegt
eine besondere Baukultur vor, wie es die Engadiner Häuser mit aufwendig in den Putz geritzten ‘Sgraffito‘ zeigen und die Maiensäße, die sich je Region in ihrer Bauweise oder den Baumaterialien unterscheiden. Traditionen und Bräuche, wie Chalandamarz, ein von den Dorfkindern im Frühjahr gestalteten Umzug zum Vertreiben des Winters (Graubünden 2021c) landwirtschaftliche Produkte, wie Alpkäse, Bündnerfleisch und Engadiner Nusstorte und spezielle Viehzüchtungen wie das Engadiner Schaf (ESTM AG 2021h) schaffen traditionelle Identitäten.
Wandel
Neben der Entstehung von Kulturen durch spezifische Umweltbedingungen (Bätzing 2015b: 29), die naturgegeben sind, werden Kulturen gleichzeitig auch von politischen, gesellschaftlichen und sozialen Strömungen beeinflusst (Bätzing 2015b: 29). Das heißt, Kulturen weisen keine starre Ausprägung auf, sondern sind stetig vom Wandel betroffen. Wie in Kapitel 4.1.2.6 beschrieben, findet auch ein Wandel dieser bäuerlichen Kultur statt. Die Kultur unterliegt neuen Bedingungen, welche nicht unbedingt mehr umweltbedingt sind, aber dennoch politisch und gesellschaftlich wirken. Die Situation
Sprache
Neben den drei Sprachräumen der Schweiz, die sich wie ein doppelter Grenzraum durch das Land ziehen und Territorien mit unsichtbaren Grenzen bilden (ETHSB 2005: 297,260), zählt das einzig in Graubünden verbreitete Rätoromanisch, welches als Sprachenrelikt der Romanisierung erhalten geblieben ist (ESTM AG 2021f), seit 1996 als vierte Amtssprache des Landes (Graubünden 2021a) Neben den starken kulturellen Einflüssen der angrenzenden Sprachräume, welche unterschiedliche Kulturen innerhalb der Schweiz hervorgebracht haben, weist auch das Verbreitungsgebiet des Rätoromanisch eine einzigartige kulturelle Eigenart auf.
Die romanischen Idiome Graubündens zeigen die Verbreitung der spezifischen Kulturen nach topografischen Bedingungen sehr anschaulich(Abb46).
Talrichtungen, topografische Grenzen und Abgeschiedenheiten formen unterschiedliche Idiome des Bündnerromanisch (Graubünden 2021b)
Das im Oberengadin gesprochene romanische Idiom Puter zählt als Alltagssprache der Einheimischen. In Maloja, welches vor dem Einzug des Bade- und Alpentourismus als Sommersäße der Bauern des italienisch sprechenden 815m tieferliegenden Bergells genutzt wurde (ESTM AG 2021g),
Abb45 Spezifische Bedingungen = individuelle Kulturen Abb46 Traditionelle Sprachregion Graubünden Vallader Italienisch Puter Sursilvan Sutsilvan Surmiran Abb47 Engadiner Haus mit ‘Sgraffito‘zählt Italienisch als Alltagssprache. Ebenso im topografisch nach Italien ausgerichtete Tal Puschlav, wird Italienisch als Alltagssprache gesprochen. Die rätoromanischen Sprachkulturen sind Bestandteil der Herkunft und schaffen Identitäten (Kraas 2001: 421). Sie sind durch historische Flurnamen (in der Schweiz: Lokalnamen) sowie im Alltag vor Ort spürbar erkennbar (Abb49). Der Versuch, die Idiome in den 80er Jahren zu einer Schriftsprache, dem Rumantsch Grischun zusammen zu fassen, führen zu emotionalen Diskussionen der romanisch sprechenden Bevölkerung, die diese Vereinfachung ablehnen, da sie ihr Idiom als gefährdet sehen. Dies zeigt eine emotionale Verbundenheit mit den individuell entwickelten Idiomen. (Chistell 2016)
Durch das Schwinden der Alltagssprachen Romanisch und Italienisch und auch die Verdrängung durch die deutsche Sprache, werden in einigen Schulen, deren Gemeindesprache zweisprachig ist, neben Deutsch auch die Mundsprache unterrichtet, wie in Celerina, Samedan, Pontresina (dt.rom.) und Maloja (dt.-ital.) (AVS 2021)
Im angrenzenden, aber durch topografische Bedingungen räumlich getrennten Bergell sowie Puschlav wird hauptsächlich italienisch gesprochen, was von einem starken Einfluss der italienischen Kultur zeugt. Im angrenzenden Unterengadin wird das Idiom Vallader gesprochen, was auch wieder aufzeigt, dass die Täler durch ihre spezifischen Bedingungen individuelle Kulturen hervorrufen, die spezielle Bräuche, Wirtschaftsformen und Sprachen hervorbringen.
Abb49 Rätoromanisch im Alltagsraum
4.2.3 Naturdynamik den besiedelt und als Terrassenacker bewirtschaftet. (ALG 2016, 13)
Bätzing spricht von spezifischen Umweltbedingungen (Bätzing 2015b: 29) welche die Eigenart der Täler mit ihren Lebens- und Wirtschaftskulturen bestimmen.
Klima
Das alpine Klima im 1800 Meter hoch gelegenen Oberengadin sorgt für kurze Vegetationsperioden und lange Winter. Das Hochgebirgsklima zählt im Durchschnitt 260 Tage, an denen die Temperatur mindestens einmal unter den Gefrierpunkt fällt. Das Tal ist eine niederschlagsarme Region. (ALG 2016: 8)
Prognosen sagen für Ende dieses Jahrhunderts einen Niederschlagsrückgang von ca. 8% und einen Anstieg der Durchschnittstemperatur um ca.
3,2°C voraus (GKG 2021: Themenkarte BAFU: Wald im Klimawandel; Remund et al. 2016) Somit werden die Sommer im Oberengadin länger und trockener, die Winter kürzer und Vegetations- und Habitatszonen werden sich nach oben verschieben (GKG 2021, Themenkarte: Wald).
Flusslandschaft
Der Inn und dessen Seitenarm Flaz formten mit deren natürlichen Dynamiken den Talboden in eine vielfältige Oberflächenformung aus und schafften so eine dynamische Talbodenlandschaft aus Stillgewässern, Schwemmebenen und Schwemmkegeln. Durch das flache Gefälle der Flüsse (ca. 3%) ist der Talboden oft von Hochwasser betroffen, was eine landwirtschaftliche Nutzung lange ausschloss. Daher wurden die höher gelegenen Bö-
Erst nach Begradigungsmaßnahmen der Flüsse und Befestigungen der Seeufer konnte der Talboden stärker besiedelt und landwirtschaftlich genutzt werden (Pro Lej da Sgl 2021; Bätzing 2015b: 19)
In den letzten Jahrzehnten wurden Abschnitte der Inn und der Flaz wieder renaturiert, um die Anzahl der wenig gebliebenen Schwemmflächen zu erhöhen (ALG 2016: 13) Auch der Berninabach formt breite Flussbette im Berninatal aus, wobei Uferabschnitte für den Schienen- und den Straßenbau verändert wurden.
Dämpfung der Naturdynamiken
Hangneigungen von über 30° bergen ein hohes Risiko von Schneelawinen und Geröllstürzen. In Kombination mit Wasserläufen besteht zudem ein hohes Risiko an Hangmuren und Murgängen, die als ein Gemisch aus Wasser und Feststoffen ins Tal hinabgleiten. Die kristalline Gebirgslandschaft begünstigt diese Ereignisse (GKG 2021, Themenkarte: Naturgefahren)
Wie Bätzing beschreibt, spielt in der traditionellen Bauerngesellschaft eine Dämpfung der Naturdynamiken eine essenzielle Rolle: so wurden sehr steile Hänge bewaldet gelassen, Lawinen- und Steinschlaggebiete wurden gemieden, die Nutzung wurde je nach Bedingungen kleinräumig gestaltet, ein ausgeglichenes Maß an Nutzung stellt die Sicherung eines fruchtbaren Bodens her und Flächen wurden aufwendig gepflegt und stabilisiert. (Bätzing 2015b: 20f).
Das heutige Pontresina setzt sich aus drei Dorfteilen zusammen, die den Gefahrenbereich von
Bebauung freihielten. Dies zeigt, dass sich die vorindustrielle Gesellschaft des Oberengadins mit ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise ganz speziell an diese herrschende Naturdynamiken angepasst hat. Neben kleinflächigem Getreideanbau wurde aufgrund überwiegend steilen Bodenneigungen von über 25% hauptsächlich Vieh gehalten und somit die nährreichen Flächen für Jung- und Großtier beweidet. (GKG 2021, Themenkarte: Bodenneigung) Ende des 19. Jh. bis ca. 1900 wurden in der Gefahrenzone Pontresina Hotelanlagen errichtet. Aufgrund dieser Bebauung und der zusätzlichen Gefahr durch starkes Permafrost-Schmelzen sind heute an der gesamten Bergflanke aufwendige Lawinensicherungen installiert. (Schweizer Gemeindeverband, 2015).
Obwohl der Mensch durch Technik die meisten Naturdynamiken scheinbar unter Kontrolle hat, indem er Flüsse begradigen, Lawinensprengungen vornehmen, Berghänge topografisch verändern und ganze Wasserkreisläufe zu seinem Vorteil verändern kann, stellen die Naturdynamiken den Menschen aufgrund von Kimaveränderungen (BAFU 2017) und gerade diesen mechanischen Veränderungen, immer wieder vor neue Herausforderungen (Bätzing 2015b: 24) So kommt es, dass durch vorher beschrieben Szenarien auch heute der Mensch noch mit Naturdynamiken leben und wirtschaften muss, auch wenn dies mit Hilfe hochmoderner Technik in weniger eingeschränkter Art und Weise passiert.
4.2.4 Landschaft schaft aus einer Bewirtschaftung auf drei Ebenen. Im Frühling werden die Tiere auf höhere Berglagen getrieben, um von dort aus im Sommer auf die Alpen geschickt zu werden. Im Herbst, wenn der erste Schnee fällt, werden die Tierherden wieder auf die zweite Stufe getrieben, bevor die Wintermonate im Dorf verbracht werden.
südexponierten Hänge sind Offenland, während die nordexponierten Hänge stark durch Lärchen und Arven bewaldet sind (AER 2011)
Traditionelle Kulturlandschaft
Durch die bäuerliche Kultivierung des Landes erschuf der Mensch aus einem zuvor dichten artenarmen bewaldeten Hochgebirge eine einzigartige Alpenlandschaft. Die Kulturlandschaft zeugt durch ein Wechselspiel aus Offenland und Wäldern von kleinräumigen und vielfältigen Strukturen. Die bäuerliche Kulturlandschaft hatte zwischen 1850 und 1880 ihren Höhepunkt. In dieser Zeit wurden alle Vegetationsflächen in irgendeiner Weise genutzt. Es entstehen kleinräumige, vielfältige und artenreiche Landschaften, welche vom Menschen ökologisch tief greifend verändert und unter ortgegebenen Bedingungen, individuellen Methoden und Bearbeitungsintensitäten kultiviert wurden.
(Bätzing 2015b: 17ff)
Die traditionelle bäuerliche Bewirtschaftung der alpinen Landschaft verleiht auch der in den Inneralpen hoch gelegenen Berglandschaft des Oberengadin kulturlandwirtschaftliche Strukturen.
Die Bewirtschaftung des Landes durch die Methode der Dreifelderwirtschaft rückt die Bauernhäuser zusammen und strukturiert sie entlang der Hauptwege. Dadurch entsteht das Bild des archetypischen Bauerndorfes als strukturgebendes beständiges Element in der umgebenden Landschaft. Das umgebende Land wird gemeinschaftlich bewirtschaftet. (ETHSB 2005: 358)
Durch die kurzen Vegetationsphasen auf den Höhen der Gebirge versteht sich die Dreifelderwirt-
Veränderung durch Aufgabe
Durch diese 3-Stufen-Wirtschaft (teilweise lässt das starke Relief nur zwei Stufen zu), entstehen oberhalb der Bauerndörfer Sömmerungsflächen in Form von offenen Weideflächen und lichten Weidewäldern für Rinder, Schafe und Ziegen. Weiler und in die Landschaft verstreute Ställe, die Maiensäße (‘Maisitz‘), dienen als Unterkünfte für die Viehtreiber sowie für die Lagerung von Futter und Produkterzeugnissen. (Knab 2006: 9f)
Diese einzigartigen Strukturen sind im südlichen Betrachtungsgebiet deutlich ablesbar (Abb50) und lassen sich als Alpen und Maiensäße im Tal Fex, Val Roseg und als Weiler Grevasalvas, Blaunca und Isola finden [1]. Zwischen Samedan und Celerina lassen sich terrassenförmige Landnutzungsstrukturen finden, die als Ackerterrassen genutzt wurden [2]. Insgesamt enthält das Oberengadin noch 27 landwirtschaftliche Betriebe mit 23 Alpen und 9 Allmenden (ALG 2016: 6,8).
