Bern Berne
Nr. 1 / 2012
Nachbarn
Arme Kinder in der Schweiz Im Kanton Bern sind 24 000 Kinder von Armut betroffen. Zwei Familien erzählen, was das für sie bedeutet.
Inhalt
Inhalt Editorial
3 von Thomas Studer
Geschäftsleiter Caritas Bern Kurz & bündig
4 News aus dem Caritas-Netz 1963
12 In der Schweiz angekommen Wenn die Kinder von Saisonarbeitern zu ihren Vätern kommen.
Wahre Freundschaft ist keine Frage des Geldes, sollte man meinen …
Persönlich
13 «Was hat Ihnen als Kind am meisten gefehlt?» Sechs verschiedene Antworten.
Schwerpunkt
Arme Kinder in der Schweiz Armut grenzt Kinder aus, ein Leben lang. Denn Armut wird vererbt, die soziale Mobilität in der Schweiz ist gering. Wer arm ist, wird hier selten reich. Für Kinder hat dies weitreichende Konsequenzen: Sie können nicht mit ihren Kameradinnen und Kameraden mithalten und stehen im Abseits. Auch im Kanton Bern sind 24 000 Kinder von Armut betroffen. Zwei Familien erzählen, was das für sie bedeutet. Zudem stellt Caritas Zahlen, Fakten und Lösungsansätze vor.
ab Seite 6 Zum Schutz der betroffenen Kinder haben wir Bilder von Models verwendet.
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Caritas Bern
14 «Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen»
Kinder aus armen Familien leiden nicht nur unter den knappen finanziellen Ressourcen ihrer Eltern. Vielen von ihnen fehlt es auch an sozialen Kontakten. Das Patenschaftsprojekt «mit mir» von Caritas Bern hilft gegen diese Ausgrenzung.
16 Caritas Bern in ihrem bildhaften und aktiven Jubiläumsjahr Anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums gab Caritas Bern ihrem Engagement in der Öffentlichkeit ein Gesicht. Kiosk
18 Ihre Frage an uns Gedankenstrich
19 Kolumne von Tanja Kummer
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser «Arme Kinder sind das schwächste Glied der Armutskette», sagt der Basler Soziologe Ueli Mäder. Die 24 000 im Kanton Bern lebenden armutsbetroffenen Kinder wohnen in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder zu den «Working Poor» gehören. Sie leiden nicht nur daran, dass ihre Familien über zu wenig Geld verfügen, sondern sie sind vielfältig belastet: mit psychischem Stress in der Familie, ungesunder Ernährung, Bildungsdefiziten, vor allem aber mit sozialer Ausgrenzung. Dies kommt im Beitrag «Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen» zum Ausdruck. In der Schweiz sind die Bildungschancen ungleich verteilt. Kinder, die in sozial unterprivilegierten Schichten mit tiefem Bildungsstand aufwachsen, haben schlechte Chancen, zu Bildung zu «Armut bedeutet kommen. Nebst dem Mangel an Einschränkung an Gütern und Beziehungen bedeutet Wahlmöglichkeiten, Armut vor allem eine Einschränan Perspektiven, an kung an Wahlmöglichkeiten, an Perspektiven, an einer tragfähieiner hoffnungsvol- gen, hoffnungsvollen Zukunft. len Zukunft.» Der Nobelpreisträger Amartya Sen spricht von Armut als «Mangel an Verwirklichungschancen». Unsere Massnahmen zur Überwindung von Armut im Kanton Bern sollten deshalb helfen, die Chancen und Perspektiven von armutsbetroffenen Kindern zu verbessern, um nachhaltig zu wirken. Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, hat es am Caritas-Forum auf den Punkt gebracht: «Armut überwinden heisst Ausbruch aus einer Welt ohne Wahl.» Diese Vision begleitet die Mitarbeitenden der Caritas Bern in ihrer Arbeit und in ihrem Ziel, den Menschen in prekären Lebenssituationen eine bessere Perspektive zu ermöglichen.
Thomas Studer Geschäftsleiter Caritas Bern
«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Stellen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 38 500 Ex. Auflage BE: 3 800 Ex. Redaktion: Franziska Herren (Caritas Bern) Ariel Leuenberger (national) Gestaltung und Produktion: Daniela Mathis, Urs Odermatt Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern Caritas Bern Eigerplatz 5 Postfach 3000 Bern Tel. 031 378 60 00 www.caritas-bern.ch PC 30-1794-2
Herzlichst
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Kurz & bündig
Caritas-Markt
Erfolgsgeschichte Vor 20 Jahren wurde der erste Caritas-Markt eröffnet, seither wächst das Netz ständig. Der erste Caritas-Markt õffnete 1992 in Basel seine Tore, bald darauf folgten weitere Märkte in Luzern und Bern. Schweizweit betreibt Caritas heute 23 Märkte, und das Netz wächst: Im letzten Jahr sind neue Märkte in Baar, Baden und Biel erõffnet worden.
2011 gab es neue Märkte in Baar, Baden und Biel.
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Caritas-Märkte gibt es in der ganzen Schweiz.
Eine Zentrale in Rothenburg (LU) ist für die Akquisition und die Verteilung der Waren zuständig – jährlich rund 13 000 Paletten. Hier kommen Lieferungen aller Grossverteiler der Schweiz an. Waren aus Überproduktionen, schadhaften Serien, Falschlieferungen oder Liquidationen sowie gespendete Lebensmittel. Die Qualität der Lebensmittel ist einwandfrei und unterliegt den strengen Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes.
