Gerhard Stäbler - CHANGE! Eine Bratpfanne gehört ins Gepäck eines Komponisten (2016)

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Gerhard Stäbler

CHANGE! – Eine Bratpfanne gehört ins Gepäck eines Komponisten Eine LesePerformance1 Das Thema Körper und Körperlichkeit durchzieht meine Arbeit wie ein roter Faden. Verschiedene Facetten davon leuchten im Folgenden auf. Und weil wir auf diesem Feld seit Jahren zusammenarbeiten, begleiten einige Performances von Kunsu Shim diesen Text, um anzuregen, ihn zu unterbrechen und selbst performativ zu begleiten. Unter dem Titel CHANGE! – Musiktheatertools für eine/n Sprecher/in, die ich 2013 für die englische Performancekünstlerin und Komponistin Alwynne Pritchard geschrieben hatte, lade ich Sie als Leserin oder Leser ebenfalls immer wieder einmal ein, den Anleitungen in den abgedruckten Partitur-Karten entsprechend Partien des Textes beim Lesen performativ zu gestalten und damit selbst Wahrnehmungsveränderungen zu erkunden. Nehmen Sie sich also zur Vorbereitung des ersten Teils der Performance Confused Rain a Nam June Paik von Kunsu Shim2 einen kleinen Stapel Notizblätter zur Hand, setzen sich neben einen CD-Player, schreiben auf ca. fünfzehn bis zwanzig Blätter jeweils eine beliebige Zahl zwischen 1 und 99 und legen diese neben sich. Hernach nehmen sie zwei Bratpfannen, schlagen diese gegeneinander, schließen gleichzeitig die Augen und zählen lautlos im Sekundentakt auf 90 und hören… Dann zerknüllen Sie – immer noch bei geschlossenen Augen – nacheinander die Zettel mit den verscheidenen Zahlen darauf und werfen sie über sich. Eine kurz Weile innehaltend, schalten Sie so laut wie möglich den Beginn der Komposition Papier·Wort·Tod·Spur für 16-22 stimmiges Vokalensemble, eine vertikale Musik zur Erinnerung an Roberto Juarroz von Gerhard Stäbler3 an und verfolgen die anfängliche schrille Partie der SängerInnen, die auf Flötenköpfen und Pfeifen spielen, schließlich aber individuell zu einem gesungenen breitgefächerten Akkord übergehen und dann den Klang, das Stimmliche mit Papierrascheln mischend, ins Geräuschhafte verschwinden lassen.4 Sollte Ihnen dieses Werk nicht auf einem Tonträger vorliegen, lesen Sie aufmerksam den beginnenden Verlauf des Werkes und stellen sich ihn mit einem wachen inneren Ohr vor…

Utensilien zum Lesen: 15 - 20 weiße Notizblätter, 1 Bleistift, 2 Bratpfannen; in einem anderen Raum zu Beginn der Leseperformance in einer Maschine Kaffee aufsetzen und/oder eine Lilie bzw. einen sehr reifen, möglichst leicht angefaulten Apfel bereit legen. 2 Kunsu Shim, Confused Rain a Nam June Paik für eine beliebige Anzahl von Spielern (2012), edition EarPort, Duisburg (earport@ mac.com) 3 Gerhard Stäbler, Papier·Wort·Tod·Spur (2007), RICORDI Musikverlag, Berlin 4 Die Aufnahme der Vokalkomposition Papier·Wort·Tod·Spur kann in der Fassung der Uraufführung mit dem Vokalensemble Kassel unter der Leitung von Eckhard Manz 2007 in der Martinskirche Kassel bei der edition EarPort (earport@ mac.com) bezogen werden. 1


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Gerhard Stäbler, Papier·Wort·Tod·Spur (2007), Kompositionsüberblick, Seite 1 (© RICORDI Musikverlag, Berlin)