Diese Strukturen der dicht an die Hauptwege gedrängten Häuser sind größtenteils in allen Dorfmitten der Gemeinden vorhanden. Besonders in Pontresina und Sils lässt sich die lineare Anordnung entlang der Hauptstraße erkennen.
Die tendenziell an den sonnigen südexponierten Hängen gerodeten Waldflächen (Bätzing 2015b: 19) lassen sich auch im Oberengadin erkennen. Die
Die Industrialisierung erfordert in der Landwirtschaft, sowie in vielen weiteren Bereichen, die Intensivierung aller Prozesse. Da die bäuerliche Kulturlandschaft von einer kleinräumigen Struktur (bedingt durch Topografie, Klima etc.) geprägt ist, wurden viele traditionelle Nutzungen mit der Zeit aufgegeben, da diese wirtschaftlich nicht mehr rentabel waren. (Bätzing 2015b: 22)
Die abnehmende Bewirtschaftungsbereitschaft sowie kapitalistische Sachzwänge lassen die kleinräumigen Landwirtschaftsflächen im Oberengadin teilweise verschwinden und die Landschaft verändert sich.
Vielfältige kleinräumige Strukturen gehen auf der Talebene verloren indem sie durch großflächige Landwirtschaft [3 verdrängt wird. Offene Flächen verbuschen durch Aufgabe [4] und werden wie die lichten Weidewälder schlussendlich vollständig bewaldet sein. (Bätzing 2015b: 22f; ALG 2016: 16)
Bäuerliche Kulturlandschaften wie die Maiensäße oberhalb Champfér sind durch die Erweiterung von Siedlungsflächen verschwunden 5]. Auch die flächeneinnehmenden Skigebiete lassen durch die Umnutzung der Alpen in Bergstationen- und Gastronomien, die massiven baulichen Eingriffe und deren ökologisch fatalen Folgen kaum mehr eine Bewirtschaftung der Flächen im Sommer zu und verdrängen die vielfältigen Strukturen [6].
Die sich aneinanderreihenden Stillgewässer entlang des lang gestreckten Talbodens und ihrem hydrologischen Einzugsgebiet bilden mit der kontrastreichen Topografie einen zentralen Landschaftscharakter des Oberengadins (SLS 2014)
Die Seenlandschaft wurde im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) aufgenommen und steht damit unter Schutz, um die Vielfalt und Eigenart der nationalen Landschaften zu bewahren (BAFU 2021). Die Seenlandschaft und das stark ansteigende Relief der erschwert zugänglichen Gebirgslandschaft sorgen dafür, dass sich die Siedlungsflächen entlang der Uferkanten entwickeln und sich kompakt auf den Talböden ausbreiten. Hier herrscht zudem
Sömmerungsflächen mit Maiensäße und Allmenden
Verdrängte Sömmerungsflächen durch Zersiedelung
Verbuschung
eine hohe Dichte an Verkehr- und Versorgungsinfrastruktur, sowie Gewerbeflächen (Abb52)
In Fällen, wo der Siedlungsdruck hoch ist und es günstige Hanglagen zulassen, werden, wie in St. Moritz (Abb53) sowie östlich von Champférs, sonnenexponierte, waldfreie Hänge besiedelt.
Entlang der südlichen Seeufer treffen die LärchenArven-Wälder bis an die Wasserkante, entlang der nördlichen Seeufer treffen Siedlungsflächen und offene Landschaften, die größtenteils für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden an die Ufer heran und werden zudem von Straßen begleitet. Es lässt sich an der Landschaft eine intensiv genutzte und frequentierte Südseite und eine stark durch Vegetation dominierte Nordseite der Ufer sowie der Bergflanken ablesen.
Tourismusarchitektur, wie Grand Hotels und Seilbahnen, sowie breit ausgedehnte Siedlungsflächen (vgl. 4.1.2) bilden weitere Elemente der Landschaft.
Es wird deutlich, dass die Landschaft stetig von einem Wandel betroffen ist, welcher sich an den kulturellen Bedürfnissen der Menschen ausrichtet (Schöbel 2011: 50ff). Wo die Landschaft zuvor zum Zweck der Versorgung verändert wurde, wird sie heute als Erholungslandschaft besiedelt und beansprucht.
Abb51 Verkehrsinfrastruktur und Bebaute Gebiete entlang der Talböden und Seenufer in Silvaplanca Abb52 Ausbreitung der Siedlungsflächen auf Talebene und Pisten- und Liftschneisen in den Wäldern und im Offenland in CelerinaGefahr des Verlustes, Eigenart als Dienstleister und Positionen der Akteure
Das Oberengadin ist von einer einzigartigen Eigenart bestimmt, wie das Kapitel 4.2 aufzeigt. Diese traditionelle Eigenart schafft Identität der Einheimischen. Das Tal erlebt mit Beginn des modernen Alpentourismus Ende des 19. Jahrhunderts jedoch einen fundamentalen Wandel in der Funktion als Gebirgslandschaft. Von einer im Abseits gelegenen durch eine bäuerlich traditionelle bewirtschaftete Versorgungslandschaft entwickelt es sich zu einer Erholungs- und Erlebnislandschaft. Das Tal ist stark von einem Urbanisierungsprozess beeinflusst, wie in Kapitel 4.1 beschrieben.
gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. (vgl. 4.2.2)
Spezielle Umweltbedingungen prägen die Bewohnenden in ihrer Lebens- und Wirtschaftsform. Das starke Relief ist dafür maßgeblich, sowie die sprunghafte Naturdynamik, welche die Bewohnenden nötigt, ihre Lebens- und Wirtschaftskultur anzupassen, um ein langfristig nachhaltiges Leben zu erzielen. Die Naturdynamiken haben sich durch den Klimawandel und den starken mechanischen Eingriffen der Menschen verändert, wodurch diese den Menschen immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. (vgl. 4.2.3)
Infrastruktur, welche jene der Stadt gleicht, aufweist. Neben Freizeit-, Kultur- und Versorgungsinfrastruktur weisen das Tal sowie das Hochgebirge einen hohen Grad an Erschließung auf. (vgl. 4.1.2.1)
Loslösung der Abhängigkeit vom Boden
Die zellulare Ordnung bewirkt eine starke Autonomie der Gemeinden. Das Bild der Dörfer verfestigt sich durch die gebaute Dorfmitte mit dicht aneinander gedrängten Häusern und der Kirche. Die Tourismusindustrie bewirkt eine zunehmende Abhängigkeit der Kaufkraft der Touristen von außen und schwächt somit die Autonomie der einzelnen Gemeinden. Sie bewirkt zudem eine unterschiedlich stark ausgeprägte urbane Entwicklung der einzelnen Gemeinden, welche sich in Struktur und Charakteristika widerspiegeln. (vgl. 4.2.1)
Eine eigene Kultur, die sich aus spezifischen Umweltbedingungen und gesellschaftlichen und politischen Bedingungen entwickelt hat, führt zu einer unverwechselbaren Eigenart. Diese bringt in der vorindustriellen Gesellschaft spezielle Produkte, Bauten, Bräuche und Sprachen hervor. Auch heute verändert sich die Kultur unter sich verändernden
Die Landschaft zeugt von einer hoch spezialisierten bäuerlichen Bewirtschaftung und ergibt ein Mosaik aus einer einzigartig vielfältigen und kleinräumigen Kulturlandschaft, dichten Waldflächen und alpenspezifischer Vegetation innerhalb eines starken Reliefs. Besonders die Seitentäler zeigen noch einen hohen Erhaltungsgrad dieser bäuerlichen Strukturen. Daneben dominieren Elemente der Tourismusindustrie, wie mondäne Grand Hotels, Luftseilbahnen, sowie deren Bergstationen und gerodete Pistenschneisen die Landschaft. Entlang der Oberengadiner Seenlandschaft drängen sich auf dem flach ausgeprägten Talboden die expandierten Gemeindeflächen, Verkehrsinfrastruktur und Gewerbeflächen. (vgl. 4.2.4)
Die Annahme des ETH Studio Basel, die gesamte Schweiz und somit auch das Oberengadin als Alpines Resorts, sei von einem Urbanisierungsprozess betroffen, wurde in der Analyse im Kapitel 4.2 bestätigt. Hier wurde aufgezeigt, dass das Tal eine starke
Ein starker Anstieg des Bodenpreises bewirkt eine starke Zersiedelung der Siedlungsflächen. Der hohe Anteil an Zweitwohnungen in den Gemeinden von bis zu 73,6%, der Ausbau von Verkehrund Versorgungsinfrastruktur und der Bau von Hotels und Ferienwohnungen führen zu einem hohen Versiegelungsgrad des Bodens. Durch die weniger dicht ausgewiesenen Bebauungszonen kommt es zu einer Entleerung und zur Zweckentfremdung der Dorfkerne. Das Phänomen der Gentrifizierung führt zur Verdrängung weniger zahlungsfähigen Einheimischen und zum Zuzug von reichen Zweitwohnungsbesitzenden, welche sich nur wenige Monate im Jahr vor Ort aufhalten. Zudem nimmt touristische Architektur, wie die Grand Hotels und die touristische Infrastruktur eine starke Präsenz in der Landschaft ein und verursacht einen Verbau der alpinen Landschaft. (vgl. 4.1.2.4) Das Oberengadin weist eine wirtschaftliche Monostruktur auf, indem 68% der gesamten Bruttowertschöpfung des Tals direkt und indirekt durch den Tourismus erzielt wird. Weitere wichtige Branchen, welche eine hohe Wertschöpfung erzielen, sind die Baubranche und der Detailhandel. Deren Wertschöpfung ist jedoch wiederum bis zu 55% vom Tourismus abhängig. Die Landwirtschaft hat an wirtschaftlicher Bedeutung stark abgenommen und stellt nur noch circa 2% der Arbeitsplätze des Oberengadins. Daneben stellen das Gesundheitswesen und die Erziehung weitere Arbeitsplätze.
(vgl. 4.1.2.5)
Durch die oben beschriebenen Prozesse kommt es im Tal zu einer Überlagerung der alpinen mit einer städtischen Kultur. Durch den vermehrten Zuzug von neuen Einwohner:innen und die dadurch entstehende Veränderung der Gesellschaftsstruktur, wird eine soziale Umstrukturierung ausgelöst. Die gute Arbeitsmarktsituation, welche die Tourismusindustrie mit sich bringt, führt zu weiteren Zuzügen aus dem nationalen, sowie internationalen Raum. Dies bedeutet einerseits eine Bereicherung durch internationale kulturelle Einflüsse und fördert eine soziale Heterogenität. Andererseits jedoch führt die Gentrifizierung zu einem starken Ungleichgewicht zwischen arm und reich, sowie zu sozialen und politischen Spannungen. Der Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung schwindet und es kommt zu einer räumlichen Trennung der Besuchenden und der Bevölkerung. (vgl. 4.1.2.6)
Die Landschaft ist ein Produkt einer Bearbeitung des Landes, bestimmt durch soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie unterliegt somit einem permanenten kulturell bedingten Wandel.
(Schöbel 2011)
Dieser Wandel kann auch im Oberengadin beobachtet werden. Kapitalistische Sachzwänge lassen den landwirtschaftlichen Nutzen abnehmen, dafür wird die Tourismusindustrie ausgebaut. Es folgt eine Loslösung der Abhängigkeit vom Boden, indem durch hoch spezialisierte Technik (Schneemaschinen, Dünger, Wasserspeicher etc.) eine stetige Unabhängigkeit von Naturdynamiken (vgl. 4.1.2.5) geschaffen wird. Die vorindustrielle Gesellschaft war interessiert an einer „ökologischen Stabilisierung der veränderten Natur“ und pflegte eine „starke Umweltverantwortung“ (Bätzing 2015b, 30), da diese die essenzielle Lebens- und Wirtschaftsgrundlage schafft. Die Loslösung der Abhängigkeit hingegen führt zu einem geringeren Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Boden. Dadurch kommt es zu einem weniger nachhaltigen Umgang mit der alpinen Ressource, was eine langfristige Zerstörung dieser bedeutet.
Diese Entwicklung ist an dem massiven Verbau der Landschaft im Oberengadin abzulesen (vgl. 4.1.2.4), sowie an der Entwicklung zu einem global ausgerichteten Wachstums- und Erlebnistourismus (Grossenbacher 2018: 3).