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Caritas-Markt
Lichtblicke In den Caritas-Märkten können Armutsbetroffene zu Tiefstpreisen einkaufen. Mit dem Kauf von Produkten des täglichen Bedarfs können Armutsbetroffene rund 30 Prozent sparen gegenüber dem Einkauf im Supermarkt. Zum Einkauf berechtigt sind Menschen, die am oder unter dem Existenzminimum leben. Nach einer Budgetüberprüfung erhalten sie eine Einkaufskarte, die ein Jahr lang gültig ist, und kõnnen sich dafür etwas leisten, was ihnen sonst verwehrt wäre: einen Kinobesuch, einen Ausflug oder ein neues Paar Schuhe. Kleine Lichtblicke in einem sorgenreichen Alltag. Möglich ist dies dank der Solidarität, welche die Märkte täglich von vielen Seiten erfahren. Seit 20 Jahren unterstützen Freiwillige die Verantwortlichen in den Filialen, Unternehmen beliefern die Zentrale mit Produkten, die sie nicht mehr verkaufen kõnnen, und Spenderinnen und Spender helfen die Kosten zu tragen. Ohne diese Hilfe kõnnten die Caritas-Märkte nicht existieren, denn sie erwirtschaften keine Gewinne. Im Jubiläumsjahr 2012 wird es in allen Caritas-Märkten spezielle Rabatttage geben, denn auch unsere Kundinnen und Kunden sollen ein Geschenk erhalten. www.caritas-markt.ch
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Kurz & bündig
Migration
Flüchtlingstag in labyrinthischer Form Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene leisten einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Berufswelt und Gesellschaft. Im Rahmen des UNHCR-Weltflüchtlingstags veranstalten am Samstag, 16. Juni 2012, verschiedene Schweizer Städte und Gemeinden einen nationalen Flüchtlingstag. Auf dem Berner Bundesplatz und auf dem Zentralplatz in Biel wird ein Labyrinth interaktiv und spielerisch den Weg zur Integration von Flüchtlingen aufzeigen. Integration ist ein Gewinn für beide Seiten, und Flüchtlinge haben der Schweiz viel zu geben: Talent, Berufserfahrung, Motivation und die Begeisterung über ihre neuen beruflichen und sozialen Möglichkeiten. Organisiert wird der Anlass von mehreren Hilfswerken, darunter die Caritas Bern. Vorgängig wird ein «Flashmob» auf den Flüchtlingstag aufmerksam machen. Vielerorts organisiert die Caritas, gemeinsam mit anderen Organisationen, die Flüchtlingstage. So in Aarau, Arbon, Bern, Basel, Luzern, St. Gallen, Sarnen, Zofingen und Zürich.
NEWS Sport hebt die Stimmung Ein gesunder Körper stärkt den Geist, wussten schon die Römer. Dass diese Weisheit auch für Arbeitslose gilt, zeigt ein Pilotprojekt der Suva bei Caritas Luzern: Im Caritas Bauteilmarkt turnen die Teilnehmenden jeden Morgen ein paar Minuten. Das Programm ist fest in den Tagesablauf integriert, rund 70 Arbeitslose machen mit. Frauen reden die gleiche Sprache Rapperswil-Jona, Gossau, Wil, Flawil und Uzwil starteten zusammen mit Caritas St. Gallen-Appenzell das Projekt «FemmesTISCHE». Das ist ein Elternbildungsprogramm mit Migrantinnen: Frauen tauschen sich in einer Gesprächsrunde mit einer Moderatorin in ihrer Muttersprache aus. Sie reden über Erziehung, Familie oder Ernährung, behandeln Integrationsthemen und erhalten Informationen über das Schulsystem. KulturLegi vergünstigt Ferien Caritas und Reka arbeiten bei der KulturLegi zusammen: Armutsbetroffene können neu bei der Reka ohne administrativen Aufwand Ferien buchen, praktisch gratis. Zu einem Solidaritätspreis von 100 Franken können sie eines der reservierten 100 Arrangements für Ferien in der Schweiz beantragen. Das Anmeldeformular kann hier heruntergeladen werden: www.kulturlegi.ch, www.reka.ch Pfarreien sammelten für Caritas Die Opfer der Gottesdienste Ende Januar und Anfang Februar 2012 spendeten zahlreiche Pfarreien der Deutschschweiz erneut zu Gunsten von regionalen Caritas-Projekten. Dieses Jahr wurden armutsbetroffene Kinder in der Schweiz unterstützt. Durch die Sammlung kamen über 130 000 Franken zusammen. Wir danken den Pfarreien für die vielen Spenden. Dass es viel zu tun gibt, zeigt das Hauptthema dieses Magazins.
An über 200 Orten in der Schweiz gibt es Veranstaltungen zum Flüchtlingstag.
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Rubrik
Freundschaften machen Kinder stark und zuversichtlich – das Leben macht mehr Spass, wenn man schöne und schwierige Momente mit anderen teilen kann.
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Schwerpunkt
«Unsere Mutter kann zaubern» In der Schweiz sind viele Kinder von Armut betroffen. Wie erleben sie ihre Situation? Wo spüren sie am meisten, dass bei ihnen daheim weniger Geld da ist als bei ihren Kolleginnen und Kollegen? Wie gehen sie damit um? Begegnungen mit Kindern aus Sozialhilfe beziehenden Familien. Text: Ursula Binggeli Bilder: Zoe Tempest
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ichel (14), schwärmt vom Bugatti, den er kürzlich in einem Automobilmuseum gesehen hat. Sven (12) spielt gerne Fussball und hat sich gerade einen blauen Schal gestrickt. Bryan (11) hat in der Schule lieber Englisch als Mathe und spielt am freien Nachmittag gerne mit Kollegen im Freien. Natalie (11) hat Freude am Velofahren und will später einmal Physiotherapeutin oder Topmodel werden. Michel, Sven, Bryan und Natalie – vier Kinder mit unterschiedlichen Neigungen und Wünschen, die eine Erfahrung gemeinsam haben: Sie wissen, was es heisst, von der Sozialhilfe zu leben.
