Thurgau
Nr. 1 / 2015
Nachbarn
Soziales Existenzminimum Die öffentliche Diskussion über die Sozialhilfe gibt Anlass zur Sorge. Nicht die Armut wird bekämpft, sondern die Armutsbetroffenen.
Inhalt
Inhalt Editorial
3 Von Judith Meier Inhelder Geschäftsführerin Kurz & bündig
4 News aus dem Caritas-Netz Persönlich
13 «Was machen Sie mit Ihren Freunden am liebsten in der Freizeit?» Sechs Antworten Regional Das Leben am Existenzminimum ist geprägt von Verzicht. Vierbeiner sind häufig die einzigen Seelentröster – für die, die es sich leisten können.
Schwerpunkt
Soziales Existenzminimum Die Schweizer Bundesverfassung garantiert notleidenden Menschen Hilfe und Betreu ung. Doch ist die dafür zuständige Sozialhil fe in letzter Zeit politisch stark unter Druck geraten. Einsparungen durch Leistungskür zungen werden gefordert. Vergessen gehen dabei die rund eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz, die in prekären Verhältnis sen leben und deshalb Sozialhilfe beziehen. Gefangen im Strudel der Armut, droht ihnen die soziale Isolation. Drei armutsbetroffene Frauen berichten aus ihrem Alltag, der von Einschränkungen geprägt ist. Caritas nimmt eine klare Haltung ein: Bekämpft die Armut, nicht die Armutsbetroffenen!
14 Der Arzt, der Baumstamm, der «Ochsen» und die Caritas Caritas ist zwar ein Hilfswerk der katholi schen Landeskirche, hilft jedoch allen Menschen, egal, welcher Konfession, Nationalität oder Hautfarbe.
16 Einmaliges Mutterglück
Frau Bucher war mit einem Anliegen zur finanziellen Unterstützung bei der Caritas Thurgau in der Beratung. Kiosk
18 Wer bezieht eigentlich Sozialhilfe? Gedankenstrich
19 Existenzminimum
ab Seite 6
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser Besonders in den letzten Monaten wurde um die SKOS-Richtli nien und insbesondere über die Höhe des sozialen Existenzmi nimums häufig diskutiert. Verschiedene Stimmen aus der Poli tik sind der Ansicht, dass die SKOS-Richtlinien nicht nötig sind und der Grundbedarf gekürzt werden sollte. Aus der Ferne wird wahrgenommen, dass Menschen um das Existenzminimum mehr als das Notwendige hätten und sie nicht arbeiten wollen. In unseren Beratungen machen wir eine andere Erfahrung. Die Klienten leiden, weil sie keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt finden und ihre Kompetenzen nicht gefragt sind. Viele sind be reits fünfzig Jahre alt und haben aufgrund ihres Alters kaum mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Perspektiven sind, sich die Pensionskassengelder mit 60 auszahlen zu lassen, um davon bis zur Pensionierung den Unterhalt zu bezahlen, um da nach mit der AHV und Ergänzungsleistungen zu leben. Das soziale Existenzminimum deckt die Grundversicherung der Krankenkasse, die Miete der Wohnung und einen Grundbe darf, mit dem alle anderen Kosten bezahlt werden müssen. Es ist eine Herausforderung, mit diesem sozialen Existenzminimum über die Runden zu kommen. Jede weitere Anschaffung oder ein Besuch beim Arzt oder Zahnarzt ist kaum möglich. In dieser Ausgabe erhalten Sie Einblicke in Lebensgeschichten von Menschen, welche mit dem Existenzminimum leben müs sen. Uber Hintergründe zum Rahmengesetz und zu den SKOSRichtlinien berichtet Bettina Fredrich von der Caritas Schweiz.
Judith Meier Inhelder Geschäftsleiterin Caritas Thurgau
«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 34 770 Ex. Auflage TG: 1 085 Ex. Redaktion: Judith Meier Inhelder, Leo L. Leu (Caritas Thurgau) Bojan Josifovic (national) Gestaltung und Produktion: Urs Odermatt, Cyrille Massaux Druck: Stämpfli AG, Bern
Judith Meier Inhelder
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Caritas Thurgau Franziskus-Weg 3 8570 Weinfelden Tel.: 071 626 11 81 www.caritas-thurgau.ch PC 85-1120-0
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Kurz & bündig
Berufliche Integration
Ein Lichtblick In Luzern-Littau wurde Ende März das CaritasHaus Grossmatte nach einem Umbau neu eröffnet. Unzählige Menschen gehen im Ca ritas-Haus ein und aus. Sie arbeiten in einem der Betriebe: Schreinerei, Malerei, Velowerkstatt, Kreativatelier, Kantine oder im Lager von Caritas Wohnen und Caritas Ser vice. Im fünften Stock befindet sich das Personalrestaurant «Food for Workers», das auch Mitarbeitenden der umliegenden Firmen zugäng lich ist. In der Schreinerei werden Büromöbel hergestellt, das beliebte Spiel «Kubb» oder – ganz trendy – der Luzerner Rodel, mit dem sich Rennen gewinnen lassen. In Bildungsprogrammen werden nicht nur Deutschkenntnisse, son dern auch berufsspezifisches Fach
Die Caritas Luzern hat ein zweites Caritas-Haus:
G10 steht für die Adresse Grossmatte 10
wissen vermittelt. Ein individuelles Coaching unterstützt die Erwerbs losen zudem beim Wiedereintritt in den ersten Arbeitsmarkt. Sie fin den im umgebauten Caritas-Haus Arbeitsbedingungen und -möglich keiten vor, die sie auf die reale Be rufswelt vorbereiten. www.caritas-luzern.ch/service
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Anerkennung für Fahrende
Taskforce des Bundesrates Caritas Zürich setzt sich zusammen mit Bundesvertretern und weiteren Organisationen für bessere Lebensbedingungen für Fahrende ein. Um den Anliegen von Fahrenden in der Öffentlichkeit eine starke Stimme zu geben, engagiert sich Caritas Zürich im Aufbau und der Pflege eines Netzwerkes aus Organisationen von Fahrenden und solchen aus den Bereichen Menschenrechte, Minderheiten und Diskriminierung. Dazu ist Caritas Zürich mit Vertretenden aus 21 Organisationen zusammengekommen, um gemeinsam Forderungen nach Respekt und Anerkennung für Jenische, Sin ti und Roma zu stellen. Anlässlich des internationalen Tages der Roma wandte sich Caritas Zürich zusammen mit weiteren Ver tretenden aus dem Netzwerk direkt an den Bundesrat. In einem Schreiben machten sie diesen auf die Forderungen aufmerksam. In der Folge wurde Caritas zur Mitarbeit in einer Taskforce zur Verbesserung der Lebensweise von Fahrenden eingeladen. Hier engagiert sich Caritas zusammen mit den Partnern für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für Fahrende sowie für zusätz liche Stand- und Durchgangsplätze in der gesamten Schweiz. Das Ziel der Arbeitsgruppe ist, bis Ende 2015 einen Aktionsplan samt Massnahmenkatalog auszuarbeiten. www.caritas-zuerich.ch/fahrende
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Kurz & bündig
Caritas beider Basel baut Angebot aus
Zusammenarbeit mit Pastoralräumen Caritas beider Basel arbeitet stärker mit einzelnen Pastoralräumen zusammen und macht so das eigene Angebot noch mehr Personen zugänglich.