Das Loslösen bewirkt eine Austauschbarkeit der Gebirgslandschaft, durch eine Reduktion als Hintergrundkulisse, in der die eigene Körpererfahrung und nicht das Erfahren des eigentlichen Raumes im Vordergrund steht (Bätzing 2015: 177)
Dies ist der Grund für die Entstehung solcher Freizeit- und Erlebnisorte, sogenannte ‘Funparks‘ (Grossenbacher 2018), welche ihr Angebot nicht aus ortsgebunden Gegebenheiten entwickeln, sondern diese nach aktuellen globalen Trends richten (vgl. 4.1.1)
Der Zweitwohnungsmarkt ist ein globaler Markt, wodurch er sich hinsichtlich Funktion, Anspruch und architektonischer Sprache meist an städtischen Vorbildern orientiert und somit ortsungebunden wird. (Bätzing 2015b: 33)
Der Tourismus mit all seinen Facetten entzieht sich somit immer stärker der Abhängigkeit der „Naturund Kulturlandschaft der Alpen“ (Bätzing 2015b: 33)
Soziale Verluste und Ansprüche an den Raum Die Veränderung der Struktur der Bevölkerung (vgl. 4.1.2.6) bewirkt eine Veränderung des Anspruchs an den Ort: Die Landschaft diente dem Alltagsleben und der Bedarfswirtschaft, indem die Landschaft mit jenen Vorstellungen genutzt wurde, die zur Versorgung der Bevölkerung diente. Gleichzeitig wurde sie gepflegt, um einen langfristigen Nutzen zu erzielen. Die Dörfer zeugten von einer gemeinschaftlichen Kooperation, wo zentrale Plätze und Straßenzüge die Funktion von öffentlichem Raum für Austausch und Zusammentreffen übernahmen. Heute ist durch einen großen Anteil von temporären Zweitwohnungen, die im Durchschnitt nur we-
nige Monate im Jahr bewohnt werden (Schatz 1975) und eine hohe Anzahl von saisonalen Gästen, eine Anonymität entstanden - das Bewusstsein über eine gemeinschaftliche Lebens- und Wirtschaftsweise hat stark abgenommen.
Heute liegt der Anspruch an den Ort, als Erholungs- und Abenteuerlandschaft zu dienen. Der Gast fordert die Erfüllung von Erwartungen und verlangt nach authentischen Erlebnissen und Eindrücken, die durch Vermarktung wie „so schmeckt das Oberengadin“ und „wir haben alles auf Lager in unserem Ferienshop Engadin“(ESTM 2021b) entstehen. So werden „klischeebehaftete Landschaftsbilder“ produziert (Schmölz, Somoza Medina 2020: 105) und von Gästen und Zweitwohnungsbesitzenden erwartet und konsumiert. Die Anforderungen an den Raum haben sich somit von der Erfüllung sozialer Bedürfnisse der Alltagswelt, hin zu einer Erfüllung von künstlich optimierten erlebnis- und erholungsorientierten Bedürfnissen der Tourismuswelt entwickelt.
Bevölkerung als Dienstleister
Diese Entwicklung birgt die Gefahr, dass auch die Bevölkerung der Alpen zu reinen Dienstleister des Tourismus werden.
Denn das Loslösen der Abhängigkeit vom Boden und die große Abhängigkeit vom Tourismus, veranlasst die Bevölkerung zunehmend ihre Umwelt und ihren Alltag nach den Interessen und Erwartungen der Besuchenden zu gestalten. Die Lebensqualität und Bedürfnisse der Bewohnenden werden den Bedürfnissen der Besuchenden untergeordnet (‘Der Kunde ist König‘). (Bätzing 2015a: 200)
Die Landschaft, die Kultur und die Bräuche werden
für den Besuchenden inszeniert, während immer weniger Bewohner einen ursprünglichen und direkten Bezug zu diesen Dingen haben. Dorfmitten werden zweckentfremdet, indem sie als bildhafte Kulisse ‘konserviert‘ werden und nicht mehr dem eigentlichen Zweck, des öffentlichen gemeinschaftlichen Raumes, dienen. Diese „Inszenierung von Alpenkultur“ führt zu einer „kulturellen Verunsicherung“ (Bätzing 2015a: 366), denn, „wenn traditionelle Bräuche und Feste nur noch für die Gäste inszeniert werden [verlieren] sie auf diese Weise ihren Sinn und ihre Würde“ (Bätzing 2015a: 200).
Es findet eine zunehmende Entfremdung der Bevölkerung zu ihrem Lebensraum statt. Die Verantwortung der Bewohnenden gegenüber ihrer Umwelt sinkt und sie gehen mit der Umwelt „nur noch auf einer technisch-instrumentelle Weise um“ (Bätzing 2015b: 34).
Ökologische Auswirkungen der Skigebiete
Der Verbau der Landschaft durch Siedlungsflächen und die stetig ansteigenden Flächennutzungen auf höheren Gebirgslagen bedeuten einen folgenschweren Eingriff in die fragile und einzigartige alpine Ökologie (vgl. 4.1.2.3-.4)
Der Trend zur ‘natürlichen‘ Verschiebung in höhere Gebirgslagen lässt stark frequentierte Zonen (wie Siedlungen, Freizeit- und Erschließungsinfrastruktur) weiter nach oben rücken und verdrängen Habitat und Vegetationszonen, welche zusätzlich durch den Anstieg der Temperaturen in höhere kühlere Lagen flüchten. Durch die kegelförmige Form des Gebirges, bedeutet dies eine Verkleinerung der nach oben geschobenen Zonen (Heuchele et al. 2014: 147) Die oberste subalpine Zone mit
all ihrer Flora und Fauna wird schlussendlich verschwunden sein.
Diesen Entwicklungen folgt ein schrittweises Verschwinden der alpinen Landschaft und ein Verlust ihrer hohen Biodiversität.
Sowohl die ökologischen, als auch die sozialen und kulturellen Veränderungen zeigen jenes Problem auf, das eine einseitige kapitalorientierte Raumentwicklung mit sich bringt. Es besteht eindeutig die Gefahr, dass der Raum seine Eigenart verliert, indem er nur noch einer kapitalorientierten Logik folgt. Somit werden Bewohner und Landschaft zum Dienstleister dieser Logik, welche sich an den Bedürfnissen und Anforderungen von außen orientieren. Dies bedeutet einen langfristigen Verlust der einzigartigen Strukturen, welche aus einem endogenen Potenzial, also aus einer inneren Ursache heraus, entstehen.
Folglich wird die 1. These, das Tal laufe Gefahr, die Eigenart und seine Qualitäten in jeglicher Hinsicht abseits des Tourismus zu verlieren, eindeutig bestätigt.
Der Interessenkonflikt zwischen Wirtschaft und sozialer sowie ökologischer Bedürfnisse ist im Tal deutlich abzulesen. Die Entwicklung zu einer starken Freizeitindustrie schafft ein Ungleichgewicht und verdrängt Räume, die soziale Bedürfnisse erfüllen und Grundlage einer kooperativen Gesellschaft sind. Die Anforderung an einen nachhaltigen Landschaftsraum im Sinne von gesellschaftlichen sowie ökologischen Aspekten, welcher ein langfristiges nachhaltiges Bestehen dieses Lebens- und Wirtschaftsraums gewährleistet, lässt die momentane einseitige wirtschaftliche Entwicklung unerfüllt. Wie in vorherigen Kapiteln beschrieben, bedroht die Entwicklung diesen einzigartigen Raum.
Das Paradoxe an dieser Entwicklung ist jedoch, dass diese bedrohte bäuerliche Kulturlandschaft das wichtigste ökonomische Gut des Tourismus ist.
„Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet und mit allem Anspruch auf Bequemlichkeit heimsucht.“
- H. M. EnzensbergerDie Funktion als Versorger der bäuerlichen Kulturlandschaft nimmt zunehmend ab, was sich durch den stetigen Rückgang der landwirtschaftlich ge-
nutzten Flächen bestätigt. Dafür ist sie Dienstleister geworden und erhält einen kulturellen Wert (Schöbel 2011)
Sie hat sich mit ihrer bäuerlichen Bewirtschaftungsform und der alpinen Naturressourcen zu einer Erholungslandschaft entwickelt, welches das wichtigste Kapital des Tourismus im Oberengadin ist. Denn die biologische Vielfalt bildet die Grundlage für Natur - und Kulturtourismus (Heuchele et al. 2014: 80) welcher die Marke ‘Engadin‘ vermarktet (vgl. 4.1.1.2). Jedoch gefährdet der Tourismus auf Dauer dieses ‘Kapital‘ wie sich durch die Bestätigung der 1. Untersuchungsthese erkennen lässt.
Der Gast erwartet authentische Landschaften und Kulturen vorzufinden, welche durch die bäuerliche Alltagswelt entstanden sind. Die moderne Entwicklung lässt jedoch zu, dass sich die zu erwartenden Bilder nicht mehr von der heutigen Alltagswelt produzieren lassen.
Dem Natur-, Denkmal- und Landschaftsschutz wird in der wirtschaftlichen Logik kaum Wert zugesprochen. Mehr sind diese Schutzmaßnahmen eine Behinderung der weiteren Fortentwicklung der ökonomischen Wertsteigerung. Obgleich sie dieses so wichtige Gut schützen und bewahren. Das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BNL) stellt den Schutz von Landschaften und Naturdenkmäler auf nationaler Ebene sicher. Die Stiftung Landschaftsschutz hebt durch den ‘Katalog der charakteristischen Kulturlandschaft‘, deren Eigenart hervor und lokale Initiativen, wie ‘Pro lej de Segl‘ setzten sich für den aktiven Schutz der Gewässer ein. Daneben stellt das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder
der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) den Schutz historischer identitätsstiftende Ortsbilder sicher.
Diese Schutzmaßnahmen versuchen den Erhalt der Landschaften sowie den historischen Dorfsiedlungen zu gewährleisten und stellen gleichzeitig das Erleben dieser Landschaften sicher. Mit dem Verlust dieser speziellen Landschaft, wird der ökologische und der soziokulturelle Wert, aber auch die Funktion als Erholungslandschaft und somit auch die der Tourismuslandschaft verloren gehen (Schaich, Konold 2011).
Wiederum erzeugt der Tourismus Märkte, welche eine wirtschaftliche Wertsteigerung des Tals bewirken. Dadurch werden wichtige Arbeitsplätze geschaffen, die das Tal vor Abwanderung und somit vor einer Verwilderung (vgl. Bätzing 2015b) schützen. Wobei die alleinige kapitalistisch orientierte Entwicklung, wie in Kapitel 4.3.1 beschrieben, nicht zielführend ist.
Die 2. Untersuchungsthese, es bestehe ein verkehrter Interessenskonflikt wird bestätigt. Es ist folglich zu erkennen, dass der Interessenskonflikt, der die Raumentwicklung in unterschiedliche Richtungen lenkt, ein verkehrter Interessenskonflikt ist. Denn die Grundlage, auf welcher die kapitalistisch orientierte Raumentwicklung basiert, entsteht aus der Eigenart des Orts, welche aus lokalen, spezifischen und dezentralen Bedingungen entsteht. Wird der Tourismus, mit all seinen raumverändernden Prozessen diese vollständig verdrängen, wird sich auch der Tourismus langfristig selbst gefährden.
Die räumliche Analyse stellt den Zustand des Oberengadins deutlich dar und zeigt auf, welche unterschiedlichen Strukturen das Untersuchungsgebiet aufweist.
der Akteure es werde in der Gesellschaft zum weiteren Wandel und Veränderungen der Lebensweise kommen, sodass die „Verantwortung für den eigenen Lebensraum stark abnimmt“ (vgl. Kapitel 4.1.2.6), die traditionelle Kulturlandschaft weiter zurückgedrängt werde und es zur weiteren Verstädterung der Alpentäler käme (Bätzing, 2015a: 366).
Es ist zu erkennen, dass sich die Aussagen der Akteure teilweise bestätigen und ergänzen, sie sich aber auch widerlegen. Besonders die Positionen der Akteure, welche die Defizite und Potenziale des momentanen Zustands beschreiben und die Weiterentwicklung solcher alpinen Tourismusorte betreffen, zeugen von unterschiedlichen Auffassungen. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Trotz der Auffassung, es sei „nicht möglich, zur Lösung dieser Probleme zur traditionellen vorindustriellen Gesellschaft der Alpen zurückzukehren.“
(Bätzing 2015a: 9), nimmt Bätzing eine sehr negative Meinung gegenüber den Veränderungen, welche das postindustrielle Zeitalter bewirkt hat, ein. Besonders in seiner Streitzeitschrift schildert er den Verlust der Lebens-, Wirtschafts-, Umweltqualität als sehr problematisch (vgl. Bätzing 2015b). Es scheint, Bätzing nehme im Vergleich zu den Akteuren eine tendenziell konservative Position ein und spreche sich stark für den Erhalt und die ‘Konservierung‘ des Traditionellen aus. Die urbane Entwicklung der Alpen sieht er als einen großen Verlust der traditionellen Eigenart, indem diese tief greifend verlustreiche Veränderungen verursacht hat, denn: „Dort, wo die moderne Entwicklung die Alpen beherrscht, führt sie zu anonymen, austauschbaren, kurzsichtigen und verantwortungslosen Strukturen“ (Bätzing, 2015b: 35). Er befürchtet,
tere Typologie erfasst, die von unterschiedlichen Entwicklungen betroffen ist. Sie unterscheidet sich deutlich von den Alpinen Brachen, indem diese lokal ausgerichtet und von einer stetigen Abwanderung betroffen sind (ETHSB 2005: 929)
Diese Widersprüchlichkeit der Positionen der Akteure lässt den Wunsch nach einer übersichtlichen Betrachtung der Zustände entstehen, welche eine zukunftsfähige und realistische Weiterentwicklung des Tals ermöglichen.