Michel und seine Familie Die Mutter von Michel lebt seit der Trennung von ihrem Partner vor bald elf Jahren alleine mit ihm und seinem jüngeren Bruder Yves. Bis vor vier Jahren war auch noch
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Michels Schwester dabei, aber sie ist unterdessen 20 und wohnt nun bei ihrem Freund. Michels Mutter hat früher als Coiffeuse gearbeitet und dann verschiedene Teilzeitjobs gehabt. Seit sie mit den Kindern alleine ist, arbeitet sie jedoch nicht mehr ausser Haus. Eine Tagesmutter sei zu teuer, sagt sie. Und: «Ich wollte und konnte mich nicht von den Kindern trennen.» Vor allem Yves braucht viel Aufmerksamkeit. Er hat eine leichte geistige Behinderung und besucht eine heilpädagogische Schule. Die Familie lebt schon lange von der Sozialhilfe. Michels Mutter hat sich in den letzten zehn Jahren sehr zurückgezogen. Zum Ausgehen habe sie weder Zeit noch Geld gehabt, sagt sie dazu. Ihre Kontaktfreude lebt sie heute am Computer aus: Im Internet hat sie Kollegen gefunden, mit denen sie sich regelmässig online austauscht. Seinem Vater ist Michel das letz-
te Mal vor acht Jahren begegnet, obwohl er gar nicht so weit weg wohnt. Nun ist Michel der Mann im Haus, er nimmt den Gästen beim Eintreten die Mäntel ab und bringt ihnen ein Glas Mineralwasser. Im Gespräch erzählt er dann, dass es ihm im Moment in der Schule nicht gut laufe. Dem Vierzehnjährigen ist das Lernen verleidet, er steht auf Kriegsfuss mit den Hausaufgaben, seine Leistungen werden immer schlechter. Seine Mutter hat ihm das Fussballspielen so lange untersagt, bis er wieder bessere Noten heimbringt. Nun hofft sie, dass der bevorstehende Umzug der Familie in eine andere Gemeinde die Wende bringt: Ein neues Schulhaus, neue Kollegen, eine neue Lehrperson – vielleicht packt es Michel dann! In der Freizeit zeigt Michel bereits jetzt, was er kann. Im Freizeittreff für Behinderte, den sein Bruder ein Mal im Monat besucht, ist er neuerdings Leiter. Er freut sich über
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Rubrik
Zusammenhalten, auch wenn es manchmal schwierig ist: Wahre Freunde sind immer füreinander da.
die neue Aufgabe, doch er ist keiner, der Zukunftspläne schmieden mag – auch beruflich: Er weiss noch nicht, was er werden möchte. Seit kurzem hat Michel vom Projekt «mit mir» der Caritas einen Götti und eine Gotte vermittelt erhalten. Das Ehepaar unternimmt mit ihm regelmässig Ausflüge – zum Beispiel ins Automobilmuseum oder in den Europapark. Lässig sei das, sagt er, und lächelt.
Zu Besuch bei Sven, Bryan und Natalie In Svens Klasse ist im Klassenrat einmal das Sackgeld thematisiert worden. Seither weiss der Zwölfjährige, dass eine seiner Kolleginnen regelmässig 50 Franken bekommt, wenn sie eine gute Prüfung geschrieben hat. Er erzählt das ganz
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sachlich. Seine jüngere Schwester Natalie berichtet, sie kenne Mädchen, die sich vom Sackgeld sogar neue Kleider kaufen können. Ihr Zwillingsbruder Bryan übersetzt daraufhin, was die Mutter der drei Geschwister gerade auf Portugiesisch gesagt hat: «Unsere Mutter hat manchmal Schuldgefühle, weil sie uns kein Taschengeld geben kann.» Und dann fügt er spitzbübisch an: «Aber sie gebe uns dafür ganz viele liebe Küsse, sagt sie.» Alle lachen. Frau S. ist vor dreieinhalb Jahren mit ihren Kindern von Brasilien in die Schweiz gekommen, in die Heimat des Ex-Mannes, in der Hoffnung, als Alleinerziehende ihren Kindern hier bessere Chancen bieten zu können. Seit die Familie da ist, lebt sie von der Sozialhilfe.
Diese bezahlt Frau S. nun einen Sprachkurs, ihr Deutsch wird von Monat zu Monat besser und sie hofft, in absehbarer Zeit Arbeit zu finden. Sven, Bryan und Natalie bewegen sich bereits ziemlich selbstverständlich in der neuen Sprache. Dass Familie S. eisern sparen muss, wird nicht nur beim Sackgeld deutlich. Im Winter kann jeweils nur eines der Kinder mit der Klasse ins Skilager reisen. Wenn Sven und Natalie in den Sommerferien die regionale Fussballwoche für daheimgebliebene Kinder besuchen, übernimmt das Sozialamt zwar den Kurs, aber nicht die Busbillette hin und zurück. Die elfjährige Natalie erzählt, dass diese Zusatzkosten das Familienbudget jeweils sehr belasten, «weil dort alles schon ganz genau eingeteilt
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ist». Mit dem Sparen kennt sich jedes der Kinder bestens aus. Letztes Jahr konnte Familie S. eine Ferienwoche im Tessin verbringen. Das Wetter war schön, es war warm, es hatte so viele Ameisen wie in Brasilien, aber weil das Sozialamt den Bungalow bezahlte, aber halt nichts an die Extras, die auch zum Ferienglück gehören, gab es für die Familie keine kleinen Freuden wie hie und da eine Glace oder Besuche im Schwimmbad. Natalie sagt zwar: «Mami kann zaubern!», wenn sie davon erzählt, wie ihre beiden Brüder und sie von der Mutter zum Geburtstag stets Geschenke erhalten. Aber sie weiss, dass ihr grosser Wunsch für den nächsten Geburtstag – mit ihren Freundinnen eine Bowlingbahn in einem Restaurant besuchen, so wie es andere Mädchen in ihrer Klasse auch machen – möglicherweise ein Wunsch bleiben wird. «Es kostet halt», sagt sie nüchtern. «Mami sagt, dass sie es probiert, aber vielleicht geht es nicht.»
Haustiere liegen nicht drin Sven weiss, dass sein Wunsch nach einem Hund unerfüllbar ist. Haustiere sind im Budget nicht vorgesehen. Die Meerschweinchen und Hamster, die sie vor einiger Zeit von einem wegziehenden Nachbarn übernommen hatten, mussten sie aus demselben Grund weiterverschenken. «Das Futter war zu teuer», erklärt Sven. Aber daneben gibt es viele Dinge, die Spass machen und wenig bis nichts kosten. Gemeinsam Kuchen backen! Gemeinsam brasilianische Gerichte kochen! Gemeinsam Spiele spielen! «Ich liebe meine Kinder und ich liebe es, mit ihnen Zeit zu verbringen», sagt Frau S. Und Sven fügt an: «Es kommt gar nicht so fest drauf an, was wir machen – Hauptsache, wir machen es gemeinsam.»
