JACC | Dokumentation | Rechtsstaat und Demokratie

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Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielen und Ergebnissen der parlamentarischen Arbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages

Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält

Im Rahmen der Vortragsreihe „Forum Frauenkirche“

18. November 2015


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Inhaltsverzeichnis

Begrüßung

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Sebastian Feydt Pfarrer der Frauenkirche

Grußwort

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Frank Kupfer MdL Vorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Staatsminister a.D.

„Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält“

6 – 18

Prof. Dr. Norbert Lammert MdB Präsident des Deutschen Bundestages

Schlusswort

19 – 21

Steffen Flath Ehemaliger Vorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Staatsminister a.D.

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Begrüßung Pfarrer Sebastian Feydt

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Sehr geehrte Damen und Herren, Buß- und Bettag 2015: ein Feiertag in Sachsen und eine Einladung des Johann Amos Comenius-Clubs in die Frauenkirche – so ist der Buß- und Bettag in Sachsen und in Dresden. Diese Einladung galt zuerst Ihnen, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, Prof. Lammert. Seien Sie herzlich willkommen.

Wir leben in stürmischen Zeiten. Heute Vormittag war das in dieser Kirche nicht nur zu spüren, sondern auch zu hören. Der Druck ist groß und wie gehen wir damit um, wie gehe ich damit um? Weiche ich dem Druck? Gehe ich zurück? Kehre ich um? Oder lasse ich mich in diesen stürmischen Zeiten neu orientieren; mir neu die Basis für das, was mich ausrichtet, bauen?

Die Einladung galt auch Ihnen, die Sie sich in der Kommunal- und Landespolitik um das Gemeinwohl in diesem Land bemühen, die Sie sich für Demokratie und Rechtsstaat und das, was die Gesellschaft zusammenhält, interessieren oder sorgen und engagiert sind. Sie alle kommen am Buß- und Bettag unter die Kuppel dieser Kirche. Das hat nicht nur Tradition, das ist auch eine Herausforderung. Tag und Ort sprechen für sich. Hier und heute verbietet es sich, bei dem zu bleiben, was wir täglich sagen oder tun. Wer am Bußtag einlädt und wer sich eingeladen weiß, darf mehr erwarten. Darf erwarten, an diesem Tag hinterfragt zu werden, nicht zuerst eine Bestätigung dessen zu erfahren, was er eh für richtig und für angemessen erachtet, sondern selbst infrage gestellt zu werden. Das ist die Tradition des Bußtages.

Die Frauenkirche ist ein Ort, an dem das geschieht. Und sie ist der Ort, an dem der Beweis geführt wurde, dass schier Unmögliches möglich ist. „Das schafft ihr nie!“ Wie oft ist dieser Satz im Umfeld des Wiederaufbaus dieser Kirche zu hören gewesen. Und heute? Heute finden wir seit 10 Jahren unter der Kuppel dieser Kirche unseren Platz. Und werden aufgerichtet und orientiert und motiviert, weil von der Kuppel dieser Kirche Werte in die Welt strahlen: Barmherzigkeit, Liebe, Vertrauen, Glauben. Das gehört zu dem, was uns zusammenhält. Aber Sie wussten schon, warum Sie heute in die Frauenkirche kommen …


Grußwort

© Shutterstock.com/Andrey Starostin

Frank Kupfer MdL

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete der Parlamente, sehr geehrte Damen und Herren! Der Buß- und Bettag in diesem Jahr hat angesichts der erschütternden, unbegreiflichen Ereignisse in Paris eine stärkere Bedeutung als sonst erlangt. Es stellen sich viele Fragen nach dem Sinn solcher Taten. Und es stellt sich die Frage, wie es eine Gesellschaft aushält, solche Menschen in ihren Reihen zu ertragen, die nur ein Kalkül haben, ohne Gewis-

sen unschuldige Menschen in den Tod zu treiben. Diese Anschläge sind ein Angriff auf unsere Wertegemeinschaft, sind ein Angriff auf die europäische Kultur. Sie sind Angriff auf die demokratische Grundordnung und unsere Wertegemeinschaft. Und das hat gerade 70 Jahre nach dem Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs eine besondere Bedeutung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor 86 Jahren wurde der Pfarrer Dr. Karl Ludwig Hoch geboren, er ist im August

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dieses Jahres verstorben. Er war Dresdner Kunsthistoriker und promovierter Theologe. Und er war einer der Ersten, die den „Ruf aus Dresden“ unterzeichnet haben. Der „Ruf aus Dresden“, der den Wiederaufbau der Frauenkirche einleitete. Was zu Beginn dieser Initiative unerreichbar erschien, das ist jetzt Realität und wir sehen dieses wunderschöne Gotteshaus, welches in diesem Jahr seine 10-jährige Kirchenweihe begeht.

es war eine Zeit, die uns geprägt hat, für den Zusammenhalt der Gesellschaft gemeinschaftlich Verantwortung zu tragen. Auch hier in Dresden und im Freistaat Sachsen. Kurzum: Der Geist und Funke, stolz zu sein auf das, was wir geschafft haben, sprang über und es ist das Selbstbewusstsein der Sachsen gewachsen. Und es gibt für mich nichts Wichtigeres, als für den Erhalt der Demokratie stolz auf das eigene Land, auf die eigene Kultur zu sein.

Für die Dresdnerinnen und Dresdner gehörte die Frauenkirche immer zu ihrer Stadtsilhouette. Sie ist prägend im Stadtbild. Und sie ist heute ein Symbol – wir haben es gerade gehört – für Durchsetzungskraft, für Versöhnung und Friedlichkeit, ein Symbol, welches die Menschen verbindet. Dieses gewaltige Projekt riss eine Menge begeisterter Bürger mit sich – nicht nur hier in Dresden, nicht nur im Freistaat Sachsen, nein, in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt und viele haben nach ihren Möglichkeiten mitgetan, um dieses Bauwerk wieder erstrahlen zu lassen.

Die mit der friedlichen Revolution wiederhergestellte rechtsstaatliche Ordnung, die freien Wahlen, Frieden und Demokratie prägen das Leitbild unseres Handelns im Miteinander und Füreinander in unserer Gesellschaft. Die Kultur der politischen Diskussion fordert einen jeden heraus, einmal geduldig zu sein, die Fähigkeit auch des Zuhörens und die Bereitschaft, sich von guten Argumenten überzeugen zu lassen. Das gilt es immer wieder neu zu erarbeiten und auch immer wieder neu zu lernen. Das Wort „Demokratie“ stammt aus dem altgriechischen „demos“ (Staatsvolk) und „kratia“ (Herrschaft). Also zusammengefasst: die Herrschaft des Staatsvolkes.