Es lässt sich schließen, dass Bätzing die moderne Entwicklung der Alpen sehr kritisch sieht, wobei er sich häufig auf das vorindustrielle Zeitalter bezieht. Er prognostiziert eine weitere Verschlechterung der Lebensqualität, sowie des Ökosystems, welche stark durch die Globalisierung beeinflusst und ausgelöst ist. Er appelliert an eine „dezentrale Nutzung der Alpenressourcen“ (Bätzing 2015b: 11ff. Nur so können die „alpenspezifische Lebensund Wirtschaftsformen dauerhaft erhalten“ (Bätzing 2015b: 11ff) bleiben.
Das ETH Studio Basel hingegen bewertet die Veränderungsprozesse weder negativ noch positiv. Vielmehr wird der Ist-Zustand beschrieben. Dennoch nimmt das ETH Studio Basel eine Position ein, die für die Transformationsprozesse, die in den unterschiedlichen Typologien geschehen, spricht. Denn diese werden nicht bewertet, sondern es wird betont, dass diese von einer Vielfalt und von Differenzen zeugen. Besonders durch die Unterteilung in die Typologien Alpine Resorts und Alpine Brache wird deutlich, dass das ETH Studio Basel die Veränderungsprozesse der Alpinen Resorts in gewisser Weise akzeptieren und veranschaulichen möchte. Die Alpinen Resorts werden nicht als Regionen beschrieben, die vom Verlust der Eigenart betroffen sind, sondern es wird ‘einfach‘ eine wei-
Das Studio spricht von Differenzen, die sich in den unterschiedlichen Typologien herauskristallisieren und welche betont und gestärkt werden sollen.
(ETHSB 2005: 165ff)
Die Vermarktung des Tals ist offensichtlich ein Instrument, um das Tal als touristischen Ort am kapitalistischen globalen Markt zu positionieren, um dem starken Wettbewerbsdruck stand zu halten. Es wird mit einem Freizeitort geworben, in dem unberührte Natur und echte authentische Tradition sowie eine spezifische Alpenkultur erlebt werden können. Gleichzeitig stellt das Tal eine pulsierende und exklusive Urbanität zur Verfügung. Beide jedoch in einer Form, welche sich gegenseitig nicht beeinträchtigen, denn die Vermarktung versucht offensichtlich die konfliktreiche Entwicklung der Verdrängung zu verschleiern. Es lässt sich schließen, dass die Vermarktung des Ortes einer rein wirtschaftlichen und kapitalorientierten Logik folgt, worauf in Kapitel 5.3 weiter eingegangen wird.
Das Oberengadin zeugt von einer Eigenart, welche einzigartig und unbedingt zu schützen ist, um das kulturelle Erbe zu erhalten. Dennoch entstand diese Eigenart mit ihrer bäuerlichen Kulturlandschaft, Bräuchen, Traditionen und vielfältigen Strukturen, in einer Zeit, in der mit anderen Bedingungen und Herausforderungen (dezentrale Wirtschaft, andere Bevölkerungsdichte, andere Naturgefahren und -dynamiken etc.) als der heutigen umzugehen war. Die urbanen Entwicklungen, die das Tal verändert haben, sprechen von neuen Herausforderungen und Bedürfnissen an den Raum. Es wäre daher nicht gerecht und auch nicht zeitgemäß, diese zu ignorieren.
Abb54 Bestätigung, Ergänzung und Widerspruch
Der differenzielle Raum, der Tourismus sowie die Marke als Tauschwert und ein Tal voller Gegensätze
5.1 Differenzen als Potenzial Lefebvres über die Stadt und den urbanen Raum im Oberengadin anzuwenden. Denn er spricht von einem Potenzial, einen sozialen Raum zu schaffen, der durch Differenzen entsteht. Ein Potenzial einer vermittelnden Ebene zwischen der Alltagswelt und der Globalen, um so einen sozialen Raum als „kollektives Werk“ zu schaffen (Schmid 2005b: 279). Dieses Potenzial spricht Lefebvre jedoch dem Urbanen zu (Schmid 2005b: 19f)
Wie in Kapitel 4.1.1 erwähnt, bildet die Theorie Lefebvre das theoretische Grundgerüst des städtebaulichen Portraits der Schweiz. Die ‘radikale‘ Einfärbung und die Ordnung der gesamten Schweiz in Typologien, welche von unterschiedlichen Urbanisierungsprozessen zeugen, basiert auf der These Lefebvres, eine vollständige globale Urbanisierung habe die Welt und die Gesellschaft erreicht (Schmid 2005s: 165). Die Urbanisierung und die Industrialisierung bedingen sich gegenseitig und überdecken auch den ländlichen Raum mit einem urbanen Netz (Schmid 2005b: 165).
Die räumliche Analyse anhand der Charakteristika, die das ETH Studio Basel den Alpinen Resorts zuschreibt, bestätigt die Urbanisierung, ausgelöst durch die Industrialisierung, des Oberengadins.
Zugleich bringt das Oberengadin eine lokale Eigenart hervor. Es ist folglich eine Ansammlung von Verschiedenheiten zu erkennen.
Die vorhandenen urbanen Strukturen, sowie dieses Bestehen von Verschiedenheiten, also von Differenzen, schafft die Grundlage, die Theorie
Die von Lefebvre beschriebene Annahme, eine umfassende globale Urbanisierung habe auch das Land vollständig erfasst (Schmid 2005b: 165) welche sich in Kapitel 4.1 für das Oberengadin bestätigen lässt und die Aufforderung Schöbels, die (Kultur-) Landschaft solle, wie die Stadt, die Funktion einer vermittelnde Ebene übernehmen, denn auch das Land ist ein Werk, welches sich aus unterschiedlichsten Strukturen (Palimpsest) ergibt (Schöbel 2011: 56), ermöglichen eine Übertragung der Theorie Lefebvres, auf das Oberengadin.
Im Folgenden wird die Theorie über den differenziellen Raum und dessen Potenzial genauer erläutert:
Die Kritik am Kapitalismus
Die Philosophen und Gesellschaftstheoretiker
Marx und Engels sind als Kritiker des Kapitalismus zu verstehen. Sie kritisieren die kapitalistische Produktionsweise, indem diese auf einer Klassengesellschaft beruhe, welche gesellschaftliche Ungerechtigkeit schaffe und auf der „Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital“ (Marx 1957: 175) basiere.
Laut Marx und Engels ist die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften, als eine ‘Geschichte von Klassenkämpfen‘ zu verstehen. Das dauernde Bestehen von Klassen, führe zu einer ständigen Revolution der Gesellschaftsform: „Unterdrücker und Unterdrückte, standen im steten Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete“ (MEW 1977: 462)
Es entstehen so auch im Kapitalismus Klassengesellschaften, welche eine starke soziale Trennung hervorbringen: Die ‘Bourgeoisie‘ entsteht aus dem städtischen Handwerk als Kapitalist:innen und Besitzende von Produktionsmitteln wohingegen das ‘Proletariat‘ als abhängige Arbeiter:innen der Kapitalist:innen resultiert. Dazwischen steht das Kleinbürgertum als (unabhängige) Selbstständige. (Schwabe 2021)
Die Arbeiter:innen verkaufen ihre Arbeitskraft in Form von Arbeitszeit, da dies deren einziges Mittel ist. Die Kapitalist:innen erhalten dafür Produktionsware. Diese können durch die Ausbeutung der Arbeitskraft, indem der Lohn nur einen geringen Anteil des produzierten Warenwerts ausmacht, ihr
Kapital ständig vergrößern, denn die Produktionsmittel landen in deren Privatbesitz. Durch eine enorme Produktionssteigerung gerät die Arbeiterklasse immer stärker in die Abhängigkeit der Kapitalist:innen. Es breitet sich mit der zunehmenden Verstädterung Armut, Krankheit und Entfremdung des Proletariats aus. (MEW 1977: 462; bpb 2021)
Gebrauchs- und Tauschwert im Kapitalismus Marx untersucht die Warenform, welche die kapitalistische Gesellschaft durch deren Produktionsweise hervorbringt. In dieser Gesellschaft ersetzt der Tauschwert den Gebrauchswert und damit erscheint der „Reichtum der Gesellschaft [...] als eine ungeheuere Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform“ (MWE 1968: 49). Der Tauschwert steht im Gegensatz zum Gebrauchswert in keiner Abhängigkeit der Eigenschaft des Produktes, sondern umfasst/beinhaltet das „quantitative [Austausch-]Verhältnis“ (MEW 1968: 50) um Ware von unterschiedlichen Gebrauchswerten miteinander zu vergleichen und somit (aus)zu tauschen (MEW 1968: 49f) „Ein Verhältnis[ also ein Wert], das beständig mit Zeit und Ort wechselt“ (MWE 1968: 49).
Der Gebrauchswert misst sich anhand von dessen Eigenschaften, welche „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt“ (MEW 1968: 49), also durch dessen „Nützlichkeit“ (MEW 1968: 50)
Die kapitalistische Gesellschaft schafft so eine Wertlogik, welche Prozesse und Waren homogenisiert und trennt.
Die Erweiterung um den Raum
Wo sich die Kritik der Theorie Marx und Engels auf
die Wareneigenschaft und die Produktionsverhältnisse konzentrieren, erweitert Lefebvre diese um die Produktion des Raumes.
Denn er erkennt, die Abstraktion von Qualitäten und die „für die Warenproduktion erforderlichen Arbeitsteilungen kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen verstärkt zum Einsatz“ (Ronneberger 2014: VI) Die wachsende Industrie unterdrückt die soziale Entwicklung (Lefebvre 2014: 55) und der Kapitalismus „produziert einen neuen, abstrakten Raum.“ (Ronneberger 2014: V)
Produktion des Raums
Für Lefebvre ist der Raum kein Erzeugnis der durch in ihm existierenden Dinge, die ihn besetzen und erfüllen, sondern für ihn „ist der Raum ein gesellschaftlich hergestelltes, soziales Produkt.“ (Schmid 2005b: 169)
Lefebvre stellt sich die Produktion des Raumes in drei Dimensionen vor: Der Raum lässt sich nicht wahrnehmen, bevor er gedanklich nicht geschaffen wurde. Er entwickelt sich aus einer ganzheitlichen Betrachtung der zusammengebrachten einzelnen Elemente - Netzwerke die aus Materialitäten (Straßen, Wegenetze, Wohn- und Produktionsstätten) bestehen. Der Raum benötigt somit eine gedankliche Vorleistung, um entstehen zu können: ‘der konzipierte Raum‘. Die gedankliche Konstruktion, also die Vorstellung eines Raumes unterliegt gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Werten, Wissen und Gelerntem und ist somit als gesellschaftlichen Produktionsprozess anzusehen. Der konzipierte Raum ist somit „eine Darstellung, die einen Raum abbildet und definiert und ihn damit repräsentiert“: ‘die Reprä-
sentation des Raumes‘. Diese beiden Dimensionen umfassen den ‘wahrgenommen‘ und den ‘konzipierten Raum‘. Die dritte Dimension zeigt sich als die ‘Räume der Präsentation‘. Sie symbolisieren etwas anderes, etwas Drittes. Diese Räume definiert Lefebvre als im Alltag ‘erlebte Räume‘, denn sie werden nicht erdacht, sondern erhalten ihre Bedeutung durch den Gebrauch. (Schmid 2005b: 169f.;
Lefebvre 1977: 57)
Lefebvre unterteilt die Produktion von Raum in drei
Produktionsprozesse: die materielle Produktion, die Produktion von Wissen und die Produktion von Bedeutung. Der Raum entsteht somit durch einen gesellschaftlichen Prozess und nicht durch das bloße Nebeneinander-Existieren von Objekten. Sondern eben durch das „praktische, mentale und symbolische Herstellen von Beziehungen zwischen Objekten“ - das Zusammenspiel der drei Dimensionen. Raum entsteht somit in einem aktiven Prozess und ist ein „vielschichtiges Gewebe von Beziehungen, das laufend produziert und reproduziert wird“. (Schmid 2005b: 170)
Jede Gesellschaft produziert somit ihren eigenen Raum (AnArchitektur 2002: 9).