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Kommentar Wie beeinträchtigt Armut die Entwicklung von Kindern? Materielle Armut bedeutet nicht nur weniger Geld, sie zieht Nachteile für die Kinder und die ganze Familie in vielen Lebensbereichen nach sich. Weniger soziale Kontakte, schlechtere Lernmöglichkeiten, mangelhafte Gesundheitsvorsorge müssen aufgeholt werden, bevor eine chancengleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich wird. Materielle Armut kann Eltern derart beanspruchen, dass sie ihre Verantwortung gegenüber den Kindern nicht mehr wahrnehmen können, und der Stress kann sogar das Risiko von Misshandlungen erhöhen. Fallen arme Kinder auf? Armut versteckt sich und will sich suchenden Blicken entziehen. Arme Kinder sind als Persönlichkeiten nicht auffälliger oder unauffälliger als andere. Trotzdem weiss man, in welchen Quartieren sicher keine reichen Leute wohnen. Gleichaltrige haben einen scharfen Blick dafür, wem die Minimalausstattung an materiellen Dingen fehlt. Die Statistik zeigt, dass armutsbetroffene Kinder schlechteren Zugang zu höherer Bildung haben. Ein einzelnes armes Kind fällt vielleicht nicht auf, die Armut von Kindern dagegen schon, wenn man nicht wegschaut.
«Armutsbetroffene Kinder haben schlechteren Zugang zu höherer Bildung.»
Welche Perspektiven haben Kinder aus armen Familien? Vom-Tellerwäscher-zum-Milliardär-Karrieren sind möglich, werden aber die Ausnahme zur Regel eines hohen Risikos sein, dass sich Armut vererbt. Das muss nicht tatenlos hingenommen werden. Die Startlinie für armutsbetroffene Kinder kann verbessert werden, beispielsweise mit einer adäquaten Existenzsicherung, Mentoring-Projekten oder situationsgerechter Unterstützung der Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe. Haben Kinder eine gute Gegenwart, haben sie auch bessere Zukunftschancen. Dafür hat sich die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) im Bericht «Jung und arm: das Tabu brechen» engagiert.
Michael Marugg, Mitglied der Eidg. Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ)
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Schwerpunkt
Arme Kinder in der Schweiz Armut grenzt Kinder aus, ein Leben lang. Denn Armut wird vererbt, die soziale Mobilität in der Schweiz ist gering. Die Betroffenen können nicht mit ihren Kameradinnen und Kameraden mithalten und stehen im Abseits. Text: Ariel Leuenberger Illustration: Christoph Fischer
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er Begriff der Armut ist stark mit Bildern aus anderen Weltgegenden verbunden. Traurige Kinder mit Hungerbäuchen, Kindersoldaten, Bauern, die ihre kargen Äcker von Hand bestellen. Armut in einer reichen Gesellschaft wird als «Luxusproblem» verstanden, soziale Auffangnetze verhindern zum Glück das Schlimmste. Aber hier sind Armutsbetroffene ausgeschlossen, während in ärmeren Gesellschaften die Gemeinschaft mitträgt und das Verständnis viel grösser ist. In der Schweiz sind rund 260 000 Kinder von Armut betroffen – das sind ungefähr 13 000 Schulklassen. Sie leben in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder zu den «Working Poor» gehören. Kinder, die von Armut betroffen sind, leiden nicht nur daran, dass
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ihre Familien zu wenig Geld haben. Auch weniger gesundes Essen, prekäres Wohnen, unmodische Kleider belasten sie. Dadurch verlieren sie an Selbstwertgefühl; oft entwickeln sie Schulschwächen und verwenden ihre Energie hauptsächlich dazu, den familiären Zusammenhalt zu sichern und von ihren Freunden nicht ausgeschlossen zu werden.
Armut wird vererbt Die soziale Herkunft hat auf die Entwicklung und die Chancen der Kinder einen überdurchschnittlich grossen Einfluss, gerade in der Schweiz. Kurzum: Reichtum und Armut sowie damit verbundene Möglichkeiten und Einschränkungen werden vererbt. So kann von Chancengleichheit keine Rede sein. Das hat weitreichende Folgen: Wenn die Nachteile der sozialen
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Schwerpunkt
Bildung und Freizeit Schon beim Schuleintritt weisen die Kinder in der Schweiz sehr unterschiedliche Kompetenzen auf – Bildungsdefizite nehmen bereits in der Vorschulphase Form an. Die ersten Lebensjahre stellen eine kritische Phase für die intellektuelle, kognitive und emotionale Entwicklung eines Kindes dar. Denn Kinder lernen in dieser Zeit besonders leicht, und allfällige Defizite lassen sich leichter ausgleichen als später. In der frühkindlichen Bildung besteht daher ein grosses Potenzial für die Verhinderung von Armut. Erziehung findet nicht nur in der Schule oder im Elternhaus statt. Vereine, Freunde und Familienausflüge tragen wesentlich zur Bildung des sozialen Netzes, zur Integration und auch zur Entwicklung und Vertiefung der Interessen und Fähigkeiten bei. Arme Kinder können aber oft nicht mithalten, weil die Kosten für diese Aktivitäten das Budget ihrer Eltern sprengen. Einmal mehr sind sie benachteiligt und stehen abseits. Gleiche Chancen für alle Die Stärke einer Gesellschaft misst sich bekanntlich am Wohl der Schwachen. Caritas setzt sich dafür ein, dass in der Schweiz alle Kinder gleiche Chancen haben. Wir helfen armutsbetroffenen Familien direkt mit persönlicher Beratung und verschiedenen Projekten. Zudem setzen wir uns anwaltschaftlich für Betroffene ein, indem wir die Rahmenbedingungen, welche zu Armut führen, mit Forderungen an die Politik zu verbessern versuchen.
Links und Publikationen Kampagne für arme Kinder Mit der Kampagne «Abseits» machen die regionalen Caritas-Organisationen in der Deutschschweiz auf Probleme und Lösungsansätze aufmerksam. Details auf www.kinderarmut.ch Sozialalmanach 2012 Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz mit dem Schwerpunktthema «Arme Kinder». Unter anderem mit Beiträgen von Ueli Mäder, Ludwig Gärtner, Michael Marugg, Carlo Knöpfel, Margrit Stamm. Zu bestellen unter www.kinderarmut.ch/publikationen
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Caritas fordert Massnahmen Die bestehenden Rahmenbedingungen genügen nicht, um die Kinderarmut in der Schweiz zu verringern. Öffentliche Ausgaben für Familien in % des BIP, 2007
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Steuererleichterungen Steuererleichterungen für Familien für Familien
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Dienstleistungen für Dienstleistungen für Familien Familien
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Beiträge für Familien Beiträge für Familien
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1.5%
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Herkunft nicht ausgeglichen werden, bleiben sie über das ganze Leben erhalten. Wer keinen guten Schulabschluss erreicht, hat Schwierigkeiten, eine adäquate Berufsausbildung zu absolvieren und einen guten Arbeitsplatz zu finden. Das ist später selbst bei der Höhe der Rente noch erkennbar.