Es war damals eine Zeit des Aufbruchs, nach dunklen Zeiten Neues zu schaffen, Vergessenes wieder aufzubauen, auch Traditionen weiter zu pflegen und wieder zu beleben. Es war eine Zeit, als wir begannen, bürgerschaftliches Engagement neu zu denken und bürgerschaftliches Engagement auch neu zu leben. Und

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Helmut Schmidt, dessen Leben nach 96 Jahren in der letzten Woche endete, hat einmal gesagt: Demokratie ist eine Schnecke. Den Hitzköpfigen geht natürlich alles zu langsam und denen, die Bedenkenträger sind, geht das alles noch viel zu


schnell. Bei der parlamentarischen Arbeit stehen Rechtssicherheit, Solidarität, Glaubwürdigkeit, aber auch die Mehrheitsfähigkeit im Mittelpunkt unseres Handelns. Das Volk wünscht sich mehr Bürgerbeteiligung und fordert das auch lautstark. Hier in Dresden erleben wir das jeden Montag. Ist das die Stimme des Volkes? Der Ton wird rauer, die Worte schärfer, der Umgang miteinander verletzender. Ist das Ausdruck von Demokratie, wie es sich das Volk wünscht? Der Buß- und Bettag gibt uns Gelegenheit, fernab vom Alltagsstress innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir immer

eine offene, faire und respektvolle Auseinandersetzung pflegen, insbesondere, wenn es um wichtige Themen geht. Die Bildung, Politiker selbstverständlich, die Kirchen, aber vor allen Dingen auch die Medien haben eine riesengroße Verantwortung, wenn es darum geht, die Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die errungenen Freiheiten und Rechte zu vermitteln, aber auch zu verteidigen. Meine Damen und Herren, wir haben heute den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Professor Dr. Norbert Lammert eingeladen. Ich freue mich sehr, Herr Prof. Lammert, dass Sie hierhergekommen sind und wir freuen uns jetzt auf Ihren Vortrag.

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Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält Prof. Dr. Norbert Lammert MdB Präsident des Deutschen Bundestages

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Kupfer, Herr Feydt, Herr Flath, liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, dem Sächsischen Landtag, meine Damen und Herren Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landräte, verehrte Gäste! In wenigen Wochen geht ein ungewöhnliches, erstaunliches, gelegentlich erschreckendes Jahr zu Ende, in dem wir in Deutschland an zwei herausragende Ereignisse unserer jüngeren Geschichte erinnert haben. Den 70. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs und den 25. Jahrestag der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Beide Ereignisse stehen in einem engen und zugleich komplizierten Zusammenhang zueinander. Und kaum irgendwo sonst ist dieser Zusammenhang besser zu begreifen, als hier in Dresden, in dieser Kirche. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, der von Deutschland ausgegangen war, war das eigene Land ruiniert, wirtschaftlich zerstört, moralisch diskreditiert, und mit der Teilung Deutschlands war ein gan-

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zer Kontinent durch Mauern und Stacheldrahtzäune abgeschottet. Von zwei Bündnissystemen begleitet, die sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Als wir vor wenigen Wochen den 25. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert haben, war die erste Generation in Deutschland erwachsen geworden, die in ihrer Lebenszeit nie andere Verhältnisse kennengelernt hat als die, die wir jetzt in Deutschland haben. Ein vereintes Land mitten in Europa, das immer mehr zusammenwächst, in dem sich 28 selbstständige Staaten durch Verträge freiwillig verpflichtet haben, immer enger miteinander zusammenzuarbeiten und immer mehr Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen. Und ausnahmslos alle diese 28 Staaten in Europa sind demokratisch verfasst und regiert. Einen solchen Zustand hatten wir in Europa nie. Wir halten diesen Zustand inzwischen für eine schiere Selbstverständlichkeit. Als sei es nie anders gewesen. Wenn es übrigens, meine Damen und Herren, so etwas wie eine herausragende deutsche Begabung gibt, dann ist das ge-


nau diese, Entwicklungen und Ereignisse, die wir jahrzehntelang für völlig ausgeschlossen gehalten haben, in dem Augenblick, wo sie dennoch Realität geworden sind, für eine Selbstverständlichkeit zu halten. Jedenfalls ist unsere parallele Begabung, von der einen Begeisterung zum nächsten Kleinmut zu wechseln, kaum weniger ausgeprägt als der souveräne Umgang mit außergewöhnlichen historischen Errungenschaften. Das runde Jubiläum unseres vereinten Landes und der Bußund Bettag sind eine doppelt gute Gelegenheit, das gemeinsam zu tun, was offenkundig ja auch Zweck dieser Veranstaltungsreihe ist: ein bisschen darüber nachzudenken, was uns eigentlich miteinander verbindet, was wir auch an gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen haben und auf welcher Grundlage wir dazu bereit und hoffentlich in der Lage sind. Solche Diskussionen über die Grundlagen, über das Selbstverständnis unserer Staats- und Gesellschaftsordnung werden ausgerechnet im – ich neige fast zu sagen – ehemaligen Land der Dichter und Denker eher gemieden als mit besonderer Freude geführt. Solche Debatten erspart man sich lieber. Weil sie vielleicht auch Klärungen erfordern, die man vermeiden möchte. Weil sie Standpunkte voraussetzen, die man beziehen muss.

Wir haben aus vielen Gründen am Ende dieses Jahres unter dem Eindruck von erstaunlich vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und nach Deutschland kommen, einen weiteren Grund, darüber nachzudenken, wie wir eigentlich mit diesem neuen, ganz außerordentlichen Ansehen Deutschlands im Rest der Welt und den sich daraus ergebenden praktischen Auswirkungen umgehen wollen. Ich will dazu ein paar hoffentlich orientierende Bemerkungen machen und bitte um Nachsicht, dass das natürlich keine vollständige oder gar abschließende Beschreibung, weder der Probleme noch der damit verbundenen Lösungswege sein kann und soll, aber vielleicht ein bisschen dazu beiträgt, uns auf das zu verständigen, was vielleicht auch die gemeinsame Grundlage auf diesem Weg im Umgang mit gestellten Aufgaben und Herausforderungen sein könnte und sollte. Es gibt schon einen besonderen Grund, daran zu erinnern, auf welchem Wege eigentlich am Ende die deutsche Einheit zustande gekommen und vollzogen worden ist. Zumal sich dieser Weg zur Wiederherstellung der deutschen Einheit von allen staatsrechtlichen, politischen, historischen Veränderungsprozessen, die es in der deutschen und europäischen Geschichte bislang gegeben hat, fundamental unterscheidet.