Es wird ersichtlich, dass der Raum für Lefebvre eine soziale Form darstellt. Er entwirft drei RaumZeit-Felder: das Rurale, das Industrielle und das Urbane. Diese Kraft- und Konfliktfelder entstehen durch repräsentieren spezifische Denk-, Handlungs- und Lebensweisen (Lefebvre 2014: VI o. 34 o. Schmid 2005: 140f). Die Felder sind nicht getrennt voneinander zu verstehen, sondern überlagern sich, lösen sich gegenseitig auf oder nicht (Lefebvre 2014:135) Das Rurale Feld ist geprägt durch den Bedarf, die Zeit der begrenzten Produktion und
der „Natur“ unterworfen. Das Industrielle Feld ist geprägt von Arbeit, von einer massiven Produktivität, welche die Natur beherrscht und verwüstet. Das Urbane stellt die Utopie dar, einen noch unbekannten „Ausblick“, ein mögliches „Ziel und Sinn“ globaler Prozesse, als „urbane Epoche“ (Lefebvre 2014: 23). (Lefebvre 2014: 38,42)
Industrialisierung und Urbanität
Lefebvre spricht von einer vollständigen und globalen Urbanisierung der Gesellschaft. Wo in der Antike bis zur Neuzeit eine enge Verbindung von Stadt und Land bestand, bewirkt die Industrialisierung diese Verbindung aufzulösen. Ein „städtisches Gewebe [beginnt] das Land zu überwuchern“ (Lefebvre 2014: 139).
Die Industrialisierung und der Urbanisierungsprozess bedingen sich hier gegenseitig. Sie bilden eine komplexe und konfliktgeladene Einheit: Die Industrialisierung fördert die Urbanisierung, die Urbanisierung begünstigt die globale ansteigende industrielle Produktion. Lefebvre sieht ein urbanes Gewebe über das Land ziehen, welches als eine Gesamtheit der Erscheinung hervortritt und als eine Dominanz der Stadt über das Land erscheint und sich manifestiert. (Schmid 2005b: 165)
Der abstrakte Raum
Parallel zum fortschreitenden Urbanisierungsprozess, bemächtigt sich der Kapitalismus der historischen Städte und löst die agrarischen Gesellschaften auf (Schmid 2005b: 165). Die Verstädterung beginnt die Heterotopie aufzulösen. Eine Trennung von Funktionsräumen tritt ein, die eine „gut lesbare Isotopie [(Homogenität)] besaßen“ (Lefebvre 2014: 139).
Die Industrialisierung lässt einen abstrakten Raum entstehen, welcher sich durch eine kapitalistische Produktionsweise formt und vom Tauschwert dominiert wird. Denn die kapitalistische Gesellschaft bildet ein „homogenes und leeres Milieu“ und der Kapitalismus fördert eine Raumstrategie, „die das Städtische und den Lebensraum - differenzier-
te Räume - reduziert und damit zerstört“ (Lefebvre 2014: 55) Der Kapitalismus, mit seinem optimierten Produktionsprozessen und radikal getrennten Arbeitsschritten, macht sich somit in allen Bereichen der Gesellschaft bemerkbar und formt einen von Vielfalt reduzierten, funktionsgetrennten und monotonen Raum: „die kapitalistische Produktionsweise ist gekennzeichnet durch einen zugleich homogenen zersplitterten Raum, darüber hinaus jedoch durch einen Raum staatlicher Kontrolle, der zugleich derjenige des kapitalistischen Verkaufs und Austausches ist“ (Lefebvre 1977: 56). Homogen, da er „dem Verkauft unterliegt und weil es nur einen Verkauf von Äquivalenten, von Austauschbarem gibt“, zersplittert, weil er der Trennung unterliegt (Lefebvre 1977: 57). Der Mensch entfremdet sich, wie die Arbeiterklasse sich seiner eigenen Produktionstätigkeit und den geschaffenen Produkten entfremdet, seinem räumlichen und sozialen Lebensraum (Schmölz, Somoza Medina 2020: 107) Lefebvre reagiert hier, wie in der Analyse der Raum-Zeit-Felder mit der Hoffnung auf die Utopie: dem differenziellen Raum, als Raum einer urbanisierten Gesellschaft.
Differenzieller Raum
Während Eigenarten des ruralen Feldes nebeneinander, ohne sich zu überschneiden und in Konkurrenz bestehen, werden diese im abstrakten Raum, welcher nach Homogenität und nach einer zwanghaften Einheit strebt, völlig nivelliert. Treffen diese Eigenarten jedoch aufeinander, entsteht durch deren Konfrontation ein Verständnis füreinander. Die Konfrontation entfaltet jene Qualitäten, die überleben und nicht mehr getrennt voneinander beste-
hen und erkannt werden können. Das Konzept der Differenzen, des differenziellen Raums, entsteht.
(Lefebvre 2014: 43; Schmid 2005b: 167)
Obwohl der abstrakte industrielle Raum trennt, Verschiedenheiten unterdrückt und reduziert, trägt er diesen neuen Raum in sich. Durch historisch bedingten Verstädterungsprozess und dem „Widerspruch des Raumes“ entwickelt sich das Potenzial des differenziellen Raumes. (Schmid 2005: 271, 275)
Um dieses Potenzial wirken zu lassen, führt er das Element „Schnitt-Naht“ ein. Hierdurch wird deutlich, was Lefebvre unter abstrakten und differenziellen Räumen versteht. Das Element „Schnitt-Naht“ ermöglicht das Erkennen von An- oder Abwesenheit von Differenzen. Er spricht von Isotopien, welche Orte des Gleichen und gleiche Orte sind und Heterotopien, welche andere Orte und Orte des Anderen sind. Schnitte, die sich in Form von großen Straßen und Autobahnen zeigen, zerschneiden den Ort und zerteilen ihn. Die Naht verbindet und fügt zusammen, welche sich in Form von Gassen zeigt. (Lefebvre 2014: 138f)
Der differenzielle Raum ist somit Ort der Begegnung, der Gleichzeitigkeit und des Zusammenkommens. Hier treten Unterschiede zutage, reiben aneinander, treten in Konflikt miteinander und erproben sich, bestätigen oder lösen sich auf. Das ‚Andere‘ wird zugelassen und Distanzen werden überschritten. Hierfür ist es wichtig, die Differenzen zu akzentuieren und Gegensätze, Kontraste, Überlagerungen und das Nebeneinander verschiedener Wirklichkeiten zuzulassen. (Lefebvre
2014: 43; Schmid 2005: 271, 275f, Schmid 2005b: 167)
Dieses Potenzial schreibt Lefebvre der Zentralität zu, welche für das Entstehen des differenziellen Raums eine bedeutende Rolle spielt: hier geschieht das Zusammentreffen, die Vereinigung von Gütern, Produkten, Reichtümern und Tätigkeiten. Die Zentralität schafft die Möglichkeit, Verschiedenes aufeinander treffen zu lassen. Zentralität, Stadt und das Urbane versteht Lefebvre als Eines, denn die „Stadt bedeutet für ihn Austausch, Annäherung, Konvergenz, Versammlung, Zusammentreffen. Die Stadt schafft eine Situation, in der unterschiedliche Dinge nicht länger getrennt voneinander existieren.“ (Schmid 2005b: 167)
Er sieht das Urbane und dessen Strukturen als ein Produkt, ein „Werk von sozialen [...] ‘Agierenden‘„. Aus der Interaktion der sozialen Gruppen „erwachsen die Qualitäten und „Eigenschaften“ des urbanen Raumes“ (Lefebvre 2014: 137) Er sieht die Stadt als ein Ergebnis einer urbanen Gesellschaft. Also ein sozialer (urbaner) Raum, der durch Differenzen entsteht. Darum beschreibt er die Stadt auch als ein sich immer neu produzierendes Produkt oder Werk, welches sich stetig neu erfindet: „Die Stadt ist als gesellschaftliche Ressource zu begreifen. [...] Sie führt unterschiedliche Elemente der Gesellschaft zusammen und wird so produktiv. Deshalb zeigt die Stadt die erstaunliche Tendenz, sich wiederherzustellen. Ablauf von Auflösung und Neukonstruktion: spezifische Qualität des Städtischen.“ (Schmid 2005b: 166)
Dieser soziale Raum ist somit nicht als Raum als
solcher zu verstehen, sondern als Ergebnis jenes „was sich dort niederlässt, sich versammelt und mit/in der urbanen Wirklichkeit konfrontiert wird“ (Lefebvre 2014: 135).
Die Stadt wird somit als Zentralität verstanden, als Ort des Urbanen, als ein Werk, das Strukturen der Geschichte beinhaltet und dadurch entsteht. Wie vorher beschrieben, ist es somit möglich, das Potenzial des Urbanen auch auf ländliche Gebiete, wie das Oberengadin, zu übertragen. Auch dieses kann als Werk verstanden werden, als ein „Ergebnis einer Geschichte“ (vgl. Lefebvre 2014: 137): Es ist historisches Produkt und gleichzeitig von einer Urbanität bestimmt, wodurch es vielfältige, sich überlagernde Strukturen aufweist und diese als Potenzial zum differenziellen Raum nutzen kann.
Die Qualitäten des differenziellen Raumes
Der differenzielle Raum stellt für Lefebvre Hoffnung auf einen diversen, vielfältigen und sozialen Raum dar. Er ist eine „Utopie“ (Schmid 2005: 279), welcher den abstrakten Raum, der nach Homogenität strebt und vorhandene Unterschiede und Besonderheiten auslöscht, ablöst. Durch seine verbindende Funktion, als Ort an dem Unterschiede bekannt sind und das Anerkennen und Akzentuieren von Differenzen, wirkt der differenzielle Raum als vermittelnde Ebene der globalen und der privaten Welt (Schmid 2005b: 166) Wo im abstrakten Raum geistige, soziale, räumliche und zeitliche Trennung vorgenommen worden sind, finden diese im differenziellen Raum wieder zusammen. Dadurch entstehen Begegnungen des ‚Anderen‘, und ein daraus resultierendes Verständnis füreinander.
Das Zusammentreffen, das Aneinanderreiben von Verschiedenheiten und die daraus resultierenden Konflikte, schaffen „Orte der kreativen Schöpfung“
(Schmid 2005: 289), welche eine Energie freisetzen, die den Raum sich stetig neu erfinden lässt. (Lefeb-
vre 2014: 43; Schmid 2005b: 168, 186, 173)
Der neu entstehende Raum schafft eine soziale Basis, welche auf Veränderungen reagiert und offen für verschiedenste Möglichkeiten ist: Er schafft eine Freiheit, wo sich „Unterschiede kennen und anerkennen“ (Schmid 2005: 279). Hier lösen sich Zwänge und Normalität auf und „spielerische Moment[e] und das Unvorhersehbare“ taucht auf
(Schmid 2005b: 167). Lefebvre spricht von einem Ort „an dem sich die Menschen auf die Füße treten [und] unvorhergesehene Situationen entstehen“
(Lefebvre 1974: 46).
Lefebvre sieht in dieser Utopie einen sozialen Raum als ein kollektives Werk einer urbanen Gesellschaft.
Der differenzielle Raum verspricht eine Ganzheit und gleichzeitig ein hohes Maß an Diversität. Er zeugt von einer Vielfalt und bildet seine Qualität aus Differenzen, welche Produkte einer urbanen Welt sind.
5.3 Der Tourismus und die Marke als Tauschwert
Die Theorie des differenziellen Raumes bietet die Grundlage einer neuen Betrachtungsweise und ermöglicht eine Entwicklung des Tals, welche auf dem Potenzial der bestehenden Situation aufbaut. Dafür folgt im nächsten Schritt die Übertragung der Theorie Lefebvres auf den konkreten Ort.
Trennung durch Anspruch und Nutzung Die Tourismuslandschaft folgt einer kapitalistischen Logik, welche die Landschaft umformt und klischeebehaftete bildhafte Landschaftsaufnahmen produziert (Schmölz, Somoza Medina 2020: 105) die Erwartungen zu erfüllen hat und ganz im Dienste von außen steht. Durch die Entfremdung dieser Landschaften findet die Bevölkerung nur wenig Zugang. So entsteht eine Trennung von optimierten Funktionsräumen, ein „Paradigma der Trennung“ (Schöbel 2011, 54) welche der modernen Raumordnung nach einer industriellen Trennungslogik folgt. Es entstehen monofunktionale Wohn-, Gewerbe- und Freizeitzonen (Schmölz 2018: 208), wobei letztere im Oberengadin deutlich zu erkennen sind.
