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Zeitschrift der 端berkonfessionellen Bewegung Campus f端r Christus Schweiz

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MUT


I N H A L TE D I T O R I A L mut | inhalt

mut | editorial

Inhalt

Editorial Fliegen lernen

ZUM THEMA

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Was braucht Mut?

Margit Eichhorn über Schritte aus Angst und Selbstverachtung

Eine Strassenumfrage

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«Ich bin mir bewusst, was ich mache!» Weltklasse-Klippenspringer Daniel Locher

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Durchs Feuer gerettet

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«Lass los, spring!»

Von der Traditions- zur Laiengemeinde Ein ungewöhnlicher Weg aus der Gemeindekrise

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Zivilcourage

«Herr, zeig mir meine Motilonen!» Peter Höhn über Berufungssuche für gewöhnliche Menschen

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Persönlich Hanspeter Nüesch – Das Alte zurücklassen

Eine Besinnung unter der Bundeskuppel mit Pfarrer Alfred Aeppli

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Life Channel – Radio für Christen und Zweifler

«Gerechte der Völker» Menschen mit Zivilcourage im Zweiten Weltkrieg

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Auf Menschen zugehen – für Jesus hinstehen!

Verena Birchler über das neue Radioprogramm von ERF auf UKW

Die zweiundachtzigjährige Elisabeth blickt zurück

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Peter Höhn

Was Teilnehmer bei Vision 200, GEH+4, EE und beim Jesus-Video-Projekt Mut kostete

Urs Lüthi überlebte den Brand im Gotthardtunnel

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Lebensmut – und was dazugehört Tom Sommer über ein Buch von Frank und Catherine Fabiano

«Wenn Gott mich nicht aufgefangen hätte ...» Im Gespräch mit Bergsteiger Roland Peretti

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Melanie – dem Leben trauen

«Weil du es sagst, Herr!»

REPORTAGE

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Nepal: Sherpas für Jesus Wie sich ein unerreichtes Volk für Jesus öffnet

FÜR SIE NOTIERT

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Jesus hat seine Jünger bis zur Schmerzgrenze darin trainiert, neue, noch unbekannte Wege zu gehen. Immer wieder hat er ihnen gezeigt, dass die jetzige Situation anders ist. Die Jünger durften

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Mut in der Bibel und im Alltag

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Sie werden beim Lesen dieser Ausgabe feststellen: Mutigsein ist relativ. Für jeden Menschen in unseren Beiträgen bedeutet Mut wieder etwas ganz anderes: Ob es darum geht, zum ersten Mal einen Hauskreisabend zu leiten, eine Klippe runterzuspringen, im Alter sein Leben loszulassen, im brennenden Gotthardtunnel einen kühlen Kopf zu bewahren, im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge zu retten oder im 21. Jahrhundert für Jesus auf die Strasse zu gehen; alle kostete es auf ihre Weise Mut. Und allen Beispielen ist gemeinsam: Immer sind es Wege, die diese Menschen noch nie zuvor gegangen sind.

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nie auf vergangene Erfahrungen oder allgemein gültige Prinzipien zurückgreifen, ausser auf die Tatsache, dass es schon gut kommt, wenn Jesus im gleichen Boot sitzt, oder aber, dass er rechtzeitig helfen wird, selbst wenn er dazu übers Wasser laufen muss. Als Christen in der Nachfolge Jesu sind wir zum Mutigsein verurteilt. Scheinbar liebt es Gott, uns immer wieder aus der Komfortzone herauszuschubsen. Im Bild vom Adler, der sein Nest auseinander zupft, seine Jungen aus dem Nest wirft und sie zwingt, fliegen zu lernen, kommt das ganz drastisch zum Ausdruck. Im Lied des Mose in 5. Mose 32,11 können wir aber auch von göttlichen Sicherheitsvorkehrungen lesen: Wenn die Jungen es noch nicht schaffen, kommen die Adlermutter und der Adlervater, werfen sich im Flug unter die stürzenden Jungen, fangen sie mit ihren Fittichen auf, tragen sie wieder hoch – bis die Adlerjungen es selber schaffen, den Aufwind zu nutzen und sich von ihm tragen zu lassen.

nicht auf, uns immer wieder aus dem ge­machten Nest zu werfen. Denn wie Adler dazu geschaffen sind, zu fliegen, sind Christen dazu (wieder)geboren, sich vom Aufwind des Heiligen Geistes tragen zu lassen. Bezogen auf das Thema «Mut» heisst das, dass wir den himmlischen Vater in jeder Lebenssituation, die er uns zumutet, mutig bitten dürfen, uns zu zeigen, wie wir hier und jetzt den Aufwind seines Geistes nutzen können. Und wir dürfen ihm durchaus immer wieder mal erlauben, unseren Flughorizont zu erweitern! Gott drängt niemanden von uns, von der Zinne des Tempels zu springen. Aber er gibt jedem von uns genügend und ange­ messene Gelegenheit, in den kleinen und grossen Begebenheiten des Alltags mit ihm das «Fliegen wie Adler» zu üben. Nehmen wir sie wahr! Ich wünsche Ihnen dazu Gelingen und wachsende Freude, sich über das Altbekannte hinauszuschwingen. Peter Höhn

Mit Gott fliegen zu lernen, sollte mit dieser Perspektive eigentlich schon ein bisschen weniger bedrohlich sein. Gott fängt uns auf! Aber er gibt gleichzeitig

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U M F R A G E

mut | was braucht mut?

Jemandem helfen, mit dem Risiko, selbst unter die Räder zu kommen

Mut?

Was braucht Eine Strassenumfrage

Irene Meier und Nicolai Schiess stellten Menschen in Zürichs Innenstadt zwei Fragen: 1. Was braucht Ihrer Meinung nach Mut in der heutigen Zeit? 2. Wofür brauchen Sie persönlich Mut?

