Terra Nullius

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Terra Nullius

Masterprojekt von Clemens Möhler - Betreut von: Jens Metz und Ulrich Pantle

Das Projekt geht von der Beobachtung der Mühle Quirin in Völklingen aus, die seit 2012 leersteht. Sie befindet sich am östlichen Ende der Innenstadt und ist ein eher unbedeutender Teil der Völklinger Industriearchäologie. Ein Ort, an dem sich die Artenvielfalt durch die Umwandlung obsoleter Industrie und mangelndem wirtschaftlichem Interesse, wieder anzusiedeln beginnt. Die Wahl dieses Ortes ist einerseits Provokation, da sich das Gelände in privater Hand eines Immobilienunternehmens befindet, andererseits ein Vorschlag zur Güte, da jenes Unternehmen offenbar des Geländes überdrüssig ist.

Ich betrachte die Stadt und die Mühle unter biologischen Gesichtspunkten und versuche daraus Schlüsse auf die Beziehung von Mensch und anderen Lebewesen, von Stadt und Natur zu ziehen. Mir ist es wichtig die Zusammenhänge zu verstehen und wenn möglich Neue zu knüpfen, daher schaue ich die Umwelt in verschiedenen Maßstäben an und untersuche den Organismus aus der Ferne und auch unter dem Mikroskop.1 Wichtig war mir, keine Bewertung nach Nützlichkeit zu tätigen, sondern alle Aktivität als Ergebnis einer eigenen Dynamik zu begreifen.

Ich habe die gemachten Beobachtungen unter dem Titel Terra Nullius2 - dem Niemandsland - zusammengefasst, auch um dessen Existenz grundsätzlich in Frage zu stellen.

1 vgl. Powers of Ten - Charles und Ray Eames (1977) - In dem Kurzfilm werden mit Hilfe der Potenzen der Zahl 10 die relativen Größenordnungen unseres Universums veranschaulicht. Dabei kann man Strukturen am äußersten Rand des Universums auch in der Zelle jedes Menschen wiederfinden.

2 Terra Nullius (lat. Niemandsland) hat als Begriff historisch und juristisch eine bedeutende Rolle im Kontext der Kolonialisierung und Ausbeutung von außereuropäischen Ländereien gespielt. Das Konzept von Terra Nullius wurde als Strategie verwendet, um Anspruch auf bestimmte Gebiete zu erheben, indem be hauptet wurde, dass diese Regionen ohne (menschliches) Leben seien. In dieser Arbeit wird auf die Wurzeln des Begriffs im Rahmen der historischen Verwendung nicht näher eingegangen, ich wollte dies aber trotzdem nicht unerwähnt lassen.

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Abstract

Mit einem Blick auf die Stadt Völklingen aus der Vogelperspektive, fallen einige Sachverhalte auf, welche die momentanen Verhältnisse in Bezug auf die Natur in der Stadt verdeutlichen:

• Die Stadt besteht aus Schichten zwischen denen Grenzen existieren und die Stadt in einzelne Teile Spalten.

• Innerhalb der Stadt findet aufgrund der anthropogenen Infrastruktur eine Fragmentierung des Naturraumes statt.

• Es existiert, beeinflusst durch die Stagnation des Bevölkerungswachstums bei gleichzeitig fortschreitender Urbanisierung des Umlandes, kein wirtschaftlicher Druck auf zahlreiche Leerstände in der Stadtmitte (welchen Einfluss das auf die Natur hat, will ich in dieser Arbeit im besonderen hinterfragen).

Zusammengefasst lässt sich dieses Verhältnis von Stadt und Natur mit den folgenden biologischen Phänomenen erklären, die ich insbesondere von Gilles Clément3 übernommen habe:

• Die Stadt funktioniert nach dem Prinzip ‚Konstanz und Zusammenbruch‘4. Nach einer Phase der konstanten Evolution, folgt eine abrupte Veränderung mit der versucht wird ein bestimmtes Resultat zu erzielen. Beispielhaft sei hier der geänderte Verlauf der kanalisierten Saar genannt5 um neue Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen. Dies führt plötzlich zu einem hohen Druck, sich an neue Verhältnisse anzupassen zu müssen. Dies gilt für alle Spezies.

