MEXICO CITY CARLO GAETANO ZAMPIERI
MEXICO CITY CARLO GAETANO ZAMPIERI
Bericht anl채sslich eines Reisestipendiums der Erich Degen Stiftung der ETH Z체rich 29. September - 28. Oktober 2003
Mexico City - Stadtbilder Die Reise steht thematisch innerhalb der aktuellen Städtebau- und Architekturdiskussion rund um kontrollierte und unkontrollierte Stadtentwicklung in Megacities wie Shanghai, Laos, Rio de Janeiro, Sao Paulo, oder eben Mexico City. In Randzonen einer Stadt (der so genannten Zwischenstadt, nach SIEVERTS) treffen Immigration und Expansion, Dichte und Leere, arm und reich aufeinander, denn der Ort wo Stadt und Land verschmelzen, ist in Südamerika gleichzeitig Heimat der Besitzlosen und Refugium der Reichen. Die scheinbar gegensätzlichen Orte sind aber feste Bestandteile ein und derselben Stadt. Deshalb müssen Zentrum und Rand des Stadtgeflechts immer zusammen gelesen werden. Eine halbe Milliarde Menschen wird in Zukunft in grossen und sehr grossen Städten leben, deshalb sollten die Megastädte nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung begriffen werden.
Mexiko Stadt ist mit rund 18 Millionen Menschen, die auf einer Fläche von 1300 km2 leben, eine der grössten Agglomerationen der Welt, was dieser Stadt eine besondere Bedeutung gibt. Hier verbinden sich aufstrebendes Selbstbewusstsein, koloniale Vergangenheit und Bewusstsein der eigenen indianischen Vergangenheit. Schliesslich basiert der koloniale Städtebau der Metropole auf dem gleichen Raster wie das einstige Tenochtitlán der Azteken. Charakteristiken der ersten und dritten Welt prallen in Mexico City hart aufeinander: Hüttenmetropole und Weltstadt, Bevölkerungswachstum und Überlebenskampf, wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstand sind globale Probleme.
Für den planerischen Umgang mit den schnell wachsenden Agglomerationen können die Erfahrungen der vergleichsweise kleinen und reichen Städte Europas nicht als Vorbild herangezogen werden. Insgesamt bestimmt weniger eine offizielle Planung, sondern eine Art urbane Selbstregulierung das Wachstum der Metropole. Ein Druck auf die Ränder herrscht einerseits durch die Spontansiedlungen der einkommensschwachen Massen im Südosten und andererseits durch die Wachstumsarme der Mittel- und Oberschicht im Nordwesten. Ebenso wie die Peripherie ist auch die Struktur der Zentren infolge kommerzieller Investitionsschübe Veränderungen unterworfen. Dabei verwandeln sich die Verkehrskorridore in lineare Zentren; gleichzeitig verdichten und vertikalisieren sich die attraktiven Quartiere der Kernstadt.
In diesem Sinn ist Mexico City, die Stadt der Massen, auch ein urbanes Laboratorium, das stellvertretend für viele andere Megastädte steht. Da gesicherte Erfahrungen im Umgang mit Südmetropolen und Megastädten fehlen, sind unsere Vorstellungen von diesen stark durch Vorurteile geprägt. Niemand weiss aber, ob diese Riesenstädte vermeidbar oder unvermeidbar, lebensfähig oder zum Scheitern verurteilt sind.
Meine Absicht war es, nach Mexico City zu reisen, um mich dort während 30 Tagen der städtischen Realität auszusetzen. Mit den Mitteln der Fotografie wurden charakterisierende Ausschnitte der Megalopolis untersucht. Die Fotografien sollen keine flüchtigen Schnappschüsse sein, vielmehr geht es um Motive jenseits des Sensationellen und Stimmungen, die von bestimmten urbanen Situationen ausgehen. Formal verdichtet spiegeln die Aufnahmen die Komplexität städtischer Lebensweisen wieder, die, jenseits jeglicher Beschönigung, neutral und sachlich wiedergegeben werden. Die Abbilder sind aber mehr als blosse Protokolle der empirischen Realität: in dem die Kamera als Erkenntnismedium dient, entsteht eine visuelle Analyse der Wirklichkeit. Den Bildern gehen Schauen und Denken voraus. Hinsehen ermöglicht also ein Verstehen.