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Thema und Inspiration der Chorkomposition Papier·Wort·Tod·Spur ist folgendes Gedicht des argentinischen Dichters Roberto Juarroz5: Das Papier hochheben, auf dem wir schreiben, und darunter besser nachsuchen. Jedes Wort, das wir finden, hochheben und darunter besser nachprüfen. Jeden Menschen hochheben und darunter besser nachsehen. Den Tod hochheben und darunter besser nachforschen. Und wenn wir gut schauen, werden wir immer eine andere Spur finden. Sie taugt nicht, um den Fuß darauf zu setzen, auch nicht dafür, den Gedanken ruhen zu lassen, aber sie wird uns beweisen, dass hier noch einer vorbeigekommen ist. Um (diese) andere(n) Spuren in sich zu finden, widmen Sie sich beim Lesen des nächsten Abschnitts der ersten Karte von Gerhard Stäblers CHANGE! – Musiktheatertools für eine Sprecherin oder einen Sprecher (2013)6 und versuchen Sie, sich ihn oder Teile daraus mit den Tools der Karte in möglichst schnellem Tempo vorzulesen:

Gerhard Stäbler, Zur Ausführung von CHANGE! (© edition Plante, Berlin)

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Roberto Juarroz, Dreizehnte Vertikale Poesie, Gedichte (Nr. 26) Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1997 Gerhard Stäbler, CHANGE! – Musiktheatertools für eine Sprecherin oder einen Sprecher (2013), edition Plante, Berlin


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Gerhard Stäbler, CHANGE! – Musiktheatertools, „Karte #1“ (© edition Plante, Berlin)

William Byrd, der sich dafür entschuldigte, als einer der Ersten Hilfslinien zu benützen, weil ihn das übliche Poly-Liniensystem begrenze, das den Stimmumfang eines Chores definierte, ist vorbeigekommen… Joh. Seb. Bach ist vorbeigekommen und trieb die gerade erst etablierte wohltemperierte Stimmung auf die Spitze … Ludwig van Beethoven ist vorbeigekommen und inthronisierte das sich selbst verantwortliche Individuum gegen äußere Bedrückung – politisch und künstlerisch… Mozart, Schubert, Schumann, Berlioz, Verdi sind vorbeigekommen; Franz Liszt ist vorbeigekommen und hat in seinen späten Jahren nicht nur seine eigenen intensiv betriebenen Virtuositätenshows durch äußerst reduzierte meist kurze Werke kompositorisch konterkariert, sondern auch den Weg zur Auflösung Dur-Moll-tonaler Harmonik geebnet… Arnold Schoenberg ist vorbeigekommen und hat diese Auflösung der Tonalität ausgeführt und damit die Serialität in der Musik vorbereitet, die später für Boulez und Nono essentiell war, bei Einem eher als ein Mittel zu einer L‘art pour l‘art, beim Anderen zur Durchbrechung verkrusteter emotionaler Anhänglichkeit an Sentimentalitäten… Davor sind Satie und Debussy vorbeigekommen, dann Ives, Schwitters, Eisler, Nono, Stockhausen, Kagel, Riedl, Schnebel, Feldman; John Cage ist vorbeigekommen und hat versucht, die Klänge und ihre Ordnung vom Subjektiven zu befreien… Nam June Paik auch, um gleich zu Beginn, die Entwicklung der Medien zur reinen Unterhaltungsmaschinierie zu hinterfragen…7 Sie alle hinterließen Spuren, verließen eingetretene Pfade, verursachten Risse, Brüche, Verletzungen, dehnten und sprengten Grenzen und restriktive Konventionen; und trotz Einebnung durch Zeit blieben Nähte – bis heute; doch gerade heute sind sie der Gefahr ausgesetzt, dass sie erst zu Nähten der Luft und dann gar ganz verschwinden, indem alles dem Diktat des LIKE, des Gefallens, der Nivellierung von Verortung in Gesellschaft und Zeitläuften untergeordnet wird. Nicolaus A. Huber führte Shrugs in die Musik ein und damit körperlich-geistiges Achselzucken auf Vorgänge 7

Spätestens hier enden die PerformanceAktionen der Karte #1 von CHANGE! zum Text.