NEWS Kooperation mit Dock St. Gallen Caritas St. Gallen-Appenzell und Dock St. Gallen sind auf den 1. Januar 2015 eine Kooperation eingegangen. Die Angebote Liegenschaften-Service, Bauservice und Umgebungspflege werden wirkungsvoll und kosteneffizient unter einer Trägerschaft geführt. Das Ziel bleibt, langzeitarbeitslose Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. www.caritas-betriebe.ch Fachstelle Wohnen bei Caritas Aargau Die neue Fachstelle Wohnen der Caritas Aargau pflegt Kontakte zu Vermietern und weiteren Schlüsselpersonen im Themenfeld. Sie unterstützt Sozialarbeitende bei Fragen rund ums Wohnen und setzt für geeignete Aufgaben Freiwillige ein. Weiter entwickelt die Stelle ein Kursangebot zu «Wohnkompetenzen» und leistet Sensibilisierungsarbeit zum Thema. www.caritas-aargau.ch 10 Jahre KulturLegi Kanton Bern
Caritas beider Basel möchte die Angebote für die bereits beste henden und neu entstandenen Pastoralräume in der Region Basel ausbauen. Dazu bietet sie Bildungsangebote im Bereich «Armut und Migration» an und arbeitet im Rahmen der Sozi alberatung eng mit den einzelnen Pastoralräumen zusammen. Seit Januar 2015 führt Caritas beider Basel Sozialberatungen im Auftrag des Pastoralraums Allschwil-Schönenbuch durch. Die Gemeinde Allschwil hat eine hohe Sozialhilfequote, weshalb sich viele Personen an die Kirche wenden. Die Zusammenarbeit mit Caritas soll zu einer Entlastung der Angestellten des Pastoral raums führen, die über zu wenig Ressourcen zur Unterstützung von Personen in unterschiedlichsten Notlagen verfügen. Die Be ratungen finden in der Geschäftsstelle von Caritas beider Basel in Kleinbasel statt. Das Tram Nummer 6 garantiert einen einfa chen und günstigen Anreiseweg. www.caritas-beider-basel.ch
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Zum runden Geburtstag lanciert Caritas Bern die Kampagne «KulturLegi bewegt – Sport integriert». Mit der Kampagne soll die Teilnahme von Menschen mit knappem Budget an Sport- und Freizeitangeboten gefördert werden. Die 23-fache OL-Weltmeisterin Simone Niggli-Luder und der Olympia-Silbermedaillengewinner Markus Ryffel unterstützen die Kampagne als Botschafter. www.kulturlegi.ch/bern Lautstarke Beiträge aus Zürich Im Rahmen des Wettbewerbs «luutstarch» gestalteten 170 Jugendliche und junge Erwachsene zusammen mit Rappern und Fotografen Texte und Bilder zu Armut in der Schweiz. Entstanden sind 37 lautstarke Beiträge. Zu den Siegern des Wettbewerbs gehört das junge Berner Rap-Duo «best-elle & Gian». In ihrem Song «Zverdeckde ir Schwiz» stellt das Duo den Alltag zweier Klassenkollegen gegenüber: Die eine hat mehr als genug, dem anderen mangelt’s an allem. www.luutstarch.ch
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Rubrik
Ein Leben in Armut bringt Eltern an den Rand der Verzweiflung und lässt Kinderträume platzen.
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Schwerpunkt
«Manchmal bin ich einfach nur noch müde.» Knapp 1 000 Franken im Monat: Das erhalten Sozialhilfebeziehende vom Sozialamt zur Deckung ihres alltäglichen Bedarfs – vom Brot über die Zahnpasta bis hin zum Telefonabonnement und Kinobesuch. Drei Gespräche mit Betroffenen über ein Leben mit in vielerlei Hinsicht eingeschränkten Möglichkeiten. Text: Ursula Binggeli, Bilder: Zoe Tempest in Zusammenarbeit mit Barbara Rusterholz
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enn Marina Babic* zu erklären versucht, was Armut bedeutet, er zählt sie von jenem Abend. Sie kam damals auf dem Heimweg von der Arbeit an einem Restaurant vorbei und sah durchs Fenster die Menschen an ihren Tischen sitzen, essend, trinkend, plaudernd. Marina Babic war müde und hungrig und besass noch genau zwanzig Franken, die bis Ende Monat reichen mussten. Sie blickte auf die Gäste und fühlte eine grosse Einsamkeit in sich aufsteigen. Dann ging sie weiter, nach Hause, zu ihren beiden Kindern. Marina Babic hat ihren Mann nach Aufenthalten im Frauenhaus vor neun Jahren verlassen und ist heute geschieden. Die 35-Jährige arbeitet Teilzeit, im Stun denlohn. In guten Monaten liegt das Familieneinkom men bei 3 800, in schlechteren bei rund 3 000 Franken – Kinderrenten miteingerechnet. Davon entfallen 1 600 Franken auf die Wohnungsmiete. Die Suche nach einer günstigeren Wohnung ist schwierig, da Marina Babics Betreibungsregisterauszug zeigt, dass sie eine Zeit lang nicht allen Verpflichtungen nachkommen konnte.