Das Zentrum von St. Moritz hat sich zu einem touristischen mondänen Einkaufszentrum entwickelt, welches deutlich zahlungskräftige Gäste bedient. Während Lefebvre historischen Orten Gebrauchswerteigenschaften zuspricht (Lefebvre 1977: 52) erfährt das Dorfzentrum St. Moritz durch die Urbanisierung eine Entfremdung des Alltäglichen und eine Wandlung hin zu einem homogenen abstrakten Raum, welcher durch den Tauschwert be-
stimmt ist.
Die Flächen der Skigebiete wurden durch die Verbauung zu einer hochspezialisierten technischen Gebirgs-Freizeitlandschaft der Alltagslandschaft entnommen. Sie folgen einer reinen Logik des Kapitalismus, welche sich in Form von technisch hochgerüsteten Liftanlagen, künstlich generierten Alp-Gastronomien und Gebirgsflächen, welche durch den hohen Nutzungsdruck (Pistenpräparierung, veränderter Wasserlauf, Baumaßnahmen zur Stabilisierung und optimierte Hangneigungen, veränderte Schneesubstanz durch künstlich hergestellten Schnee etc. (Treuter, Harder 2020)) keiner anderen Funktion mehr dienen.
Es ist zu erkennen, dass die kapitalistische Raumordnung eine Trennung in vielen Dimensionen hervorbringt. Durch gegensätzliche Ansprüche an den Raum ist eine starke Separierung vom alltäglichen und touristischen Nutzen erkennbar, sowie eine Trennung von sozialen Gruppen ablesbar. Die kapitalistische Ökonomie lässt aufgrund planerisch monofunktional belegter Flächen, abstrakte, zersplitterte und homogene Räume entstehen.
Industrieller Grundsatz fordert Verluste und bewirkt eine kapitalorientierte Auslegung
Die Alpen, und somit auch das Oberengadin, sind von der Globalisierung betroffen. Der industrielle Grundsatz fordert von dem Raum eine stetige Steigerung der „Kapitalbildung“ und des „Mehrwerts“ (Lefebvre 2014: 43) und fordert so den Verlust jener Dinge, die nicht intensivierungsfähig sind, belegt jene Dinge, welche von einem hohen Tauschwert zeugen, mit einer Wichtigkeit.
An den zerfallenden Maiensäßen, welche außerhalb der Gemeinden in der Landschaft verstreut stehen, ist die Auswirkung des Tauschwertes deutlich anzusehen. Obgleich, diese einen hohen kulturellen Wert haben, zerfallen sie, da sie sich innerhalb landwirtschaftlichen Zonen befinden und durch den Schutz als Kulturdenkmäler ein Umbau zu einer mondänen bewohnbaren Immobilie ausgeschlossen ist. Ihnen kommt somit, durch Aufgabe der Landwirtschaft, kein Wert innerhalb des Tauschwert orientierten Systems zu und sie sind somit dem Verfall unterlegen. Sie verlieren den Wert des Brauchbaren und somit an Tauschwert. Das Paradoxe hierbei ist, dass mit Bildern dieser in der Kulturlandschaft verstreuten Maiensäßen geworben wird.
Den Maiensäßen, welche innerhalb der Gemeinden und somit in Bauzonen liegen, wird ein anderer Wert beigemessen. Diese unterliegen einem starken Kaufinteresse, um sie durch ein neues mondänes Innenleben zu hohen Preisen auf dem Immobilienmarkt zu vermieten oder zu verkaufen. Durch weitere „Spekulation und Investition von Kapital“ (Lefebvre 1977: 52) werden Grundstücks- und Mietpreise in die Höhe getrieben und zeigen das deutliche Problem der Tauschwert orientierten Stadtentwicklung auf.
Tauschwertlogik
Um in jenem kapitalistischen System konkurrenzfähig zu bleiben, entwickelt sich das Oberengadin zu einer Tourismuslandschaft. Die Entwicklung orientiert sich an einer breiten Tourismusmasse und stellt ihr Angebot nach momentanen Trends auf, welche von Ort und Zeit abhängig sind (vgl. Lefeb-
vre). Mit dem Versuch, diese Trends zu bedienen, wird das Tal trotz seiner Eigenschaften vergleichbar (vgl. MEW 1968: 49f). Weiteres Beispiel sind die Grand Hotels, welche sich anhand ihrer Qualitätseinstufung Sternenanzahl miteinander vergleichbar machen und so austauschbar werden. Das Tal platziert sich somit innerhalb eines kapitalistischen Systems, misst sich anhand dessen Tauschwertes und läuft so Gefahr, durch den vollständigen Verlust des Gebrauchswerts austauschbar zu werden.
Kritik an der Marke
Der Akteur, die Marke, spielt hier eine entscheidende Rolle. Sie beeinflusst stark die Außenwirkung und ist entscheidend für die kapitalistische Wertsteigerung. Sie generiert ein künstliches Image, welches sich an Megatrends orientiert, um eine möglichst große Kundenmasse anzusprechen. Dieses Vorgehen ist eindeutig an der Vermarktungsstrategie der Engadin St. Moritz Tourismus AG zu erkennen. Sie generiert zwei Marken, die unterschiedliche Images bedienen, welche sich aber auf den gleichen Raum berufen. Die Marke platziert das Oberengadin innerhalb eines kapitalistischen, globalen Markts und misst ihren Wert anhand von trendorientierten, erwartungsvollen Bildern und Erlebnissen.
Die Marke „Engadin“ verspricht „Entschleunigung“ und blendet in deren Vermarktung bewusst Prozesse des urbanisierten Tals aus. Die Marke „St. Moritz“ hingegen verspricht „Exklusivität“ und wirbt mit einem mondänen Lebensstil und deren Reichtum an Urbanität. (vgl. 4.1.1.2)
Hinzu kommt die Vermarktung der ortsspezifischen Eigenart, welche sich durch deren Insze-
nierung von der Ursprünglichkeit loslösen. Durch die Inszenierung wird ihnen ein Tauschwert beigemessen.
Beim jährlich stattfindenden „Chalandamarz“ wird traditionell am 1. März durch einen Umzug durch die Engadiner Dörfer der Winter vertrieben, indem sich die im Dorf lebenden Kinder als Hirten verkleiden und mit Viehglocken und Peitschen den kommenden Almauftrieb herbeirufen. Dieser Brauch spielt sich innerhalb der Dörfer ab. (Graubünden 2021c)
Themenwanderwege, wie der Schellenursli Wanderweg, inszenieren diese Traditionen mit Skulpturen entlang der Wege, lösen sich von der urtümlichen Geschichte und der Verortung des Brauches ab und nutzen deren Namen für eine touristische Vermarktung. Tourist:innen werden diesen Weg wohl entlang gehen. Ein:e Einheimische:r wird sich bei Interesse an der Tradition wohl nicht den Weg begehen, sondern am 1. März den Umzug im Dorf besuchen. Hier erkennt man eine klare Nutzungstrennung der Funktionsräume der Tourismus- und der Alltagswelt (vgl. Schöbel 2011) und eine „Inszenierung der Alpenkultur“ (vgl. Bätzing). Die Marke produziert somit perfekt inszenierte konsumierbare Orte und Erlebnisse, welche wenig Kontaktfläche mit der Alltagswelt bieten.
Folglich kann behauptet werden, dass sich die Tourismuslandschaft Oberengadin eindeutig als ‘Tauschwertlandschaft‘ beschreiben lässt:
1. Die Landschaft folgt einer Trennung des Nutzens sowie des Räumlichen. Denn Bedürfnisse und Ansprüche der Touristen stehen im Widerspruch zu jenen des Alltäglichen. Dieser Mehrfachanspruch verlangt nach unterschiedlichen Räumen, welche sich im Oberengadin kaum überlagern.
2. Der Tourismus entstand aus einem historischen und somit gebrauchswertorientieren Raum, der bäuerlichen Lebensweise und der Kulturlandschaft. Die heutige Entwicklung des Tals folgt jedoch einer Wertelogik des Kapitalismus, einer Tauschwertlogik. Eigenarten werden nivelliert, nicht intensivierungsfähige Prozesse werden aufgegeben und intensivierungsfähige wachstumsorientierte Prozesse, die Tourismusindustrie, werden weiter ausgebaut.
3. Die Marke misst sich anhand des Tauschwertes, indem sie sich innerhalb eines kapitalistischen und industriellen globalen Marktes platziert. In diesem Markt wird ihr Wert anhand klischeebehafteter und optimierter Bilder und Erlebnissen gemessen, welche sich an aktuellen globalen Trends orientieren und somit die Marke vergleichbar macht.
4. Die Marke und somit das Oberengadin sind dadurch austauschbar geworden.
Abbildung eines klischeebehafteten alpinen Landschaftsbildes im Hintergrund. Im Vordergrund Situation in einem mondänen Grand Hotel mit Tennisschläger und Kaffee in der Hand. Die Marke erschafft und verkauft perfekt inszenierte und konsumierbare Erwartungen.
Abb56 Postkarte aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts
groß Landwirt
5.4 Ein Tal voller Gegensätze
Es folgt eine Anwendung der Theorie Lefebvres anhand einer räumlichen Analyse. Hierfür werden konzeptionelle Mappings erstellt, um das Potenzial des differenziellen Raumes in den konkreten Räumen des Oberengadins herauszuarbeiten.
Zuerst werden die räumlichen Analysen, welche zuvor in Kapitel 4 vorgenommen wurden, auf Karten (Abb58) übertragen. Die Karten verdeutlichen das Vorhandensein der unterschiedlichen gegensätzlichen Strukturen im Tal. Die Einteilung der gegensätzlichen Kategorien folgt nach eigener Interpretation und kann in der nebenstehenden Matrix (Abb57) nachvollzogen werden.
Anhand der folgenden Matrix (Abb59) werden diese Gegensätze nach der Theorie Lefebvres bewertet. Es werden Strukturen ausgemacht, welche von einem Tauschwert und von einem Gebrauchswert zeugen.
In der nebenstehenden Karte (Abb60) wird im konkreten Raum aufgezeigt, wo folglich abstrakte und die Andeutung differenzieller Räume aufzufinden sind. Die Abbildungen Abb61 und Abb62 zeigen diese Interpretationen der Räume anhand von Zoom-Ins der Gondelstation in St. Moritz Bad und der Gemeinde Sils, um die Interpretation der Strukturen nochmals zu veranschaulichen.
- St. Moritz Dorf, Dorfstraße Pontresina: touristisch mondän
- Mondäne Unterkünfte z.B. Grandhotels
- Elitäre Sportarten: Golfplatz/Heliskiing/Polo-Tunier
- In touristische Unterkünfte transformierte historische Bauernhäuser und Maiensäße z.B. Isola
- Zersiedelung durch mondäne Zweitwohnung, welche temporär bewohnt werden
- Mondäne Bergrestaurants- und Bars z.B. CheCha Restaurant&Club, Quattro Bar
Temporär (bedingt durch touristische Saison)
- Sils Dorfmitte: inszeniert, touristisch
- Silvaplana Surlej: Gondelstation und Zweitwohnungs- und Hotelsiedlungen, welche temporär bewohnt werden
- Parkplätze der Talstationen als temporäre Brachflächen
- Kulturelle Inszenierung z.B. Themenwanderwege
- Campingplätze und normalpreisige Unterkünfte
geschlossen bewohnt nicht erkennbar
Kulturland
- Schulen
- Vereine
Konstant
- Seen als Freizeit- und Sportfläche: Baden, Langlauf, Schlittschuh, Segeln, Surfen etc.
- Bob-Bahn Crestarun: Nutzung durch Touristen und Einheimische
- Grandhotel Pontresina: Unterkunft und Ausbildungsstätte
- Museen/Konzerthallen: teils kostenlos
- Sportturniere z.B. Ski-Rennen Station Salastrains, Marathon, Langlauf
Wald See See
Gemeinschaftlich
- Zu Fuß erreichbare Bergstationen z.B. Signal Stübli, Segantinihütte und ‘Freizeitparks‘ an Bergstationen z.B. Muottas Muragl; Bikeparks, Snowpark: diverse Nutzergruppen
- Sommer- und Winterwanderwege, Loipen
- Agrotourismus z.B. Alp-Schaukäserei Morteratsch, Ziegerei Isola
erkennbar
- Rhätische Bahn, Bahnhöfe, Postautostationen
- Öffentliche Sportplätze z.B. Skateparks, Pumptracks, Laufbahn
- Konstant bewohnte Zersiedelung
- Öffentlich zugängliche Aussichtsplattform St. Moritzsee
- Kirchen
- Historische konstant bewohnte Dorfkerne z.B. Silvaplana
saison betrieb
- Kulturlandschaft: Terrassenacker, Sömmerungsflächen, Maiensäße
- Gewerbegebiete, Wasserkraftwerke, Stauseen
- Industrielle Landwirtschaft auf den Talböden
- monotone Wohnflächen und Erschließungsstraßen
Industrielle Landnutzung
Bäuerliche Landnutzung
SömmerfläTerrassen Verschwun
Wald See Siedlung groß Landwirt
SömmerfläTerrassen
Verschwun
Verbuschun
Gemeinsch
Verbuschun Di Erhalten
Wald Hotelanlagen
Landwirt
*
Hotels
geschlossen
bewohnt
nicht erkennbar
saison betrieb
Wald See See *
Industriell
bäuerlich
touristisch
alltäglich
Relief Relief Temporär
Konstant
geschützt
Gemeinsch
bauzone
Industriell bäuerlich touristisch
Verbuschun
alltäglich
geschützt
bauzone
Verbuschun
historisch Kirche Kulturland
Homogeni-
GW aufge-
Konstant Konstant
weidefläc Bauenhäuser
GW aufgeweidefläc Bauenhäuser historisch Konstant Konstant Konstant historisch Konstant Konstant Konstant
82 83 Gegensätze als Potenzial 5
historisch Konstant Konstant Konstant historisch Konstant
Konstant Konstant
Gebrauchswert
Temporär (bedingt durch touristische Saison)
Exklusiv
Tauschwertorientierte Logik bringt homogene, zersplitterte, kapitalistische und abstrakte Räume hervor (Schmid 2005: 271):
- Die beschriebenen Elemente folgen einer kapitalistischen Tauschwertlogik, denn der Tauschwert macht diese vergleichbar und somit austauschbar (vgl. Lefebvre 1977:56). Zudem findet eine explizite Trennung von sozialen Gruppen und dadurch der Ausschluss dieser statt.