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in der Musik, die in der Tat Staunen hervorrufen können, nicht aber inhaltliches Analysieren erheischen und damit darauf hinweisen, dass es – trotz möglicher genauester Detailinformationen über die Faktur einer Komposition – unbenennbare Geheimnisse in der Musik gibt… Shrugs erlebte ich oft auch bei Aufführungen eigener Kompositionen, vor allem wenn ich dem Hör- und Gesichtssinn, seit je entscheidend für Musik, das Riechen, das Fühlen, den Tastsinn hinzufügte… Beispielsweise in der Gehörsmassage für tätiges Publikum von 1973, deren Struktur ich in EarPlugs – Performances für Liebhaber 19998 rekonstuierte, da die Partitur bei einem Umzug verloren ging. Vereinfacht gesagt, finden Sie dort verschiedene Filtereinstellungen notiert, die Sie mit den Händen vor bzw. mit dem Ohr kreïeren und damit die akustische Umgebung bei sich oder ihrem Konzert-Nachbarn verändern können. Gedacht war die Gehörsmassage und ebenso die späteren, darauf fußenden EarPlugs parallel zu einem laufenden Konzert, nicht nur zu zeitgenössischer Musik, sondern vor allem zu verflossener.

Gerhard Stäbler, Zur Ausführung der EarPlugs (© edition EarPort)

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Gerhard Stäbler, EarPlugs – Performances für Liebhaber, edition EarPort


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Gerhard Stäbler, EarPlugs – Performances für Liebhaber (1999) (© edition EarPort)


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Nach den Versuchen mit Sensorik in den 1970er Jahren kam in meinem abendfüllenden Werk Schatten wilder Schmerzen – Eine Musik für Orchester (1984/85)9 – und vielleicht zum ersten Mal – die Empfindung von heiß und kalt hinzu, indem das allmähliche Erhitzen des Raumes und hernach das starke Abkühlen genuiner musikalischer Parameter wurde. Hier steuert das Wärmeempfinden nicht nur entsprechend einer Grundkurve das Grundverhalten der Musiker, sondern auch das des Publikums, sich spontan und eigentlich notgedrungen den Verhältnissen entsprechend anzupassen und zu reagieren, also selbst aktiv zu werden. Doch schien mir dieser Parameter zumindest im Zusammenhang mit Aufführungen von Musik eher klobig zu sein, als so flexibel, dass man mit Wärme und Kälte feinere Vorgänge hätte steuern bzw. hervorrufen können, als sich auszuziehen oder mit den Zähnen zu klappern... Deshalb blieb der Einsatz von Wärme und Kälte zumindest bei mir ein Unikat. Anders allerdings ist dies beim Riechen, selbst wenn auch der Geruchsinn in der Zeit eigenen und völlig anderen Gesetzen als die der Musik folgt. Dennoch ist er vielseitiger als das bloße Wärme-Kälte-Empfinden. Geruch ist deshalb durchaus als differenzierbarer Parameter wenigstens großflächig einsetzbar. Wie die Musik hatten Gerüche von je her mehr oder weniger Anteil am musikalischen Geschehen, vor allem im Zusammenhang mit ritueller und folkloristischer Musik. Kein kultisches oder religöses Opfer ohne olfaktorische Essenzen, keine Messe ohne Weihrauch, kein Tanz ohne Parfums und Schweiß, kein Tafeln ohne Musik, umgekehrt ist sie damit also auch verquickt mit den Gerüchen von Speisen und Getränken und natürlich mehr oder weniger individuell auch mit deren Geschmäckern. Da sich die Wahrnehmung eigener Empfindungen mit dem Äußeren ändert, stellen Sie nun etwas neben sich, das riecht – eine Tasse Kaffee, eine Lilie oder (wie bei Schiller) einen angefaulten Apfel –, indem Sie sich den folgenden Abschnitt zugleich mit den Tools der sechsten Karte von Change! vorzulesen versuchen:

Gerhard Stäbler, CHANGE! – Karte #6, edition Plante, Berlin; zur Ausführung siehe oben.