1. Beziehungen eingehen 2. Meine Arbeit als Grenzwächter (Grenzwächter, 27)

1. Konsequent zu einer Meinung stehen 2. Fragen stellen bei Dingen, die mir unklar sind (Junge Frau, 19)

1. Zu Hilfe eilen, wenn eine Person im öffentlichen Verkehr angegriffen wird 2. Entscheidungen fällen (Rentner, 66)

1. Fehler eingestehen (zum Beispiel in der Politik) 2. Zu seinen Meinungen und Überzeugungen stehen (Sekretärin, 47)

1. Ungerechtigkeit der Welt zur Sprache bringen, zum Beispiel in der Presse 2. Die eigenen Grenzen erreichen, das eigene Potential ausschöpfen (Jurist, 35)

1. Jemandem helfen, mit dem Risiko, selbst unter die Räder zu kommen 2. In ein Flugzeug steigen (Rentnerin, 73)

1. Mutproben wie Bungeejumping usw. 2. Nein sagen, gegen den Strom schwimmen (Ernährungsberaterin, 28)

1. Extremsport 2. Zur eigenen Meinung stehen, gegenüber dem Lehrer oder der Kindergärtnerin (Mutter, Hausfrau, 37)

1. Alles stehen lassen und nach Südostasien gehen, um zu helfen 2. Persönlich brauche ich eigentlich nirgends Mut (Sekundarlehrer, 58)

1. Flexibilität 2. Mir einen Tritt in den Hintern geben, damit ich im Bereich Kunst etwas bewegen kann (Rentner, ehemaliger Art Director und Grafikdesigner, 73) 1. Sich für die Öffentlichkeit engagieren 2. Eine Familie haben (Bankangestellter, 37)

1. Anders sein als die Mehrheit, unangepasst sein 2. Frauen, die mir gefallen, ansprechen (Berater Werbeagentur, 27) 1. Extremsport 2. Im Mittelpunkt stehen, zum Beispiel bei einer Präsentation (Beraterin Werbeagentur, 26)

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• Irene Meier und Nicolai Schiess

1. Etwas tun, was nicht jeder tut 2. Auf jemanden zugehen und ihn ansprechen (Schülerin, 15) 1. Zivilcourage 2. Sich bei etwas durchsetzen (Kfm. Angestellter, 44)

MUT

1. Hinstehen für das, was du glaubst 2. Sich selbst sein, so wie man ist (Touristin, 31)

1. Einschreiten bei Schlägereien mit Rechtsextremen oder Leuten aus dem Balkan 2. Jemandem wehtun (Mann, 26)

1. Weniger egoistisch sein, zusammen- statt gegeneinander arbeiten 2. Den Leuten zum richtigen Zeitpunkt das Evangelium erzählen (Frau, 33)

1. Öffentlich etwas gegen hohe Politiker sagen 2. Vor anderen Leuten jemanden kritisieren (Publizistik-Studentin, 22)

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FREIERFALL

mut | «ich bin mir bewusst, was ich mache!»

Mut, nein zu sagen

Klippenspringer Daniel Locher 26 Meter im freien Fall – ohne Seil und Fallschirm. «Ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit», schwärmt Daniel Locher. «Die Faszination, in der freien Natur ins Wasser zu springen, die Ästhetik, das Finden von körperlichen und psychischen Grenzen reizt und fasziniert mich.» In der Fallzeit von drei Sekunden dreht er Saltos und Schrauben. Mit 90 Stundenkilometer taucht er elegant ins Wasser ein. Den Zuschauer packt entweder die Abenteuerlust, oder es läuft ihm kalt über den Rücken. Was für den Laien einfach aussieht, ist das Resultat von monatelanger, ja sogar jahrelanger Arbeit an Körper, Seele und Geist.

Renate Blum «Klippenspringen hat viel mit Disziplin, hartem Training und realistischer Selbsteinschätzung zu tun», erklärt mir Daniel Locher. «Ich muss meine Grenzen kennen, und ich muss auch den Mut aufbringen, auf einen Sprung zu verzichten, wenn

ich merke, dass ich nicht in der richtigen psychischen Verfassung bin. Wenn ich springe, weiss ich, dass ich das kann. Dann bin ich nicht übermütig. Immer wieder neu muss ich die Situation sorgfältig einschätzen und von Fall zu Fall entscheiden. Ich kann nicht denken: ‹Letztes Mal bin ich gesprungen, also muss es heute auch gehen.› Weil das Risiko bei einem Extremsport im Vergleich zu anderen Sportarten höher ist, ist es um so wichtiger, sich vernünftig einschätzen zu können. Unvernünftiger Mut ist Übermut. Wenn ich hinunterspringe, bin ich mir bewusst, was ich mache.»

Meine Art, Gott zu ehren Als 10-jähriger begann Daniel Locher mit dem Wasserspringen. Diese Sportart fas­ zinier­te ihn. Es dauerte nicht lange, und er wagte den Sprung vom Zehnmeterbrett. Dem ehrgeizigen Jungen gefiel es, regelmässig zu trainieren und sich an Wettkämpfen mit anderen zu messen. Einige Male wurde er Jugend-Schweizer­

• Der Theologiestudent Daniel Locher will andere Menschen anspornen, über Gott und das eigene Leben nachzudenken. 6

... was ich mache!»

«Ich bin mir bewusst, ...

• Synchrodive: Anlässlich des European Cliff-Diving Cups 2003 springen Daniel Locher und drei weitere Springer gleichzeitig in die Maggia.

Emotio­nen im Klippenspringen ausdrücken. Dass ich diese Fähigkeit auch nutze, ist meine Art, Gott zu danken und ihn zu ehren. Ich bin überzeugt, dass Gott mein Leben in der Hand hat. Das gibt mir eine tiefe innere Ruhe.»

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Zu Schwächen stehen

«Ich bin ein Typ», gesteht Daniel Locher, «der gut sprechen kann und gerne Pläne «‹Mut beweisen› tönt für mich nach Mut­ schmiedet. Wenn es aber ums Konkrete probe und Übermut», erklärt Daniel Logeht, versage ich oftmals. In meinem cher. «Das ist nicht mein Verständnis Um­feld habe ich schon etliche Leute von Mut. Mut hat für mich sehr viel mit enttäuscht, weil ich meine Ideen nicht Selbsteinschätzung zu tun: Wie gehe ich realisieren konnte. Ich unterstütze zum mit einer Situation um, die mit einem Beispiel meine Freundin nicht so, wie ich Risiko verbunden ist? Handle ich und es versprochen habe und bin nicht der überwinde meine Hemmschwellen, oder Freund, der ich eigentlich sein will. Dabei weiche ich zurück? Beim Klippensprinbringe ich nicht den Mut auf, über meigen zum Beispiel bin ich mir der Gefahnen eigenen Schatten zu springen und ren bewusst, die diese Sportart in sich meine egoistischen Züge in den Hinterbirgt. Deshalb trainiere grund zu stellen. Ich habe oftmals nicht « D a s , was jed ich auch oft. Beim den Mut, richtig zu haner Einze und die lne Springen habe ich deln, aus Angst, ich käme ganze G esellsch braucht a ft zu kurz, aus Angst, nicht zwar tiefen Respekt, , ist änderun Mut zur Veraber nicht Angst. genug zu bekommen. Da­g.» Ein anderes Beispiel bei lerne ich zu vertrauen, betrifft meine Glaubensüberzeugungen dass mir Gott das gibt, was und meine Ethik: Wenn ich unter Kolich brauche. Ich setze mich Gott aus, legen, die anderer Meinung sind, über nehme mich in meiner Schwachheit an meinen persönlichen Glauben und meiund bitte Gott um Vergebung. Leider gibt ne Wertmassstäbe spreche, brauche ich es dafür kein ‹Mitteli›, mit dem ich es Mut. Dadurch, dass ich mich oute, maschaffe und sagen kann: ‹Jetzt habe ich che ich mich anfechtbar und verwundbar es!› Hier brauche ich Mut, immer wieder und gehe ein Risiko ein. Die Gefahr ist zu probieren und nicht aufzugeben, nach hoch, dass ich als konservativ und langdem Motto: Der einzige Weg, nicht anweilig eingestuft werde. Stehe ich trotzdauernd auf allen vieren herumzukriedem zu dem, was ich für richtig halte? chen, ist, immer wieder aufzustehen.»