»Die Fotografie bewirkt nicht mehr ein Bewusstsein des „Daseins“ einer Sache (das jede Kopie hervorrufen könnte), sondern ein Bewusstsein des Dagewesenseins. Eine neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich un-mittelbar und zeitlich vorhergehend; in der Fotografie ereignet sich eine unlogische Verquickung zwischen dem „hier” und dem „früher”. Ihre Irrealität ist die des „hier”, da die Fotografie nicht als Illusion erlebt wird (…); ihre Realität ist die des „Dagewesenseins”, denn in jeder Fotografie steckt die stets verblüffende Evidenz: So war es also. Damit besitzen wir, welch ein wertvolles Wunder, eine Realität, vor der wir geschützt sind.« Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1989
St채dtevergleich: Urbanes Siedlungsgebiet mit Einwohnerzahlen, Darstellung 체ber dem Profil des Bundesstaates Distritio Federal. ZMVM = Zona Metropolitana del Valle de Mexico
»Von der Pyramidenspitze wurde im Jahre 1473 der König der Tlatilcas hinabgeworfen, um die Macht der Azteken zu sichern, von der Pyramidenspitze wurden die Götzenbilder hinbgestürzt, um die Macht der Spanier zu sichern. An seinen vier Seiten wurde Tlatelolco vom Tod eingeschlossen, dem Tzompantli, der Mauer der eng zusammengedrängten, übereinanderliegenden Schädel, die sich zu einer reisigen grabesdüsteren Kette verbanden. Tausende Schädel bildeten Schutzwehr und Warnung der Macht, die in Mexiko immer wieder auf dem Fundament des Todes errichtet wurde.« Carlos Fuentes
Die Azteken-Stadt Teotihuacán wurde – wie später Tenochtitlán, der Vorläufer der kolonialen Stadtgründung Mexiko Stadt – durch ein Achsenkreuz in vier Sektoren geteilt und diese wiederun in kleinere Quartiere. Hierarchisch und organisch zugleich setzte sich diese Ordnung fort bis hin zum einzelnen Haus.
»Jetzt wuchs der Bundesdistrikt Mexico wie ein blinder Riese und zermalmte alles, was sich ihm in den Weg stellte. In einem grossen Countdown wurde die Vergangenheit aufgeopfert, bis man zur Bodenschicht der aztekischen Stadt selbst vorstiess, die wie eine offenen Wunde unerträglichen Vergessens, Elends und Leids zuckte.« Carlos Fuentes
Die neue Kolonialstadt war für die Spanier bestimmt, während die dezimierte indianische Bevölkerung in Hütten am Stadtrand lebte. Die Anlage des schachbrettartigen Grundrisses mit einem monumentalen Hauptplatz folgte den Regeln der „Leyes de las Indias“ von 1570, die für alle hispano-amerikanischen Stadtgründungen auf dem neuen Kontinent galt.
Von 1900 bis 2000 wuchs die „Zona metropolitana del valle de México“ annähernd 13.66 Quadratkilometer pro Jahr von 27.14 auf 1‘325.76 Quadratkilometer. Die Einwohnerzahl expandierte in diesem Zeitraum von 344‘721 auf 19‘000‘000 Personen.
Für die „informelle Wirtschaft“ besteht keine Reglementation der Regierung. Sie unterhält sich am Rand der Zinsen und Abgaben; ohne eine Registrierung für Kataster, Handel, Gewerbe, Arbeit, Gesundheit und Sozialvorsorge.
Die dichte, kompakte Stadt, die ihre Räume und Ressorcen sparsam nutzt und ihre Verkehrs- und Menschenströme bündelt, erweist sich immer mehr als urbanistisches Zukunftsideal. Aber gerade die erste Welt hat die grössten Schwierigkeiten, sich von der lebensgefährlichen Illusion zu verabschieden, dass es mit der gleichen Verteilung des Raumes und des Reichtums in den aufgelösten Vorstadtlandschaften immer so weitergehen könne. Dagegen wissen die Riesenstädte der Dritten Welt längst, dass die einzige Überlebenschance in der gleichmässigen Verteilung der Armut liegt.
Etwa 55% der berufstätigen Bevölkerung verdient einen Lohn knapp unter der Armutsgrenze. Dies bedeutet, dass zum Decken des Grundbedarfes einer Person etwa drei monatliche Minimalsaläre benötigt werden.
Umso beeindruckender ist die Vitalität der jungen Stadtbevölkerung, die ihre Zukunft noch vor sich hat und die trotz permanenter Krisen und fehlenden Perspektiven gar nicht daran denkt, in Untergangsstimmung zu verfallen. Dieser Überlebenswille wird überall im Alltag sichtbar und überträgt sich auf die gesamte Metropole. Diese ungeheure Energie der Massen ist sicher die wichtigste Ressource, auf die sich die Megastädte stützen können.