- Durch „Spekulation und Investition von Kapital“ (Lefebvre 1977: 52) entstehen Zersiedelungsflächen mit funktionellen monotonen (Zweit)Wohnungen (vgl. Lefebvre 2014: 36), welche dem Tauschwert unterliegen.
- Der Gebrauchswert historischer Häuser, Maiensäße und Dorfplätze und- straßen schwindet durch die Transformation in touristische Unterkünfte und durch den Tauschwert ersetzt (vgl. Lefebvre 1977: 52).
- Touristische Funktionsflächen, wie Parkplätze und (inszenierte) Elemente, wie Themenwege bieten keinen Kontaktfläche zum Alltäglichen, bewirken eine Entfremdung und eine klare Trennung (vgl. Schmid 2005: 271).
Der Gebrauchswert entfaltet sich hier aus einem zuerst industriell geschaffenen Raum, welcher durch dessen vielfältigen Nutzen und die Einbindung von diversen sozialen Gruppen einen differenziellen Raum erschafft. Dieser definiert sich durch die „Begegnung, der Gleichzeitigkeit, des Zusammenkommens“ (Lefebvre 2014: 43):
- Touristische, urbane Freizeitelemente, entfalten ihren Gebrauchswert, indem diese diverse Gäste-Gruppen ansprechen und/oder gleichzeitig auch von der Bevölkerung genutzt und besucht werden: Seen als Freizeitelemente, Bob-Bahn, Museen, Sportturniere, Unterkünfte mit (normalpreisigen) Gastronomien (vgl. Lefebvre 2014: 43)
- Gleichzeitig bestehen Elemente, die als „Schnitt-Naht“ erkennbar sind (vgl. Schmid 2005: 278):
- Liftanlagen und Bergstationen, die zuerst die Gebirgslandschaft in Talboden und Gebirge „zerschneiden“, aber durch, das Erreichen zu Fuß und per Rad, sowie das Erreichen durch Liftanlagen für Sportler:innen und Bewegungsbeeinträchtigte übernehmen die Elemente wieder eine verbindende Funktion.
- Sommer- und Winterwanderwege, welche Flächen zuerst durchschneiden, aber durch ihren öffentlichen Charakter zufälliges Zusammentreffen ermöglichen
- Schulen und Vereine als gemeinschaftliche soziale Einrichtungen
- Bahnhöfe, öffentlich zugängliche Sportflächen und konstant bewohnte Gebiete ermöglichen auch hier „Begegnung“ (vgl. Lefebvre 2014: 43) und Austausch.
- Die Aussichtsplattform fördert das Wahrnehmen, einer Diversität des Ortes, also einer Ganzheit von Differenzen (vgl. Schmid 2005: 279): Aussicht auf den See, Gebirge, Grandhotels, Verkehrsinfrastruktur und das Industriegebiet
Konstant
Tauschwert
Abb59 Bewertung der Gegensätze nach Lefebvre
- Die industrielle intensivierte Landnutzung, funktionelle Wohneinheiten und monotone Zufahrtswege erzeugt homogene Räume (Lefebvre 2014: 36).
Industrielle Landnutzung
Tauschwert
Gemeinschaftlich
- Kleinfältige (vorkapitalistischer) Bewirtschaftungsform (vgl. Lefebvre 1997: 52) mit Verbindung einer an den Ort gebundenen touristischen Erlebnisse
- „historische Räumen, Räume der Dörfer und vorkapitalistisch geprägte Landschaften“ (Lefebvre 1977: 52)
Gebrauchswert
Bäuerliche Landnutzung
Historisch bedingter Gebrauchswert Andeutungen vom differenziellen Raum durch bestehende Differenzen
Abstrakter Raum
Abb60 Interpretation der Raumstrukturen nach Lefebvre
St. Moritz Bad SilsIn den abgebildeten Ausschnitten sind folgende Elemente lesbar:
Historisch bedingter Gebrauchswert
Kirche [1]
Kulturlandschaft, Maiensäße, Alpen [2]
Historisch bedingter Gebrauchswert transformiert in abstrakten Raum
Aufgegebene Maiensäße und Weideland [3]
Bauernhäuser transformiert in touristische Unterkünfte, Anonymer Marktplatz [4]
Abb61 Interpretation der Raumstrukturen nach Lefebvre:
- Gondelstation St. Moritz Bad
Abstrakter Raum
Mondäne Grandhotels [5], Zweitwohnungs-, Hotelund monofunktionelle Wohnungssiedlungen [6]
Gondelstation, Skipiste, Parkplatzfläche [7]
Industrielle Landwirtschaft [8]
Gewerbe-, Industriegebiete [9]
Straßen als Schnitte
Andeutungen vom differenziellen Raum durch bestehende Differenzen
Schulen [10], öffentliche Sportflächen und Spielplätze [11], zentrale Bushaltestellen [12], gemeinschaftlich nutzbare Landschaftsund Freiräume
Abb62 Interpretation der Raumstrukturen nach Lefebvre:
- Sils Dorf
Fußwege, Wanderwege, Loipen als Naht
Normalpreisige Freizeit-, Kulturangebote [13] und touristisch Unterkünfte [14]
Folglich ist zu erkennen, dass sich die Untersuchungsthese 3., das Bestehen von Verschiedenheiten sei eine Bereicherung und schaffe Vielfalt, nur bedingt bestätigt.
Die kapitalistische, industrielle, homogenisierende Wertelogik hat homogene und zersplitterte Räume hervorgebracht. Gleichzeitig weist das Oberengadin, aufgrund des Urbanisierungsprozesses, vielfältige Strukturen auf: Zum einen weist es diese industriell homogenen Strukturen, gleichzeitig jene Strukturen, welche von einer Eigenheit einer bäuerlichen Lebensweise zeugen, auf. Das ‘urbane Gewebe‘, welches Lefebvre beschreibt, stellt das Potenzial einer Schaffung eines diversen Raumes dar. Hierdurch treten vielfältige neue Strukturen im Raum auf, welche durch einen Urbanisierungsprozess hervorgerufen werden.
Diese Strukturen finden jedoch im konkreten Raum nur wenig bis keine Berührungspunkte. Es kommt nur zu wenigen Überlagerungen von verschiedenen Nutzungen, Funktionen und die Nutzung des Ortes durch verschiedene soziale Gruppen (orangene Farbe). Wie Lefebvre beschreibt, ist gerade diese Überlagerung essenziell, um den differenziellen Raum entstehen zu lassen.
Folglich schafft nicht allein das Bestehen von Verschiedenheiten, sondern das Aufeinandertreffen und die Überlagerungen eine Vielfalt. Der von Lefebvres beschriebe ‘Konflikt‘ von Verschiedenheiten, um jene Differenzen hervorzuheben und zu akzentuieren, muss somit noch provoziert werden, um somit die Qualitäten des differenziellen Raumes wirken zu lassen.
Dieser Schritt wird im folgenden Kapitel vorgenommen.
Konzept, Förderung von diversen Zonen und ein kritischer Rückblick
6.1 Konzept kreativen Schöpfung“ (Schmid 2005: 279). Dadurch kann eine zukunftsfähiger Raum generiert werden, der mit den realen und wirklichen Anforderungen an den alpinen touristischen Raum umgeht.
Ziel des Konzepts ist es, eine sinnvolle Synthese von Gegenwart und Geschichte, Neuem und Traditionellem zu ermöglichen. Eine Verfolgung von rein kapitalistisch ökonomischen Interessen bedeutet den Verlust des Besonderen und ist als egoistisch und rücksichtlos anzusehen. Jedoch ist das Tal nicht mehr ohne dessen kapitalistische Industrie denkbar, denn es hat sich mit einer zu großen ökonomischen Anhängigkeit dem Tourismus zugewandt. Der Versuch, ein Zurückkehren zum Bäuerlichen und Traditionellen zu erzwingen, scheint nicht zeitgemäß und verfolgt den Wunsch nach einer idyllischen Welt, die den heutigen Ansprüchen des Oberengadins nicht gerecht wird. Daher scheint es nur logisch, diese beiden Gegensätze sinnvoll zu vereinen. Das angestrebte Ziel ist es somit, einen Raum zu bilden, der diese Synthese der Differenzen herstellt.
Wie Lefebvre in seiner Utopie erhofft, kann solch ein Raum entstehen, welcher eine Energie freisetzt, um sich stetig neu zu erfinden. Diese Möglichkeit zur stetigen Neuerfindung lässt eine Offenheit zu, welche auf Veränderungen reagiert und mit der „urbanen Wirklichkeit konfrontiert wird“ (Schmid 2005: 279). Das Oberengadin kann so das Bestehen von Verschiedenheiten innerhalb eines Raumes zulassen, welche sich kennen und anerkennen (Schmid 2005:279). Es wird dadurch möglich, eine sinnvolle und respektvolle Synthese von Alten und Neuen, Eigentümlichen und Urbanen, Temporären und Konstantem, touristischem und Alltäglichen zuzulassen. So entstehe eine qualitative Vielfalt und ein kreativer Prozess, „Orte der
1. Die Homogenität des abstrakten, funktionsgetrennten Raumes gilt es zu brechen, indem Kontraste erzeugt werden, also Differenzen betont und das Aufeinandertreffen von Verschiedenheiten provoziert wird.
Anwendung der differenziellen Raum-Theorie
Anhand der oben vorgenommenen räumlichen Analyse wird erkennbar, dass das Tal Gegensätze aufzuweisen hat und so die Grundlage einer Erzeugung differenzieller Räume geschaffen wird. Die Gegensätze unterliegen jedoch einer starken Funktionstrennung, wodurch ein Aufeinandertreffen im konkreten Raum nur bedingt oder gar nicht geschieht.
Hierfür ist es essenziell, die Flächen gemeinschaftlich nutzbar zu machen. Räume der Exklusivität, der Homogenität, des Abstrakten und des Getrennten müssen aufgelöst werden. Dabei muss eine maximale Überlagerung von funktioneller und zeitlicher Nutzung und die Möglichkeit der Anwendung für unterschiedlichste soziale Gruppen geschaffen werden. Es gilt, Unterschiede zuzulassen, diese Differenzen zu akzentuieren, sie zu überlagern und miteinander wirken zu lassen. Der neu entstandene Raum kann somit vermittelnde Ebene zwischen der Gegenwart und der Geschichte, dem Neuen und dem Traditionellen werden.
2. In den Räumen, in denen eine Andeutung von Unterschieden erkennbar sind, gilt es, diese Differenzen zu akzentuieren und durch weitere Maßnahmen diese noch diverser hinsichtlich ihrer Funktion und der Nutzung unterschiedlicher Gruppen zu gestalten.
3. Die Räume, die mit einem historisch bedingten Gebrauchswert belegt sind, gilt es zu erhalten. Denn diese vorkapitalistischen Strukturen zeugen von einer historischen identitätsstiftenden Eigenart, die durch den Gebrauch entstanden sind und welche als grundsätzliche Differenz zum Urbanen zu betrachten sind.