Verzicht auf Sozialhilfe Armut hat viele Gesichter. In der Schweiz leben knapp 600 000 Menschen in finanziell prekären Verhältnis
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sen; viele von ihnen sind wie Marina Babic alleinerzie hend. Das monatliche Haushaltsbudget einer Person, die Sozialhilfe bezieht, beträgt (ohne Miete und Kran kenkasse) 986 bzw. 33 Franken pro Tag. Dies muss für Essen, Kleidung, Hygiene, öffentlichen Verkehr, Te lefon, Fernsehen und Internet reichen. Familie Babic muss an vielen Tagen mit noch weniger Geld auskom men. Marina Babic verzichtet nämlich auf Sozialhilfe, weil sie vom Migrationsamt erfahren hat, dass ein Bezug ihre Aufenthaltsbewilligung gefährden könnte. Und ihr grosses Ziel, der Erhalt einer Niederlassungsbewil ligung, wäre erst recht unerreichbar. Obwohl Marina Babic bereits vor 13 Jahren aus Kroatien in die Schweiz gekommen ist, verfügt sie nach wie vor erst über eine B-Bewilligung, die jährlich erneuert werden muss. Dies verringert ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Marina Babics Alltag wird dominiert von der Frage, wie sie ihre Rechnungen bezahlen kann. Ihr Kopf sei immer gefüllt mit Zahlungsterminen, sagt sie. «Ich bin zur Ökonomin geworden. Aber manchmal bin ich einfach nur noch müde.» Immer wieder rafft sie sich auf. Denn ihre Kinder sollen möglichst wenig mitbe kommen von den finanziellen Problemen.
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Schwerpunkt
Armut wirkt sich stets auf die ganze Familie aus. So liegen Musikunterricht oder Fussballtraining für das Kind häufig nicht drin.
Marina Babics Tochter bestand die Aufnahmeprü fung ans Gymnasium, und auch der neunjährige Sohn ist ein guter Schüler. Darüber ist sie sehr glücklich. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen. «Könnte es sich negativ auf ihre weiteren Chancen auswirken, dass wir so wenig Geld haben?» Als die Tochter in den ersten Tagen am Gymi eine Rechnung über mehrere hundert Franken heimbrachte für diverse Schulbücher, war Marina Babic der Verzweiflung nahe. Eine Bekannte riet ihr, sich an die Caritas zu wenden, welche die Rech nung dann bezahlte und der Familie beratend zur Seite stand.
erhält Regula Baumann ergänzende Sozialhilfe. «Wie lange das noch möglich ist, weiss ich nicht», sagt sie. «Denn eigentlich verlangt das Sozialamt von mir, dass ich mir die zweite Säule auszahlen lasse und meinen Lebensunterhalt auf diese Weise finanziere. Aber für mich kommt das nicht in Frage.» Sie fürchtet, sonst im Rentenalter in chronischer Armut leben zu müssen. Caritas unterstützt sie nun in der Auseinandersetzung mit dem Sozialamt.
Der Lohn reicht nur im Sommer Regula Baumann* ist fast 25 Jahre älter als Marina Ba bic. Vor neun Jahren starb ihr Partner, Kinder hat sie keine. Auch sie hat ein unregelmässiges Einkommen. Sie trägt Zeitungen aus, hilft im Gewerbebetrieb des Bruders mit und freut sich jeweils auf die Badesaison, weil sie dann zusätzlich noch im Strandbad arbeitet und damit auf einen Lohn kommt, von dem sie leben kann.
Schwierige Jahre bis zur Pensionierung Fast 20 Jahre lang hatte Regula Baumann bei einer grossen Telekommunikationsfirma gearbeitet – bis neue Kopfhörer eingeführt wurden, die bei ihr ein hef tiges Ekzem an den Ohrmuscheln auslösten. Nach lan ger Leidenszeit verlor sie ihren Job. Eine neue Festan stellung hat sie seither trotz unzähliger Bewerbungen nicht mehr gefunden. Mit bald sechzig Jahren kommt Regula Baumann das langsam näherrückende Ren tenalter wie eine Erlösung vor. «Wenn ich pensioniert bin, möchte ich als Freiwillige in Sozialbetrieben arbei ten. Zum Beispiel in einem Caritas-Laden.»