Der Verkehr gehÜrt zu den Hauptverursachern der Luftverschmutzung von Mexiko Stadt. Während in den 50er Jahren die Sichtweite noch 10 km betrug, verringerte sie sich in den 60er Jahren auf 4 km und hat sich weiterhin auf eine Distanz von 2 km reduziert.
»Unsere Geschichte ist voll geflügelter Worte und Episoden, die die Gleichgültigkeit unserer Helden gegenüber Schmerz und Gefahr bezeugen. Von Kindheit an lehrt man uns, Niederlagen mit Würde zu tragen – eine Forderung , die nicht der Grösse entbehrt. Wenn wir auch nicht alle stoisch und unerschütterlich sind wie Juarez und Cuauhtemoc, so versuchen wir doch wenigstens mit Verzicht, Geduld und Beharrlichkeit zu leben.« Octavio Paz
Die „Zona metropolitana del valle de México“ besetzt 0.23% der Oberfläche des Landes Mexiko, enthält 18% der nationalen Bevölkerung und produziert 32% des nationalen Bruttoinlandproduktes.
»In Mexiko Stadt gibt es keine Jahreszeiten. Es gibt lediglich eine Trockenzeit von November bis März und dann eine Regenzeit von April bis Oktober. Wenn man die Jahreszeiten bestimmen will, ist man alleine auf Wasser und Sonne angewiesen, die in Mexiko wirklich das letzte Wort haben. Das reicht aus.« Carlos Fuentes
Etwa drei Fünftel der Bevölkerung leben in mit Europa vergleichbaren Verhältnissen, zwei Fünftel sind sehr arm. Bei anhaltender wirtschaftlicher Stagnation droht sich dieses Verhältnis zu verschlechtern.
»Jetzt lief Laura mit der Kamera in der Hand durch die Strassen und entdeckte, wie dicht belebt und gleichzeitig verwahrlost das Zentrum der Stadt war. (...) Das alte Zentrum blieb hinter der ständigen Ausweitung des Stadtgebiets und seiner Entwicklung zurück. Der zentrale Bereich um den Zocalo, den grossen Mittelpunkt der städtischen Tagesereignisse seit den Zeiten der Azteken, war zwar nicht verödet, weil es in Mexico-Stadt keine leeren Räume gab, doch er war nicht mehr das Zentrum, sonder ein Stadtviertel unter vielen, wenn auch das älteste und in gewisser Hinsicht das durch seine Geschichte und Architektur angesehenste.« Carlos Fuentes
Das Tal von Mexiko befindet sich auf einer HĂśhe von 2240 Metern Ăźber dem Meeresspiegel. Aus diesem Grund ist der Sauerstoffgehalt der Luft um 23% geringer als auf dem Niveau des Meeres.
»Aus Coyoacán tieftraurig, ach! Cachita de mi vida, sendet Dir diese „krummen“ Verse Deine treue Freundin Frida. Nicht dass Du denkst, ich drücke mich und schreibe Dir kein Lied, denn mit all meiner Liebe schicke ich Dir diesen Corrido.« Frida Kahlo
Eine harte, feindliche Umwelt, Drohungen, die verborgen und unfassbar in der Luft liegen, haben uns dazu gezwungen, nach aussen uns abzuschliessen, gleich den Pflanzen der Meseta, die hinter dorniger Rinde ihre Säfte speichern. Octavio Paz
Die leicht zu Fuss erreichbaren Strassenzüge und die Stadtpärke des Quartiers „Colonia Roma“ repräsentieren eine attraktive Alternative zu den schwer bewachten vorstädtischen Entwicklungsgebieten, die ausserhalb der Stadt wie Pilze aus dem Boden schiessen; wie zum Beispiel die Enklaven Santa Fe oder Interlomas.
Seit 1990 existieren 611 private Sicherheitsfirmen zum Schutz von Geschäften oder Wohnquartieren. Diese beschäftigen mit 21‘200 Angestellten mehr Personal als die Kriminalpolizei. 74% der Sicherheitsfirmen sind nicht offiziell registriert.
Mexiko Stadt ist im doppelten Sinn eine gespaltenen Stadt: dies betrifft zum einen die politisch-administrative Fragmentierung in den Distrito Federal und in den Estado de México, zum anderen die soziale Segregation, die die Metropole wie ein Riss von Norden nach Süden durchzieht. Die Lebensbedingungen in der westlichen und östlichen Stadthälfte sind extrem unterschiedlich. Gleichzeitig existiert eine enge Verflechtung zwischen den armen und reichen Stadtgebieten.
Die Megastadt besitzt rund 1500 Stadtviertel oder „Colonias“, 300 Märkte, 3000 Schulen, 115 Kliniken und 300 öffentliche Pärke und Gärten.