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Gerhard Stäbler, Schatten wilder Schmerzen – Eine Musik für Orchester (1984/85), edition EarPort


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Während Schiller verfaulte Äpfel zur Inspiration brauchte und in einem seiner Dramen einen Schauspieler mit dem Duft von Moschusochsen auftreten lässt, setzte 1981 John Waters im Film Polyester wieder einen wichtigen Akzent im Duftkino, das mit ersten Versuchen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA begann und in den ersten 2000er-Jahren mit der Verbreitung von Gerüchen mittels eines Duftwalkmans, über die Klimaanlage eines Kinos oder per Rubbelkarten eines Aroma-Scopes weitere Nachfolger fand. Auch in Theaterinszinierungen ist es heute gang und gäbe, Gerüche einzusetzen, aber – wie im Kino – eigentlich immer im Sinne einer realistischen Verstärkung der Handlung oder des darzustellenden Milieus.10 Mich selbst faszinierte die Welt der Gerüche seit je, vielleicht auch, weil ich in ländlicher Umgebung aufgewachsen bin und bereits mit drei Jahren zum Kühe hüten eingesetzt wurde. Immer jedenfalls genoss ich die intensiven Düfte der Natur – Düfte von Blumen, von Wiesen, Äckern, Wäldern, Meer und Wüsten. Und deshalb lag es nahe, dass ich bereits Ende der 1960er Jahre in Performances – damals eher als Happenings und improvisatorisch – mit Gerüchen und Geschmäckern experimentierte. Selbst verwandte ich Gerüche vielfach, nicht nur bei provokanten Aktionen im Rahmen von Konzerten (vor allem alter Musik) in den späten 1960ern und frühen 1970ern, sondern auch, um eine Raumstimmung zu schaffen, die – anders als beim esoterisch-entführendem Ausräuchern eines Raums – die Öffnung des Hörund Sehsinns stimulieren sollte. In den 1980er/90er Jahren entstanden schießlich mehrere Kompositionen, in denen das Riechen konstitutiv für den Verlauf einer Komposition wurde, in INTERNET (adriatico) für 2 Klaviere, 2 Schlagzeuger und Gerüche (1996/97)11 etwa oder davor, 1992, in Die Nacht sitzt am Tisch… für Klar. (B), Bassklar., Glaskugeln, Blecheimer, Stimme, Gerüche und Synthesizer zu einem Gedicht von Oswaldo de Camargo12. Eine Geruchsinstallation mit vollen, aber zunächst geschlossenen Müllsäcken in und um das Publikum gehört hier zum Auftakt der Komposition. Anfängliche schroffe, äußerst hohe Morserhythmen werden etwa am Ende des ersten Drittels von eher schmiegsamen melodischen Wendungen abgelöst. Gleichzeitig öffnet der/die Sprecher/in die Säcke und entlässt den Gestank des Mülls, verschließt die Säcke aber nacheinander wieder und umhüllt sie mit feinen Blumendüften, während die Musik harscher und harscher wird und schließlich mit dem Spiel von Glasmurmeln endet, die entweder auf Holz- oder Steinboden oder in einen Metalleimer fallen gelassen werden und – Salven von Maschinengewehren ähnlich – alles andere als spielerisch klingen. Wenn sich zum Hören andere Sinne gesellen, vertiefen sie nicht nur das musikalische Geschehen, sondern entgrenzen die übliche Wahrnehmung, weiten sie zur umfassenden sinnlichen Erfahrung, vorausgesetzt, sie sind nicht bloß Effekt! Eine essentielle Bereicherung musikalischer Strukturen durch andere Sinne setzt meines Erachtens innermusikalische Pendants voraus, deshalb versuchte ich hier und auch in reiner Musik immer wieder kompositorische Randbereiche auszuloten, das So-schnell-wie-Möglich-Spielen samt dem Versuch, darüber hinaus zu gehen, das Schneller-und-Schneller Sprechen, das Höher-und-Höher-Singen etwa – eingedenk dessen, dass der Körper dies zu begrenzen versucht. Als Beispiel sei drüber... für acht Schreier, Violoncello, Synthesizer und Tonband (1972/73)13 genannt, bei dem sich ein Zitat von Hans Leo Hassler aus dem normalen Stimmbereich immer höher schraubt und sich schließlich zu einem Schrei verkrustet.