Im Winterhalbjahr beträgt ihr monatliches Einkom men oft nur 1 500 Franken, davon gehen 900 Franken für die Wohnungsmiete weg und die Krankenkassen prämie will auch noch bezahlt sein. In diesen Monaten
Vierbeinige Seelentröster Jeannine Roth* lebt ebenfalls alleine – und doch nicht ganz. Denn sie teilt ihre Zweizimmerwohnung mit fünf sehr gepflegten Katzen und vielen bunten Zier
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Schwerpunkt
fischen. In der Stube stehen neben einem Fernseher diverse kleine Aquarien auf dem Regal. An der Wand hängen Teppiche mit Kat zensujets, die Jeannine Roth in der Tagesklinik geknüpft hat, welche sie eine Zeitlang besuchte. Vor zwei Jahren hatte sie einen Nervenzu sammenbruch, seither kämpft sie mit Depressionen und ist arbeits unfähig. Nach wie vor ist sie in psychologischer Behandlung; die IV-Abklärung läuft. Zuletzt hatte sie in einem Altersheim als Pflege helferin gearbeitet. Seit vergangenem Sommer ist Jean nine Roth ausgesteuert und lebt von der Sozialhilfe. Das Futter für ihre Katzen und die Fische muss sie von den für sie selber gedachten 900 Franken Grundbedarf bezah len. Die Tiere seien ihr Luxus, sagt sie und lächelt. «Andere geben Geld für Zigaretten aus.» Wenn sie für sich selber Lebensmittel einkaufen geht, sucht sie konsequent nach he rabgesetzter Ware. Ein Leben ohne Katzen kann sich die Mutter zweier Teenager-Töch ter, die beide in Pflegefamilien auf wachsen, nicht vorstellen. «Sie sind meine Seelentröster.» Die Katzen helfen ihr, mit ihrer Lebenssitua tion klarzukommen. Zudem tue es ihr gut, für ihre Tiere zu sorgen, sagt Jeannine Roth. Dank dieser Aufgabe wird die viele freie Zeit, die sie zur Verfügung hat, nicht zur grossen Leere. Dass Caritas ihr gelegentlich unter die Arme greift, bedeutet ihr viel. *Namen geändert
EXISTENZSICHERUNG GENÜGT NICHT In der Schweiz gibt es einen Sozialstaat – warum braucht es Caritas? Caritas setzt sich überall dort ein, wo der Staat nicht oder kaum unterstützen kann. Sei dies mit klaren, parteinehmenden Botschaften, fundierten Positionen, gesellschaftlichen Forderungen oder ganz konkret mit wirkungsvollen Massnahmen und Einsätzen im In- und Ausland. Ohne Caritas, auch wenn sie häufig bescheiden im Hintergrund wirkt, würde der Schweiz eine parteiübergreifende und wertvolle Organisa tion fehlen. Reicht die Sozialhilfe aus, welche in der Schweiz ausbezahlt wird? Die Sozialhilfe zahlt ihren Klientinnen und Klienten denjenigen Betrag aus, welcher in der Schweiz als Basis der Existenzsicherung errechnet wurde. Dieser deckt Grundbedarf, Mietzinsbeiträge und Krankenkassenprämien. Dabei wurde als Bezugsgrösse der durchschnittliche Bedarf (Warenkorb) derjenigen Bevölkerungsschicht gewählt, welche zu den zehn Prozent mit dem geringsten Einkommen gehört. Damit wird deutlich, dass in erster Linie die Existenzsicherung gewährleistet wird und nur in bescheidenem Umfang die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist. Dies entspricht dem politischen Willen und kann als gesellschaftlicher Konsens betrachtet werden.
«Die Bekämpfung der Armut ist notwendig und beinhaltet mehr als nur die Existenzsicherung.»
In fernen Ländern verdienen Menschen einen Dollar pro Tag – ist Armut in der Schweiz ein Luxusproblem? Es ist wichtig, zwischen absoluter Armut (weniger als 1.25 US-Dollar pro Tag verfügbar) und relativer Armut (deutlich unter Einkommensdurchschnitt des Landes) zu unterscheiden. Die Schweiz ist zwar nicht von absoluter Armut betroffen, doch ist die relative Armut weit verbreitet und einschneidend. Finanzielle Not führt oft zur gesellschaftlichen Ausgrenzung oder gar zu sozialer Isolation. Armutsbekämpfung ist notwendig und sollte mehr beinhalten als die Existenzsicherung. Armutsbetroffene Menschen müssen Aussicht auf bessere Lebensumstände haben und die Chance erhalten, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen.
Nicole Wagner leitet seit vier Jahren die Sozialhilfe Basel-Stadt. Zuvor war sie Geschäftsführerin des Wohn Werk Basel.
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Schwerpunkt
Für ein soziales Existenzminimum Das soziale Existenzminimum schafft Chancengerechtigkeit und weist den Weg aus der Armut. Eine Kürzung des Grundbedarfs ist inakzeptabel. Text: Bettina Fredrich, Illustration: Achilles Greminger
n Artikel 12 garantiert die Schweizer Bundesver fassung den Menschen, die in Not geraten und nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen, Hilfe, Betreuung und die Mittel, die für ein menschen würdiges Dasein unerlässlich sind. Auf dieser Grundlage definiert die Sozialhilfe ein soziales Exis tenzminimum. Mit ihren Richtlinien sorgt die Schwei zerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) dafür, dass dieses soziale Existenzminimum in der Schweiz flä chendeckend zur Anwendung kommt.
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Was ist das soziale Existenzminimum? Das soziale Existenzminimum setzt sich zusammen aus den Wohn- und Gesundheitskosten, situations bedingten Leistungen und dem Grundbedarf. Das heisst, Mietzins im ortsüblichen Rahmen sowie ob ligatorische Krankenversicherungskosten sind Teil des sozialen Existenzminimums und werden von der Sozialhilfe gedeckt. Auch eingeschlossen sind situati onsbedingte Leistungen, die sich aus der besonderen Lage eines Haushalts ergeben, beispielsweise Kinder
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Schwerpunkt
betreuungskosten oder benötigte Medikamente. Eine weitere Komponente des sozialen Existenzminimums bildet der Grundbedarf für den Lebensunterhalt. Er orientiert sich am Konsumverhalten der einkommens schwächsten zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung und ist nach Anzahl Personen im Haushalt abgestuft. Eine alleinstehende Person erhält derzeit monatlich 986 Franken, Zweipersonenhaushalte, zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind, 1 509 Franken und eine Familie mit zwei Kindern hat An recht auf 2 110 Franken. Mit dem Grundbedarf müs sen Ernährung, Kleidung, Energieverbrauch, laufende Haushaltsführung, Gesundheitspflege, Verkehrsaus lagen, Kommunikation, Unterhaltung und Bildung, Körperpflege sowie Vereinsbeiträge bezahlt werden.