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Die Schweiz liegt unter dem Durchschnitt: Ausgaben für Familien in OECD-Staaten, in Prozent des BIP (2007).
Arme Kinder haben nicht die gleichen Chancen wie ihre besser gestellten Freundinnen und Freunde. Armutsbekämpfung und Armutsprävention müssen den Ausschlussmechanismen entgegenwirken. Caritas fordert Massnahmen zur Existenzsicherung einerseits und solche zur Chancengleichheit andererseits. Beide sind notwendig, um die Vererbung von Armut zu durchbrechen. Die Erwerbsarbeit von Eltern muss erleichtert, günstiger Wohnraum für Familien gefördert werden. Es braucht Ergänzungsleistungen für Familien sowie den Ausbau von Betreuungs- und Bildungsangeboten. In Quartieren verankerte Familienunterstützungszentren können dazu beitragen, armutsbetroffenen Familien früher, besser und umfassender zur Seite zu stehen. Nur so haben ihre Kinder die Chance, aus dem Abseits zu treten und mit ihren Freunden wieder mithalten zu können. Verschiedene Caritas-Projekte wie die KulturLegi, der Caritas-Markt oder das Patenschaftsprojekt «mit mir» helfen ihnen schon heute.
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In der Schweiz angekommen Seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts lebten viele Italiener als Saisonarbeiter in Barackensiedlungen. Als sie später ihre Familie nachziehen konnten, arbeiteten meist auch die Mütter, und die Kinder waren sich selbst überlassen. Noch in den Siebzigerjahren gab es mehr als 10 000 illegal in der Schweiz lebende Kinder von Saisonarbeitern. Bild: Rob Gnant – Barackensiedlung an der Luggwegstrasse in Zürich © Fotostiftung Schweiz / 2012, ProLitteris, Zürich
Persönlich
«Was hat Ihnen als Kind am meisten gefehlt?» Diese Frage haben wir unterschiedlichen Menschen auf der Strasse gestellt. An verschiedenen Orten in der Deutschschweiz.
Anina Jost, Studentin: Ich würde meine Kindheit eins zu eins wieder so erleben wollen, wie ich sie erlebt habe. Ich hatte alles, was ein Kind überhaupt haben kann. Ich hatte Liebe, Zeit mit meinen Eltern, Freunde, Spass und eine gute Erziehung genossen. Mir wurden aber auch Grenzen aufgezeigt und ich machte auch schlechte Erfahrungen. Genau diese haben sich als sehr wichtige Momente herausgestellt.
Hans Trampitsch, Fleischfachverkäufer: Am meisten gefehlt hat mir, dass der Vater nicht mehr Zeit gehabt hat, mit uns Kindern etwas zu unternehmen, zu spielen. Aber das war natürlich auch schwierig. Ich bin mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Auch die Mutter hatte zu wenig Zeit. Sie musste ja damals zum Beispiel die Windeln noch von Hand auswaschen.
Pascal Tschudin, Auszubildender: Bis zum 16. Lebensjahr lebte ich in Ecuador. Ich hatte eine gute Kindheit, mir hat nichts gefehlt. Ich schätzte vor allem den Zusammenhalt in unserer Grossfamilie und hatte viele gute Freunde. Vor gut zwei Jahren kamen wir in die Schweiz. Hier herrscht eine andere Mentalität: Ich habe nur wenige Bekannte und mir fehlt der Kontakt zur Grossfamilie, vor allem zu meinen Grosseltern.
Angela Falk, Studentin: Ich wurde mit sechs Wochen adoptiert, meine Wurzeln haben mir aber nie gefehlt. Da ich eine Nachzüglerin bin – meine Geschwister sind 12 und 14 Jahre älter als ich –, haben mir gleichaltrige Geschwister gefehlt, mit denen ich mich hätte austauschen und zusammen rebellisch sein können. Ich ging dafür zu Freunden nach Hause, bei mir zuhause war alles ein bisschen zu leer und zu steril.
Letina Okbamichael, Eritrea: Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater. Für mich und meinen sechsjährigen Bruder war das eine schlimme Erfahrung. Die Mutter musste arbeiten gehen und ich hatte viel auf meinen Bruder aufzupassen. Der Vater fehlte mir sehr.
Ruth Becker, kfm. Angestellte, Familienfrau: Ich hatte eine sehr schöne Kindheit und hab gar nicht das Gefühl, dass mir etwas gefehlt hätte. Nur etwas kommt mir in den Sinn. Ich hätte wahnsinnig gerne einen Hund gehabt. Da waren meine Eltern aber strikt dagegen, weil das doch viel Aufwand bedeutet hätte.
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Caritas Bern
«Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen» Kinder aus armen Familien leiden nicht nur unter den knappen finanziellen Ressourcen ihrer Eltern. Vielen von ihnen fehlt es auch an sozialen Kontakten. Das Patenschaftsprojekt «mit mir» von Caritas Bern knüpft Beziehungen zwischen freiwilligen Patinnen oder Patenpaaren und Familien, die in einer sozial oder finanziell schwierigen Situation stecken. Text: Franziska Herren Bilder: Andreas Schwaiger
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ir sind finanziell nicht auf Rosen gebettet», gesteht Ursula Kuhn*. Sie und ihr Mann, der wegen Krankheit nicht arbeiten kann, sowie ihre drei Kinder leben am Existenzminimum. Lebensmittel kauft die Familie nach Möglichkeit im Caritas-Markt ein, Kleider in der Kleiderbörse. Für die Freizeit müssten sie sich halt etwas vornehmen, das wenig koste. Am Fluss grillieren oder mit der KulturLegi ins Hallenbad gehen. Die fünfköpfige Familie ist in einem Mehrfamilienblock, in einer Viereinhalbzimmerwohnung, zuhause. Es sei zwar eng, aber sie seien zufrieden, erklärt Ursula Kuhn. Die beiden jüngeren Kinder, die noch zur Schule gehen, teilen sich einen Raum. Die älteste Tochter, die eine Lehre macht, hat ihr eigenes Zimmer. «Etwas Besseres finden wir nicht», sagt Ursula Kuhn.