Gerhard Stäbler, drüber... – „Ad dominum cum tribularer clamavi“, Zitat von Hans Leo Hassler, Partie des 8. Schreiers

Wie der von Stockhausen kompositorisch genutzte Übergang von immer tiefer gedrehten Tonhöhen zu Spätestens hier enden die PerformanceAktionen der Karte #6 von CHANGE! zum Text. Gerhard Stäbler, INTERNET (adriatico) für 2 Klaviere, 2 Schlagzeuger und Gerüche, edition EarPort 12 Gerhard Stäbler, Die Nacht sitzt am Tisch… für Klarinette, Bassklarinette, Glaskugeln, Blecheimer, Stimme, Gerüche und Synthesizer, edition EarPort 13 Gerhard Stäbler, drüber... für acht Schreier, Violoncello, Synthesizer und Tonband, edition EarPort 10 11


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Rhythmen gerät im Verlauf der Wiederholungen über eine Dauer von ca. 11 Minuten die Stimme an ihre Grenze, dehnt sich, verbeult die Tonhöhenstruktur des Zitats und lädt den daraus erwachsenden Schrei mit der zunächst verständlichen Information des Zitattextes „Ad dominum cum tribularer clamavi“ auf. Der Körper also speichert etwas und gibt es als Nicht-Sprachlich weiter, etwas, das wird. Der Sänger hangelt sich entlang eines schwierigen Grates äußester stimmlicher Möglichkeiten und setzt sich – bei Unkenntnis physiologischer Voraussetzung der Stimme – der Gefahr aus, sie zu verletzen und ihr tatsächlich Schaden zuzufügen. Ähnlich – extremer noch – etwa bei der Aktion „Coyote; I like America and America likes me“ von Joseph Beuys, bei der er 72 Stunden mit einem Koyoten zusammen verbrachte oder bei Marina Abramovics Aktion „Art must be beautiful, Artist must be beautiful“ von 1975, bei der sich die Künstlerin in einer nicht enden wollenden Kontinuität mit Metallkamm und -bürste durch die Haare fuhr, bis – wie sie selbst betonte – ihr Haar und Gesicht zerstört werde. Allerdings „baut“ – nach dem koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han – „die heutige Positivgesellschaft immer mehr die Negativität der Verletzung ab. (...) Auch die Wahrnehmung meidet immer mehr die Negativität. Like beherrscht sie. Das Sehen [und ich füge hinzu: das Hören] im emphatischen Sinne ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aussetzt. Das Sehen [bzw. das Hören] setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens (bzw. des Hörens). Ohne Verletzung gibt es keine Wahrheit, ja nicht einmal Wahr-nehmen. Es gibt keine Wahrheit in der Hölle des Gleichen.“14 Weitere Musikbeispiele von mir führen in andere Kammern musikalischer Wahrnehmung, der Geschwindigkeit und des Zeit- und Raumempfindens: Total. – für Piano solo15, 1986 im Rückblick auf den einjährigen britischen Bergarbeiterstreik des Jahres 1984 für den eng mit Cornelius Cardew befreundeten Pianisten John Tilbury geschrieben, fordert nicht nur eine kompositorische Kompetenz des Pianisten, indem er musikalische Kurvenverläufe diskutiert, die sämtlichen Parametern zugrunde liegen, sondern auch das Äußerste an pianistischen Fähigkeiten. Das schnelle bis extrem schnelle Spiel ist nicht virtuos um der Virtuosität willen, sondern Ausdruck von Kraft, von Arbeit, um mit einem „entfernten“ Zitat von Eisler, allerdings nur als Nachhall von geballten Akkorden, immer wieder das durchscheinen zu lassen, was schwer zu machen und eben auch schwer zu hören ist und vielleicht nie annähernd so zu verwirklichen ist, wie man es sich wünschte, nämlich eine Gesellschaft, die sich um das Menschliche kümmert, um das, was das Mensch-Sein zum Zentralen macht, dass Zeit für ein menschliches Leben da ist und nicht, um für andere zu schuften, in den Krieg zu ziehen und allzu oft zu sterben.