Die Armut bekämpfen, nicht die Armutsbetroffenen Insbesondere der Grundbedarf geriet in den letzten Monaten politisch stark unter Druck. Einige Kanto ne haben Kürzungen vollzogen, in anderen sind po litische Vorstösse hängig, die auf eine Reduktion der Leistungen zielen. Kürzungen beim Grundbedarf sind aber aus mindestens zwei Gründen inakzeptabel: Ers tens widerspricht eine Beschneidung des Grundbe darfs dem Bedarfsprinzip. Wenn sich der Grundbedarf nicht mehr am Bedarf der ärmsten zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung orientiert, wird er zur willkür lichen Grösse. Zweitens ignorieren Befürworterinnen und Befürworter eines Leistungsabbaus, dass das soziale Existenzminimum für Chancengerechtigkeit und für die Bekämpfung der Armut unverzichtbar ist. Derzeit ermöglicht es eine minimale Teilhabe am ge sellschaftlichen Leben. Ein Geschenk für einen Kin dergeburtstag, die Teilnahme an einem Schulsportla ger oder ein Abendessen mit Freunden sollen – wenn auch in eingeschränktem Rahmen – möglich bleiben. Kindern aus armutsbetroffenen Familien erlaubt dies einen fairen Start ins Leben. Für Erwachsene, das be legen jüngste Studien, sind soziale Netze das zentrale Puzzleteil auf dem Weg aus der Armut zurück ins Be rufsleben. Das soziale Existenzminimum sichert nicht nur das Überleben, sondern ist zugleich Grundlage für Chan cengerechtigkeit und Wegweiser aus der Armut. Ar mut kann mit einem Leistungsabbau in der Sozialhilfe nicht beseitigt werden. Im Gegenteil: Eine Beschnei dung des sozialen Existenzminimums verunmöglicht den betroffenen Menschen, aus der Armut zurück in die Mitte der Gesellschaft zu finden.
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Gemeinsam Armut verhindern Am 16. Dezember 2014 veröffentlichte Caritas gemeinsam mit 20 anderen Organisationen eine Erklärung für das soziale Existenzmi nimum. Darin kritisiert Caritas die öffent liche Armutsdiskussion der letzten Monate und formuliert zentrale Forderungen. Dazu gehört das Festhalten am sozialen Existenz minimum. Die Schweizer Bundesverfassung schreibt vor, das Wohl der Schwächsten in unserer Gesellschaft zu achten. Menschen in der Sozialhilfe haben ein Recht, in Würde zu leben. Das soziale Existenzminimum ist für Caritas nicht verhandelbar. Gleichzei tig muss die Ursachenbekämpfung in der Armutspolitik wieder ins Zentrum rücken. Zu einer investiven Armutspolitik, welche Armut präventiv verhindert, gehören: exis tenzsichernde Löhne, Ergänzungsleistun gen für Familien, Steuerbefreiung des sozi alen Existenzminimums, Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Ausbildung und Beruf, niederschwellige An gebote in der frühen Förderung, Investitio nen in Nachhol- und Weiterbildung sowie Förderung des preisgünstigen Wohnungs baus. Caritas wird sich weiter hartnäckig da für einsetzen. Links und Publikationen Erklärung zur Sozialhilfe «Armut bekämpfen, nicht die Armutsbetroffenen.» Caritas steht für ein soziales Existenz minimum ein. Mehr dazu unter: www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/erklaerungzur-sozialhilfe Positionspapiere von Caritas Unsere Meinung zu aktuellen politischen Entwicklungen sind zu finden auf: www.caritas.ch/positionspapiere
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2 8 19 Wohnungsnot Tausende von Jugendlichen gingen 1981 in Zürich und auch in anderen Schweizer Städten auf die Strasse, um für mehr Freiräume und Autonome Jugendzentren (AJZ) zu demonstrieren. Die Forderung nach Freiräumen war auch ein Kampf um Häuser. Hausbesetzungen waren an der Tagesordnung wie hier am Stauffacher in Zürich. Foto: Klaus Rozsa / photoscene.ch.
Persönlich
«Was machen Sie mit Ihren Freunden am liebsten in der Freizeit?» Antworten von Passantinnen und Passanten aus der Deutschschweiz.
Paul Dalcher, PR-Berater, Pratteln: Mit meinen Freunden gehe ich regelmässig wandern, spiele Ten nis oder wir schauen einen Fuss ballmatch zusammen. Auch als Trommler bei einer Basler Fasnachtsclique verbringe ich viel Zeit mit Freunden. Ich mache gerne Sachen, die einen Sinn ergeben – auch im karitativen Bereich. Kostenpunkt: 300 bis 400 Franken im Monat. Der ef fektive Wert ist wohl das Zehnfache.
Lucia Bertodatto, pensionierte Laborantin, Schlieren: Oft spaziere ich mit Freunden einfach an einem Fluss oder See entlang, da gibt es immer viel zu beobachten. Manchmal besuchen wir auch eine Ausstellung oder ein Museum – viele sind kostenlos. Anschliessend gehen wir noch etwas trinken. Kostenpunkt (exkl. GA): rund 100 Franken im Monat.
Linus Lippenberger, Schüler, Scherzingen: Meine Hobbys sind Fussballund Schlagzeugspielen. In meiner Freizeit besuche ich mit Freun den gern das Kino in Konstanz. Da kostet uns ein Eintritt im Durchschnitt 10 Fran ken. Für die kurze Busfahrt dahin nutze ich meine Jahreskarte. Das Fussballspielen im Verein sowie der Schlagzeugunterricht werden von meinen Eltern durch Jahresbeiträge bezahlt.
Babsi Gut, Kindergärtnerin, Meggen: Wir treffen uns jeden Dienstag zum Tango tanzen. Da üben wir unter Anleitung immer wieder neue Schritte. Am Samstag gehen wir dann oft zusammen an einen grösseren Anlass, manchmal auch in Zürich oder Basel. Für den Kurs zahle ich 320 Franken im Monat, dazu kommen dann noch die Ausgaben am Wochenende.
Simone Gossweiler, Praktikantin, Aarau: Ich lese gerne, gehe oft joggen und mache Pilates. Am Wochenen de treffe ich mich mit Freunden. Wir gehen etwas trinken oder in einen Club. Manchmal steht auch Wandern auf dem Programm oder wir sind mit den Inlineskates unter wegs. Kostenpunkt: Für all diese Aktivitäten gebe ich pro Monat 300 bis 350 Franken aus.
Hassan Ahmad, ehem. Taxifahrer, Abtwil: Ich verbringe meine Freizeit ger ne mit meiner Familie zuhause. Wenn die Kinder wollen, gehe ich aber auch mit ihnen spazie ren oder mal schwimmen. Manchmal besuchen wir auch befreundete Familien; das macht uns Spass. Ein Ausflug mit der ganzen Familie kostet mich etwa 30 Franken.