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Über Geld wird am Familientisch nicht gesprochen. Gewisse Regeln sind jedoch klar. So zum Beispiel, dass die älteste Tochter ihren Lehrlingslohn für die Fahrkosten und Verpflegung einsetzen muss. «Es kommt vor, dass wir unseren Kindern Spielsachen, Kleider oder Freizeitaktivitäten nicht finanzieren können», sagt Ursula Kuhn nachdenklich. «Wir versuchen, ihnen etwas zu gönnen, und stecken unsere Bedürfnisse zurück. Doch manchmal geht es einfach nicht.»
Armut hat viele Gesichter Im Kanton Bern erleben 24 000 Kinder ein ähnliches Schicksal. Sie leben in Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder deren Eltern trotz Erwerbseinkommen am oder unter dem Existenzminimum leben. «Arme Kinder sind das schwächste Glied der Armutskette», schreibt der Basler Soziologe
Ueli Mäder im «Sozialalmanach 2012». Armut hat viele Gesichter und trifft Kinder unterschiedlich. «In Haushalten von erwerbstätigen Armen spüren Kinder den finanziellen Stress. Sind die Eltern arbeitslos, beeinträchtigen psychische Verstimmungen die Lebensfreude von Kindern», erklärt Ueli Mäder. Kinder aus armen Familien haben einen geringeren Selbstwert und leiden unter mehr gesundheitlichen Problemen. Auch macht vielen armutsbetroffenen Kindern der Vergleich mit Kolleginnen und Kollegen, die sich mehr leisten können, zu schaffen. Auch Ursula Kuhns Kinder bekommen es mit, wenn ihre Klassenkameradinnen oder –kameraden am Wochenende Ski fahren gehen oder im Sommer in die Ferien fahren. «Die älteste Tochter beschwert sich oft und vergleicht sich mit Jugendlichen, die sich mehr leisten
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können», sagt Ursula Kuhn. Ihre Tochter ist in der Schule zeitweise gemobbt worden. Nicht nur, weil ihre Familie über wenig Geld verfügt, sondern allem voran, weil ihr Vater arbeitsunfähig und immer zuhause war. Gerade an Vater-Tochter-Tagen, an denen die Väter den Töchtern ihren Arbeitsplatz zeigen würden, sei die Situation für die Tochter schwer zu ertragen gewesen, führt Ursula Kuhn aus. «Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen», meint die Mutter. «Die Mädchen aus ihrer Klasse wollten nicht mit ihr abmachen, und sie selbst lud auch niemanden nach Hause ein.»
Die Patenschaft eröffnet eine neue Welt Weil sie über ein kleines Beziehungsnetz verfügt, hat sich Ursula Kuhn vor mehr als drei Jahren entschieden, ihre beiden jüngeren Kinder im Patenschaftsprojekt «mit mir» der Caritas Bern anzumelden. «Ich fand es wichtig, dass die Kinder eine Patin erhalten. Eine Person, von der sie lernen können, und die ihnen Neues zeigt.» Die freiwilligen Patinnen oder Patenpaare des Projekts «mit mir» verbringen Zeit mit den Kindern und holen die Kinder so aus einer möglichen Isolation heraus. «In einer Patenschaft lernt ein Kind eine neue Welt kennen. Es bekommt von der Patin oder dem Patenpaar Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt, und dadurch erweitern sich für das Kind die Möglichkeiten und der Horizont», erklärt Maria Teresa Ossola, Leiterin Patenschaftsprojekt «mit mir». In Bern und Biel profitieren zurzeit 60 Kinder von einer Patenschaft. «Ein Kind zu akzeptieren, so wie es ist, unabhängig von Geschlecht, Nationalität und Status, ihm Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken und es ernst zu nehmen, ist ein wertschätzendes Geschenk, und das Kind gewinnt dadurch an Selbstvertrauen», führt Maria Teresa Ossola weiter aus.
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Freizeit ist teuer. Arme Kinder können mit Kameradinnen und Kameraden nicht mithalten und stehen im Abseits.
Arme Kinder haben einen geringeren Selbstwert. Sie vergleichen sich oft mit Kolleginnen und Kollegen.
Rund zwei Nachmittage pro Monat verbringen Ursula Kuhns Kinder bei ihrer Patin. Sie backen oder spielen mit ihr, gehen in den Wald oder verrichten zusammen Gartenarbeiten. «Hie und da lädt die Patin sie ins Theater ein, und sie lernen dabei etwas kennen, das wir ihnen nicht bieten können», sagt ihre Mutter. «Die Kinder schätzen ihre Patin und freuen sich darauf, mit
ihr etwas zu unternehmen.» Und auch Ursula Kuhns Alltag erfährt Entlastung: «Wenn die Kinder weg sind, kann ich die Zeit nutzen, um mal spazieren oder schwimmen zu gehen. Und manchmal, um einfach in Ruhe Hausarbeiten zu erledigen.»
*Name von der Redaktion geändert
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Caritas Bern
Der neue Caritas-Markt in Biel ist am 15. September 2011 offiziell eröffnet worden.
Caritas Bern in ihrem bildhaften und aktiven Jubiläumsjahr Anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums gab Caritas Bern ihrem Engagement in der Öffentlichkeit ein Gesicht. Mit der Eröffnung eines dritten Caritas-Marktes im Kanton Bern setzte sie zudem eine Forderung der Kampagne «Armut halbieren» um. Text: Franziska Herren Bilder: Guy Perrenoud, Christoph Wider
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n dem im Juni auf dem Waisenhausplatz in Bern durchgeführten «Kultursprung»Fest stand Caritas Bern für den Dialog zwischen den Kulturen ein. Die über 5000 Besucherinnen und Besucher erfreuten sich an den kulturellen und kulinarischen Spezialitäten aus der ganzen Welt. Ein Gericht aus Süd-
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amerika, dem Mittleren Osten, Ostafrika und der Schweiz wurde am «Kultursprung»-Fest zugunsten der Caritas Bern verkauft.