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Zustande gekommen ist die Wiederherstellung der deutschen Einheit durch den denkwürdigen Beschluss des ersten und einzigen frei gewählten Parlaments der Deutschen Demokratischen Republik, „dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten“. Der Vorgang ist beispiellos. Dafür gab's kein Vorbild. Dass dieser Beschluss seinerseits Voraussetzungen hatte, setze ich jetzt mal als hinreichend offenkundig voraus, so dass ich diese jetzt wiederum nicht im Einzelnen schildern will und muss. Aber mich hat insbesondere als Westdeutschen damals sehr beeindruckt, dass ausgerechnet ein erstes frei gewähltes Parlament der DDR, ermutigt und legitimiert durch eine wiederum beispiellos hohe Wahlbeteiligung – fast 94 Prozent am 18. März 1990 – nicht den mehr als verständlichen Ehrgeiz entwickelt hat, nun den Westdeutschen zu erklären, jetzt können wir zum ersten Mal in Augenhöhe miteinander reden und jetzt lasst uns mal einen sorgfältigen und gründlichen Prozess darüber beginnen, wie denn eine gemeinsame deutsche Verfassung aussehen könnte, die wir vermutlich heute noch diskutieren würden. Sondern in einer, ja, faszinierenden Verbindung von Einsicht und Souveränität im wörtlichen und übertragenen Sinne des Wortes zu sagen: wir haben in Deutschland seit einigen Jahrzehnten eine Verfassung, die sich nicht nur auf dem Papier glänzend liest, son-

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dern die auch offenkundig mehr als ordentlich funktioniert. Und lasst uns auf dieser Basis gemeinsam in die Zukunft gehen. Das war aus der Sicht der damaligen Volksvertreter ja mehr als die Entscheidung für einen Verfassungstext, es war die bewusste Entscheidung, einer Werteordnung beizutreten, die in diesem Land Geltung beansprucht und auf deren Grundlage ein Rechtssystem entwickelt worden war, das sich für die allermeisten, um nicht zu sagen alle in diesem Land lebenden Menschen als ganz zurückhaltend formuliert, jedenfalls zumutbar in vielerlei Hinsicht außerordentlich nützlich, erträglich herausgestellt hatte. Heute am Ende dieses Jahres, in dem viele Menschen nach Deutschland gekommen sind mit der Absicht, hier zu bleiben, und wir uns völlig zu Recht mit der Frage beschäftigen, wie viele eigentlich noch kommen könnten und in welchem Zeitraum, und ob die eigentlich auch alle bleiben wollen, und bleiben sollen und dürfen, beschäftigt uns aus gutem Grund die Frage noch intensiver, ob wir das eigentlich bewältigen können, wenn wir es wollen. Mich irritiert gelegentlich die Neigung, diese beiden Aspekte, die ich in der Formulierung gerade angesprochen habe, dadurch zu vereinfachen, dass man sich ganz auf das Wollen oder ganz auf das Können konzentriert. Tatsächlich sind die beiden Fragen gar nicht unabhängig voneinander


zu beantworten. Das gilt übrigens nicht nur für die hohe Politik, das gilt fürs praktische Leben ganz genauso. Die Frage, was ich will, ist nie völlig unabhängig von der Frage, ob das, was ich gerne hätte, denn auch möglich ist. Der Maßstab der Möglichkeit limitiert insofern meinen Willen. So wie nun allerdings umgekehrt die Frage, ob etwas möglich ist, ganz offenkundig nicht unabhängig von der Frage ist, ob man es will. Der Hinweis auf diese Kirche ist einschlägig. Da war die Frage, ob ihr Wiederaufbau möglich sei, schon hinreichend kompliziert. Sie hätte sich gar nicht gestellt, wenn man nicht gewollt hätte. Das Wollen ist die Voraussetzung des Könnens. Und das gilt natürlich auch und gerade für das große Thema, das uns in diesen Wochen und Monaten beschäftigt. Wie können wir, wenn wir wollen, mit der großen Herausforderung umgehen, die uns durch die Zuwanderung von vielen tausenden Menschen erreicht. Und dabei ist den meisten bewusst, dass es sich hier nicht nur und auch nicht in erster Linie um ein statistisches Problem der Zahlen selbst handelt, sondern der Orientierungen, der Vorstellungen, der Gewohnheiten, der Verhaltensmuster, die die Menschen mitbringen, insbesondere dann, wenn sie nicht aus der unmittelbaren Nachbarschaft kommen, sondern

zum Teil aus Ländern, die zu einem anderen Kulturkreis gehören und in denen eine ganz andere Sozialisation stattgefunden hat, regelmäßig unter Bedingungen, die mit unseren für selbstverständlich gehaltenen demokratischen Formen der Entscheidungsfindung nichts zu tun haben. Das ist schon eine anspruchsvolle Aufgabenstellung. Keine Frage. Und ich will versuchen, das mal ein wenig zu sortieren und auch deutlich zu machen, warum wir dabei etwas anspruchsvoller miteinander sein müssen, als das gelegentlich der Fall ist. Ich will es mit einem Begriff gleich zu Beginn versuchen, der die deutsche Diskussion, soweit sie überhaupt stattgefunden hat, seit geraumer Zeit begleitet, nämlich der Begriff von der multikulturellen Gesellschaft. Es gibt nach meiner Beobachtung zwei Fluchtversuche aus der Wirklichkeit. Der eine Fluchtversuch ist die tapfere Behauptung, wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft und die damit verbundene Treuherzigkeit, dass das Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft bereits ein Konzept sei. Es ist zunächst mal ein Befund. Aber kein Konzept. Und gegenüber dieser Vereinfachung hat sich dann ziemlich parallel und ähnlich stur die spiegelbildliche Vereinfachung aufgebaut, dass man mal vorsichtshalber bestreitet, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, denn ein Problem, das man

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bestreitet, hat man ja auch nicht. Auch das ist eine Form von Eskapismus, die bestenfalls, und das auch nur vorübergehend, das eigene Gemüt beruhigt, aber sicher keines der Probleme löst.

ohne klare Vorstellungen, was aus seiner Zukunft werden soll, hier vorübergehend oder auch nicht, Unterkunft findet. All das sind höchst unterschiedliche Sachverhalte.