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Der Arzt, der Baumstamm, der «Ochsen» und die Caritas Caritas ist zwar ein Hilfswerk der katholischen Landeskirche, hilft jedoch allen Menschen, egal, welcher Konfession, Nationalität oder Hautfarbe. Im folgenden Text wird ein Beispiel geschildert, das aufzeigt, wie einem Menschen, der in die Schuldenmühle geraten ist, geholfen werden konnte. Text: Leo L. Leu, Bild: zvg
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aniel Noll* kommt aus sehr bescheide nen Verhältnissen. Nach der Matur ge lingt es ihm, mit ge liehenem Geld ein Medizinstudi um zu bestreiten, und bringt es schliesslich bis zum Oberarzt an einem grossen Krankenhaus in der Ostschweiz. Gewissenhaft beginnt er seine Schulden abzuzahlen und kommt damit – dank seiner Serio sität – recht weit. Da schlägt aber das Schicksal unvermittelt und mit aller Härte zu. Er wird bei einem Sturm von einem Baumast getroffen und schwer ver letzt. Lange muss er im Kranken haus bleiben, diesmal als Patient und nicht als Arzt … Nach einem weiteren Aufenthalt in einer Reha bilitationsklinik wird er schliess lich mit beträchtlichen physischen Einschränkungen entlassen. Sei nen geliebten Beruf kann er aber nun nicht mehr ausüben. Noch immer sitzt er auf einem Schuldenberg, hat plötzlich keinen Verdienst mehr und weiss sich nicht mehr zu helfen. Überdies ist er auf ei
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nen Rollstuhl angewiesen und sucht eine Arbeit, welche er am Computer von zuhause aus bewältigen könnte; allein, es gelingt ihm nicht, wieder festen Boden unter den Füssen zu bekommen. Die Gläubiger klopfen der Reihe nach an seine Tür, neue Geldquellen bleiben ihm aus nach vollziehbaren Gründen verwehrt. Fazit: Im Krankenhaus wird er als Rollstuhlfahrer nicht mehr ar beiten können. Hätte er das nöti ge «Kleingeld», wäre es vielleicht möglich, eine eigene Arztpraxis zu betreiben, doch woher sollte das
Geld kommen, zumal seine bishe rigen Gläubiger der Reihe nach vor stellig werden? Ausserdem «verab schieden» sich seine Freunde und Studienkollegen, das heisst, sie lassen nichts mehr von sich hören, ein Umstand, der Daniel in eine tie fe Depression stürzt. Die kärglichen Versicherungsleis tungen reichen nur knapp für den täglichen Bedarf, ein bedeutsa mer Schuldenrest bleibt bestehen, und dann und wann sitzt Daniel im «Ochsen» bei einem Einer oder Zweier Roten. – Monat um Monat
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schreibt er bis zu fünfzig Bewer bungen, viele werden nicht ein mal beantwortet, andere sind alle abschlägig: «Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …» Die Mut losigkeit wird grösser, die Besuche im «Ochsen» häufiger und aus dem Einer oder Zweier sind längst Hal be geworden … Natürlich kriegt er einen Elektro rollstuhl bezahlt, bezieht Geld von der SUVA und eine kleine IV-Rente. Das mildert zwar seine ausweglose Situation ein wenig, eine gute Per
spektive ist dies jedoch alles nicht! Ausweglos? Durch eine Anzeige er fährt er vom Angebot der Caritas Thurgau und besucht deren Büro, anstatt in den «Ochsen» zu gehen. Daniel ist es sehr peinlich, über seine prekäre Lage zu sprechen, besonders gegenüber einer frem den Person. – «Ausweglos ist keine einzige, noch so schlimme Situati on», sagt ihm Melanie Straub, die freundliche Caritas-Schuldenbera terin, «schlimm wird’s erst, wenn man sich selber aufgibt!» Und sie eröffnet ihm, wie man mit einer Schuldenberatung die verzweifelte Lage in den Griff bekommen kann. «Das braucht natürlich seine Zeit», meint Frau Straub, «aber die Gläu biger sind dann bereits einigermas sen beruhigt, wenn sie wissen, dass der Schuldner eine Fachstelle be auftragt hat, um alles Notwendige zu regeln.»
erst vor seiner Haustür, dass er ei gentlich vorgehabt hat, noch «eine Kleinigkeit» zu trinken. Doch er lässt es und lächelt, als er im Trep penhaus auf den Lift wartet. Zwei Jahre nach der Beratung bei der Caritas-Schuldenberaterin hat Daniel alle seine Schulden zurück bezahlt, arbeitet als Redaktor einer medizinischen Fachzeitschrift von zuhause aus und hat sich eben mit Sonja Specht verlobt. – Von wegen ausweglos … Daniel hat trotz Roll stuhl neue Perspektiven! Einer wahren Geschichte nachge zeichnet. *Alle Namen sind geändert.
Daniels Sorgenpaket ist nicht ein fach zu «Luft» geworden, aber er sieht nun doch endlich einen Aus weg, den er vorsichtig als «Pers pektive» deklarieren kann. Nach dem Besuch bei der Caritas rollt er am «Ochsen» vorbei und merkt
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Einmaliges Mutterglück Frau Bucher* war mit einem Anliegen zur finanziellen Unterstützung bei der Caritas Thurgau in der Beratung. Interview: Judith Meier-Inhelder, Bild: Conradin Frei
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rau Bucher*, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie sich bereit erklärt haben, sich interviewen zu lassen. Leben Sie alleine mit Ihrem Kind? Ja, ich lebe alleine mit einem fünfjährigen Kind. Werden Sie vom Vater des Kindes unterstützt? Nein. Sie haben eine gute Ausbildung, weshalb wurden Sie arbeitslos? Meine letzte Anstellung wurde we gen Sparmassnahmen gekündigt. Sie haben einige Zeit vom Ersparten gelebt, von welchen Einnahmen leben Sie jetzt? Nachdem das Gesparte aufge braucht war, habe ich mir Geld gelie hen und diverse Konten überzogen. Was macht es schwierig, eine neue Arbeit zu finden? Es gibt Regionen, wo es nur wenige zu besetzende Stellen gibt; auf die se bewerben sich dann sehr viele. Sobald man flexibel ist und man sich in der ganzen Schweiz bewe gen kann, wird es einfacher.
