Stadt-Ansichten
Diplombegleitfach Bildnerisches Gestalten Sommersemester 2000 - ETH Z端rich Prof. Peter Jenny Ass. Martina Issler Carlo Gaetano Zampieri
Stadt-Bilder
Die hier vorliegende Arbeit befasst sich mit stadträumlichen Begebenheiten und besteht aus Bildern, die mit Textfragmenten kombiniert sind. Sich ein Bild machen steht für genaues Hinschauen. Mit den fotografischen Mitteln wird ein dokumentarisches Abbild einer Realität erzeugt. Die Fotografie lässt einen innehalten und etwas genau betrachten. ”Das Werk friert die Welt ein und hält sie fest, unbeweglich, so dass wir etwas studieren können. Wenn man die Welt studieren will, muss man sie anhalten.” (Hiroshi Sugimoto). Darüberhinaus ergibt sich durch das Zusammensetzen von Einzelbildern zu Bildstreifen ein überdehntes Blickfeld. Das Panorama lässt die Augen wandern und so kann wie beim physiologischen Wahrnemungsprozess ein weitaus grösseres Blickfeld überschaut werden, als es von einem einzigen fixen Augpunkt aus sichtbar wäre. Durch die technischen Möglichkeiten der digitalen Fotografie und Bildbearbeitung wird dieser Prozess im Foto nachvollziehbar. Die elektronische Bildverarbeitung wird aber sehr dosiert eingesetzt, korrigierend und verstärkend, ohne einem schnelllebigen ”Bildersturm” anheimzufallen. Die Reihenfolge der Bilder gliedert sich nich hierarchisch. Einem Spaziergänger gleich wird das Gebiet durchstreift und interessante Bild-Themen aufgegriffen. Das Verhältnis von Text und Bild besteht im Zusammenwirken beider Elemente: In unerwarteten Kombinationen treffen zumeist poetische oder philosophische Zitate auf die Bilder. Doppeldeutigkeiten, Widersprüche oder Ergänzungen eröffnen so einen Denkraum. ”Im Ungesagten das Unsagbaren sagen”: damit meint man, dass die Wahrheit im imaginären Zwischenraum liegt. Dies soll dem Betrachter zu einer andersartigen Sichtweise dieser zunächst als ”Un-Orte” verstandenen Gebiete verhelfen. In einer formal strengen Anordnung liegen die Texte jeweils in farbigen Feldern unter dem Bild, ähnlich einer Bildlegende in den Tageszeitungen. Die Farben der Buchstaben und des Farbhintergrundes sind jedoch immer aus dem Bild ”extrahierte” Farbnuancen. Durch die kontrastierende Wirkung
des Hintergrundes und des bildhauerisch anmutenden Schriftschnittes ensteht so der Eindruck eines Sockels. Die Kombination von Text und Bild ist keine Neuerfindung, sondern greift auf historische Vorbilder zurück. Nebst mittelalterlichen Codices finden sich etwa an der Totentanz Bilderfolge von Kaspar Meglinger in der Spreuerbrücke in Luzern (1626-35) und ebenso am historischen Bilderzyklus im Dachstuhl der Kappellbrücke in Luzern (Heinrich Wägmann, 1614) Bildunterschriften. Hier zeigt sich denn auch die zweite Wortbedeutung von ”Legende” (lateinisch = das zu Lesende): Auch die Inschriften auf mittelalterlichen Bildtafeln zur Lebensgeschichte von Heiligen, welche ihre Bedeutung oder ihre Handlungen erläutern, nennt man Legenden. Mit dem Verweis auf die Lebensgeschichte wird auch ein Stück des Stadtlebens erzählt. Mit einem gelassenen, scharfen Blick auf diese unsere Welt und ihre Ästethik soll nebst der Wertschätzung gegenüber dem Alltäglichen schliesslich auch die Frage nach Urbanität zum Nachdenken anregen. Anders als in Buchform, liesse sich diese Arbeit auch auf grossformatigen Bildtafeln präsentieren, was seiner malerischen Qualitäten wegen dem Tafelbild näher entsprechen würde. Je grösser die Bilder würden, desto mehr gewännen die abgebildeten Bauten und Begebenheiten an Präsenz, allein durch die Näherung an ihre wirkliche Grösse. Im Rahmen des Diplombegleitfaches mussten aber die räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten beachtet werden. Im Anhang finden sich fotografische Skizzen, die als Ausgangslage für die Bild-Arbeit dienten.
Carlo Gaetano Zampieri
rechts: Bildtafel aus dem Totentanz-Zyklus von Kaspar Meglinger, 1626-35, Spreuerbrücke in Luzern.