Betrachten wir uns mal die Sachverhalte. In Deutschland leben etwas mehr als 8 Millionen Bürger mit anderer als deutscher Staatsangehörigkeit. Und es leben mehr als 16 Millionen Menschen mit einem Einwanderungshintergrund. Das sind 10, wenn wir die ausländischen Staatsbürger nehmen, bzw. 20 Prozent unserer Bevölkerung. Dieser Anteil ist, je jünger die Jahrgänge sind, die wir betrachten, umso größer, und er wird in den nächsten Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiter steigen. Wir reden also alleine was die Zahlen angeht, nicht über Petitessen, sondern über beachtliche Größenordnungen. Wobei allerdings auch oft zu schnell und zu vordergründig in diese 16 Millionen mit Einwanderungsgeschichte, die dann doch ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Verhältnisse zu diesen und zu ihrem Herkunftsland in einen großen Topf verrührt werden, als ob es keinen Unterschied mache, ob jemand als Kind ausländischer Eltern in Deutschland aufwächst, hier zur Schule geht, hier seinen Freundeskreis entwickelt, hier einen Beruf ergreift oder ob jemand, aus welchen Gründen auch immer, seit kurzem nach Deutschland gekommen, noch

Dass wir längst, rein zahlenmäßig betrachtet, in einer multikulturellen Gesellschaft leben, in der es nicht eine einzige von allen anerkannte, homogene Kultur gibt, ist offenkundig. Wie geht man damit um? Für die Welt, in der wir leben, hat sich ja längst als so eine Art heimliche Überschrift der Begriff Globalisierung eingebürgert, eine Welt, die so groß geworden ist, wie nie zuvor, nie haben so viele Menschen auf dieser Welt gelebt, wie heute, und gleichzeitig ist sie kleiner geworden als die Welt jemals war, denn niemals konnten sich so viele Menschen in so kurzer Zeit so unmittelbar begegnen, physisch wie virtuell, wie das heute der Fall ist. In einer solchen Zeit der Globalisierung ist aus vielerlei Gründen das Bedürfnis, so etwas wie einen festen Platz in einer immer schneller sich verändernden Welt zu finden, eher größer als kleiner geworden. Das Bedürfnis nach Identifikation, mit was auch immer, ist in modernen Gesellschaften erkennbarerweise nicht kleiner als in sogenannten vormodernen Gesellschaften, es ist tendenziell vielleicht sogar größer als früher. Und gleichzeitig wird es mit der Identitätsfindung und Identitätsbestimmung immer komplizierter.


Ein besonderes Beispiel ist der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Autor Navid Kermani. In Siegen in Westfalen als Kind irakischer Eltern geboren, bekennender Muslim, habilitierter Islamwissenschaftler, Träger vieler bedeutender deutscher Literaturpreise. Navid Kermani hat sich schon vor ein paar Jahren in seiner außerordentlich lesenswerten kleinen Schrift "Wer ist wir" mit der Frage beschäftigt, wen meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, wir müssen das und das tun, wir müssen uns um den oder jenen kümmern. Er hat also in dieser Schrift "Wer ist wir" schon vor ein paar Jahren geschrieben: ich bin Kölner, in Siegen geboren, bekennender Muslim und Fan des 1. FC Köln. Ich weigere mich, meine Identität auf einen einzelnen Aspekt reduzieren zu lassen. Das macht, glaube ich, eine Befindlichkeit sehr schön deutlich, die im Übrigen ja nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund haben, sondern beinahe jeder von uns, wenn er sich selbst kritisch befragt, auch. Möchten Sie allein auf Ihre Identität als Deutscher reduziert werden? Ich nicht. Ich finde die Zugehörigkeit zu diesem Land, zu diesem Volk einen ganz wichtigen Teil meiner Identität, aber der einzige ist es doch sicher nicht. Und das im Übrigen in unterschiedlichen Konstellationen, auch verschiedene Aspekte der eigenen Identität, jung oder alt, Mann

oder Frau, Christ oder Moslem oder Agnostiker, je nach Versuchsanordnung eine unterschiedliche Rolle spielen, ja das ist doch bitteschön normal. Identitätsfindung und Identifikation wird in Zeiten der Globalisierung dringlicher und gleichzeitig komplizierter. Und für multikulturelle Gesellschaften gilt das in genau der gleichen Weise. Der Bedarf an Identifikation wird größer, aber das Zustandekommen von Identifikation und von Identität wird komplizierter. Deswegen hätten wir eigentlich die Debatte über die geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft, über unser Selbstverständnis, über das, was diese Gesellschaft nach unserer Überzeugung zusammenhält, schon seit 10, 20 Jahren viel gründlicher führen müssen, als wir das getan haben. Wir haben sie gewissermaßen in der Euphorie der Einheit mit der schlichten genialen Entscheidung für das Grundgesetz abgeheftet und haben sie bei der ersten großen Flüchtlingswelle in den 90er-Jahren nach dem Zerfall Jugoslawiens und den sich daraus ergebenden Flüchtlingsströmen in den Balkankriegen vermieden oder verweigert. Und zu dieser Verweigerung hat schon erheblich ein Begriff beigetragen, der damals die Diskussion sowohl befördert wie behindert hat, nämlich der Begriff der Leitkultur. Ob es so etwas in einer moder-

