Nachbarn 1/14 SG

Page 1

St.Gallen-Appenzell

Nr. 1 / 2014

Nachbarn

Trotz Arbeit kaum Perspektiven Eine Mutter erz채hlt, warum sie trotz Arbeit in Armut lebt. Sie ist eine von rund 130 000 Working Poor in der Schweiz.


Inhalt

Inhalt Editorial

3

von Thomas Studer

Geschäftsleiter Caritas St.GallenAppenzell Kurz & bündig

4

News aus dem Caritas-Netz 1961

12

Mutter Livia arbeitet 70 Prozent. «Auch wenn Luca nun schon zwölf ist, möchte ich ihn am Abend nicht alleine daheim lassen.»

Persönlich

13

Schwerpunkt

Trotz Arbeit kaum Perspektiven Erwerbstätig und arm – für rund 130 000 Working Poor harte Realität. Das Budget reicht nur fürs Nötigste, bei unvorhergesehenen Kosten ist guter Rat teuer. Eine alleinerziehende Mutter und ihr Sohn geben Einblick in ihren Alltag, der von Geldknappheit, aber auch von grossen kleinen Freuden geprägt ist. Wie hilft Caritas? Direkt mit Beratung und Projekten, aber auch mit Forderungen an die Politik.

Feierabend in der neuen Fabrik

Wie eine Faser das Arbeitsleben verändert.

«Auf was könnten Sie verzichten, wenn Sie deutlich weniger verdienen würden?» Sechs Antworten Caritas St. Gallen-Appenzell

14

Sich für finanziell Benachteiligte einsetzen

In den Caritas-Märkten Wil und St. Gallen helfen je gegen 40 Freiwillige mit. Sie engagieren sich für Armutsbetroffene und Working Poor.

17

Working Poor sind auf sich allein gestellt

Die kirchliche Sozialberatung wird in den Regionalstellen St. Gallen, Sargans und Uznach angeboten. Sie wird vor allem von Working Poor beansprucht.

ab Seite 6

Kiosk

18

Ihre Frage an uns Gedankenstrich

19

2

Kolumne von Paul Steinmann

Nachbarn 1 / 14


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser Menschen arbeiten hart und trotzdem reicht das Geld – wenn überhaupt – nur für das Allernötigste. Warum das so ist, kann einfach beantwortet werden: Obwohl diese Menschen sparsam leben, übersteigen die Ausgaben die Einnahmen. Oder anders gesagt: Der Lohn reicht nicht oder nur knapp, um alle Lebenskosten zu decken. Zu kämpfen mit dieser Situation haben vor allem Alleinerziehende und Paare mit mehreren Kindern. Das stimmt traurig. Diese Menschen nennen wir Working Poor, was so viel heisst wie arbeitende Arme oder arm zu sein, trotz Arbeit. Sie sind auf sich alleingestellt, erhalten keine staatliche Unterstützung beziehungsweise Sozialhilfe. Für sie ist es aber immer noch besser, Working Poor zu sein, als arbeitslos. Working Poor wollen Teil unserer arbeitenden Gesellschaft und selbstbestimmend «Dass Working Poor an der Armutsgrenze sein – und auch bleiben. Wir können helfen, beispielsweise leben, sieht man ihnen mit unseren Caritas-Märkten.

nicht an.»

Die psychische Belastung und der Druck bei Working Poor sind gross. Sie wissen, dass sie eine ausserordentliche Ausgabe, beispielsweise eine Zahnarztrechnung, die Anschaffung einer Brille oder eine hohe Heizkostenabrechnung, aus der Bahn werfen kann. Wir bemühen uns, Hilfestellung mit Beratungen, Vermittlung von Fachstellen und in Härtefällen finanzielle Überbrückungshilfe zu leisten. Dass Working Poor an der Armutsgrenze leben, sieht man ihnen nicht an. Sie versuchen alles, um sich über Wasser zu halten und ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Working Poor haben ein schwieriges Leben. Mit Ihren Spenden können wir Menschen unter uns das Leben etwas leichter machen. Danke! Herzlich

Nachbarn 1 / 14

Thomas Studer Geschäftsleiter Caritas St.Gallen-Appenzell

«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 36 740 Ex. Auflage SG: 2 900 Ex. Redaktion: Rita Bolt (Caritas St.GallenAppenzell) Ariel Leuenberger (national) Gestaltung und Produktion: Urs Odermatt, Milena Würth Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern Caritas St.Gallen-Appenzell Zürcherstrasse 45 9000 St. Gallen Tel.: 071 577 50 10 www.caritas-stgallen.ch PC 90-155888-0

3


Kurz & bündig

Neue Patientenverfügung

Im Alter gut vorsorgen Caritas bietet seit vielen Jahren eine Patientenverfügung an. Nun hat sie diese neu aufgelegt und mit dem Vorsorgeauftrag ergänzt. Mit der Einführung des neuen Erwachsenenschutzgesetzes Anfang 2013 ist die Patientenverfügung rechtsverbindlich geworden. Für Caritas war dies Anlass, ihr Angebot zu überarbeiten. Gleichzeitig bietet Caritas neu einen Vorsorgeauftrag an. Denn viele Menschen wollen selber bestimmen, was mit ihnen geschieht, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, zu entscheiden. Aus Rücksicht auf die ihnen Nahestehenden werden sie aktiv und füllen Vorsorgedokumente aus.