«SCHARF UND MILDE, GROB UND FEIN, VERTRAUT UND SELTSAM, SCHMUTZIG UND REIN, DER NARREN UND WEISEN STELLDICHEIN: DIES ALLES BIN ICH, WILL ICH SEIN, TAUBE ZUGLEICH, SCHLANGE UND SCHWEIN!» Friedrich Nietzsche
«WIE KANN DER RAUM DER REALEN SINNESERFAHRUNG UND DIE KONKRETEN SOZIALEN KONTAKTE, DER ÖFFENTLICHE RAUM ALS BÜHNE, WERKSTATT UND HEIMAT GEGENÜBER DER DOMINANZ SCHNELLER RAUMÜBERWINDUNG, GEMESSEN IN ABSTRAKTER ZEIT UND INFORMATION, VERTEIDIGT WERDEN?» Thomas Sieverts
«DER GEMEINE MENSCH TRÄGT DAS BILD EINER STADT IN SICH, IN DER ER SELBST NICHT MEHR VORKOMMT, ES IST, BEVOR SIE ÜBERHAUPT GEBAUT WAR, BEREITS IN IHM . DIES IST, DIES WIRD DIE BÜHNE FÜR SEINE GESCHICHTE SEIN. JETZT MUSS ER NUR NOCH SEINEN PLATZ IN IHR FINDEN. » Sandra Alvarez de Toledo
«SEINE GEBÄRDEN MUSS DER SCHAUSPIELER SPERREN KÖNNEN WIE EIN SETZER DIE WORTE (...) SO ENTSTEHEN INTERVALLE, DIE DIE ILLUSION DES PUBLIKUMS EHER BEEINTRÄCHTIGEN. SIE LÄHMEN SEINE BEREISTSCHAFT ZUR EINFÜHLUNG.» Walter Benjamin
«ABER AM ENDE WAR DAS ALLES EITEL, NICHTS LEHRTE DER ZUSTAND DIESER EINS ÜBERM ANDEREN BEFINDLICHEN GEVIERTE, ALS WIEVIEL BESCHWERLICHE GESCHÄFTE JEDER TAG DEM ANDEREN VERERBTE. » Walter Benjamin
«ES BELLTEN HUNDE IN DEN STRASSEN ZWISCHEN DEN BÄUMEN. ES SCHRIEN KINDER IN DEN TORWEGEN UND TREPPENHÄUSERN, AUF DEN VORPLÄTZEN UND HINTERHÖFEN, KINDER, DIE JUCHTEN UND SCHLUCHTZTEN. FRAUEN KLOPFTEN TEPPICHE IN DEN STRASSEN, RIEFEN AUS DEN FENSTERN, KUTSCHER SCHIMPFTEN UND MÜLLEIMER STANKEN IN DIESEN STRASSEN.» Wolfgang Borchert
«WIE ALLE GROSSEN STÄDTE BESTAND SIE AUS UNREGELMÄSSIGKEIT, WECHSEL, VORGLEITEN, NICHTSCHRITTHALTEN, ZUSAMMENSTÖSSEN VON DINGEN UND ANGELEGENHEITEN, BODENLOSEN PUNKTEN DER STILLE DAZWISCHEN, AUS BAHNEN UND UNGEBAHNTEM, AUS EINEM GROSSEN RHYTHMISCHEN SCHLAG UND DER EWIGEN VERSTIMMUNG UND VERSCHIEBUNG ALLER RHYTHMEN GEGENEINANDER.» Robert Musil
«LIFE IN OUR SUBURBS CAN BE SUCH A MIXTURE OF REALISM AND SURREALISM, SERIOUSNESS AND COMEDY, ART, GRATUITOUS SEX AND BANALITY.» Hanif Kureishi
Schlachthof-Areal
Umgebung Hardau
Letzigrund-Areal
Umgebung Hohl-Strasse
Bibliographie: Walter Benjamin: Was ist das epische Theater?, Gesammelte Schriften 2, Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1980. Walter Benjamin: Loggien (1932-33), in: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1950), Frankfurt a. M., 1977. Wolfgang Borchert: Stadt, Stadt: Mutter zwischen Himmel und Erde, Gesamtwerk, Rohwolt 1949. Hanif Kureishi, in Du 11/1996. Friedrich Nietzsche aus Wolfgang Welsch: Ästethisches Denken, Stuttgart 1991. Pier Paolo Pasolini: Storie della città di dio (1958), Turin 1995. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbeck 1978, Band I. Thomas Sieverts: Zwischenstadt, Braunschweig/Wiesbaden, 1998 Hiroshi Sugimoto: Time Exposed, Basel 1995. Sandra Alvarez de Toledo: Strasse, Mauer, Delirium, in: Das Buch zur Documenta X, Ostfildern-Ruit/ Kassel, 1997.
Abbildungsnachweis: Ernst Scagnet: Die Spreuerbrücke, Luzern 1996.