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nen Gesellschaft überhaupt geben könne und geben dürfe, ob nicht der Anspruch auf Verbindlichkeiten, der damit reklamiert wird, mit dem Anspruch auf Freiheit prinzipiell unvereinbar sei. Ich beobachte mit einer Mischung aus Erleichterung und Amüsement, dass diese Debatte nun in einer eher unauffälligeren Weise nachgeholt wird, die wir schon vor 20 Jahren hätten führen sollen. Und einer meiner ganz unverdächtigen Zeugen in diesem Zusammenhang ist Jakob Augstein, der in einer der großen Sonntagszeitungen dieses Landes vor 4 oder 5 Wochen in einem Leitartikel zu meiner und vieler Leute Verblüffung schreibt: Nun sind wir ein Einwanderungsland geworden. Nun brauchen wir eine Leitkultur. Das ist in der Tat genau der Zusammenhang. In einem Einwanderungsland ist die Klärung der Frage, was die geistigen Grundlagen dieser Gesellschaft sind, noch dringlicher als in einer vermeintlich homogenen Gesellschaft. Weil in einer Gesellschaft klar sein muss, was gilt, wenn sie ihren inneren Frieden bewahren will. Denn der innere Friede ist wiederum kein Naturzustand. Der Naturzustand ist vielmehr, dass verschiedene Menschen verschiedene Interessen haben, auch verschiedene Auffassungen haben, verschiedene Meinungen haben. Daraus ergeben sich natürlicherweise Konflikte, die eine

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Gesellschaft nur aushalten kann, wenn für alle klar ist, was gilt. Was gilt. Da bin ich dann wieder beim Grundgesetz. Da haben die Clevereren unter den Diskussionsverweigerern gesagt, die Leitkulturdebatte ist schon deswegen überflüssig, weil für uns genau diese Fragen entschieden sind. Entschieden im Grundgesetz. Das Grundgesetz klärt, was in dieser Gesellschaft gilt. Und zwar für alle, die hier leben. Auch unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Unabhängig, ob es sich um Einheimische oder um Zugewanderte handelt. Das Grundgesetz regelt die Ansprüche, die man in dieser Gesellschaft an den Staat richten kann, und es regelt die Verpflichtungen, die jeder hat, wenn er hier lebt. Damit ist vermeintlich alles geklärt. Nein, es ist damit eben nicht alles geklärt. Weil dieses Verständnis des Grundgesetzes von dem gut gemeinten Irrtum ausgeht, eine Verfassung erkläre sich aus sich selbst. Wenn das so ist, wäre es übrigens extrem erstaunlich, dass alle existierenden Staaten auf dieser Welt jeweils eigene Verfassungen haben. Viel naheliegender wäre doch, dass man die erfolgreichen Verfassungen überall da importiert, wo es bislang keine erfolgreichen gab. Deutschland ist dafür ein besonders schöner Anwendungsfall gewesen. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg er-


kennbar keine funktionierende, schon gar keine erfolgreiche Verfassung. Es waren aber ein paar im Angebot. Es haben aus guten Gründen die Verfassungsväter und Verfassungsmütter damals, unter übrigens erbärmlichen Bedingungen im vorgenannten „Parlamentarischen Rat“ nicht die französische Verfassung übernommen. Auch nicht die Italienische. Die Englische konnten sie nicht übernehmen, weil die bis heute keine haben. Sondern sie haben sich daran gemacht, eine Verfassung für dieses Land zu entwickeln, die die Erfahrungen aufarbeitet, die dieses Land mit sich selbst gemacht hat. So liest sich diese Verfassung. Und damit ist das Grundgesetz vielleicht sogar noch mehr als andere Verfassungen der Welt ein besonders gutes Beispiel für das, worauf es in diesem Zusammenhang am meisten ankommt, nämlich sich klarzumachen, dass Verfassungen nicht aus sich selbst heraus ihre Legitimation beziehen. Dass Verfassungen nie Ersatz für die Kultur einer Gesellschaft sind, sondern immer Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Eine Verfassung bringt zum Ausdruck, welche Erfahrungen ein Land mit sich selbst gemacht hat. Welche Orientierungen in diesem Land Geltung beanspruchen. Welche Überzeugungen sich über Jahrhunderte hinweg in diesem Land entwickelt und durchgesetzt haben. Welche Traditionen darauf auch begründet

worden sind. Und indem sie das formuliert und zur Grundlage einer Verfassung macht, schafft sie den Orientierungszusammenhang, auf den sich mit Erfolgsaussicht die Rechtsnormen einer Gesellschaft gründen können. Deswegen müssen wir über Kultur reden und nicht über Politik, wenn wir über den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft reden. Dass der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht durch Politik zu wahren ist, dafür ist wiederum die deutsche Geschichte ein mehr als dramatisches Beispiel, in der westdeutschen wie der ostdeutschen Variante. Dass Gesellschaften nicht durch Wirtschaft zusammengehalten werden, auch nicht durch Geld, ist eine hinreichend stabile Lebenserfahrung. Das, was Gesellschaften zusammenhält, wenn es überhaupt etwas gibt, was sie zusammenhält, sind die Überzeugungen, die Menschen miteinander teilen, unabhängig von den konkreten Interessen, die sie im Einzelnen haben und das Bewusstsein, im Rahmen dieser gemeinsamen Überzeugungen ihre alltäglichen Interessen verfolgen zu dürfen und die sich daraus ergebenden Konflikte lösen zu können. Und deswegen kann und darf genau diese Werteordnung nicht zur Disposition stehen, wenn eine Gesellschaft, schon gar eine multikulturelle Gesellschaft, ihren inneren Frieden bewahren will.

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Kurt Biedenkopf, den ich hier nicht vorstellen muss, hat vor ungefähr 10 Jahren schon einmal in einem Interview gesagt, wenn eine Gesellschaft multikulturell sein und zugleich ihre Identität nicht verlieren will, dann braucht sie einen gemeinsamen roten Faden, nämlich eine Leitkultur. Leitkultur heißt ja nicht, wir oder wer auch immer, beansprucht die Überlegenheit der eigenen Kultur gegenüber anderen. Es gibt viele Hochkulturen in der Geschichte der Menschheit. Diese großen Kulturen in der Menschheitsgeschichte lassen sich mühelos in eine zeitliche Reihenfolge bringen, es lassen sich auch erstaunliche Zusammenhänge zwischen diesen Kulturen aufzeigen, es lassen sich ebenso beachtliche Rivalitäten zwischen diesen Kulturen zeigen. Aber die Vorstellung, man könne eine Rangfolge der Bedeutung dieser Kulturen aufstellen, ist erkennbar abwegig. Das kann mit Leitkultur nicht gemeint sein. Aber mit Leitkultur kann gemeint sein und muss gemeint sein, dass in ein und derselben konkreten Gesellschaft nicht verschiedene, sich wechselseitig ausschließende kulturelle Orientierungen gleichzeitig gelten können. Leitkultur bedeutet, dass nicht alles, was man sicher kulturell erklären und begründen kann, deshalb in einer konkreten Gesellschaft Geltung haben kann. Ich will das an drei oder vier Beispielen verdeutlichen: Der kulturell begründete