Hemmschwellen überwinden

meister und konnte an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Als Gymna­ siast und Jungscharleiter hatte er ge­nug vom zeitaufwändigen Training und dem ständigen Chlorgeruch der Hallenbäder. Ein Freund brachte den inzwischen 17-jährigen auf die Idee, es mit dem Klippenspringen zu versuchen. Daniel Locher lernte die Grundtechnik des Klippenspringens schnell und steigerte Schritt für Schritt die Sprunghöhe: Von Berns Brücken sprang er und später im Maggiatal im Tessin, wo die Hürde nun bei 20 Metern lag. Er verschaffte sich in der Szene immer mehr Respekt, und heute gehört Locher zu den Topten der Welt­­rangliste im Klippenspringen. Da­niel versteht sein Talent zum Klippen­ springen als Geschenk Gottes. «Andere können malen oder musizieren», sagt er, «ich kann mein Inneres und meine

Dabei ist mir wichtig zu wissen, dass ich ‹mutig sein› darf und meine Hemmungen überwinden kann, aber dass ich niemandem ‹Mut beweisen› muss.»

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«In der heutigen Zeit braucht es Mut, seinen eigenen Weg zu gehen», weiss Daniel Locher aus eigener Erfahrung. «Wir leben in einer Zeit mit einem Überangebot an Möglichkeiten. Auszulesen, was man machen will, ist nicht einfach, weil man sich damit auch zu etwas verpflichtet. Zum Beispiel muss ich meine Zeit sorgfältig planen, damit das intensive Training, mein Theologiestudium, die Gemeindeaktivitäten und die Kontakte mit Freunden nebeneinander Platz haben. Das, finde ich, ist auch gut so. Leider wissen heute viele nicht, was sie wollen. Es ist einfacher, sich im Fluss der Zeit und im Rausch der Gesellschaft treiben zu lassen als selber seinen Weg zu bestimmen.»

Mutig fragen «Das, was jeder Einzelne und die ganze Gesellschaft braucht, ist Mut zur Veränderung», sagt Daniel Locher. «Dabei meine ich nicht den Trend, immer etwas Neues ausprobieren zu müssen. Ich meine den Mut, sich selber in die Augen zu schauen und sich mit der Frage nach Gott auseinander zu setzen. Das ist es, was Mut braucht: Sich den existentiellen Fragen zu stellen und sich davor nicht zu drücken. Sich mutig zu fragen: «Wer bin ich und warum bin ich da? Was soll das Ganze?» Dabei wäre es meiner Meinung nach falsch, den Anspruch zu haben, es gebe die ultimative Antwort und die sei nicht mehr anfechtbar.» Die Qualitäten, die es braucht, um aus grossen Höhen zu springen oder im Alltag zu bestehen, sind für Daniel Locher vergleichbar. «Das Springen beeinflusst mein Leben und umgekehrt», sagt er. «Das verstehe ich als Ganzheit. Hier oder dort bin ich bemüht, mein Bestes zu geben und mich weder zu über- noch zu unterzuschätzen.» 7


A U Fge E F A N G E N

Andrea Badrutt | Chur

mut | wenn gott mich nicht aufgefangen hätte

«Wenn Gott mich nicht a f efangen hätte» u Ein Gespräch mit Bergsteiger Roland Peretti g Eisige Kälte, der Atemnebel vor meinem Gesicht scheint Bilder in die Luft zu zeichnen. Mühsam kämpfe ich mich durch dichten Nebel weiter, Schritt für Schritt. Das beklemmende Gefühl, nicht weiterzukommen, lässt mich nicht los. Da! Ein lautes Geräusch lässt mich zusammenzucken … der Wecker klingelt! Nein! Ich bin definitiv nicht der Typ, der sich auf solche Abenteuer einlässt. Wohl aber Bergsteiger Roland Peretti.

Andreas Boppart Das Restaurant, in dem wir uns über Mittag zum Gespräch treffen, ist glücklicherweise ein sicherer Ort, um über

Roland Peretti | Scharans

«Wie im Leben kann man auch in den Bergen das Risiko immer nur bis zu einem gewissen Grad kalkulieren.» Abenteuer und Beinahabstürze zu reden. «Als mutig würde ich mich nicht unbe­ dingt bezeichnen, viel eher als risiko­ freudig!», ist seine Antwort auf meine Frage nach seinem Mut. «Wenn es nur darum ginge, eine Woche in Alaskas karger Landschaft zu kampieren, dann könnte ich auch zu Hause bleiben!» Für Roland braucht es da schon ein wenig mehr Adrenalin. Deshalb wagte er sich im Mai 2001 mit drei Freunden auf eine fünfwöchige Tour durch Alaska.

Restrisiko «Ziel war es, eine Erstüberschreitung von vier Spitzen einer Bergkette zu schaffen», erzählt er so selbstverständlich, als stöberte er am H&M-Wühltisch nach Socken (mich lässt schon der Gedanke an einen Wühltisch leicht erschau­ dern). «Wir waren alle sehr gut trainiert und relativ fit.» Doch leider lief es nicht so, wie die Jungs sich das ausgedacht hatten. «Wie im Leben kann man auch 8

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in den Bergen das Risiko immer nur bis zu einem gewissen Grad kalkulieren», weiss der begeisterte Kletterer. Und er muss es ja wissen, nicht umsonst hat er vier Jahre in der Schweizer Nationalmannschaft mitgeklettert. «Bereits am zweiten Tag brach unter meinen Skiern auf einem Kamm ein Stück Schnee weg, worauf ich den Halt verlor und stürzte. Es ist ein riesiges Wunder, dass ich knapp unter der abgebrochenen Wächte auf einem kleinen Schneetisch zu stehen kam. Hätte ich das Gleichgewicht verloren, oder wäre am kleinen Plateau vorbeigestürzt, wäre ich mehrere hundert Meter über Stein und Fels in einer Gletscherspalte gelandet.» (Plötzlich könnte ich mich an meinem Wühltisch sogar wohl fühlen.)