Filme über Menschen an den Rändern Auch Quinnie Cinemas unterstützte die Caritas Bern in ihrem Jubiläumsjahr. Sie bot sich als Partnerin
an und liess die Caritas Bern im Frühherbst die Filmreihe «Randsichten» zum 25-Jahre-Jubiläum im cineMovie in Bern programmieren. Die an fünf Dienstagabenden gezeigten preisgekrönten Filme nahmen Lebenssituationen von Menschen in den Fokus, mit denen Caritas Bern in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert ist. Die Filmreihe wurde von 350 Leuten besucht. 80 Prozent der Einnahmen spendete Quinnie Cinemas der KulturLegi der Caritas Bern. Diese Verbindung machte Sinn, denn: «Auch in den Quinnie-Kinos können die Besucherinnen und Besucher mit einer KulturLegi günstiger ins Kino», erklärte Ana-Marija Gröndahl von Quinnie Cinemas. Die KulturLegi ist im Kanton Bern gut verankert. Ende 2011 führten 14 Gemeinden die KulturLegi. Drei neue Gemeinden – Langenthal, Nidau und Port – stiessen auf den 1. Januar 2012 dazu. Seit ihrer Einführung im Kanton Bern im Jahr 2006 ist keine Gemeinde aus dem Programm ausgestiegen.
15. Operngala im Stadttheater Bern Mit dem 25-Jahre-Jubiläum der Caritas Bern fiel 2011 auch der 15-jährige Geburtstag des Fördervereins zusammen. An der traditionell im November im Stadttheater durchgeführten Operngala wurde «Der fliegende Holländer» von Richard Wagner aufgeführt. Der Präsident des Fördervereins der Caritas Bern, Robert Landtwing, konnte zu dieser romantischen Oper Prominenz aus Wirtschaft, Politik und aus kirchlichen Kreisen begrüssen. Den Abschluss des Jubiläumsjahres bildete die bereits zum siebten Mal auf dem Bundesplatz durchgeführte Solidaritätsaktion «Eine Million Sterne». Die Miss Earth Schweiz, Irina De Giorgi, zündete zusammen mit den prominenten Berner Politikerinnen Edith Olibet und Evi Allemann Feuersonnen als
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Caritas Bern
Zeichen der Solidarität mit armutsbetroffenen Menschen an. Junge Führungskräfte der JCIKammer Bern unterstützten die Caritas Bern im ganzen Jubiläumsjahr bei Anlässen und Massnahmen durch freiwillige Einsätze. «Als ich Ende 2010 zum Präsidenten der JCI Bern ernannt wurde, wollte ich ein soziales Projekt durchführen, in dem einer NGO nicht Geld, sondern Zeit und Fachwissen zur Verfügung gestellt wird», sagte Dave Weilenmann, Präsident der JCI-Kammer Bern. Mit ihrem fünfjährigen Bestehen konnte auch die Berner Vermittlungsstelle für interkulturelle Übersetzerinnen und Übersetzer «comprendi?» ein kleines Jubiläum feiern. Seit ihrem Start hat sich die Zahl der Übersetzungsstunden pro Jahr mehr als verdoppelt. Sie liegt heute bei 17 239 Stunden in rund 50 verschiedenen Sprachen. Ein Wachstum erfuhr auch der Flüchtlingsdienst der Caritas Bern. Die Sozialarbeitenden begleiteten gut 200 Personen mehr als im Vorjahr. Bei der Fachstelle Wohnen erforderte das Wachstum eine personelle Erweiterung sowie eine Konzeptanpassung. Eine Massnahme daraus ergibt sich in der Beratung: Die Mitarbeitenden der Fachstelle Wohnen werden die anerkannten Flüchtlinge vermehrt darauf hinweisen, den Radius bei der Wohnungssuche geografisch auf die Regionen auszuweiten.
Erster zweisprachiger CaritasMarkt eröffnet Die Caritas-Kampagne «Armut halbieren» spielte im Jubiläumsjahr weiterhin eine wichtige Rolle. Mit der Eröffnung eines dritten Caritas-Marktes im Kanton Bern kam Caritas Bern der Forderung nach der Schaffung von mehr Läden für armutsbetroffene Menschen nach. Der im letzten Sommer in Biel neu eröffnete Markt wird als erster Caritas-Markt nicht von der Caritas selbst, sondern von der
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Robert Landtwing, Präsident Förderverein, und Judith Ackermann, Vizepräsidentin Förderverein, konnten an der Operngala Prominenz aus Wirtschaft, Politik und aus kirchlichen Kreisen begrüssen.
FONDATION gad STIFTUNG betrieben. «In den ersten fünf Monaten wurden 3000 Einkaufskarten im Raum Biel-Bienne/Seeland an zur Abgabe berechtigte Institutionen und Personen verteilt», erklärt Marianne Kuchen, Leiterin Bereich Gastronomie der FONDATION gad STIFTUNG. «Der Umsatz konnte in den ersten Monaten kontinuierlich gesteigert werden, was den von uns erwarteten Bedarf für das Angebot bestätigt», führt Marianne Kuchen weiter aus. Beim neu geschaffenen Geschäft in Biel handelt es sich ausserdem um den ersten zweisprachigen Caritas-Markt der Schweiz. Die beiden anderen Caritas-Märkte in Bern und Thun erfuhren im vergangenen Jahr kleine Neuerungen. Dank Spenden zum Tod des Pfarrers Michael Dähler und dank des innovativen Zivildienstleistenden Patrick Wüthrich ist im Thuner Caritas-Markt eine neue Café-Ecke entstanden. Auch in Bern erfuhr die Kaffeeecke als sozialer Treffpunkt eine Auffrischung.
Aus Solidarität mit Armutsbetroffenen zündete die Miss Earth Schweiz, Irina De Giorgi, an der Aktion «Eine Million Sterne» auf dem Bundesplatz Kerzen an.
Den Rechenschaftsbericht der Caritas Bern 2011 finden Sie unter www.caritas-bern.ch.
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Ihre Frage an uns
AGENDA
Sind Menschen, die mit dem Auto zum Caritas-Markt fahren, wirklich arm? Ein Auto kostet jeden Monat viel Geld, das man sicher sinnvoller einsetzen könnte. (Anna Schmid, Bern)
Delegiertenversammlung 2012 der Caritas Bern
Liebe Frau Schmid Es stimmt: Ein Auto ist teuer. Unsere Sozialberaterinnen und -berater empfehlen bei der Budgetberatung stets, auf das Auto zu verzichten und die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Doch es gibt Situationen, in denen ein eigenes Auto unverzichtbar ist. Wer zum Beispiel Schichtarbeit verrichtet, kommt kaum ohne Auto nach Hause. Und wer abgelegen auf dem Land wohnt, wo die Wohnungen besonders günstig sind, ist unter Umständen auch auf ein Auto angewiesen. Wir bei Caritas sind der Meinung, dass jeder Mensch sein Geld so einsetzen soll, wie er es für richtig empfindet. Wenn arme Menschen auf Ferien oder auf eine grössere Wohnung verzichten und sich dafür das eigene Auto leisten, so ist das ihre Entscheidung, die es zu respektieren gilt – wenn sie Prioritäten setzen können. Aber wenn sich unsere Klientinnen und Klienten nicht an das gemeinsam erarbeitete Budget halten, stellen wir die Beratung ein. Denn ohne Auto hat jede Familie am Ende des Monats mehr Geld zur freien Verfügung. Schliesslich kann man sich auch ein Fahrzeug leihen, von Freunden oder bei Mobility.