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Es ist schwierig, kurzfristig einen Platz auf Stellenantritt in der Kin derkrippe zu finden. Teilweise ist diese voll und man muss sich früh zeitig anmelden. Und wenn man sich anmeldet, muss man das Kind auf den vereinbarten Termin in die Krippe geben. Wenn ich auf diesen Termin jedoch noch keine Stelle ge funden habe, erhöhen sich die Aus gaben. Die Betreuung für das Kind optimal zu organisieren, ist nicht einfach. Vor allem dann noch, wenn man unregelmässig arbeitet, an di versen Tagen, mal mehr, mal weni ger. Nicht jede Krippe ist so flexibel.
Wie richten Sie Ihr Leben ein, damit die finanziellen Ressourcen genügen? In «guten Zeiten», wenn alles klappt, versuche ich zu sparen. Ich kaufe alle Kleider im Ausverkauf, ich kaufe alles im Ausland, denn ich könnte mir die hohen Preise hier in der Schweiz nicht leisten. Ferien im Ausland gibt es keine mehr. Höchstens mal bei jeman dem auf Besuch in der Schweiz. Für mich selbst brauche ich prak tisch nichts, ausser Kleidung für die Arbeit. Spielsachen werden alle auf dem Flohmarkt gekauft oder gebraucht übers Internet.
Auf was müssen Sie verzichten? Bevor ich eine alleinerziehende Mutter war, konnte ich das Leben bis aufs Letzte auskosten. Daher fehlt mir heute eher wenig, da ich bereits von allem hatte. Hauptsächlich verzichte ich auf Reisen und auf den Ausgang. Alle anderen Einschränkungen fallen mir eher nicht so schwer: Geschenke für andere kaufen zu können, Freunde einladen, sich das leisten zu können, worauf man grad Lust hätte, Freizeitaktivitä ten (Sport: Skifahren, Fitness etc.), Coiffeur und Kosmetik, Zeit zu ha ben für mich selbst.
Sie hatten sich bei der Caritas Thurgau gemeldet, weil Sie die Wohnnebenkosten nicht mehr bezahlen konnten (Heizung/ Strom). Wir stellten ein Gesuch an die Akti on «Ostschweizer helfen Ostschwei zern». Das Gesuch wurde bewilligt. Dies war für Sie bestimmt eine grosse Entlastung. Sehr! Ich habe die vergangenen Jah re immer sehr viel gearbeitet (und viele Steuern bezahlt). Vor etwa acht Jahren kam ich deswegen in ein Burnout. Ich setzte komplett aus, habe mich jedoch nie offiziell
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Caritas Thurgau
In dieser Zeit wurde ich schwanger: Ein Wunder, denn ich hatte mei nen langjährigen Kinderwunsch schon langsam begraben. Das Gan ze zerrte weiter an meiner Energie. Ich war lange nicht arbeitsfähig, vermied jedoch den Gang in eine IV- oder offizielle «Arbeitsunfä higkeitsattestierung», aus Angst, Schwierigkeiten bei einer späteren Anstellung zu haben. Irgendwann war ich jedoch wieder erholt. Und seitdem versuche ich das Ganze zu bereinigen. Mit einem Kind ist das jedoch nur langsam möglich, auch muss ich aufpassen, nicht mehr in ein neuerliches Burn out zu geraten.
krankgemeldet. Ich habe damals eine Zeit lang von meinem Erspar ten gelebt und diverse Ärzte aufge sucht, da ich Dauerkopfschmerzen hatte und stets müde war. In dieser Zeit war ich auch nicht imstande, meine Steuererklärungen auszu füllen (was ich doch zuvor immer getan hatte), musste hohe Bussen bezahlen, erhielt üppige Steuer rechnungen (wurde eingestuft) und kam so in eine Schuldenmühle, wo ich auch heute noch drinstecke.
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Sie rechnen damit, bald eine neue Arbeit zu finden. Wer wird in der Zeit für Ihr Kind sorgen? Es gibt – Gott sei Dank – noch eini germassen flexible Tagesmütter. Sie sind alleinerziehende Mutter. Was ist aus Ihrer Sicht das Schwierigste? Das Optimum für alle Beteiligten zu erreichen. Es gibt ein Kind, einen Vater und eine Mutter: das Ganze soll für alle trotzdem so gut wie möglich funktionieren, wobei das Glück des Kindes im Vordergrund steht. Es ist schwierig, mitanzusehen, dass jeder sieht, dass man nicht al les schafft und keiner hilft. Bekann te und Verwandte helfen nicht, alle schauen weg. Man hat selbst Mühe, sich Hilfe zu holen. Nach vielen Jahren jedoch noch dieses wunderschöne, einmalige Mutterglück erleben zu dürfen, das ist sehr schön. Im Leben geht es manchmal abwärts, dann aber wie der aufwärts! *Name geändert
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Liebe Caritas, wer bezieht eigentlich Sozialhilfe? Rund 235 000 Personen beziehen in der Schweiz Sozialhilfe. Diese knappe Viertelmillion Menschen weisen sehr unterschiedliche Profile und Lebensläufe auf.