Leichtsinn

Aufgeben

Sicherung

Der Schreck habe allen in den Knochen gesessen, dennoch hätten die vier Entdecker beschlossen, ihre Expedition durchzuziehen. «Wir waren schnell un­ter­wegs, verloren dann aber unglück­licherweise beim Abstieg vom ersten Berg einen Schlitten. Plötzlich hatten wir nur noch einen Kocher und ein Zelt. So konnten wir nicht wagen weiterzugehen. Den zweiten Berg mussten wir noch erklimmen, um das Basislager erreichen zu können. Für mich war das Aufgeben extrem hart. Ich habe es nicht leicht verdaut!»

Dankbar schnappe ich nach dem Stichwort «Leben». «Natürlich bin ich auch im Alltag gesichert unterwegs», beantwortet er meinen Bo«Glaube an Gott ist die genschluss zum allSicherung. Wie wir dann täglichen Leben. damit leben, das ist Mut!» «Ich stehe auf der richtigen Seite und setze mich fürs Richtige ein!» Schon als Roland davon erzählte, wie er in Alaska knapp am Tod vorbeigeschlittert war, spürte ich: Für ihn ist dieses Wunder nicht einfach Zufall gewesen. Roland lebt einen tiefen Glauben an Gott und

Wo er den Mut für solche Dinge hernehme, möchte ich erfahren. Roland: «Ich glau­be, ich kann gut mit Angst umgehen. Ich denk mir meistens einfach: ‹Los, das pack ich schon!›» – Ob er denn auch schon ohne Seile und Sicherung geklettert sei, will ich weiter wissen. «Nein, das wäre Leichtsinn; das Restrisiko ist einfach zu gross.» Mut und Leichtsinn lägen oft eng beieinander. Es sei zum Beispiel eher Leichtsinn gewesen, der dazu geführt habe, dass Roland mit seiner geliebten Ursi in den Flitterwochen mitten im australischen Outback gestrandet sei, nachdem das Benzin alle war. «Ich plane halt meistens einfach nicht so weit voraus, nehme das Leben, wie es kommt. Es ist dasselbe, wie wenn du in einer Wand hängst.»

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Andrea Badrutt | Chur

mut | wenn gott mich nicht aufgefangen hätte

Respekt Beeindruckt von dieser scharfsinnigen Antwort, hake ich nach, was ihm im Glauben wichtig sei: «Aus dem Glauben heraus zu leben und nicht aus mensch-

«Mut braucht es übrigens auch, an sich selbst zu arbeiten!» licher Initiative.» Natürlich möchte ich wissen, wo und wann er jeweils am meisten Mut aufbringen müsse, und denke dabei insgeheim an meinen längst anstehenden Zahnarzttermin. «Jedes Mal beim Klettern. Es ist das Spiel der Entscheidung: Gehe ich weiter, oder schlage ich eine Sicherung ein. Oftmals sieht es schwierig aus, wenn du weiter nach oben schaust. Je weiter du kletterst, desto weiter fällst du auch. In solchen Momenten steigt Angst in mir hoch, die es zu überwinden gilt. Wichtig dabei ist es, Respekt vor der Wand zu haben, aber dann doch mit Vollgas weiterzugehen!» 10

Entscheiden Total fasziniert bin ich von den scharfen Parallelen, die man als Zuhörer zum eigenen Leben ziehen kann. Doch Rolands Worte reissen mich bereits wieder aus den Gedanken. «Einmal arbeitete ich an einer schwierigen Erstbegehung, einer technischen Route. Kurz vor Schluss musste ich mich in der Wand entscheiden, ob ich nochmals eine feste Sicherung in den Fels bohren oder einen Zug weitermachen soll, mit dem Risiko, über 30 Meter tief ins Seil zu stürzen.» (Spätestens jetzt erfüllt mich der Gedanke an meinen H&M-Wühltisch mit tiefer Zufriedenheit.)

Sehnsucht Wie denn seine Frau Ursi mit dem verrückten Hobby ihres Mannes umgehen könne, versuche ich meine Neugierde zu befriedigen. «Sie schätzt es, dass ich was unternehme und nicht bloss zu Hause herumsitze. Sicher hat sie auch Respekt und macht sich manchmal Sorgen. Heiraten braucht übrigens auch Mut», fügt er dann noch verschmitzt hinzu, «und Vertrauen!» Und mit dem Älterwerden nehme die Sehnsucht nach Abenteuer nicht wirklich ab. «O. k., 26 Jährchen sind auch noch nicht wirklich ein gesetztes Alter – aber die Sehnsucht des wilden Mannes in mir nimmt eher noch zu. Ich

suche die Herausforderung.» Schon ist die Mittagszeit vorbei, und Roland zieht es hinaus, um sich bald wieder irgendwo in eine Wand zu hängen. Mit vollem Magen und gefülltem Kopf verlasse ich das Restaurant. Ob ich in meinem Leben vielleicht auch öfters mal einfach sagen sollte: «Los, das pack ich schon!»? Oder täte es mir vielleicht gut, ab und zu nicht allzu weit vorauszudenken und mutig und entschlossen in den Tag hinein zu leben? Ein beiläufiger Satz von Roland klingt noch Stunden später in mir nach: «Mut braucht es übrigens auch, an sich selbst zu arbeiten!» • Roland Peretti ist Schreiner und bildet sich zurzeit zum Sozialpädagogen aus.

• Andreas Boppart arbeitet als Prediger und Evangelist bei Campus für Christus und ist teilzeitlich als Sekundarlehrer in der Jugendstation «Alltag» tätig, einer Institution im Erziehungs- und Massnahmevollzug für Jugendliche mit Verhaltensschwierigkeiten.

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«Ich gla ube, ich kann gu mit Ang t st umge h e n. Ich denk m ir meist ens ‹Los, da s pack ic einfach: h schon !›»

Andrea Badrutt | Chur

erzählt, wie er das in seinem Leben erfährt. Ob denn der Glaube an Gott für ihn eher eine Sicherheit sei oder eher Mut erfordere, will ich wissen und entlocke ihm ein sympathisches Grinsen. «Glaube an Gott ist die Sicherung. Wie wir dann damit leben, das ist Mut!»