• Die zunehmende ‚Fragmentierung der Landschaft‘ geht einher mit der Ausbreitung der Urbanisierung. Die biologische Kontinuität, die

3 Im folgenden Abschnitt geht es dabei vorrangig um Inhalte aus „Das Manifest der dritten Landschaft“ von Gilles Clément (Berlin 2010)

4 Clément, Gilles. Manifest der dritten Landschaft. Berlin 2010 S.47ff

5 vgl. Cassini-Karte ca. 1760 und Tranchot-Karte ca. 1810

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Bewegungsfreiheit aller nicht-menschlicher Akteure und damit die Diversität im Allgemeinen, sinkt mit der Ausbreitung der Stadt und wie dicht diese ihre „Maschen“6 setzt.

• Desweiteren verändert sich die „Form und Logik“7 der Landschaft anhand von klaren Grenzziehungen. Da diese oft in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Interessen stehen, stellt sich die Natur als Spielball fremder Entscheidungen dar und ist, sofern es nicht um direkt verwertbare Räume (Spielplätze, Friedhöfe, Sportanlagen, Gärten etc.) geht, bewusst von Siedlungsgebieten abgetrennt.

• Die Dichte der Maschen der Stadt und die Verfestigung der Grenzen sind auch abhängig von der Bodenbeschaffenheit. An Stellen an denen ein starkes Relief existiert, lassen sich schlechter Grenzen setzen. Es liegt also nahe, dass die Stadt ihr zugehöriges Gebiet entweder dort entfaltet, wo kein Relief existiert, oder die Landschaft ihren Bedürfnissen anpasst.8

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Um näher zu erkunden, wie dieses Verhältnis von Natur und Stadt sich manifestiert, habe ich das Gebiet rund um die Mühle einer tiefergreifenden Analyse unterzogen. Die Einteilung dieser Erforschung erfolgt zum einen nach der Theorie der Dritten Landschaft von Gilles Clément, die den verlassenen Geländen eine herausragende Rolle zuschreibt, als auch nach zeitlichen Maßstäben der biologischen Sukzession9. Dabei fällt auf: die wenigsten Flächen entfallen auf die Landschaftstypen mit der höchsten Diversität (3. Junges Brachland und 6. Primäres Ökosystem - Landschaftstypen nach Gilles Clément10).

6 Clément, Gilles. Manifest der dritten Landschaft. Berlin 2010 S.39

7 Ebd S.36

8 vgl. Ebd S.13ff

9 vgl. Rebele, Franz. Typen von Industriebrachen und deren Bedeutung für den Arten- und Biotopschutz in: Gleditschia 24 Heft 1. Berlin 1996 S.290

10 vgl. Clément, Gilles. Manifest der dritten Landschaft. Berlin 2010 S.35ff

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Das Primäre Ökosystem ist ein sehr spezielles Gebiet, welches nur unter optimalen Bedingungen erreichbar ist. Das Brachland hingegen entsteht dort wo kurzfristig Raum zur Verfügung steht. Es unterliegt in relativ kurzer Zeit vielen Veränderungen, die somit einer Fülle von Spezies Chance für Aktivität bereitstellt. Deshalb nimmt die Diversität auch mit einer Entwicklung in spätere Sukzessionsstadien langsam ab.

Es stellt sich also die Frage, welche Chancen das Gelände um die ehemalige Mühle bietet. Das Gebiet ist umgeben von relativ stark frequentierten anthropogenen Grenzen, schließt jedoch direkt an einen Wald beziehungsweise Biotop an, erlaubt also eine biologische Kontinuität, wie sie sonst mitten in der Stadt nicht zu finden ist. Die umliegenden Grünflächen sind relativ heterogen und vereinen viele mikroklimatische Zonen auf engem Raum.

Es lohnt sich die subjektive Wahrnehmung des Ortes hinter sich zu lassen und die Perspektive anderer Lebewesen einzunehmen und mit deren Sichtweise und Bedürfnissen den Ort zu erkunden und die Grenzüberschreitung zu wagen.