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Byung-Chul Han, „Die Errettung des Schönen“, S. 44/45, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main Gerhard Stäbler, Total. – für Piano solo, edition EarPort


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Gerhard Stäbler, Total. – für Piano solo (1986), edition EarPort

Um ein „Total“ dreht es sich auch beim Musiktheater für die Kleinsten von 3 - 4 Jahren Riech mal wie das klingt – Musiktheater für die Kleinsten für eine Vokalistin/einen Vokalisten und Schlagzeuger/in16 von 2009, nämlich um möglichst weit geöffnete Räume der Wahrnehmung, hier angelegt als Reise durch die Welt der Sinne: Im ersten Raum, einer kleinen, mit Lederdüften imprägnierten Kammer, werden die Schuhe abgelegt, dann geht es weiter durch den zweiten Raum auf einem durch eine breite Papierbahn gekennzeichneten Weg unter dem die verschiedensten Materialien spürbar sind: runde Steine, Kies, loses Plastik, Watte, Stoffknäuel etc. Der dritte Raum ist dunkel, nur leicht von rotem Licht beleuchtet und duftet nach Rosen. In ihm liegen vor dem jungen Publikum die beiden Protagonisten, eine Stimmakrobatin und ein Schlagzeuger, verhüllt in Papier. Mit stimmlichen und körperlichen Gesten reißen sie sich frei und in Aktion auch die Verdeckung zu einer großen, hellen Bühne herab, die selbst klingt und Raum für ein Spiel um und mit Materialien des Alltags bietet, ein Spiel mit Holz, Metall, Papier, allerlei festem Material wie getrocknete Kräuter, Erbsen oder Federn, am Ende sogar für ein Fest mit den Klängen des Wassers.

Gerhard Stäbler, Riech mal wie das klingt – Musiktheater für die Kleinsten (© Christian Kleiner) 16

Gerhard Stäbler, Riech mal wie das klingt – Musiktheater für die Kleinsten, edition EarPort


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Und was in Riech mal wie das klingt räumlich auseinander gefaltet ist, gestaltet das Guitarrenquartett Aufschläge für Gitarrenquartett und großes Gitarrenensemble (ad lib.)17 von 2008 innermusikalisch. Hier antworten die Spieler der üblichen Welt der Gitarre klanglich auf unterschiedlichste Weise (u.a. mit dem Spiel von Esslöffeln), sie entgrenzend und gleichzeitig in die Differenziertheit der Klangwelt des Instruments hineinhorchend …

Aufschläge für Gitarrenquartett und großes Gitarrenensemble (ad lib.) (© RICORDI)

Doch hören wir mit dem folgenden Abschnitt auch in die Vieldimensionierung unseres Körpers, indem wir ihn uns mit den Tools der zweiten Karte von CHANGE!18 vorlesen …

Gerhard Stäbler, CHANGE! – Karte #2 (© edition Plante, Berlin); zur Ausführung siehe oben.