B E W A H R T

mut | durchs feuer gerettet

Durchs Feuer gerettet Urs Lüthi überlebte den Brand im Gotthardtunnel • In der sogenannten «roten Zone», wo die meisten Menschen starben, befanden sich 23 Fahrzeuge (13 Lastwagen, 4 Liefer-

24. Oktober 2001, 09.45 Uhr: Soeben hat man den Gotthardstrassentunnel wegen eines Unfalls geschlossen. Bei einer Frontalkollision zwischen zwei Lastwagen ist im Tunnel Feuer ausgebrochen. Wenige Minuten zuvor: Urs Lüthi passiert Kilometer zwei vor dem Südportal. Der Sozialarbeiter der Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau reist aus beruflichen Gründen ins Tessin. Heute Morgen soll er einen Jugendlichen in einer therapeutischen Wohngemeinschaft platzieren. Der Junge selber ist mit seinen Eltern gefahren. Obwohl öfters in Richtung Süden unterwegs, kann sich Urs Lüthi einer gewissen Beklemmung im Tunnel nie erwehren. Er merkt sich die Kilometerangaben und die Notausgänge und ist erleichtert, den Tunnel bald verlassen zu können. Da plötzlich stoppt die Autokolonne ...

Veronika Schmidt Eine Rauchschwade zieht daher, aber verschwindet wieder. Der Lastwagenfahrer hinter Urs Lüthi steigt aus und geht nach vorne. Kurz darauf rennt der Mann zu den vor Lüthi stehenden Autos, die sofort wenden und zurück nach Norden fahren. Der Lastwagenchauffeur kommt zu Urs und schreit: «Kehr sofort um, da vorne brennt‘s! Schau zu, dass du aus dem Loch rauskommst!» Dann springt er weiter.

Das Inferno Urs Lüthi will den Chauffeur nach seinem Wendemanöver mitnehmen. Doch der winkt ab; er werde durch den Notausgang verschwinden. Inzwischen haben andere Leute ihr Auto mitten auf der Fahrbahn stehen lassen. Urs versucht auszuweichen. Plötzlich bemerkt er im Rückspiegel, wie sich eine schwarze Rauchwand heranwälzt. Die Ventilatoren im Tunnel heulen ohrenbetäubend.

da packt ihn die Frau am Hals und schreit: «Halt, meine Tochter ist noch draussen!» Es ist stockfinster. Urs, der schon losgefahren ist, prallt nach wenigen Metern in ein stehendes Auto. Beim Aussteigen will er seinen Rucksack mitnehmen. Der verheddert sich mit der Gangschaltung und lässt sich nicht losmachen.

Die Zeit wird knapp Urs will die Frau überreden, mit ihm zum Notausgang zu kommen. Doch sie bleibt stehen und ruft verzweifelt nach ihrer Tochter, die weglief, um den Hund zu suchen. In der Dunkelheit fällt Lüthi hin, rappelt sich wieder auf. Nach 20 Metern trifft er auf den Lkw-Fahrer, der die Tür zum Notausgang aufhält und in die

wagen und 6 Autos), die sich teilweise gegenseitig beim Versuch behinderten, zu wenden oder rückwärts aus dem Tunnel zu entkommen.

Dunkelheit hinausschreit: «Hier ist das Loch, hier ist der Notausgang, kommt!» Urs Lüthi weiss, da sind noch Menschen im Tunnel, und er fängt an, laut mitzurufen. Kurz darauf taucht die Frau mit ihrer Tochter auf. Der Hund hat sich aus dem Halsband gerissen und ist verschwunden.

Haarscharf am Tod vorbei Ein weiterer Lkw-Fahrer kommt verzwei­ felt zum Notausgang. Sein Kollege ist zurückgerannt, um seine Papiere im

«Hier ist das Loch, hier ist der Notausgang, kommt!» • Der Brand im

Urs verlässt sein Auto und schaut nach den Notausgängen. Schon hüllt ihn die Rauchlawine ein. In Panik steigt er zurück ins Fahrzeug. Im selben Moment reisst eine wildfremde Frau hinten die Türe auf und springt in sein Auto. Urs will abfahren,

Gotthardtunnel forderte elf Todesopfer, unter ihnen der unfallverursachende Lastwagenfahrer. 12

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Lastwagen zu holen. Zu zweit eilen die beiden Fahrer im Notstollen zurück, um nach ihm zu suchen. Er sollte das Inferno nicht überleben. Nun erschüttern gewaltige Detonationen den Tunnel. Pneus und

Trotz der grossen Dankbarkeit zu leben, waren in Urs auch Fragen: Warum hatte er überlebt und andere nicht?

• Zur Zeit des Unfalls befanden sich etwa 500 Fahrzeuge

Tanks explodieren und lassen die Erde beben. In panischer Angst fliehen Lüthi und weitere Leute, so schnell sie können, im Notstollen Richtung Süden. Nach 20 Minuten sind sie am Tageslicht. Draussen wartet die Polizei, Helikopter fliegen ein, erste Feuerwehrautos fahren in den Stollen.

im Tunnel. Die meisten konnten von Norden her durch die Polizei geordnet im Tunnel gewendet werden.

Die Erinnerung Im Gespräch drei Jahre danach ist für Urs Lüthi alles noch unheimlich gegenwärtig. «Wir wurden gut betreut durch ein Careteam», erinnert er sich. Vom Zeitpunkt des Unfalls bis zum Austritt aus dem Tunnel war höchstens eine halbe Stunde vergangen. «Es kam mir ewig lang und unerträglich vor. Vom ersten Stressmoment an, als ich die Rauchlawi­ ne auf mich zukommen sah, funktio­nier­ te ich wie in Trance. Erst im Laufe des Tages, als wir die ersten Informationen erhielten, realisierte ich langsam, was geschehen war und was für extremes Glück wir gehabt hatten, aus diesem Inferno rauszukommen. Noch einige Zeit verfolgte mich das Geschehen in den Träumen und liess mich nachts aufschrecken. Die Geräusche und der Geschmack begleiteten mich lange.»

• Aufgrund der grossen Hitze (bis zu 1200 Grad, einer der Lastwagen hatte Pneus und Planen geladen) war eine

Warum habe ich überlebt? Was hat sich für den zweifachen Familienvater verändert? «In der kommenden Zeit erlebte ich mich extrem dünnhäutig. Der kleinste Anlass brachte mich zum Weinen. Zuinnerst in meinen Grundfesten war etwas erschüttert worden.» Trotz der grossen Dankbarkeit zu leben, waren in Urs auch Fragen: Warum hatte er überlebt und andere nicht? Es machte ihm Mühe, dass Menschen sterben mussten. Urs realisierte das Riesengeschenk eines zweiten Lebens: «Ganz neu erkannte ich den Wert meiner Familie, unseres super Freundeskreises und der Gemeinde. Es beschäftigte mich die Vergangenheit, was ich bis anhin gemacht hatte, und die Zukunft, was ich aus dieser Chance machen würde. Mir wurde bewusst, dass mein Leben endlich ist, dass ich heute leben will, richtig leben.»