Der Mauersegler etwa ist als ehemaliger Felsenbrüter und standorttreuer Kulturfolger auf Nistplätze in 6-30 Metern Höhe angewiesen und benötigt dazu Hohlräume in der Außenwand von Gebäuden. Alleine die 4 aufgezeigten Beispiele verdeutlichen, dass der Ort, welcher auf den ersten Blick so verlassen wirkt eigentlich über den gesamten Tages- und Nachtverlauf belebt ist.

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Diese Belebtheit, ist Ausdruck der Abfolge unterschiedlicher Landschaftsräume innerhalb der Brachfläche. Der unmittelbare Umgriff des Leerstandes offenbart auf knapp 200 Metern mindestens 6 verschiedene Grenzbereiche mit unterschiedlichen Wirkungen auf das landschaftliche Gesamtbild. Über den fortschreitenden Zeitraum des Leerstandes, sowie über den Verlauf jeden einzelnen Jahres ergeben sich so eigene Choreografien der Sukzession. Flora und Fauna stoßen einen dynamischen Prozess an, der zu einer zunehmenden Artenvielfalt und einer komplexen Ökosystemstruktur führt. Die Sukzession

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ist kein linearer Prozess ist, sondern wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst und steht immer in Abhängigkeit zur Wechselwirkung zwischen den Arten.

Der momentane Zustand dieses Prozesses, den ich dokumentieren konnte11, sieht wie folgt aus:

• Nach Süden, wo ein Großteil der Fläche versiegelt ist und der anthropogene Einfluss sehr stark ist, gibt es erste Pioniergewächse, sowie Algenbewuchs im Bereich des stehenden Wassers.

• Nach Norden dominieren rund um den Leerstand Staudengesellschaften in dichtem Bewuchs mit vereinzelten hochgewachsenen Gehölzen

• Rund um den Köllerbach esistieren Vorwaldstadien mit verschiedenen standorttypischen Bäumen

• Die Begehbarkeit der Architektur für den Menschen, ist aufgrund der Typologie von industriellen Silogebäuden stark eingeschränkt und aufgrund von Eigentumsrechten verboten.

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Mit der Möglichkeit, über den reinen Nutzen der Architektur für den Menschen hinaus zu denken und die Mahlwerke und Getreidespeicher zu vergessen, ergeben sich neue Blickwinkel. Zum einen die Zeitlichkeit des Bestandes, die baukonstruktiven Puzzleteile, die im Laufe der Jahre zusammengesetzt wurden und sich gegenseitig überschrieben und der Einfluss fremder Entscheidungen auf das

11 Die Taxonomie der Pflanzengesellschaften erfolgte nach Oberdorfer. Da ich mich der Herausforderung gegenüber sah ohne biologische Vorkenntnisse die Pflanzengesellschaften vor Ort zu bestimmen und zudem imWinter nur ein Bruchteil der Flora und Fauna zu ermitteln ist, ist die Einteilung unter Einbeziehung der identifizierten Arten nach deren typischen Gesellschaften erfolgt. Für die Gesamtbetrachtung spielen die genauen Arten auch nur eine untergeordnete Rolle in dieser Arbeit, ich wollte dennoch versuchen ein möglichst detailgetreues Bild des Geländes zu zeichnen.

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Hier und Jetzt.12

Zum Anderen die biologische Komponente seit dem Leerstand, die ihre Auswirkungen ganz direkt vor unseren Augen äußert und doch weitestgehend ungesehen bleibt:

• Die Veränderung der vorhandenen Landschaft durch den Bau, die Fläche die einst kolonisiert und bebaut wurde, wird um ein vielfaches vergrößert. Gleiches gilt für die Materie des Gebäudes an sich, welche durch äußere Einflüsse verändert und aufgebrochen wird. Sowohl im Sichtbaren wie auch Unsichtbaren Maßstab wird Lebensraum geschaffen.

• Dieser Prozess dringt ohne menschlichen Einfluss vor bis in das Innere und kann die leblose Substanz nachhaltig gestalten. Was im Normalfall als Bauschaden geahndet und sofort bereinigt werden muss, wird zum schöpferischen Akt.

• Der Innenraum, durch Eigentumsrechte und Verbotsschilder abgeschnitten von menschlichen Befugnissen wird zum Bioreaktor.