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Haben Sie auch eine Frage an uns? Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an nachbarn@caritas-zuerich.ch oder per Post an: Redaktion Nachbarn Caritas Zürich Beckenhofstrasse 16 Postfach 8021 Zürich
An der Delegiertenversammlung der Caritas Bern steht der Rechenschaftsbericht mit der Jahresrechnung im Zentrum. Nebst einem Rückblick auf das Jahr 2011 wird den Teilnehmenden auch ein Ausblick ins laufende Jahr 2012 gewährt. Mittwoch, 6. 6. 2012, 18 Uhr Pfarrei St. Marien in Bern Menschenwürde – ein Luxus? Die Fachtagung der Interkonfessionellen Arbeitsgruppe Sozialhilfe und der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Erwachsenenund Kinderschutz zum Thema «Menschenwürde» richtet sich an Sozialarbeitende und kirchliche Mitarbeitende von öffentlichen und andern Organisationen im Sozialbereich sowie kirchliche, kommunale und regionale Behördenmitglieder. Dienstag, 12. 6. 2012, 8.15 bis 17 Uhr Reformierte Kirchgemeinde Paulus, Bern Tag des Flüchtlings In Bern und Biel veranstalten mehrere NGOs den nationalen Flüchtlingstag. Ein Labyrinth wird auf interaktive und spielerische Weise den Weg zur Integration von Flüchtlingen aufzeigen. Vorgängig wird ein Flashmob auf die Veranstaltung aufmerksam machen. Samstag, 16. 6. 2012, 15 bis 22 Uhr Berner Bundesplatz und Biel Eine Million Sterne
Software-Spende an Caritas Bern Im Rahmen der Microsoft Donation spendete Microsoft der Caritas Bern im letzten Herbst 50 Gratis-Office-2010-Lizenzen. Auch unterstützte Microsoft die Caritas Bern mit kostenlosen Grafikprogrammen – 50 VisioPro-2010- und 10 Prjct-Lizenzen. Diese hätten Caritas Bern im Handel 25 000 Franken gekostet. Microsoft zeigt sich bei der Vergabe von Gratis-Software an kleine NGO sehr grosszügig. Im letzten Jahr durfte die Caritas Bern davon profitieren. Wir danken Microsoft sehr für ihre Spende!
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Armut trifft Kinder ganz besonders hart. Darum unterstützt die Caritas-Aktion «Eine Million Sterne» arme Familien in der Schweiz. Jedes Licht, das angezündet wird, ist ein Bekenntnis der Solidarität mit Menschen in Not. Samstag, 15. 12. 2012, ab 16 Uhr Bundesplatz, Bern
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Gedankenstrich
Ich habe keine Ahnung
«Sie haben ja keine Ahnung!» Das hören wir oft. Wir, die Geld haben. Dass wir keine Ahnung hätten, was es heisst, arm zu sein. Und uns darum nicht einmischen sollen. Aber spenden sollen wir trotzdem, am besten viel. Kein Problem, das mache ich gerne. Nicht einmischen, meine ich. Aber einiges müsste mir wirklich erklärt werden. Warum man zum Beispiel Kinder in die Welt setzt, wenn man kein Geld hat. Ohne mein Vermögen hätte ich keine Familie gegründet. Die Ausbildung der vier Kinder ist teuer. Aber jemand muss ja eines Tages die Firma übernehmen. Lange dachte ich an unsern Jüngsten, Carl. Er ist zehn. Aber jetzt enttäuscht er mich. Er gibt sich mit dieser Angela ab. Ich weiss nicht, wo er die kennengelernt hat. Sicher nicht an der Privatschule. Sie ist aus schlechtem Haus: zwei Geschwister, die Mutter alleinerziehend, arbeitslos, arm und offenbar dumm.
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Auf sein Drängen hin habe ich Carl erlaubt, das Mädchen zum Lunch einzuladen. Beim Essen erzählte sie tatsächlich, dass sie ein Handy hat! So ein Mädchen vertelefoniert doch Unsummen! Und zuhause hätten sie sogar einen Computer. Als ich Carl auf diesen liederlichen Umgang mit Geld hinwies, erwiderte er: «Sie braucht ein Handy und einen Compi, um mit andern Menschen in Kontakt zu sein, so wie wir alle, das gehört auch zur Chancengleichheit, das haben wir in der Schule durchgenommen!» Chancengleichheit! So ein Blödsinn. Ob es auch mit Chancengleichheit zu tun hat, dass sich Angela unanständig gierig auf alles gestürzt hat – egal, ob Fleisch, Gemüse oder Kartoffeln –, was beim Lunch angeboten wurde? «Kein Wunder», sagte ich zu Carl, «die Mutter sitzt sicher den ganzen Tag vor dem Fernseher und kocht nie etwas Anständiges!» «Nein», entgegnete Carl, «sie sucht unter anderem gutes, billiges Ge-
müse. Du hast einfach keine Ahnung!» Keine Ahnung, so so. Ich wette, dass er nichts dagegen hätte, wenn ich seiner Freundin Geld geben würde. Doch ich habe ja keine Ahnung und darum halte ich mich da raus.
Tanja Kummer ist Schriftstellerin. Ihr Erzählband «Wäre doch gelacht» und andere Bücher sind im Zytglogge-Verlag erschienen. 2010 leitete die Autorin die Schreibwerkstatt «wir sind arm» der Caritas. Die so entstandenen Texte können Sie nachlesen auf www.wir-sind-arm.ch. Illustration: Christoph Fischer
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SPINAS CIVIL VOICES
Armut grenzt Kinder aus. Ein Leben lang. Ihre Spende hilft, die Armut in der Schweiz zu halbieren: www.kinderarmut.ch. Danke. Nachbarn 1 / 12