«Lebe heute!» Das Ereignis hatte Auswirkungen auf die Familie und löste nach dem ersten Schock auch Verlustängste aus. «Die Art und Weise, wie wir einander adieu sagen und aus dem Haus gehen, hat sich verändert. Wir sind uns bewusst geworden, dass jeder Abschied ein endgültiger sein kann. Zudem beziehen wir Gott viel

stärker in alltägliche Dinge mit ein und erleben ihn konkreter.» Urs traf Entscheidungen. Er versuchte die biblischen Anstösse «Lebe heute», «Kaufe die Zeit aus», «Sorge nicht für morgen und übermorgen» konsequent in die Tat umzusetzen. «Anfänglich überlegte ich mir, mein ganzes Leben umzukrempeln. In Gesprächen mit der Familie und Freunden kam ich zur Einsicht, dass ich auch überlebt hatte, weil Gott mich in meinem gegenwärtigen Engagement in Beruf und Gemeinde braucht. Es sollte also weitergehen!» Urs entschloss sich, Beruf und Arbeit nicht grundsätzlich zu ändern, aber qualitativ sorgfältiger zu leben und keine Zeit mehr für unnötige Dinge zu verschwenden. Er begann, sich bewusst abzugrenzen und Prioritäten zu setzen, um mehr Zeit mit seiner Familie und seinem Freundeskreis zu verbringen. Er lernte, sich Zeit zu lassen, Ruhezeiten einzuplanen und bewusster Stille vor Gott zu verbringen: «Das war mir vor­her schon wichtig. Aber durch dieses Erlebnis vertiefte sich meine Beziehung zu Gott. Ich will so leben, dass ich kein zweites Gottharderlebnis brauche, um auf Gott zu hören.»

Annäherung an den Unfallort zu-

• Urs Lüthi (45) ist verheiratet mit Hanni

nächst nur

und hat zwei Töchter im Alter von 13 und

bis auf etwa

9 Jahren. Neben seiner Tätigkeit als Sozial-

300 Meter

arbeiter ist Urs Lüthi Leitungsmitglied der

möglich.

Chrischona-Gemeinde Schöftland. 14

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mut | «lass los, spring!»

«Lass los, Eine Lebensgeschichte

spring!»

Die zweiundachtzigjährige Elisabeth sitzt an einem der letzten sonnigen Herbsttage auf einer Bank an der Hauswand des Altersheims. Leichter Südwind spielt mit ihren weissen Haaren und gibt ihrer Haut eine gesunde rote Farbe. Ihre wachen braungrünen Augen betrachten das Wasserspiel, das gerade vor ihren Füssen munter vor sich hinplätschert.

sie Arbeitslehrerin. Sie hätte geheiratet, wenn sich etwas ergeben hätte; doch es kam anders. Elisabeth konnte loslassen, liess sich das Leben nicht vermiesen. «Hauptsache, ich habe gewirkt, wo Gott mich haben wollte», sagt sie sich. Und das tat sie, 38 Jahre lang.

Der Junge ist inzwischen zehnmal von einer Bank zur anderen gesprungen.

Der Dreijährige versucht unterdessen, von einer Bank auf die nächste zu springen. Er traut sich aber wieder nicht, bis ihm sein Vater die Hand erneut reicht.

Jetzt ist ihm langweilig geworden. Er sucht sich eine neue Herausforderung.

Mit dem Erreichen der Pension wurde es für Elisabeth wieder Zeit zu springen. Als Erbengemeinschaft verkauften sie nach sechzig Jahren ihre Häuser an der Hinter­

«Ja, immer wenn die Zeit für eine Veränderung da war, hat Gott mir den Mut geschenkt, loszulassen und zu springen.»

Elisabeth wurde es an der Bürenstrasse vorerst nicht langweilig. Aber nach zehn Jahren wollten sie ihre Beine nicht mehr in den dritten Stock hinauftragen. «Zeit zum Springen», sagte sie sich und zog in eine kleine Wohnung der Alterssied-

In Elisabeths Erinnerung taucht ein nächstes Bild auf: Wie sie «sprang» und ins Altersheim umzog, dankbar, dass es ihr hier bis heute möglich ist, noch diesen oder jenen Dienst zu tun. «Eigentlich dachte ich, ich hätte hier noch mehr Kraft für andere», sagt sich Elisabeth, als sie den Vater mit seinem Sohn weggehen sieht. «Aber inzwischen habe ich gelernt, dass die Hand eines Sterbenden zu halten oder ein freundliches Lächeln genügt.» «Ja, immer wenn die Zeit für eine Veränderung da war, hat Gott mir den Mut geschenkt, loszulassen und zu springen», fasst Elisabeth ihre Gedanken zusammen.

• Wasserspiel im Altersheim Schlössli in Pieterlen. Der Verfasser kennt Elisabeth «Nur Mut, Kleiner, es geht schon», mur-

Adrian Hofmann Da, etwas hat sie in ihrer Beschaulichkeit gestört. Sie dreht ihr faltiges Gesicht nach rechts und bemerkt einen dreijährigen Jungen. Der kleine Mann steht auf einer Bank und schickt sich an, auf die nahe Steinplatte zu springen. Er traut sich aber nicht. Immer wieder nimmt er Anlauf, doch kurz vor dem Absprung stockt er und bleibt stehen. 16

melt Elisabeth für sich. Nun überwindet der Bub seine Angst, aber erst, als sein Vater kommt und ihm die Hand reicht. Jetzt springt er zum ersten Mal. Und dann springt er wieder und wieder und lacht und springt. «So war es eigentlich auch in meinem Leben», sinniert Elisabeth. «Auch ich musste immer wieder vertrauen, loslas-

sen, springen!» Ihr Blick ruht weiter auf dem kleinen Jungen. Innerlich taucht sie in die Vergangenheit ein. Bilder kommen hoch, aus der Zeit, als sie an der Hintergasse wohnte, im Haus mit den grünen Jalousien und den sechsteiligen Fenstern. Damals war sie umgeben von einer fröhlichen Kinderschar. Im Dreierteam leitete sie eine Sonntagschule mit 120 Kindern. Der Diaprojektor war die grosse Attraktion. Während der Woche war cz 2|05

persönlich. Sie hat ihm kürzlich ihr selbst erlebtes Gleichnis erzählt.

gasse; Elisabeth zog weiter an die Büren­ strasse. Der kleine Haushalt füllte sie zeitlich nicht aus. So engagierte sie sich vermehrt in der Kirchgemeinde und besuchte Menschen im Altersheim. Gerade sonntags sassen dort viele allein herum, waren dankbar, wenn ihnen jemand aus einem Buch vorlas oder einfach zuhörte. cz 2|05

lung. Hier konnte sie die Wäsche abgeben, und das Einkaufszentrum war gleich um die Ecke. Das gab Zeit und Freiraum, sich weitere sechs Jahre für ihre Mitmenschen einzusetzen. Bis ihr auch dazu die Kraft fehlte. Der Junge ist unterdessen auf eine hohe Mauer geklettert und will jetzt von dort hinunterspringen. Sein Vater reicht ihm wieder die Hand.