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Anspruch auf Vorrang des Mannes gegenüber der Frau, der übrigens über viele Jahrhunderte weg in vielen Hochkulturen völlig unstreitig war, ist jedenfalls mit dem Anspruch auf Gleichberechtigung von Mann und Frau in ein und derselben Gesellschaft erkennbar unvereinbar. Das heißt, wir brauchen jetzt gar nicht die extrem ungemütliche Frage zu entscheiden, ob es ein Verlust an kultureller Präsenz oder eine Errungenschaft im Fortschritt der Zivilisation ist, dass wir uns von dieser jahrhundertelangen Vorstellung gelöst haben. Es reicht die simple Einsicht, dass diese beiden Orientierungen gleichzeitig in der gleichen Gesellschaft nicht gelten können. Auch die Vorstellung, dass es ein Recht auf Freiheit der Glaubensausübung geben sollte, die eigenen religiösen Überzeugungen zu praktizieren oder auch nicht, einschließlich des Rechtes, den Glauben aufzugeben oder zu wechseln, vergleichsweise in jüngere kulturelle Orientierungen, sowie der umgekehrte Anspruch, dass die Aufgabe des eigenen Glaubens ein strafwürdiges Verbrechen sei, kann in ein und dergleichen Gesellschaft nicht gelten. Entweder gilt das eine oder das andere. Die Überzeugung von einem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist mit dem Anspruch des Staates auf Körperstrafen, körperliche Züchtigung, Glied-


maßenverstümmelung, Todesstrafe prinzipiell nicht vereinbar. Mit anderen Worten, in einer Gesellschaft muss klar sein, was gilt. Und es können nicht unterschiedliche, auch jeweils kulturell begründete Geltungsansprüche gleichzeitig aufrechterhalten werden, die sich wechselseitig ausschließen. Und da liegt gewissermaßen die doppelte Relevanz für den Bezug zwischen unserer Rechtsordnung und unserer Werteordnung. Jeder Zuwanderer, der nach Deutschland kommt, muss wissen, dass er nicht in die Bundesliga einwandert, sondern ins Grundgesetz. Und das Grundgesetz steht nicht zur Disposition. Es sei denn, unter der nun wiederum verfassungsrechtlich begrenzten Option, es finden sich jeweils 2/3-Mehrheiten in den dafür legitimierten Verfassungsorganen, was im Übrigen die tröstliche Option eröffnet, dass auch das, was in diesem Land gilt, nicht in der Weise unter Denkmalschutz steht, dass es jeder Veränderung entzogen wäre. Nein, das, was in dieser Gesellschaft gilt, ist und bleibt Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses. Wir müssen uns im Übrigen mal nur gelegentlich vor Augen halten, wie sehr sich unser Eheund Familienverständnis einschließlich der damit verbundenen Rechtsnormen in den letzten 30, 40 Jahren verändert hat. Dann wird deutlich, dass wir nicht über eine statische Rechtsordnung, son-

dern eine dynamische Rechtsordnung reden, bei der sich immer wieder auch neu für alle Beteiligten die Frage stellt, was folgt denn aus unserer Vorstellung von der Freiheit des Menschen und seiner Verantwortung für die konkrete Gestaltung von sozialen Beziehungen in einer modernen Gesellschaft. Das also, was an einer solchen gesamtgesellschaftlich gültigen Orientierung kanonisierungsbedürftig und kanonisierungsfähig ist, ist nicht ein für alle Mal in Zement gegossen, sondern ist Bestandteil eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses, an dem sich alle beteiligen können, die in diesem Land leben. Wobei nun wiederum die Mitwirkungsmöglichkeiten an die Staatsangehörigkeit geknüpft sind, was auch über eine lange Zeit eine beachtliche Anzahl der nicht an der Diskussion Beteiligten für eine Zumutung gehalten haben, während ich das aus den genannten Gründen für eine schiere Selbstverständlichkeit halte, weil wiederum diese Rechtsordnung den bei uns lebenden Menschen die Möglichkeit des Erwerbs der Staatsangehörigkeit ausdrücklich offeriert. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit ist allerdings nach meiner Überzeugung nicht Vorleistung für Integration, sondern Ausdruck der Integration in eine Gesellschaft. Deswegen macht es auch von dieser Perspektive her Sinn, den Erwerb der Staatsangehörigkeit als das subjektive

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Bekenntnis zu dieser Rechtsordnung dieses Staates dann auch zur Voraussetzung der Mitwirkungsrechte zu machen, die sich unter diesen Bedingungen und nur unter diesen Bedingungen in dieser Gesellschaft und in diesem Staat ergeben. Schaffen wir das? Ich erinnere an das, was ich vorhin gesagt habe. Wenn wir mit einer großen Herausforderung zu tun haben und wir haben es auch hier jetzt wieder zweifellos mit einer beachtlichen Herausforderung zu tun, müssen wir zwei Fragen gleichzeitig, aber auch unabhängig voneinander beantworten. 1. Wollen wir überhaupt und 2. können wir, was wir wollen? Und das eine ist nicht unabhängig von dem anderen. Das ist das große Thema im Augenblick der aktuellen Politik.

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Kriterien der Unterscheidung finden. Die sind jedenfalls für die überschaubare Zukunft so schwer nicht zu finden. Weil nämlich sowohl mit Blick in unsere Verfassung, wie mit Blick in die Welt, in der wir leben, sich ein Kriterium aufdrängt: Politisch Verfolgte sollten Zuflucht finden.

Es wird auf Straßen und Plätzen nicht immer mit dem möglichen Maß an Differenziertheit diskutiert, das man sich in einer aufgeklärten Gesellschaft wünschen würde. Dafür finden dann in den oft beschimpften Parlamenten, die ebenso kontroversen wie in der Regel sorgfältigen Debatten statt, einschließlich notwendiger Unterscheidungen, die dieses Thema braucht.