»Diese vielfältige, fragmentierte, chaotische Stadt, der man nie einen Stil hat aufzwingen können, wurde nicht einmal durch die Katastrophe zusammengefügt. Die Armen starben oder verloren alles; die Reichen blieben unversehrt und sicher. Zwei Minuten Schwanken und Erschütterung reichten aus, damit der Gigant seine Ohnmacht, seine Verletzbarkeit, die Grösse seines Elends und seiner Würde zur Schau stellte; trotzdem waren sie nicht genug, um die Welten zu vereinigen, welche diese Stadt Mexiko bilden.« Cristina Pacheco
Mehr als die Hälfte der metropolitanen Bevölkerung baut spontan, das heisst ausserhalb der offiziellen Planung und Normen. Das massenhafte Phänome des Selbstbaues zeigt, dass auch in den Megastädten die vernakuläre Tradition, das eigene Haus mit den eigenen Händen zu erbauen, eine gigantische Renaissance erlebt.
Wie die Siedlung insgesamt, so ist auch das einzelne Haus fast unbegrenzt ausbaufähig und kann sich im Verlauf vieler Jahre von einer prekären Hütte in ein ansehnliches Stadthaus verwandeln. Im Durchschnitt wird dem Haus alle drei bis fünf Jahre ein neuer Raum und nach zehn bis 15 Jahren ein weiteres Geschoss hinzugefügt.
Im inneren Gebiet von Mexiko Stadt finden t채glich 1,6 Millionen private Autofahrten statt. Autos und private Bustaxis decken 80% aller Fahrten ab. Fast 90% aller umweltsch채dlicher Gase im Tal von Mexiko stammen von Individualfahrzeugen.
»Träumen, die Nacht träumen, die Strasse, die Treppe und den Ruf der Statue, der die Ecke verdoppelt. Zur Statue laufen und nur den Ruf endecken, den Ruf berühren wollen und nur das Echo finden, das Echo fassen wollen und nur die Mauer entdecken, zur Mauer laufen und nur einen Spiegel berühren.« Xavier Villarrutia
Fotos im Cinemascope-Format
Im Gegensatz zum klassischen 4:3 Format entspricht das Verhältnis von Höhe und Breite beim Cinemascope-Format eher dem menschlichen Blickfeld. Dessen Breite ist, nicht zuletzt durch die Anordnung der Augen nebeneinander, deutlich grösser als die Höhe. Die panoramischen Ansichten wurden mit einer Nikon Coolpix 950 Digitalkamera jeweils als Serie von Einzelbildern aufgenommen und anschliessend manuell im Bildbearbeitungsprogramm „Photoshop“ perspektivisch korrigiert und montiert.
Bibliografie Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1989 (1980). Pablo Leon de la Barra (Hrsg.): Zona Metropolitana del Valle de México (ZMVM), Laboratorio de la Ciudad de México. México D. F. 2000. Pablo Leon de la Barra: Colonia Power, In: Wallpaper, March 2002. Edward R. Burian (Hrsg.): Modernity and the Architecture of Mexico. Austin 1997. José Louis Cortés (Hrsg.): Paris - México, La Primera Modernidad Arquitectonica. México D. F. 1993. Carlos Fuentes: Die Jahre mit Laura Diaz, Stuttgart / München 2000 (1999). Andreas Hofer (et al.): Grösse als Problem, Mexiko Stadt. In: tec 21, Nr. 36, 5.9.2003. Ernesto Alva Martinez (Hrsg.): Ciudad de México - Guia de Arquitectura. Sevilla 1999. Michael Mönninger: Die Stadt als Rettung. In: Werk, Bauen + Wohnen, Nr. 3, März 1997. Crisina Pacheco: Zona de desastre. México D. F. 1986. Octavio Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit. Frankfurt a. M. 1998 (1969). Eckhart Ribbeck: Die informelle Moderne, Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt. Heidelberg 2002. Susanna Schwager / Michael Hegglin: Gebrauchsanweisung für Mexiko. München / Zürich 1998. Thomas Sieverts: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig, Wiesbaden 1997. Raquel Tibol (Hrsg.): Frida Kahlo. Jetzt, wo Du mich verlässt, liebe ich Dich mehr denn je. München 2004 (2001).
»Es gibt in Amerika und vielleicht auf dem ganzen Planeten kein Land mit grösserer Tiefe und Kraft als Mexiko und seine Bewohner.« Pablo Neruda
Der Autor verdankt der Erich Degen Stiftung das Stipendium, das die Realisation dieser Studienreise ermöglicht hat. © 2005 Carlo Gaetano Zampieri, Zürich