Sie steht auf und spaziert langsam zum nahegelegenen Café hinüber. Ein Wort ihres himmlischen Vaters begleitet sie: «Jetzt aber bleibe ich immer bei dir, und du hältst mich bei der Hand. Du führst mich nach deinem Plan und nimmst mich am Ende in Ehren auf.» (Psalm 73,23–24)

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G E M E I N D E wurde man durch die offene Haltung der Verbandsleitung des ChrischonaWerks. In der Schöftländer Gemeindeleitung kam ein intensiver Prozess in Gang, vom «Profitum» wegzukommen und Menschen nach ihren Begabungen und Stärken einzusetzen. «In uns wuchs ein neues Verständnis von Leitung. Es konnte in unseren Augen nicht sein, das faktisch der Prediger allein die Gemeinde leitete. Wir erkannten, wie dadurch die meisten Gemeindeglieder unterwürfig und unselbständig geworden waren», erzählt Urs Lüthi. Man wollte sich deshalb als gleichberechtigtes Leitungsgremium verstehen, die Ressortverantwortungen gabenorientiert aufteilen und die theo­ logischen Dienstleistungen in Teilzeit «zukaufen». Die Folge waren jedoch vorerst heftige Auseinandersetzungen; einige verliessen das Team, worauf sich die jetzige Leitung bildete.

Von der Traditions- zur Laiengemeinde Wie eine Gemeindekrise zur Chance wurde Die Chrischona-Gemeinde Schöftland hat in den vergangenen vier Jahren einen un­ gewöhnlichen Weg beschritten, um aus einer tiefgehenden Krise herauszufinden. Ausschlaggebend waren Schwierigkeiten, die nach einem Predigerwechsel aufgetreten waren. Es ging um zwischenmenschliche Unstimmigkeiten, aber auch um unterschiedliche Auffassungen über Verantwortlichkeiten. Mitarbeiter zogen sich demotiviert zurück, wurden passiv oder verliessen die Gemeinde. Die Unzufriedenheit schlug sich bald in den Finanzen nieder: Innerhalb eines Jahres wuchs das Defizit um über 10 000 Franken. Leitungsmitglied Heinz Meier: «An unseren Sitzungen ging es nur noch ums Geld. Von Zielen – Menschen zu gewinnen oder Gottes Willen zu suchen – war keine Rede mehr!»

«Geschwister» geworden «Wir versuchten, uns ganz neu zu orga– nisieren. Einerseits wollten wir den Ge– meindebetrieb aufrechterhalten und Konflikte angehen, anderseits mussten wir neue Strukturen suchen», blickt Urs Lüthi zurück. Der Prozess unter den Leitern sei zu diesem Zeitpunkt sehr

Veronika Schmidt Die fünf heutigen Gemeindeleiter waren schon damals dabei, als die Auseinandersetzungen begannen. Als Berufsleute mit Führungsverantwortung regten sie Diskussionen an, das Predigtamt zu einem Teilzeitjob umzuwandeln, um so den Praxisbezug zur Arbeitswelt und zur Lebensrealität zu verbessern. Doch es konnte kein Konsens gefunden werden, worauf der Prediger die Gemeinde verliess. Urs Lüthi: «Wir bedauerten den Abgang des Predigers, weil wir sei«In uns wuchs ein neues ne theologischen Verständnis von Leitung.» Ressourcen gerne genutzt hätten. Im Rahmen seiner Gaben hätten wir uns eine weitere Zusammenarbeit durchaus vorstellen können.»

• Gemeindeleitung der Chrischona Schöftland (von links nach rechts): Urs Lüthi, Heinz Meier, Markus Brunner, René Thut und Albert Wöhrle. Man erlebt sich als gute Ergänzung verschiedener Charaktere, Gaben und als ei-

intensiv und wohl auch ein Schlüssel für das Gelingen gewesen. Heinz Meier: «Wir nahmen uns viel Zeit, um einander besser kennen zu lernen, durchlitten wichtige Versöhnungsprozesse und arbeiteten am gegenseitigen Vertrauen. Unsere Beziehungen erreichten eine solche Tiefe, dass wir einander im biblischen Bild ‹Geschwister› wurden. Wir lernten miteinander in Liebe um die Sache zu streiten. Diese Krisenzeit schweisste uns ernorm zusammen. So konnten wir in Einheit vor die Gemeinde treten und

«Ich erkannte, dass ich an Traditionen festhielt, die so gar nicht in der Bibel zu finden sind.» diesen Prozess auch an der Basis weiterführen.» Die Leiter gingen auf die einzelnen Gemeindeglieder zu und hörten auf Kritik und Vorschläge. Gemeindegespräche fanden statt, für die man externes Coaching beizog, um den Versöhnungsprozess zu unterstützen.

ne Mischung aus Vernunft, Erfahrung und Innovation. Nie hat eine einzelne Person die

Vom alten System geprägt

Führung. Alle arbeiten in ihren Berufen sehr

Nach und nach wuchs das Laienteam in die verschiedenen Aufgaben hinein, übte sich im Predigen und – nach Rücksprache mit der Chrischona-Leitung – in Taufen, Trauungen und Krankengebet. Natürlich musste man Vorbehalte, innere Hürden und Bilder bei sich selber und bei den Gemeindegliedern überwinden.

selbständig, sind Persönlichkeiten, die Führungsverantwortung wahrnehmen und ihre beruflichen Ressourcen in die Gemeinde einbringen. «Wir können das, weil die Gemeinde

Weg vom einengenden «Profitum»

es so akzeptiert, wir die Beziehungen geklärt

Die Leitung verfolgte nun die Idee des Laienpriestertums weiter. Bestärkt

haben und das Vertrauen da ist.»