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All diese biologischen Prozesse laufen gleichzeitig aber in unterschiedlichen Realitäten ab und funktionieren nach eigenen Prinzipien. Auf mikroskopischer Ebene lassen sich diese komplexen Beziehungen anhand einer Flechte veranschaulichen, die auf der Außenhaut des Gebäudes wächst, auf einem Stein neben dem Gebäude siedelt, oder die Rinde einer Buche bedeckt. Es lohnt sich in ihr eine Gleichartigkeit zur anthropogenen Stadt zu erkennen um unser Naturverständnis zu reflektieren.

12 Die dargestellten Schichten des Palimpsests, welches sich uns heute als ehemaliges Mühlengebäude präsentiert, konnte ich glücklicherweise durch umfangreiche Einsicht in die Bauakten des Grundstücks rekonstruieren.

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Mit einem Blick auf die Flechte unter dem Mikroskop, fallen einige Sachverhalte auf, nach der die Flechte existiert:

• Die Flechte besteht aus einer komplexen, symbiotischen Lebensgemeinschaft aus Pilz und Alge. Der Pilz bietet Schutz und Struktur, während die Alge Photosynthese betreibt und Nährstoffe produziert.

• Durch ihre Anwesenheit schaffen sie spezifische Mikrohabitate, die von anderen Organismen genutzt werden können die als Grundlage allen Lebens funktionieren.

• Die Schichten innerhalb einer Flechte sind eng miteinander vernetzt und tragen dazu bei, die Funktionalität und das Überleben der Flechte als Ganzes zu gewährleisten.

Wie auch schon zu Beginn der Ausführungen lassen sich auch innerhalb der Flechte biologische Phänomene erkennen, welche dazu dienen können den Blick auf die Verhältnisse der Natur in der Stadt zu schärfen:

• Entgegen dem evolutionären Prinzip ‚Konstanz und Zusammenbruch‘, ist die Flechte Teil transformatorischer Prozesse13, die kontinuierlich Voranschreiten. Sie beeinflusst ihren Lebensraum mit Sensibilität und passt sich progressiv veränderten Umweltbedingungen an.

• Die fragmentierte Oberfläche auf der die Flechte wächst, wird mit der Zeit zu einem Netzwerk von Habitaten, geschaffen von unterschiedlichen Lebensformen.

• Wo in der anthropogenen Ordnung Dinge kategorisch mit Grenzen ausgesperrt werden, agiert die Flechte inklusiv. Ihr Lebensraum besteht aus dynamischen Grenzen, welche sich gegenseitig beeinflussen und undefinierte Grenzräume zulassen.

• Das Relief ihres Lebensraumes wird also von den Lebewesen selbst, nach ihren eigenen Bedürfnissen gestaltet um darauf existieren zu können.

13 Clément, Gilles. Manifest der dritten Landschaft. Berlin 2010 S.49

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Die Stadt in der Stadt in der Stadt...

Die Betrachtung des selben Ortes in unterschiedlichen Maßstäben hat ein grundsätzlich anderes Verständnis unserer Umwelt zu Tage gefördert, als dies momentan in Völklingen der Fall ist. Das dynamische Gefüge, welches in dieser Arbeit laienhaft als Natur bezeichnet wird, ähnelt in ihren komplexen Zusammenhängen einer Stadt. Neben dem anthropogenen Miteinander existieren also unendlich viele weitere urbane Realitäten parallel zu Unserer. Die Architektur als Lebensraum der unterschiedlichen Gemeinschaften, muss als Vermittlerin zwischen diesen verstanden werden. Soll der Städtebau künftig im Sinne der Cohabitation planen, muss die Stadt als Ansammlung von Inter-Spezies-Beziehungen verstanden werden. Urbane Leerstände, können mit der richtigen Sensibilität als Katalysatoren einer gerechteren Stadtgesellschaft für alle Lebewesen wirken. Eine solche Perspektive erfordert ein Umdenken, weg von rein anthropozentrischen Ansätzen, hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung, die auch die Bedürfnisse und Beziehungen anderer Lebewesen und Ökosysteme berücksichtigt. Städte sollten als komplexe Ökosysteme verstanden werden, in denen Menschen, Tiere, Pflanzen und die gebaute Umwelt miteinander interagieren und voneinander abhängig sind.

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