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Gerhard Stäbler, Aufschläge für Gitarrenquartett und Gitarrenensemble (ad lib.), RICORDI Musikverlag, Berlin Gerhard Stäbler, CHANGE! – Karte #2, edition Plante, Berlin


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Soweit der Exkurs ins Reich des Körperlich-Sensorischen. Und wenn Roberto Juarroz, der argentinische Dichter vertikaler Poesie, den ich zu Beginn zitierte, die Welt aus den Angeln hebt, dann setzt er das Unsichtbare zum Sichtbaren, das Sehen zum Hören, das Riechen zum Fühlen, den Kopf zum Bauch, den Geist zum Körper... Und formuliert das, was Kunst seit je braucht: eine Schärfe der Wahrnehmung, den gesellschaftlichen Status quo nicht nur als diesen zu erkennen, sondern ihn als umfassendes Instrument der Herrschaft über den Menschen zu denunzieren, ihn als Vermassung, als lästerliche und brutalisierte Glattheit, als gefrorene Zeit aufzubrechen, um dem Individuum Freiheit zu geben, so zu sein, wie es sein möchte, wie es sein könnte…19 Das ist schwieriger denn je, denn heute ist – noch einmal in den Worten von Byung-Chul Han – „das Glatte die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. (…) Über die ästhetische Wirkung hinaus spiegelt es einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ wider. Es verkörpert nämlich die heutige Positivgesellschaft. Das Glatte verletzt nicht. Von ihm geht auch kein Widerstand aus. Es heischt Like. Der glatte Gegenstand tilgt sein Gegen. Jede Negativität wird beseitigt.“20 Und: „Das Glatte ist etwas, das einem bloß gefällt. Ihm fehlt die Negativität des Gegen. Es ist kein Gegenkörper mehr. Heute wird auch die Kommunikation glatt. Sie wird geglättet zu einem reibungslosen Austausch von Informationen. Die glatte Kommunikation ist frei von jeder Negativität des Anderen und des Fremden.“21 Und in diesen Sog gerät auch der Körper: „Der Körper befindet sich heute in einer Krise. Er zerfällt nicht nur zu pornographischen Körperteilen, sondern auch zu digitalen Datensätzen. Der Glaube an die Vermessbar- und Quantifizierbarkeit des Lebens beherrscht das digitale Zeitalter insgesamt. (...) Der Dataismus löst den Körper in Daten auf, macht ihn datenkonform. Auf der anderen Seite wird er in Partialobjekte zerlegt, die Geschlechtsteilen gleichen. Der transparente Körper ist kein narrativer Schauplatz des Imaginären mehr.“22 Widmen Sie sich nun noch einmal Ihrer unmittelbaren Umgebung, hören Sie, riechen Sie, schauen Sie sich um, wie sich der Raum während des performativen Lesens verändert hat …Stehen Sie auf und nehmen Sie eines der zerknüllten Blätter, auf die Sie anfangs Zahlen schrieben, öffnen Sie es und spielen Sie – wie es der zweite Teil von Kunsu Shims Confused Rain a Nam June Paik vorschlägt – beispielsweise mit einem Bleistift oder einem anderen handlichen Objekt auf einem Gegenstand des Raumes, in dem Sie sich gerade aufhalten, sehr leise und mit innerer Empfindung einen repetitiven Rhythmus in der Länge der notierten Zahl. Entfalten Sie danach ein zweites, ein drittes Blatt und fügen Sie Ihre Klänge in unterschiedlicher Geschwindigkeit Ihrer Umgebung hinzu, die möglicherweise von draußen zu hören sein mögen, integrieren Sie sie vielleicht sogar in den Regen, der gegen die Scheiben der Fenster prasselt…

Spätestens hier enden die PerformanceAktionen der Karte #2 von CHANGE! zum Text. Han, a. a. O., S. 9 21 Han, a. a. O., S. 19/20 22 Han, a. a. O., S. 23/24 19 20


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