Die vierteilige Vorsorgemappe kostet

28 Franken

Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag sind gute Instrumente, mit denen man sich für alle Fälle wappnen kann. Sie sind bei Caritas einzeln erhältlich, können aber auch in einer Vorsorgemappe zusammen mit einer Broschüre zur «Regelung der letzten Dinge» sowie einem Testaments-Schreibheft bezogen werden. www.caritas.ch/vorsorge

4

Neues Angebot zur Schuldenprävention

Budget auf dem Handy Damit Jugendliche und junge Erwachsene ihr Budget besser im Griff haben, hat Caritas die Smartphone-App «Caritas My Money» entwickelt. Unsere Gesellschaft ist heute stärker auf Konsum ausgerichtet. Die Anforderungen an einen kompetenten Umgang mit Geld, Konsum und Schulden sind höher als früher. Dies gilt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene, weil sie häufig noch wenig Erfahrungen im Umgang mit Geld haben. Mit unserer neuen App «Caritas My Money» für Smartphones haben Jugendliche und junge Erwachsene jederzeit den Überblick über ihre Finanzen und wissen, was noch möglich ist und was nicht. Eltern, Lehrpersonen, Berufsbildende, Jugend- und Sozialarbeitende sollen die jungen Leute über die App informieren. Die App wurde gemeinsam mit Personen aus den Bereichen Bildung und Schuldenprävention sowie Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Unterstützung der Julius Bär Foundation, des Vereins Plan B und der Fabware GmbH entwickelt. Seit März 2014 steht die App kostenlos zum Download bereit, für iOS und Android. www.caritas.ch/app

Nachbarn 1 / 14


Kurz & bündig

Armutsbetroffene erzählen

Wohnen ohne Geld

NEWS Mobiler Caritas-Markt in Basel

Leute, die mit wenig Geld eine Wohnung suchen, erzählten ihre eindrücklichen Geschichten in einer Schreibwerkstatt von Caritas Zürich. Alle Menschen haben ihre ganz eigenen Erfahrungen mit dem Wohnen, doch darüber schreiben tun nur wenige. Meistens sind es jene, die finanziell abgesichert sind. Die Caritas Zürich hat Anfang Jahr Armutsbetroffene eingeladen, über das Thema «Wohnen ohne Geld» zu schreiben. «Ich habe mir angewöhnt, die Enttäuschung vorwegzunehmen. Es ist dann leichter zu ertragen, wenn es wieder nichts wird mit einem Dach über dem Kopf», berichtet Anita. Und ein Zugezügelter erzählt: «In den ersten sechs Monaten hier im Kanton bin ich fünfmal umgezogen. Auch mein nächstes Zimmer ist nur für acht Wochen zur Untermiete.» Eine Zürcherin muss sich verstecken: «Für das Mietzinsdepot habe ich mich verschuldet. Mein Vermieter weiss nicht, dass ich ergänzend vom Sozialamt unterstützt werde. Meine Nachbarn auch nicht. Ich führe ein Doppelleben.» Die Geschichten, eingebettet in Hintergrundtexte zum Wohnen und zum Schreiben in schwierigen Situationen, können Sie jetzt bei uns bestellen. www.caritas-zuerich.ch/schreibwerkstatt

Mit zwei mobilen Caritas-Märkten bedient die Caritas beider Basel neu auch Armutsbetroffene auf dem Land. Die beiden rollenden Läden stehen jeweils für einen Tag in den Gemeinden rund um Basel. Das Pilotprojekt kam nur dank der Unterstützung von zahlreichen Partnern zustande und startet im Frühling in Allschwil.

20 Jahre Caritas-Markt St. Gallen Der Caritas-Markt St. Gallen feiert dieses Jahr das 20-jährige Bestehen. Am Samstag, 10. Mai, wird deshalb ein Tag der offenen Tür mit einigen Attraktionen durchgeführt. Der Laden wird seit fünf Jahren von Karina Barp mit gegen 30 Freiwilligen geführt. Täglich kaufen durchschnittlich 160 Menschen mit wenig Einkommen ein. Etwa die Hälfte der Kunden sind Schweizer.

KulturLegi im Aargau gratis Auch im Aargau ist die KulturLegi gratis – seit dem 1. April 2014. Bis anhin war die Karte nur im ersten Jahr kostenlos. Damit mehr Menschen mit wenig Einkommen von stark vergünstigten Kultur-, Bildungsund Sportangeboten profitieren können, verzichtet Caritas Aargau auf die Erhebung einer Nutzungsgebühr. Schweizweit gibt es weit über 1 500 Angebotspartner, die Vergünstigungen gewähren.

Neu in Burgdorf und Zollikofen Auch in der Stadt Burgdorf und in der Gemeinde Zollikofen können Menschen mit wenig Geld nun die KulturLegi beantragen. Damit führen im Kanton Bern 18 Gemeinden die KulturLegi. Bis 2015 sollen mindestens zehn weitere Gemeinden dazukommen – damit möglichst viele Einwohnerinnen und Einwohner am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Nachbarn 1 / 14

5


Rubrik

Haben das Tr채umen nicht verlernt, auch wenn sie schon lange in ihrer eigenen Welt leben: Mutter Livia mit Sohn Luca.

6

Nachbarn 1 / 14


Schwerpunkt

«Was wir wirklich brauchen und was nicht» Erwerbstätig und arm – für viele Alleinerziehende harte Realität. Das Budget reicht nur fürs Nötigste, bei unvorhergesehenen Kosten ist guter Rat teuer. Livia Roth* und ihr Sohn Luca* geben Einblick in ihren Alltag, der von Geldknappheit, aber auch von grossen kleinen Freuden geprägt ist. Text: Ursula Binggeli Bilder: Conradin Frei

I

n Monaten, in denen sich die Geldprobleme zuspitzen, ist Livia Roth* jeweils froh, dass ihr Sohn am Schüler-Mittagstisch täglich eine warme Mahlzeit bekommt. Denn so reicht am Abend hin und wieder auch ein Teller Cornflakes. In solchen Phasen sagt sie sich jeweils: «Nichts währt ewig» – auch die harten Zeiten nicht. Selbst der schlimmste Monat hat höchstens 31 Tage, und wenn Ende Monat der Lohn eintrifft, ist der aktuelle Engpass vorbei.

Die Kunst, mit wenig Geld auszukommen Rechnen muss Livia Roth aber rund ums Jahr: Ihr monatliches Einkommen beträgt knapp 3 500 Franken. Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrem Sohn Luca* alleine. Die 32-Jährige hat neben der Kinderbetreuung immer gearbeitet, zuerst 30 Prozent, dann mehr. Die ersten Jahre stockte die Sozialhilfe das Einkommen aufs Existenzminimum auf.