AGENDA Einladung zur Jahresversammlung Caritas Thurgau Datum: 7. Mai 2015 Zeit: 19.00 Uhr, Ort: Franziskus-Weg 3, Weinfelden
Treffen Sozialnetzwerk Weinfelden
Grundsätzlich kann es jede und jeden treffen. Ein unerwarteter Schicksalsschlag wie der plötzliche Stellenverlust, eine Schei dung oder eine Krankheit können stabile materielle Verhältnisse erschüttern und Menschen in die Armut treiben. Statistiken be legen aber, dass es Risikofaktoren gibt, die finanzielle Knappheit und damit den Gang zum Sozialamt wahrscheinlicher machen. Gefährdet ist, wer ein niedriges Bildungsniveau besitzt oder eine nichtanerkannte ausländische Ausbildung absolviert hat, wer mehrere Kinder hat, erst recht, wer sie allein erzieht und darum keine Zeit für Weiterbildungen aufbringen kann, wer an gesund heitlichen Problemen leidet, wer jung oder über 46 Jahre alt ist oder wer eine IV-Teilrente bezieht. Ein Drittel der Sozialhilfe beziehenden sind Kinder und Jugendliche. Häufig geht zudem vergessen, dass ein gewichtiger Teil der Sozialhilfeempfänger/ innen arbeitet – rund ein Drittel der Personen im erwerbsfähi gen Alter. Deren Einkommen reicht allerdings nicht aus, um die Lebenskosten zu decken.
Verschiedene Fachstellen in Weinfelden und näherer Umgebung treffen sich regelmässig bei der Caritas Thurgau. Ziel ist es, gemeinsame Ressourcen zu nutzen und von dem grossen gemeinsamen Fachwissen zu profitieren. Wir treffen uns zum gemeinsamen Lunch von 12.15 Uhr bis 13.15 Uhr an den folgenden Terminen: 2. Juni, 27. August, 27. Oktober
Die Wege, die in die Armut und damit zum Sozialamt führen, sind verschieden. Caritas setzt sich für eine nachhaltige Ar mutspolitik ein. Diese definiert Massnahmen, um Armut zu ver hindern, und hilft Menschen, die in Not geraten, sich aus ihrer prekären Lage zu befreien.
Patinnen und Paten für das Projekt «mit mir»
Haben Sie eine Frage an uns? Senden Sie diese per E-Mail an nachbarn@caritas-zuerich.ch. Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn».
Legate zugunsten der Caritas Ist es Ihnen ein Anliegen, einen Teil von Ihrem Vermächtnis für einen karitativen Zweck einzusetzen? Sie haben die Möglichkeit, dies mit einem Legat noch zu Lebzeiten zu bestimmen. So können Sie sicher sein, dass es zu 100% im gewünschten Sinne eingesetzt wird.
Wer Interesse hat und noch keine Einladung erhalten hat, bitte bei der Caritas Thurgau melden. Tel.: 071 626 11 83
Wir suchen für unser Patenschaftsprojekt dringend Paten und Patinnen. Dies besonders in der Region Arbon/ Romanshorn. Haben Sie Interesse daran, sich ein oder zwei Mal pro Monat für ein paar Stunden Zeit zu nehmen, um sie einem Kind zu schenken? Sie bringen Abwechslung in dessen Freizeit, unternehmen kleine Ausflüge, besuchen ein Museum oder backen einen Kuchen? Dann melden Sie sich bei der Projektleitung: Simone Rutishauser, Tel.: 071 626 11 84.
Bei Fragen rufen Sie uns an: 071 626 11 83 / PC 85-3769-0 Caritas Thurgau, www.caritas-thurgau.ch
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Gedankenstrich
Existenzminimum Existenzminimum, das ist so ein Wort. Das ist so ein Wort, das mich bereits bedrückt, bevor ich verstanden habe, was alles damit verbunden ist, was es für diejenigen bedeutet, auf die es angewendet wird. Zum Teil liegt es an der Existenz. Wieso Existenz und nicht Leben, frage ich mich. Wer würde denn bloss existieren, bloss eine Existenz haben wollen? Und wann sonst ist von Existenz die Rede? Fragt vielleicht jemand: «Wie viele Menschen existieren in Ihrem Haushalt?» oder «Wo ist Ihr Existenzmittelpunkt?» Geht viel leicht eine Frau in den Coop oder die Mi gros (eher zu Lidl oder Aldi, wenn man am Existenzminimum lebt), um Existenzmit tel zu kaufen? Schreibt sie einen Existenzlauf, um sich zu bewerben und endlich wieder einen Job zu finden? Existiert etwa ein Mann mit seiner Existenzgefährtin bis an sein Existenzende in einer 1,5-Zimmer-Woh nung, weil sie sich mehr Existenzraum nicht leisten können oder dürfen? Und was unterscheidet die Exis tenz vom Leben? Ist nicht das eine weniger als das an dere? Ich benutze das Wort so gut wie nie. Vielleicht habe ich schon mal von einem unglücklich Verliebten gesprochen und gesagt: «Ich glaube, sie weiss nicht mal, dass er existiert.» Weil es doch bei Existenz um das Vorhandensein geht, um ein Ja oder Nein, nicht um weniger oder mehr. (existiert der Yeti? Existiert das Nichts?) Aber wieso dann das Minimum? Das Mini
mum der Existenz? Das Minimum an Existenz? Gibt es auch ein Existenzmaximum? Könnte man sagen: «Jetzt reichts aber, Sie existieren definitiv zu sehr, zu viel. Machen Sie mal halblang?» Und wenn ich aber am Minimum bin, am Existenzminimum, existiere ich dann weniger als die anderen (von leben ganz zu schweigen), existiere ich dann so wenig, wie es nur geht? Existenzminimum, das ist doch ein Begriff, der schon bedrückt, bevor man noch verstanden hat, was er bedeutet. Bevor ich noch verstehe, wer definiert, was unerlässlich ist für die Existenz, und wie es möglich sein soll, ein Minimum noch zu kürzen. Wie soll das möglich sein?
Ulrike Ulrich lebt als freie Schriftstellerin in Zürich. Nach den beiden Romanen «fern bleiben» und «Hinter den Augen» erscheint in diesem Sommer ihr erster Erzählband im Wiener Luftschacht-Verlag. Sie engagiert sich in einer Arbeitsgruppe des Deutschschweizer PEN für Schriftsteller/innen, die staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. www.ulrikeulrich.ch
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Rubrik
Dabei sein, auch mit wenig Geld.
* Schmales Budget, volles Programm: Mit der KulturLegi erhalten Menschen mit tiefem Einkommen Preisreduktionen für Angebote aus Kultur,Sport, Bildung und Freizeit.
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