Wir haben das zugegebenermaßen auch wieder einzigartig im Vergleich zu allen unseren europäischen Nachbarn 1949 ohne weitere Bedingungen in unsere Verfassung geschrieben: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Punkt. Und warum steht das so in der deutschen Verfassung und nicht auch in den Verfassungen unserer Nachbarländer? Weil wir damals sicher stärker als heute diese Verfassung in dem Bewusstsein geschrieben haben, dass viele Deutsche, darunter viele unserer Besten, nur überlebt haben, weil sie im Ausland Zuflucht gefunden haben. Und wenn es ein Land gibt, das mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen, seine eigene Geschichte einen besonderen Ehrgeiz entwickeln sollte, Menschen Zuflucht zu gewähren, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie an Leib und Leben bedroht sind, dann muss das Deutschland sein.

Natürlich können wir nicht, selbst wenn wir wollten, alle die nach Deutschland kommen wollen, in Deutschland aufnehmen. Offenkundig. Und da wir das nicht können, selbst wenn wir wollten, müssen wir für uns selbst und andere plausible

Aber das heißt eben umgekehrt auf der Strecke zwischen Wollen und Können: Wir werden diese gewollte Zusage nur einlösen können, wenn wir genauso deutlich machen, dass nicht alle hier bleiben können, die lieber in Deutschland als in


ihren Herkunftsländern ihre eigene Zukunft aufbauen wollen, weil der Versuch, das eine zu ermöglichen, das andere verhindern würde. Und das ist eine schwierige und sensible Aufgabe, die die Politik sich gleichwohl auf den Rücken laden muss, Verfahren zu finden, die das in einer nachvollziehbaren, fairen, aber auch konsequenten Weise zu regeln in der Lage sind. Dazu gibt es jetzt die ersten notwendigen Vereinbarungen, auch eine Reihe von Beschlüssen. Wir haben übrigens auch an der Stelle schon wieder Modifizierungen in unserer Rechtsordnung im Rahmen unseres Wertekanons vorgenommen, von denen manche noch vor einem halben Jahr nicht mal diskussionsfähig, geschweige denn mehrheitsfähig gewesen wären. Da zeigt sich wieder, wie bei veränderten Prioritäten im Problemhaushalt einer Gesellschaft auf einmal auf sich veränderte Situationen Mehrheiten für denkbare Lösungen bilden. Aber wenn überhaupt, werden wir diese Aufgabe nur bewältigen können, wenn wir sie als gemeinsame Aufgabe begreifen. Und wenn sich daraus nicht wirklich Kreuzzüge entwickeln, von denen die einen in diese und die anderen in jene Richtung laufen. Unser Bundespräsident Joachim Gauck hat vor drei oder vier Wochen in einer

wichtigen Rede in Mainz einmal den Appell formuliert, dass „die Begeisterten und die Besorgten“ mit Blick auf diese Migrationsentwicklung, sich nicht mit wechselseitiger Polemik begegnen sollten, sondern in einem konstruktiven Dialog um gemeinsame Lösungen bemühen müssen. Das ist auch meine Überzeugung. Es gibt Anlass zur Besorgnis, gar keine Frage. Und diese Sorgen muss man ernst nehmen. Aber es gibt weder einen Grund, noch gibt es eine Perspektive, die Besorgnis für die Lösung zu erklären. Sondern sie muss in den Kontext unserer eigenen Absichten, unseres Wollens, unserer Selbstverpflichtungen geholt werden und dann müssen wir die konkreten Verfahrensschritte entwickeln, die man dafür braucht, wenn man das bewältigen will. Ich habe vorhin erinnert an den 70. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges. Ich gehöre zu der privilegierten Generation, die erst kurz danach geboren ist, und die die beiden Weltkriege, die dieses Land und diesen Kontinent verwüstet haben, nur vom Hörensagen kennt. Aber dass heute Millionen Menschen in der Welt bei der Suche nach einer besseren Zukunft kein attraktiveres Land für sich entdecken können, als ausgerechnet Deutschland, das ist eine Erfahrung, die ich nicht an mir ablaufen lassen kann. Zugleich ist das eine Verantwortung, die ich wahrnehmen muss. Die ich nicht alleine wahrnehmen kann, für

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die ich wiederum Mitstreiter brauche und wo sich eine Gesellschaft auf das verständigen muss, was sie will, um dann das zu können, was sie will, wenn sie will. Immer, wenn ich in Dresden bin, dann bin ich auch in dieser unglaublichen Kirche und mir wird mehr als an irgendeinem anderen Platz in Deutschland bewusst, dass wir in einem Ausnahmezustand un-

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serer Geschichte leben. Bessere Verhältnisse als die, die wir gegenwärtig in Deutschland und in Europa haben, gab's in Deutschland nie. Und deswegen gab's auch für die Bewältigung von welchen Herausforderungen auch immer, nie bessere Voraussetzungen, damit fertig zu werden. Wenn wir wollen. Ich empfehle uns, wir wollen. Jedenfalls können wir.


Schlusswort Steffen Flath

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde des Johann-Amos-ComeniusClubs, ich hätte jetzt ganz gerne noch eine Weile über die Rede nachgedacht und Ihnen geht es vielleicht auch so.

sind Werte, die von der Kuppel der Frauenkirche in die Welt strahlen. Das strahlt Selbstbewusstsein aus. Und auch dieses Symbol steckt in dieser wunderbaren Frauenkirche.

Und trotzdem muss eine Veranstaltung immer ein Schlusswort haben. Fritz Hähle, unser Ehrenpräsident, blickt zufrieden. Er hat den Johann-Amos-Comenius-Club ins Leben gerufen und zu meiner Zeit als Fraktionsvorsitzender habe ich ihn fortgeführt und Frank Kupfer führt ihn gemeinsam mit den Mitgliedern der CDUFraktion ebenfalls fort, deshalb ist Fritz Hähle zufrieden.

Und dann, lieber Frank Kupfer, hast du eine sehr gute Wahl getroffen mit unserem Referenten des heutigen Tages, Herrn Prof. Dr. Lammert. Mit Ihrem Beifall haben Sie das zum Ausdruck gebracht.