Nachbarn 1 / 14

Vor längerer Zeit hat Livia Roth, die heute 70 Prozent arbeitet, sich von der staatlichen Unterstützung ablösen können. Sie beherrscht die Kunst, mit wenig Geld auszukommen, mittlerweile so gut, dass sie ihre wirtschaftliche Situation im Alltag manchmal einfach ausblenden kann. Im Normalfall, wenn nichts Aussergewöhnliches eintrete, funktioniere ihr Budget, sagt sie. Livia Roth hat ein gutes Auge für Aktionen und Schnäppchen – sei es im Lebensmittelgeschäft oder im Kleiderladen. Und wenn sie unbedingt etwas haben möchte, das nicht wirklich notwendig ist, wartet sie mit Kaufen jeweils noch ein bisschen zu. «Denn ich habe gemerkt, dass manche Wünsche schon zwei Wochen später nicht mehr relevant sind.»

Hohes Armutsrisiko für alleinerziehende Mütter Livia Roths Einkommen bewegt sich an der vom Bundesamt für Statistik definierten Armutsgren-

ze. Damit ist sie bei weitem nicht alleine. Mehr als ein Drittel der Armutsbetroffenen in der Schweiz sind Familien, wobei Alleinerziehende überdurchschnittlich vertreten sind. Mehr als vier Fünftel von Letzteren sind Frauen. Insgesamt müssen rund 130 000 Personen in der Schweiz trotz Erwerbsarbeit mit so wenig Geld über die Runden kommen, dass sie als arm gelten. Das Bundesamt für Statistik hält auf seiner Website dazu fest: «Ein grosser Teil der Alleinerziehenden gerät in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil Erwerbsarbeit und Betreuung der Kinder die Kräfte und Möglichkeiten einer Person übersteigen.» Auch Livia Roth hat sich schon überlegt, ihr 70-Prozent-Pensum aufzustocken oder einen Zusatzjob zu suchen, dem sie abends nachgehen könnte. Aber: «Auch wenn Luca nun schon zwölf ist, möchte ich doch weiterhin Zeit für ihn haben und ihn am Abend nicht alleine daheim lassen. Zudem fehlt mir

7


Schwerpunkt

«Es ist manchmal schon etwas doof, wenn man nicht so viel machen kann, wie man möchte», meint Luca. Er freut sich aber, dass er ab Sommer in die Kanti gehen kann.

ganz einfach die Energie, um mehr zu arbeiten als bisher, auch weil die Arbeitszeiten bei meinem aktuellen Job sehr unregelmässig sind.»

Lösungen finden Das vergangene Jahr war schwierig und zehrte an Livia Roths Kräften. Sie musste sich notfallmässig operieren lassen, und eine aufwendige zahnärztliche Behandlung liess sich nicht länger aufschieben. Aber wie diese finanzieren? Bislang hatte sie immer alle Rechnungen bezahlen können, sie lebte betreibungsund schuldenfrei. Aber nun wusste sie weder ein noch aus. Schliesslich wandte sie sich mit ihrem Problem an die Caritas, die daraufhin zwei Drittel der Zahnarztkosten übernahm – eine riesige Erleichterung für Livia Roth. Dennoch: Das letzte Jahr hinterliess Spuren. «Ich fühle mich nach wie vor reduziert. Nun suche ich meinen Weg zurück in die Normalität.»

8

Freuden geniessen können Zur Normalität gehört neben dem knappen Budget auch viel Schönes. Da sind Verwandte und Freundinnen, die ein tragfähiges Unterstützungsnetz bilden. «Sie greifen mir nicht finanziell unter die Arme – Geld und Freundschaft, das muss man trennen –, sondern indem sie uns regelmässig zum Essen einladen oder Kleider, aus denen ihre Kinder herausgewachsen sind, an Luca weitergeben. Auch viele unserer Möbel standen früher in den Wohnungen von Bekannten.» Freude machen Mutter und Sohn auch gemeinsame Unternehmungen. Livia Roth ist gerne in Bewegung und neugierig auf ihr unbekannte Orte und Landschaften. Luca ist jeweils gerne dabei. Auf Wanderungen machen sie beim Picknick ein Feuer und braten Würste. «Da sitzen wir dann zu zweit im Wald und sind rundum zufrieden.» Manchmal machen sie

Reisen in die nähere Umgebung. Denn: «Man kann auch mit dem Regionalbus schöne Orte erkunden.» Sie sind auch schon zwei Tage mit den Velos dem Ufer des nahen Sees entlanggefahren, verbunden mit Übernachten im Stroh.

Über Geld reden Ihrem Sohn hat Livia Roth lange nicht von der finanziellen Lage erzählt. «Mir war es wichtig, ihn nicht zu früh damit zu belasten.» Wenn er in einem Laden etwas sah, das ihm gefiel, aber zu teuer war, sagte sie nie: «Das können wir uns nicht leisten», sondern immer: «Ich möchte nicht, dass wir das kaufen.» Erst seit zwei Jahren spricht Livia Roth mit Luca über Budgetfragen, auch damit er sich erklären kann, weshalb er in materiellen Dingen nicht immer mit seinen Schulkollegen mithalten kann. Er selber sagt zum Thema Geld: «Es ist manchmal schon etwas doof, wenn man

Nachbarn 1 / 14


Schwerpunkt

nicht so viel machen kann, wie man möchte. Aber meine Mutter und ich reden dann zusammen und überlegen uns, wie wir es besser machen könnten – und was wir wirklich brauchen und was nicht.» Momentan freut er sich gerade riesig, dass er ab dem neuen Schuljahr die Kanti besuchen kann. Auch für Livia Roth ist das eine grosse Genugtuung. «So ein Schulerfolg ist etwas, was die Öffentlichkeit Kindern von Alleinerziehenden oft weniger zutraut.»

