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THE SPELL
The earth was all before me, 2020–2021
Wenn ein Mann steht, läuft, springt usw., benutzt er ein Kreuz aus Bändern in den Knien. Das hintere und das vordere Kreuzband gehören zu den Bändern des Bindegewebes, die seine Beine in einer Linie halten –weder zu weit vorne noch zu weit hinten. Alle Geschlechter nutzen diese Bänder, aufgrund der unterschiedlichen Beckenformen aber sind die Winkel bei Frauen dort, wo die Knochen aufeinandertreffen, tendenziell schärfer. Außerdem tendieren die Bänder aufgrund von hormonellen und strukturellen Unterschieden relativ locker zu sein.
Vielleicht ist dies der Beginn einer unbeholfenen Metapher. Vielleicht deutet es aber auch auf eine bestimmte Art von Anmut hin. Als sich eine berühmte Ballerina während eines intensiven Solos das vordere Kreuzband riss, war kurz nach dem Takt ein Knacken zu hören. In einer synkopischen Entfesselung flogen ihre Arme in den Himmel, als würde ihr Körper weiter hüpfen. Eines ihrer Beine allerdings hing schlaff nach unten, während das Knie des anderen einknickte und ihr Körper sich auf den Boden senkte, um das verletzte Knie nicht zu belasten.
Hier gibt es keine Brennpunkte. Es handelt sich lediglich um eine synkopische Entfesselung.
In bestimmten taoistischen Praktiken gilt die Kniekehle als ein Ort, an dem zusätzliche spirituelle Energie gespeichert wird. Sie wird Wei-Chung1 genannt, und manche sagen, dass sie auch als Brücke zwischen den Dimensionen dient. Sie dient als Austauschpunkt zwischen den oberen und unteren Energiezentren des Körpers (die Ersteren sind mit spirituellen Belangen verbunden, die Letzteren mit dem Irdischen und Konkreten). Eine Verspannung in den Knien wiederum soll auftreten, wenn man die Führung des Geistes ignoriert und sich zu sehr auf materielle Dinge konzentriert. „Um zu begreifen, wie dieser Überbrückungsprozess in der Praxis funktioniert“, sagt ein Lehrer, „stellen Sie sich vor, dass Ihre Knie die Energie Ihrer Gedanken in Bezug auf Ihre ‚Lebensrichtung‘ absorbieren. Insbesondere, wie flexibel oder unflexibel Sie in Bezug auf die Lebensrichtung sind, die Sie wählen, um sich zu bewegen.“2
Also, wie flexibel sind Sie?
Als ich mich zum ersten Mal einer Serie männlicher Akte von Cecily Brown näherte – „Reclining Blonde with Nudes“, „Blue Sky with Nudes“, „Bucket and Spade with Nudes“, „Straw Hat with Nudes“ –, ließ mich etwas, das wohl mit meiner Biografie zusammenhängt, auf die Knie der Dargestellten fixieren. Und das trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass ich aus einer auf den Phallus fixierten Stadt zu Besuch war.
In Neapel, wo ich wohne, sieht man den Phallus über Türen, um Hälse, an Schlüsselanhängern und an Rückspiegeln hängen. Sie wiederholen sich in Mosaiken in den alten Straßen. Viele sagen, dass der Phallus (genannt fascinum – ein Begriff, der vom personifizierten Phallus Fascinus, dem römischen Gott des Glücks, stammt3) in dieser Gegend seit etwa 3500 v. Chr. ununterbrochen als Glücksbringer in Gebrauch ist. Die Menschen ahmen ihn mit ihren Händen nach, um das Böse abzuwehren oder um zu signalisieren, dass jemand ein Betrüger ist. Und die Akte in dieser Stadt – obwohl sie alle (oder die meisten) Geschlechter zu sein scheinen –sind im Großen und Ganzen männliche Akte, die fest in der schwanzzentrierten Geschichte stehen (oder sitzen oder pissen). Sie gehören zu jener westlichen klassischen Tradition, in der männliche Akte „trotz ihrer naturalistischen Anatomie und ihrer sauberen, unauffälligen Penisse einen Großteil ihrer Autorität aus der Identifizierung mit dieser archaischen, aber immer noch vitalen Phallus-Symbolik beziehen.“ 4
Vielleicht fielen mir die Knie, so „faszinierend“ und dicht sie ohnehin an phallischer Geschichte waren, gerade deshalb auf, weil sie für mich von einer Bewegung zu etwas anderem sprachen, einer Brücke zu einer anderen Art der Anmut. In „Reclining Blonde with Nudes“ blickt die titelgebende blonde Frau grimmig hinter einem der Männerbein hervor. Die Kniescheiben des Mannes und seine Wei-Chungs befinden sich ungefähr dort, wo ihre Geschlechtsteile sein sollten. Und obwohl die Haltung der Frau klassisch passiv und kokett ist,