Homogenität auflösen und Potenzial nutzen, indem Diversität zugelassen und geschaffen wird und die dadurch entstehenden Differenzen akzentuiert werden Historische Räume
Mit der folgenden Karte (Abb63) werden verschiedene Behandlungen der zuvor definierten Räume aufgezeigt und vorgeschlagen:
Im Folgenden werden vier Maßnahmen an konkreten Orten vorgeschlagen, um den Umgang mit den verschiedenen Räumen aufzuzeigen. Die ausgewählten Orte zeugen von abstrakten funktionsgetrennten Räumen oder weisen teils die Andeutung von Diversität auf. Die Orte können als Typologien [1-4] verstanden werden, welche mehrfach im Oberengadin auffindbar sind [∙1-4] Die Maßnahmen könnten hier eine ähnliche, an den Ort angepasste Anwendung finden. Die Maßnahmen schaffen einen Übergang und eine konkrete Anwendung der Raumtheorie des differenziellen Raumes auf das Oberengadin.
Die offene Tallandschaft zwischen dem Dorf Silvaplana und dem Gemeindeteil Surlej ist von einer industriellen Landnutzung dominiert. Großflächige Landwirtschaftsflächen haben den Talboden eingenommen und drängen die Fuß- und Wanderwege an die Uferkanten des Silvaplanersees. Die stark befahrenen Umgehungs- und Erschließungsstraßen nach Surlej bilden sich als ‘Schnitte‘ aus, die neben der Funktionstrennung von industrieller Bewirtschaftung und Bewegung, die Fläche weiter fragmentieren und trennen.
Der Ort bietet jedoch ein hohes Potenzial, um die ‘Ganzheit‘ und somit die Vielfalt, die das Oberengadin aufweist, zu erkennen und hervorzuheben. Die vorgeschlagene Maßnahme zeigt die Verschiedenheiten - Gebirgs- und Seenlandschaft, Landwirtschaftsflächen, touristische Zersiedelungsflächen, Grandhotel und die Gondelstation Corvatsch - des Ortes auf und akzentuiert diese Differenzen. Die Maßnahme durchkreuzt und macht die zuvor in Funktionsräume getrennt Fläche gemeinschaftlich nutzbar. Sie fördert dadurch das Erkennen und das Wahrnehmen des ‘Anderen‘ und der Gesamtheit der Dinge, die im Oberengadin aufzufinden sind.
Die Schnitte werden durch neu angelegte Wege und Straßenübergänge überwunden. Angrenzend an die Umgehungsstraße, nahe der Busstation wird eine neue Ankunftsfläche geschaffen, die neben dem Parken, Übernachtungsstellplätze und Sitzgelegenheiten im Schatten der Bäume bietet. Den Landwirt:innen könnten für die Entbehrung der Fläche und der Pflege der Platz- und Wegeflächen als Vergütung die Einnahmen der Übernachtungsstellplätze angeboten werden. Eine kleinteilige Landwirtschaft würde zudem eine größere Vielfalt in der Fläche fördern.
Von hier aus kann die Fläche durch neu angelegte Wege barrierefrei begangen werden. Die Wege schließen an bestehenden, gut genutzten Wanderund Spazierwegen an und fördern dadurch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen sozialen Gruppen. Stege ermöglichen einen besseren Zugang zum See, der im Sommer durch Wassersport und im Winter durch Langlaufen stark genutzten wird. Die neu angelegte Grillstelle und der Wasserbrunnen ermöglichen während der Rast Situationen der zufälligen Begegnung und des Zusammenkommens in der offenen Landschaft, indem diese öffentlich nutzbar sind und das zur Verfügung gestellte Holz zum gemeinschaftlichen Grillen einlädt.
Abb64 Axonometrie und Collage: Ganzheit erkennen
Der Dorfkern der Gemeinde Sils hat sich durch die Transformation der historischen Bauernhäuser in touristische Unterkünfte zu einem abstrakten Raum entwickelt, der zwischen den Saisons entleert und anonym wirkt.
Die zweite Maßnahme ermöglicht es, die Dorfstraße und den historischen Platz wieder als verbindendes Element wirken zu lassen. Sie sollen als Schnitt-Naht einen zentralen und linear öffentlichen sozialen Raum der Interaktion wiederherstellen.
Wie im historischen Kontext, können so die strukturgebenden Dorfstraßen, Plätze und Kreuzungen wieder Treffpunkt und Kommunikations- und Begegnungsraum werden. Der Kontakt und das Aufeinandertreffen von Einwohner:innen, Zweitwohnungsbewohnenden, Zugezogenen, Saisonarbeitenden und Gästen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen wird möglich.
Ziel der Gemeinde soll es sein, Immobilien nicht als Wirtschaftsgut, sondern als Sozialgut zu betrachten: Durch eine Aneignung von Immobilien durch die Gemeinden, werden die kapitalistische Immobilienspekulation gemindert und zentrale Gebäude werden wieder dem sozialen Gebrauch zugänglich gemacht.
Ein Gemeinschaftshaus, welches Raum für ein Altersheim, einen Kinderhort, Vereine oder kulturelle Initiativen bietet, fördert die soziale Gemeinschaft und Interaktion.
Arbeitsplätze für Freischaffende, Räumlichkeiten für junge Firmen und Werkstätten schaffen es, eine Möglichkeit der wirtschaftlichen Monostruktur und der Abwanderung von jungen Menschen entgegenzuwirken.
Gastronomie, Einzelhandel für den alltäglichen Bedarf, Märkte, konsumfreie Aufenthaltsflächen, wie ein Dorfbrunnen und Veranstaltungen wie eine Tavolata, bei der alle gemeinsam im öffentlichen Raum an einem Tisch essen und trinken, fördern die ganzjährige und gemeinschaftliche Nutzung des Dorfkerns.
3 Leerstand nutzen
Die traditionell bäuerlich genutzten Maiensäße haben durch die Forderung nach Intensivierung und Optimierung der Produktionsprozesse in der Landwirtschaft an Tauschwert verloren. Dadurch sind sie einem Zerfall ausgeliefert.
Die dritte Maßnahme trägt dazu bei, ungenutzten Leerstand wieder für den alltäglichen Gebrauch nutzbar zu machen und lokale Wirtschaftsformen abseits der kapitalistischen Tourismusindustrie zu ermöglichen. Dadurch kann der Autonomiegrad des Oberengadins wieder erhöht werden. Durch die Aktivierung der Ställe kann die wertvolle landschaftsprägende Bausubstanz langfristig gesichert werden. Dadurch kann eine sinnvolle Verbindung geschaffen werden, indem das Äußere als Atmosphärische der Geschichte erhalten bleibt und das Innere für das Ökonomisch genutzt wird.
Maiensäße in Baugebieten werden zu Werkstätten umgebaut, um Arbeitsräume für lokale Künster:innen zu schaffen. Andere werden zu Wohnungen umfunktioniert, welche als Wohngemeinschaften, Saisonarbeitsunterkünfte oder von finanziell schlechter gestellten Personen bewohnt werden können.
Durch Maiensäße außerhalb von Bauzonen, wie hier bei Maloja, werden traditionelle oder alternative Bewirtschaftungsformen des Bodens wieder möglich gemacht.
Durch Zusammenschlüsse von Landwirt:innen oder durch Vereine wird aus dem alten Stall ein Hofladen, der die regional produzierten Lebensmittel vertreibt. Das umliegende Land wird auf einer vielfältigen traditionellen Weise, aber auch durch neue Formen, die sich nach den Bedürfnissen der Bewohner richten, kultiviert, wodurch die Fläche biologisch aufgewertet wird. Kurse und Weiterbildungen fördern den Austausch untereinander und des Wissens und tragen zur Nutzung und Renovierung der Ställe finanziell bei.
Eine Synthese des Tourismus und der Landwirtschaft kann hier in Form von Agrotourismus entstehen, die einen sozialen Austausch von Landwirt:innen und Gästen ermöglicht.
Gemeinschaftlich werden Reparaturen durch Einwohner:innen, Gäste und Landwirt:innen am Stall vorgenommen.
Die Mehrfachbesetzung bedeutet gleichzeitig einen nachhaltigen Umgang mit dem Boden als wichtige Ressource.
Die Fläche wird durch bewegliche Elemente temporär bespielt. Dort, wo der Platzbedarf es zulässt, werden feste Elemente installiert, die eine ganzjährige differenzielle Nutzung möglich machen. Bewegliche Skatepark-Elemente werden an weniger stark frequentierten Tagen in den Hauptsaisons, sowie in den Zwischensaisons aufgestellt.
Zudem bietet die große Fläche Platz für Bespielungen durch Sportplatzflächen, Floh- und Essensmärkte sowie temporäre Gastronomie, wie normal- und hochpreisige Bars und Restaurants, die unterschiedliche sozialer Gruppen der Bewohnenden und Gäste ansprechen.
Der Asphalt wird punktuell aufgerissen, um Vegetationsflächen zu ermöglichen. Durch die Überlagerung von regionaltypischer Vegetation werden harte Funktionskanten auflöst und die Fläche wird ästhetisch und ökologisch aufgewertet.
In der Arbeit wurde eine ausführliche Analyse der vorzufindenden Strukturen des Oberengadins vorgenommen. Es ist zu erkennen, dass das Tal eine Vielzahl an unterschiedlichen Strukturen aufzuweisen hat. Durch die Einteilung dieser vorzufindenden Elemente in Gegensätze, werden die Verschiedenheiten dieser Strukturen nochmals verdeutlicht.
Durch die Anwendung der Theorie des differenziellen Raums lässt sich jedoch erkennen, dass die Tourismusindustrie, welche von entscheidender Bedeutung für die Urbanisierung des Tals ist, homogene und abstrakte Räume hervorgebracht hat.
Dies führt zu einer strikten Trennung von Funktionsräumen und der Separierung diverser sozialer Gruppen. Die unterschiedlichen Strukturen bestehen nebeneinander und weisen nur wenig Überlagerungen auf.
Laut Lefebvre ermöglicht dieser Urbanisierungsprozess, welcher sich wie ein ‘urbanes Gewebe‘ über das Tal ausbreitet, gleichzeitig eine Ansammlung von Verschiedenheiten und stellt dadurch ein Potenzial für eine neue ‘Wirklichkeit‘ dar. (vgl 5.2)
Die mögliche Entstehung eines differenziellen Raumes bietet für das Tal ein hohes Potenzial mit den gegebenen Bedingungen umzugehen und diese für eine Weiterentwicklung zu einem vielfältigen und zukunftsfähigen Ort zu nutzen.
Durch die vorgenommenen Analysen, die sich in Form von Mappings darlegen, wurde eine umfassende Untersuchung der Raumstrukturen erarbeitet, um das Tal in seiner Ganzheit zu begreifen. Als möglichen nächsten Schritt könnten hier einzelne konkrete Orte genauer analysiert werden, um weitere Strukturen zu erkennen. Analysen und Berichte über das Oberengadin, Raumanalysen wie ‘St. Moritz 2030‘, sowie prognostizierte Entwicklungstrends der Alpen wurden in die Arbeit eingearbeitet. Als nächster Schritt könnten vor Ort offene Dialoge mit Bewohnenden, Gästen, Zweitwohnungsbesitzenden, Landwirt:innen und Akteuren der Tourismusindustrie geführt werden, um noch spezifischere Inhalte, Defizite und Qualitäten herauszuarbeiten.
Der differenzielle Raum stellt für Lefebvre eine Utopie dar, eine Hoffnung eines neuen geschaffenen Raumes einer urbanen Gesellschaft, in dem sich Unterschiede kennen und anerkennen. (vgl. 5.2)
Die beispielhaften Maßnahmen, welche aus der Anwendung der Raum-Theorie auf das Oberengadin resultieren, stellen auch hier eine Utopie dar.
Die Maßnahmen lösen sich von einer industriellen Logik und stellen eine Möglichkeit dar, einen vielfältigen und differenziellen Raum zu schaffen, indem eine sinnvolle Synthese aus Traditionellem und Neuem geschaffen wird. Eine Akzentuierung
aller Differenzen, aller Unterschiede und Gegensätze wird versucht zu ermöglichen, indem die Maßnahmen ein maximales Aufeinandertreffen der Unterschiede provozieren. Hier wäre es sinnvoll, in einem weiteren Schritt mit den involvierten Personen konkrete Umsetzungsstrategien, die eine differenzielle Nutzung der Orte zulässt, zu erarbeiten.
Die Theorie über den differenziellen Raum stellt für mich ein hohes Potenzial dar, um die Komplexität und Problematik einer urbanen Tourismuslandschaft, wie das Oberengadin zu adressieren. Das erarbeitete Konzept wurde beispielhaft anhand des Oberengadins erarbeitet und angewendet und schildert eine konkrete Möglichkeit, wie eine sinnvolle Synthese von Traditionellem und Urbanen geschaffen werden kann. Die Analyse und das Konzept kann jedoch auch als Grundlage für die Entwicklung von Zukunftsmodellen weitere ähnlicher urbanen Alpenregionen dienen. Die Arbeit bietet hierdurch einen Beitrag zu einer immer wichtiger werdenden Diskussion über die Entwicklung durch industrielle Logik bestimmte alpine Tourismuslandschaften.