Das Träumen nicht verlernen Wenn Livia Roth aufzählt, was sie sich für die Zukunft wünscht, stehen keine Konsumgüter auf der Liste. Gesundheit rangiert zuoberst, gefolgt von einer Wohnung, in der ihre beiden Katzen selbständig ein und aus gehen können. Träumen sei etwas Wichtiges, das man nicht aufgeben dürfe, sagt sie. Deshalb denkt sie manchmal auch daran, wie es wäre, wenn wieder ein Mann in ihr Leben treten würde. «Ich lebe nun schon lange mit Luca in unserer eigenen Welt und habe mit der Alltagsbewältigung so viel zu tun, dass ich gar nicht dazu komme, mich gross mit dem Thema zu beschäftigen.» Aber schön wäre es schon, wieder einen Partner zu haben. Neben den grossen gibt es jedoch auch die kleinen Träume, die sich einfacher realisieren lassen. Livia Roth, die so gerne unterwegs ist und es geniesst, Fahrtwind um die Ohren zu haben, schafft sich im Alltag bewusst immer wieder solche Momente. So fährt sie wenn immer möglich mit dem Velo zur Arbeit. Sie radelt dann frühmorgens durch die Gegend, guckt in die Welt und geniesst jede Sekunde davon. «Wenn ich dann am Arbeitsort ankomme, geht es mir immer richtig gut.» * Namen geändert

Nachbarn 1 / 14

fAirE LöhNE ZAhLEN Arm trotz Arbeit – warum gibt es das in der Schweiz? Noch immer haben wir in der reichen Schweiz zu viele Working Poor. Sie arbeiten, aber sie können nicht von ihrer Erwerbsarbeit leben – sie sind arm. Zusammen mit ihren Angehörigen sind 278 000 Personen betroffen. Erst seit einem Jahrzehnt ist diese Gruppe ins Zentrum von Untersuchungen gerückt. Eine Studie des Bundesamts für Statistik zeigte im Jahr 2004 deutlich auf: Als arm gelten nicht mehr nur Arbeitslose und Erwerbsunfähige. Es gibt keine Gewissheit mehr, dass Arbeit vor Armut schützt. Prekäre Arbeitsverhältnisse, befristete Verträge, Arbeit auf Abruf und Tieflöhne zwingen zu mehreren Tätigkeiten oder zum Gang aufs Sozialamt. Dies darf nicht sein. Was müsste getan werden, dass alle Menschen von ihrer Arbeit auch leben können? Auch wenn die Zahl der Working Poor gegenüber dem Jahr 2004 abgenommen hat, dürfen wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Zwar haben wir heute weniger Working Poor als vor zehn Jahren, vergleicht man die letzten Jahre, so steigt die Zahl jedoch wieder. Dass dies in einer Zeit des wirtschaftlichen Wachstums geschieht, ist ein Alarmzeichen. Im Kampf gegen das Phänomen Working Poor müssen wir auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Arbeitgeber müssen faire Arbeitsbedingungen bieten, existenzsichernde Löhne zahlen und ihren Arbeitnehmenden regelmässig Weiterbildungen gewähren. Zu den Working Poor zählen überdurchschnittlich viele Arbeitnehmende mit geringer Bildung. Dass bei den Arbeitsbedingungen zurzeit viel Spielraum besteht, haben jüngst einige Grossverteiler gezeigt, die dem Druck nach Mindestlöhnen nachgegeben und ihre Bedingungen beträchtlich verbessert haben. Damit ein existenzsicherndes Einkommen erzielt werden kann, muss das Angebot an familienexterner Betreuung weiter ausgebaut werden. Der Ausbau der frühen Förderung für die Kleinen ist ein gesetztes Steinchen auf dem weiteren Bildungsweg: Auf diese Weise sollen es die Kinder schaffen, nicht in die gleiche prekäre Situation zu geraten wie die Eltern.

«Es gibt keine Gewissheit mehr, dass Arbeit vor Armut schützt.»

Marianne Hochuli Leiterin des Bereichs Grundlagen bei Caritas Schweiz

9


Schwerpunkt

Arm trotz Erwerbsarbeit Rund 130 000 Personen in der Schweiz zählen zu den Working Poor. Caritas hilft direkt und setzt sich für bessere Bedingungen ein. Text: Marianne Hochuli Illustration: Anna Sommer

A

ls Working Poor gilt, wer trotz Erwerbstätigkeit seine Existenz nicht sichern kann: Menschen, die arbeiten und trotzdem unter der Armutsgrenze leben. Die Armutsgrenze orientiert sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe: Im gesamtschweizerischen Durchschnitt gelten Einzelpersonen als arm, wenn sie weniger als 2 450 Franken pro Monat zur Verfügung haben. Für Alleinerziehende mit einem Kind liegt die Grenze bei 3 450 und für eine Familie mit zwei Kindern bei 4 600 Franken.

Prekäre Bedingungen Wer zu den Working Poor zählt, arbeitet oft unter prekären Bedingungen. Caritas hilft betroffenen Personen direkt mit Sozial- und Schuldenberatung. Gemeinsam wird die persönliche Situation analysiert, um Wege zur Verbes-

10

serung zu entwickeln. Das kann beispielsweise heissen, bestehende Schulden – teilweise über mehrere Jahre – zurückzuzahlen. Ausserdem bietet Caritas mit der KulturLegi vergünstigte Angebote im Bereich «Bildung, Kultur und Freizeit» sowie günstige Einkaufsmöglichkeiten für Lebensmittel im Caritas-Markt.

Die Politik ist gefordert Doch um das Problem prekärer Lebenslagen wirkungsvoll angehen zu können, braucht es neben existenzsichernden Löhnen auch arbeitsmarktpolitische sowie familien- und gleichstellungspolitische Massnahmen. Dazu zählen ein besserer Schutz vor Arbeit auf Abruf, die Steuerbefreiung des Existenzminimums oder Familienergänzungsleistungen. Auch dafür setzt sich Caritas ein.