Herr Pfarrer Feydt, Sie haben uns begrüßt und wir durften hier die Gastfreundschaft genießen. Es ist für eine politische Partei, für eine Fraktion keine Selbstverständlichkeit. Auch das hat Fritz Hähle damals begründet. Und wir haben die Tradition bis zum heutigen Tag gepflegt. Und Ihr Kommen, Ihre Treue als Zuhörer zeigt uns, dass es gut ist, solche Traditionen zu pflegen. Und ich will auch noch mal aufgreifen, was Herr Pfarrer Feydt gesagt hat: Barmherzigkeit, Liebe, Vertrauen, Glaube, das

Sie sind wirklich ein Meister der Formulierung, aber auch ein Meister der Logik. Denn so wie Sie die Dinge ordnen und vortragen, kann man zu keinem anderen Schluss kommen. Ich danke Ihnen, dass Sie uns allen ins Gewissen geredet haben. Das ist ja nicht ungewöhnlich in der Kirche. Und es ist im Moment ganz verständlich. Und wenn wir dann rausgehen, wieder ins Leben, da können wir nicht sagen, das hat der Prof. Lammert aber wunderbar erklärt, lest es mal nach. Sondern da sind wir, ist jeder einzelne gefordert, auch auf schwierige Fragen Antworten zu finden. Und dazu gehört auch, dass man zugeben darf, dass man in einer Sache noch keine Antwort hat.

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Aber da wiederum hilft uns Ihr Argument: Wollen ist die Voraussetzung für das Können. Wir leben in einer schwierigen Zeit. Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte, in der ersten Reihe sehe ich Landrat Frank Vogel, müssen den Leuten auf der Straße Antworten geben. Und auch Entscheidungen, die getroffen werden müssen, sind zu erklären. Ich sag immer, die Unterbringung von Flüchtlingen ist in allererster Linie eine administrative Aufgabe. Und da ist es auch wichtig, dass wir die Amtsinhaber unterstützen. In schwierigen Zeiten müssen wir zusammenhalten, auch das ist angesprochen worden. Nur gemeinsam können wir die Schwierigkeiten bewältigen. Wir Sachsen dürfen ja auch ein bisschen stolz sein. Ganz gleich, was uns da manchmal in den Medien so vorgehalten wird, so hinterwäldlerisch sind wir nicht. Diesen Mut, auch mal eigenständig aufzutreten, ich glaube, den haben wir am allermeisten von den Bayern gelernt. Und die Bayern sind sehr erfolgreich und sind alles andere als hinterwäldlerisch. Deshalb will ich noch mal einen Bogen spannen zum Landesparteitag, der in der letzten Woche stattgefunden hat. Herzlichen Glückwunsch zu deinem guten Wahlergebnis bei der Vorstandswahl, lieber Frank Kupfer. Dort war Horst Seehofer zu Gast, der Ministerpräsident von Bayern. Und er hat aufgezeigt, wenn es

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gelungene Beispiele für Integration gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, diese in Bayern zu finden, größer als in anderen Bundesländern. Deshalb sind wir auch da gut beraten, uns Bayern als Vorbild zu nehmen. Und wir Sachsen haben ja auch eins gemerkt: Die, die nach Deutschland wollen, wollen nicht unbedingt immer nach Sachsen. Einige haben sich schon längst wieder auf den Weg gemacht, woanders hinzugehen. Aber die, die in Sachsen bleiben wollen, und da wir bisher einen sehr, sehr niedrigen Anteil von Ausländern haben, dann sollte uns doch dieses Wollen und Können anspornen, eben mit wenigen, die hier bleiben wollen, die aber ganz bewusst in Sachsen bleiben wollen, auch gute Beispiele für Integration in Sachsen tatsächlich hinzubekommen. Diesen Anspruch müssen wir haben, wenn wir Selbstbewusstsein zeigen wollen. Und auch da hilft uns die Rede von Prof. Lammert, der in großer Offenheit, das hören wir nicht oft in diesen Tagen, dieses Thema Leitkultur ansprach. Werte und Grundwerte können nur entweder dieser oder einer anderen Kultur entsprechen. Und so vielleicht abschließend noch ein kleines Beispiel für Toleranz: Wenn ich Frank Vogel anschaue, denke ich an Erzgebirge Aue. Da ein Spiel bevor steht,


werbe ich in der Landeshauptstadt Dresden für Toleranz gegenüber den Fans von Erzgebirge Aue. Ja. Das verstehe ich unter Toleranz. Dafür werbe ich. Und geht ordentlich miteinander um. In der Vergangenheit haben wir den Begriff Toleranz aber oft anders verwendet. Deshalb bringe ich noch ein Beispiel aus meiner politischen Laufbahn. Ich war mal mit meiner Frau in einem muslimischen Land, in Baschkortostan. Ich bin nachts um 4 angekommen und ich hatte Jeans an, weil das für so einen Flug das Bequemste war. Und dann war ein roter Teppich für mich ausgerollt. Und ich wurde in Jeans auf dem roten Teppich empfangen. Auf der Fahrt ins Hotel hat mir dann meine Frau gesagt, dass ihr keiner die Hand gegeben, noch nicht mal jemand sie angeblickt hat. Meine Frau hat das ertragen. Eine Woche lang. Und nach einer Woche hat der dortige Landwirtschaftsminister – Frank Kupfer, du wirst ihn vielleicht auch kennen -, als es kühl wurde, wärmend seinen Mantel meiner Frau über die Schultern gelegt. Das war dann ein Zeichen der Wertschätzung, immerhin. Wenn dieser Landwirtschaftsminister aber nach Sach-

sen kommt oder nach Deutschland, dann ist es unsere Aufgabe ihm freundlich zu sagen, welche Regeln bei uns gelten. Wir achten die Regeln im fremden Land, und bitteschön, wer zu uns kommt, achtet die Regeln hier. Weil heute Buß- und Bettag ist, hat uns Pfarrer Feydt gesagt, unsere Meinung auch mal infrage zu stellen. Und uns die Frage stellen, ob wir die Regeln, von denen wir manchmal so großartige reden, auch selbst in unserem Leben einhalten. Damit möchte ich Sie an diesem Buß- und Bettag, an diesem Feiertag in Sachsen, entlassen. Soll Sie aber noch von Frank Kupfer, von den Mitgliedern der CDULandtagsfraktion einladen, dass Sie schon mal notieren, 17. Juni 2016, da wird die nächste Veranstaltung sein. Referent wird Werner Schulz sein. Der Ort ist noch nicht bekannt, den bekommen Sie dann mit der Einladung mitgeteilt. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Feiertag. Dankeschön.

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Impressum Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält Veranstaltung am 18. November 2015 Herausgeber CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Redaktion Pascal Ziehm Satz, Gestaltung und Druck Z&Z Agentur Dresden Dresden, Januar 2016 Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern im Wahlkampf zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.


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