Nachbarn 1 / 14


Schwerpunkt

Zahlen und Entwicklungen Seit wenigen Jahren erst publiziert das Bundesamt für Statistik die SILC-Statistik («Statistics on income and living conditions»). Diese beinhaltet auch Analysen zur Situation der Working Poor. Gemäss neusten Zahlen waren im Jahr 2011 3,7 Prozent der Erwerbsbevölkerung oder rund 130 000 Personen in der Schweiz von Armut betroffen. Das ist fast ein Viertel der insgesamt 580 000 Armutsbetroffenen. Besonders gefährdet sind Erwerbstätige ohne nachobligatorische Ausbildung, Alleinerziehende, nicht ganzjährig Erwerbstätige sowie Personen, die im Gastgewerbe arbeiten. Keine Entwarnung Zwischen 2007 und 2010 ist die Zahl der Working Poor stetig gesunken – wegen der guten Wirtschaftslage, Erfolgen der Gewerkschaften bei der Festlegung von Mindestlöhnen sowie Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die neuste Statistik zeigt allerdings wieder einen Anstieg. Verantwortlich hierfür sind unter anderem Kostensteigerungen beim Wohnen, bei der Mobilität und der Gesundheit. Die nach wie vor hohe Quote von Working Poor ist auch deshalb so beunruhigend, weil viele nicht nur zu Tieflöhnen arbeiten, sondern auch in prekären Arbeitsbedingungen angestellt sind. Arbeit auf Abruf und befristete Arbeitsverhältnisse sind im Tieflohnbereich keine Seltenheit. Von Entwarnung kann deshalb keine Rede sein.

Links und Publikationen Sozialalmanach 2014: «Unter einem Dach» Der Sozialalmanach nimmt jährlich die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz unter die Lupe. Der Schwerpunktteil «Unter einem Dach» widmet sich in der neuesten Ausgabe der schweizerischen Raum- und Wohnpolitik. Die Beiträge in diesem Teil beleuchten die Mechanismen des Immobilienmarktes und analysieren sie darauf hin, inwiefern sie die soziale Gerechtigkeit untergraben. www.caritas.ch/sozialalmanach

Neues Handbuch «Armut in der Schweiz»: Anfang Sommer 2014 veröffentlicht Caritas Schweiz das neue Handbuch «Armut in der Schweiz». Dieses gibt einen aktuellen Gesamtüberblick über die Armut in der Schweiz: aktuelle Zahlen sowie neue Entwicklungen wie das nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut oder die Diskussionen um ein Rahmengesetz zur Sozialhilfe. www.caritas.ch/handbuch-armut

10 %% 10

8 8 %%

Armutsquote Gesamtbevölkerung

Armutsquote Gesamtbevölkerung

6 %% 6

4 %% 4

Armutsquote Erwerbstätige Armutsquote Erwerbstätige

2 %% 2

2008

2008

2009

2009

2010

2010

2011

2011

Armutsquoten in Prozent der Gesamtbevölkerung, Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS).

Nachbarn 1 / 14

11


1 6 19

Feierabend in der neuen Fabrik In den 50er-Jahren entstand in Emmenbrücke eine neue Fabrik für Nylon. Die Produktion der neuen Faser revolutionierte die Textilbranche; sie war sauber und verlangte andere Arbeitsabläufe, aber immer noch viele arbeitende Hände. An den Maschinen der Textilfabrik standen auch viele Frauen. Nach Betriebsschluss freuen sie sich auf den Feierabend, die neuen Hemden waren schliesslich bügelfrei und erschwinglich. Bild: Staatsarchiv Luzern, Rhodia


Persönlich

«Auf was könnten Sie verzichten, wenn Sie deutlich weniger verdienen würden?» Antworten von Passantinnen und Passanten aus der Deutschschweiz.

Anja Eggenberger, Praktikantin, Oberriet: Ich muss mit meinem Praktikantinnenlohn schon einteilen und kann mir nicht sehr viel leisten. Mein Glück ist, dass ich noch zuhause wohnen kann und nichts abgeben muss. Wenn ich auf die Hälfte meines Lohns verzichten müsste, lägen Kleider, Ausgang und sonstiges nicht mehr drin.

Josef Kamber, Physiotherapeut, Ennetbürgen: Als Erstes würde ich mein Motorrad verkaufen. Weiter könnte ich Ferien kürzen oder gar streichen, ganz besonders die Skiferien. Bedenkt man, wie viel so ein Skitag kostet mit Ausrüstung, Billett und Verpflegung. Wenn es dann immer noch nicht reicht, könnte ich auch aufs Auto verzichten. Das wäre aber eine ziemlich grosse Umstellung.

Katarzyna Landis, Molekularbiologin, Aarau: Ich habe jetzt weniger Geld zur Verfügung als vorher. Darum spare ich beim Kleiderkauf. Die Einkaufsbummel mit einer Freundin machten zwar Spass, gingen aber auch schnell ins Geld. Ich habe gemerkt, dass mir nichts fehlt, wenn ich die Kleider länger trage. Worauf ich nicht verzichten möchte, sind gute, gesunde Lebensmittel, am liebsten in Bio-Qualität. Die sind mir wichtig.

Hanuar Lopez, Sportlehrer, Zürich: «Ich wohne mit meiner Familie in der Stadt. Das könnte ich mir wohl nicht mehr leisten, denn die Mieten hier sind hoch. Auch die jährliche Reise zu meinen Verwandten in Costa Rica würde nicht mehr drinliegen. Meine Kindheit war geprägt von der Sorge ums Geld, denn meine Eltern sind arm. Darum würde ich bei meinen Kindern sicher nicht sparen.»

Linus Murbach, Primarlehrer, Kreuzlingen: Ich bin erst vor kurzem ins Berufsleben eingestiegen und lebte bis dahin nur mit einem Bruchteil meines jetzigen Gehalts. Um die Frage umzudrehen: Wofür ich jetzt mehr Geld ausgebe – das sind Kleinigkeiten und Servicedienstleistungen, ein Brezel am Bahnhof, ein feines Mittagessen im Restaurant. Auch geniesse ich die Freiheit, vor einem grösseren Einkauf nicht zuerst meinen Kontostand abfragen zu müssen. Das würde sich wieder ändern, wenn ich weniger Geld hätte.

Verena Steiner, pensionierte Sozialarbeiterin, Ittigen: Ich würde eine kleinere und billigere Wohnung suchen. Auch würde ich auf einige meiner Hobbys verzichten wie teure Tai-ChiSeminare. Ferner würde ich von Theaterbesuchen absehen und nur noch die allernötigsten Kleider kaufen. Im Garten würde ich die Bäume und Sträucher selber schneiden, um die Kosten des Gärtners einzusparen.

Nachbarn 1 / 14

13


Rubrik

Rita Borner, Leiterin des Caritas-Marktes in Wil

14

Nachbarn 1 / 14


Caritas St.Gallen-Appenzell

Sich für finanziell Benachteiligte einsetzen In den Caritas-Märkten Wil und St. Gallen helfen je gegen 40 Freiwillige mit. Sie engagieren sich für Armutsbetroffene und Working Poor. Text: Rita Bolt Bilder: Hannes Thalmann

A

uf einem farbigen Kärtli ist ein Foto von einer Familie aufgeklebt. Der Vater, die Mutter und sieben Kinder lächeln freundlich. «Diese Grossfamilie kauft regelmässig bei uns ein», weiss Rita Borner, Leiterin des Caritas-Marktes in Wil, zeigt auf das Foto und ergänzt: «Die Mutter legt Wert auf qualitativ gute Produkte und ist dankbar, dass sie diese bei uns findet.» Dieses Dankeskärtli mit Foto hat die kinderreiche Familie geschrieben, weil sie an Weihnachten von der Christbaumaktion profitieren konnte. «Wir freuen uns über solche Reaktionen.» Die Ladenleiterin liest aus einem anderen Kärtli vor. Eine Frau mit mehreren Kindern habe für das Caritas-Markt-Team eine Messe in der Kirche lesen lassen, und eine Mutter von drei Kindern bedankt sich ebenfalls mit einem Kärtli und schreibt: «Ein inniges vergelt's Gott.»

In der Aufbauphase Der Wiler Caritas-Markt wurde vor zwei Jahren eröffnet und befindet sich noch in der Aufbauphase. Täglich kaufen 70 Kundinnen und Kunden ein – Tendenz steigend. «Wir rechnen damit, dass es in drei

Nachbarn 1 / 14

Jahren täglich 120 Kunden sein werden», prognostiziert Rita Borner und ergänzt: «Es werden bestimmt vermehrt Working Poor bei uns einkaufen.» Als Working Poor wird bezeichnet, wer voll erwerbstätig ist und trotzdem am Existenzminimum lebt; sie haben keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. In der Region Wil gebe es – wie in anderen Regionen – viele armutsbetroffene Menschen und Working Poor. Um sie zu erreichen und auf das Hilfsangebot aufmerksam zu machen, schlägt Rita Borner kräftig die Werbetrommel. «Unser Laden ist von der Strasse zurückversetzt und deshalb nicht ganz leicht zu finden», sagt die Ladenleiterin. Sie hofft, dass die Werbung in den Medien und die Mund-zu-MundPropaganda viele Menschen erreichen. Direkt an der Strasse liegt hingegen der St. Galler Caritas-Markt. Die Ladenleiterin Karina Barp arbeitet ebenfalls mit einem grossen Freiwilligenteam. «Ohne sie wäre ein Betrieb nicht möglich», windet sie ihren 37 Helferinnen und Helfern ein Kränzchen. Im St. Galler Laden kaufen täglich 160 Frauen und Männer ein. «Die Hälfte sind Schweizer, die andere Hälfte

Menschen mit Migrationshintergrund», sagt die Ladenleiterin. Der St. Galler Caritas-Markt feiert dieses Jahr das 20-jährige Bestehen, und zwar am Samstag, 10. Mai, mit einem Tag der offenen Tür. Karina Barp freut sich, «ihren» Laden einer breiten Öffentlichkeit vorstellen zu dürfen. Bis am 10. Mai sollte zudem der kleine Umbau abgeschlossen sein.

Stolz auf den Markt Rita Borner und das Freiwilligenteam sind natürlich – wie die St. Galler – stolz auf «ihren» Caritas-Markt. «Der Laden ist hell und freundlich. Diese Rückmeldung bekommen wir sehr oft von unseren Kunden», sagt Kapuzinerbruder Karl. Er ist einer von 40 Freiwilligen, die sich im Caritas-Markt Wil engagieren. Sie räumen Gestelle ein, bedienen an der Kasse, bewirtschaften das Lager und vieles mehr. «Weil es mir so gut geht, möchte ich jenen etwas geben, denen es weniger gut geht», sagt Dieter Budin. Er und Sybille Pelzmann machen die Stellvertretung, wenn Rita Borner abwesend ist. Ob Wil oder St. Gallen: Im Sortiment sind gegen 400 Produkte des täglichen Bedarfs, auch Hygiene-

15


Rubrik

Die freiwilligen Helferinnen und Helfer halten den Caritas-Markt in Schuss. Sie leisten monatlich etwa hundert Einsätze.

artikel und Körperpflegeprodukte zu günstigen Preisen. «Zu den Rennern gehören nebst Salz, Mehl oder Zucker Ovomaltine oder Caotina, Gemüse und Bananen», weiss Rita Borner. Das Gemüse ist BioQualität und wird täglich frisch angeliefert – Gemüseproduzent ist die psychiatrische Klinik in Wil. Karina Barp erzählt, dass viele ih-

rer Kunden Schokolade mögen. Und manchmal bekäme sie spezielle Lieferungen, beispielsweise habe sie kürzlich zwei Paletten mit Spielsachen erhalten. «Die gingen weg wie warme Semmel», erzählt sie lachend.

Wer Anspruch auf die Karte hat Einkaufsberechtigt im Caritas-

Markt sind finanziell benachteiligte Menschen, die am oder unter dem Existenzminimum leben, oder Personen, die wirtschaftlich Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen zur AHV/IV beziehen. Die CaritasMarkt-Karten werden ausgestellt von Sozialdiensten, kirchlichen Beratungsstellen, der Caritas und im Caritas-Markt Wil.

«Da stand ich nun plötzlich, mit null Franken Einkommen und zwei Kindern, an einem neuen Wohnort, wo ich Ruhe finden wollte. Lange suchte ich nach Hilfe, denn in meinem besonderen Lehrberuf sind Stellen rar. Schliesslich stiess ich auf Caritas. Welche Erleichterung dies für mich war und ist, lässt sich kaum beschreiben! Durch den wöchentlichen Einkauf im Caritas-Markt ist ein Überleben für uns drei erst möglich geworden. Besonderheiten wie kleine Ausflüge sind dank Caritas und der vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer jetzt wieder machbar. Denn letztlich nützen mir die sechs Jahre Studium nichts, wenn ich kein ausreichend grosses Pensum erhalte, um meine Familie zu ernähren.» R.P.

16

Nachbarn 1 / 14


Caritas St.Gallen-Appenzell

Working Poor sind auf sich allein gestellt Die kirchliche Sozialberatung wird in den Regionalstellen St. Gallen, Sargans und Uznach angeboten. Sie wird vor allem von Working Poor beansprucht. Interview mit Lorenz Bertsch, Leiter kirchliche Sozialberatung Interview: Rita Bolt Bild: Hannes Thalmann

Auswirkungen und Probleme verursachen. Die Caritas bietet entsprechend punktuelle finanzielle Unterstützung oder Überbrückungshilfen an. Eine weitere Unterstützung ist die Abgabe von Lebensmittelgutscheinen, Bezugskarten für die Caritas-Märkte oder Lebensmittelabgabestellen und wir vermitteln Kleiderhilfen. Je nach Klärung des Falles werden andere Fachstellen beigezogen.

Lorenz Bertsch leitet die Regionalstelle Sargans.

Was ist eine kirchliche Sozialberatung? Kirchliche Sozialberatung bedeutet, dass wir von der Caritas für Menschen da sind, die von Armut betroffen, ausgegrenzt oder in Not sind. Sie wird hauptsächlich von Working Poor beansprucht. Das sind Alleinerziehende, Familien und Einzelpersonen, die trotz voller Erwerbstätigkeit über ein Einkommen verfügen, das am Existenzminimum liegt. Diese Menschen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe bzw. auf staatliche Unterstützung. Wir unterstützen Menschen, die ihren Wohnsitz im Einzugsgebiet des Bistums St. Gallen haben, auf der Durchreise sind oder als Sans-Papiers über keinen offiziellen Status verfügen. Und was heisst das konkret? Es ist wichtig, dass es eine Stelle wie die Caritas gibt, welche für die von Armut betroffenen Menschen da ist, sie unterstützt und mit ihnen zusammen die Notsituation bespricht und Lösungen erarbeitet. Eine ausserordentliche finanzielle Situation kann sofort grosse

Nachbarn 1 / 14

Was kann eine ausserordentliche Situation sein? Dies kann etwa eine hohe Nebenkostenabrechnung der Wohnung sein, oder ein Kind muss notfallmässig zum Zahnarzt oder braucht eine Brille. Es kann passieren, dass eine Kumulation der vielen ausserordentlichen Rechnungen dazu führt, dass plötzlich die Miete nicht mehr bezahlt werden kann. Hier muss schnell reagiert werden, denn ein Wohnungsverlust wäre katastrophal. Working Poor fehlen vielfach die finanziellen Mittel, um eine ausserordentliche Rechnung zu bezahlen. Es kann auch passieren, dass jemand wochenlang auf finanzielle Unterstützung warten muss, weil die zuständigen Stellen Abklärungen treffen müssen. Niemand fühlt sich zuständig, und hier muss schnell gehandelt werden, damit wenigstens Lebensmittel gekauft werden können. Wer kümmert sich im Allgemeinen um Working Poor? Working Poor versuchen sich, trotz voller Erwerbstätigkeit, aber tiefem Lohn, mit allen Mitteln über Wasser zu halten. Obwohl sie sehr sparsam sind, ist das Fass aber irgendwann voll. Sie erhalten keine staatliche Unterstützung sprich Sozialhilfe. Sie wissen nicht, wohin sie sich in ihrer Notsituation wenden können. Genau hier setzt die Caritas an. Es ist dringend nötig, dass diese Menschen entsprechend begleitet und unterstützt werden, damit sie nicht auf sich alleingestellt sind.

17


Kiosk

Ihre Frage an uns

AGENDA

Armut in der Schweiz – ist das nicht einfach nur Jammern auf hohem Niveau?

Caritas-Markt geht auf die Strasse

Bettina Fredrich, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz: «Armut hat überall ein anderes Gesicht, mit unterschiedlichen Auswirkungen. In der Schweiz ist arm, wessen Lohn nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bewältigen: wer sich weder Krankenkasse noch angemessenen Wohnraum leisten kann, für wen Zahnarztbesuch und Ferien unerschwinglich sind. Rund 600 000 Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen. Konkret bedeutet dies für eine Einzelperson, dass sie mit 30 Franken täglich über die Runden kommen muss. Das Budget ist knapp und ermöglicht nur eine minimale Teilhabe an der Gesellschaft. Mangelnde Kontakte zu anderen, der Ausschluss aus der Gesellschaft und Perspektivenlosigkeit sind Auswirkungen von Armut in der Schweiz. Insbesondere für Familien und Alleinerziehende ist die Lage prekär. Die jüngsten kantonalen Sparmassnahmen betreffend Sozialhilfe und Krankenkassenprämienverbilligungen sind besonders hart. Caritas setzt sich dafür ein, dass Armut auf der politischen Agenda bleibt und dass Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die Situation der Betroffenen berücksichtigen. Die Schweiz darf sich keine Armut leisten.»

?

Haben Sie auch eine Frage an uns? Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an nachbarn@caritas-zuerich.ch.

Am Samstag, 26. April, ist der CaritasMarkt an der Oberen Bahnhofstrasse in Wil anzutreffen. An einem Stand informieren die Ladenleiterin Rita Borner und ihr Team über das Konzept und das Sortiment des Ladens. Es wird zudem ein Glücksrad aufgestellt. Im Caritas-Markt engagieren sich gegen 40 freiwillige Helferinnen und Helfer. Der Laden befindet sich an der Bronschhoferstrasse 16a in Wil. Samstag, 26. 4. 2014 Obere Bahnhofstrasse, Wil

Bodensee-Kirchentag Vom 16. bis 18. Mai 2014 findet in St. Gallen der 16. Internationale Ökumenische Kirchentag unter dem Motto «Mehr sehen – Meer sehen» statt. Am Samstag, 17. Mai, sind von 10.30 bis 17 Uhr in der St. Galler Innenstadt verschiedene Stände aufgestellt: Caritas St.Gallen-Appenzell ist an diesem «Markt der Möglichkeiten» dabei und stellt den Caritas-Markt und weitere Projekte vor. Samstag, 17. 5. 2014 Innenstadt St. Gallen

18

Mentorinnen und Mentoren gesucht

Sich in St.Gallen begegnen

In Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle für Flüchtlinge im Kanton Appenzell Ausserrhoden und dem Kompetenzzentrum für Integration im Kanton St. Gallen startet Caritas St.Gallen-Appenzell das Programm «Mentoring». Es werden Mentorinnen und Mentoren gesucht, die anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge während sechs bis neun Monaten stundenweise begleiten. Gesucht sind Frauen und Männer, die gut vernetzt sind und die «Mentees» bei ihrer beruflichen Entwicklung unterstützen. Interessierte melden sich bei: Paul Siegrist, Tel. 071 220 13 10, oder Barbara Gaillard, Tel. 071 577 50 10. www.caritas-betriebe.ch

Am Samstag, 14. Juni, findet der St. Galler Begegnungstag statt. In der Marktgasse begegnen sich Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Es wird musiziert, getanzt, gekocht und informiert. Caritas St.Gallen-Appenzell ist mit einem Stand auf dem Marktplatz in der Nähe der Bühne vertreten. Samstag, 14. 6. 2014 Marktgasse, St. Gallen

Nachbarn 1 / 14


Gedankenstrich

Das Geschäft

S

paren! Wie oft hatte Gabriela dieses Wort gehört und gedacht, wie oft gelesen und wie oft war es ihr an den Kopf geworfen worden: «Du musst halt sparen!» Wo sollte sie noch sparen? Sie musste wohnen, essen, brauchte Kleider, Geld für die Bahn, den Kinderhort, die Krankenkasse. Immer und immer wieder drehten dieselben Gedanken in ihrem Kopf. Warum hatte sie so wenig Geld, obwohl sie genauso hart arbeitete wie andere? Gabriela sass in der frühlingsmilden Mittagssonne und überlegte, wie sie zu Geld kommen könnte. Sollte sie wieder einmal ein Los kaufen und auf einen «lucky punch» hoffen? Wieder einmal auf das Sozialamt gehen, wo man ihr zwar freundlich, aber auch mit leicht vorwurfsvollen Blicken begegnete? Sollte sie eine Bank ausrauben? Sie hatte schon daran gedacht, ihre Fantasie zu nutzen und ein Buch zu schreiben, und dann geträumt, dass sich ihr Buch tausendfach verkaufen würde. Dann hatte sie gelesen, dass die wenigsten Schriftstellerinnen von ihrem Schreiben gut leben konnten. Gabriela musste weiter. Die Wohnung, die sie putzte, gab noch Arbeit bis um fünf. Dann musste sie ihre Töchter abholen, dann stand noch ein Gespräch mit der Lehrerin an. Eliane, ihre ältere Tochter, verhielt sich in der Klasse offensichtlich daneben.

Nachbarn 1 / 14

Gabriela stand auf. Und im selben Moment kamen die Zahnschmerzen wieder. Sie waren diesmal noch etwas heftiger als am Wochenende. Aber Gabriela hatte keine Zeit, zum Zahnarzt zu gehen, und auch kein Geld, eine Behandlung zu bezahlen. Mit der Zunge versuchte sie die schmerzende Stelle im Mund zu beruhigen. Als sie den kranken Zahn berührte, schoss eine neue Welle von Schmerz durch ihren Kopf. Tränen traten ihr in die Augen. Gabriela setzte sich noch einmal auf die Bank. Sie versuchte sich zu beruhigen und suchte ein Taschentuch. Als sie es nicht fand, überkam sie ein so heftiges Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit, dass sie haltlos zu weinen begann. Gabriela hörte den Satz «Kann ich dir helfen!» erst beim zweiten Mal. Der Mann streckte ihr ein Taschentuch entgegen. Er lächelte Gabriela an, als sie es nahm und sich damit das nasse Gesicht trocknete. Sie bedankte sich.

«Liebeskummer?», fragte der Mann. Gabriela schüttelte den Kopf. «Dann sind es Geldsorgen!», sagte der Mann bestimmt. «Ja», flüsterte Gabriela. «Ich kann dir helfen!» Der Mann blickte sie mit kühlen Augen an. Sein Lächeln war verschwunden. Gabriela kannte diesen Blick. Der Mann witterte ein Geschäft.

Paul Steinmann wohnt in Rikon. Nach einem Theologiestudium ist er im Theater tätig, zuerst als Schauspieler, dann als Regisseur und jetzt vor allem als Autor. Er pendelt zwischen Freilichttheater und Kabarett, Musical und Kinderstücken. Aktuelles unter www.paulsteinmann.ch Illustration: Anna Sommer

19


Einfach per

S MS

en: n spend e k n a r F 5

A rmu t 5 an 227

Lara lacht wieder – dank Ihrer Spende

www.gegen-armut.ch


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.