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«Unsere Beziehu ngen er ten eine reichsolche T iefe, da einande s s wir r im bib lischen ‹Geschw Bild ister› wu rden.»

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Es fand ein eigentlicher Perspektivenwechsel statt. Albert (62), Leitungsmitglied, früher selber einige Zeit Chrischona-Prediger und Missionar: «Ich war vom alten System geprägt. Ich musste viele Vorstellungen fahren lassen, weil ich erkannte, dass ich an Traditionen festhielt, die so gar nicht in der Bibel zu finden sind. Mir wurde der Vorwurf gemacht, ‹einfach nachzugeben›. Aber das stimmte nicht. Ich sah die Notwendigkeit, über die Bücher zu gehen und alte Meinungen zu revidieren: über Frauen, die predigen und Abendmahl austeilen, oder über Laien, die taufen und trauen dürfen. Die entscheidende Denkentwicklung war: Weg von der Einpersonenleitung hin zu gottbegabter Menschenvielfalt, die den Leib Jesu darstellt und von ihm als Haupt durch den Heiligen Geist geführt wird. Nachträglich staunen wir, wie viel Vertrauen wir in Gott hatten, dass wir das schaffen könnten.» Heute hat die Leitung der ChrischonaGemeinde Schöftland nur noch wenige, effiziente Sitzungen. Der Schwerpunkt liegt auf dem persönlichen Austausch und dem Gebet. Die Eigenverantwortung in den Ressorts ist hoch, ebenso das Vertrauen in die Arbeit des Einzelnen.

Regionale Tuchfühlung ... Ein gutes Bild für den Gesundheitszustand der Gemeinde gibt die Generalversammlung. Anregungen der Basis 19

Gabi Mache

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sich sieht er den Auftrag in der Unterstützung der Geschwister und darin, einen Ort zu schaffen, «wo Menschen zu Hause sein und Kraft schöpfen können». Dieses Ziel zu erreichen ebenso wie der Auftrag nach aussen gaben ihm den Willen durchzuhalten. Mit 62 erlebt er einen barmherzigeren Gott und lernt, selber barmherziger zu sein. Ihn stellt auf, «dass ich nicht mehr beten muss, dass es besser wird, sondern dass ich danken kann, dass es besser geworden ist.»

Wurde früher geschwiegen oder unter der Gürtellinie geschossen, traut sich heute jeder, seine Meinung zu sagen und Ängste auszusprechen.

Laienpriestertum zieht Menschen an

• Die Gemeinde im Herbstlager

werden heute ernst genommen. Wurde früher geschwiegen oder unter der Gürtellinie geschossen, traut sich heute jeder, seine Meinung zu sagen und Ängste auszusprechen. Auch über das neueste Projekt eines Gemeindezusammenschlusses mit der Chrischona-Gemeinde Rued. Bestrebungen einer Zusammenarbeit mit drei anderen Chrischona-Gemeinden der Region gab es schon früher. So wurden etwa der Unterricht und die Seniorenarbeit zusammengelegt. Jetzt wollte man einen Schritt weitergehen: In dreijähriger, prozesshafter Arbeit wurde ein entsprechendes Projekt bis ins letzte Detail ausgearbeitet, den Gemeinden vorgelegt – und von diesen im September 2003 abgelehnt. Die «Schöftler» sehen das Scheitern vor allem darin, dass die anderen Gemeinden den Weg der Offenheit und Versöhnung noch nicht konsequent gegangen, aber auch von Sicherheitsdenken geprägt seien. Urs Lüthi: «Vielleicht war es ein Fehler, den Entscheid der Basis zu überlassen, da sich die Leitungen einig gewesen wären.»

zuführen. Abwechselnd finden an beiden Orten gemeinsame Gottesdienste statt, auch die Sitzungen werden zusammen abgehalten. Für Predigten und Abdankungen nutzt man die Mitarbeit von pensionierten Predigern. Für Seniorenarbeit und Predigtdienst ist eine Mitarbeiterin mit Chrischona-Ausbildung teilzeitlich angestellt. Noch ist die Sache nicht ganz ausgestanden. Kräftemässig ist man ziemlich am Anschlag. Heinz Meier: «Wären wir nicht ein so starkes Team, hätte es uns schon lange ‹verjagt›. Es ist ein Geschenk und reine Gnade von Gott, dass auch unsere Beziehungen und Familien noch ganz sind. Die Belastung war enorm.» Was ihnen den Mumm gegeben habe, durchzuhalten? «Der Antrieb für mich ist die Überzeugung und Hoffnung, dass es Gott gibt. Aufgeben wäre eine Art Bankrotterklärung gewesen», meint Urs Lüthi. «Es hätte für mich bedeutet, dass mein Glaube welt- und realitätsfremd ist. Wir haben viel darüber ausgetauscht und in Predigten thematisiert, wo wir stehen und wo Gott steht.»

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Die «Schöftler» Gemeinde hat sich zum Ziel gesetzt, wieder vermehrt in die Bevölkerung des Dorfes zu investieren. «Es ist uns klar geworden, das wir nur mit echtem Leben – in Liebe und Ehrlichkeit, aber auch in Kritik und Vergebung – unsere kirchenfernen Kollegen überzeugen können», sagt Heinz Meier. Die Gemeinde werde heute im Dorf stärker wahrgenommen. Die Menschen reagierten

Vieles hat sich in den vergangenen fünf Jahren verändert. Zahlenmässig steht die Gemeinde unverändert bei 30 bis 40 Gottesdienstbesuchern, einigen Kindern, einer grossen Jungschar und Jugendarbeit, an der auch viele Kinder aus dem Dorf teilnehmen. Die Gemeindeleiter bemü­hen sich, selber «ein offener Brief» zu sein. Durch das regelmässige Predigen erleben sie eine lebensnahe Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes. Im Wissen, dass Ehepartner und Kinder dasitzen, sind sie gefordert, abstrakte Richtigkeiten, Schein und Trug fallen zu lassen. Die Menschen kommen nun zwar mit Erwartungen in den Gottesdienst, aber nicht mehr mit überrissenen Ansprüchen. Der Um- und Aufbruch hat die Hauskreise und deren Autonomie stark gefördert. Der Austausch beim Kirchen-­

kaffee nach jedem Gottesdienst wird rege benutzt. Im Bereich der Jugendarbeit, des Kidstreffs und der Jungschar wird den Verantwortlichen viel Freiheit zugestanden. Die Gemeinde nutzt die gute Allianz und schickt ihre Leute in die Alphalive-Kurse der reformierten Kirche. «Wir glauben nach wie vor, dass es gut ausgebildete Vollzeiter braucht», meint Heinz Meier. «Die Frage ist, wie wir sie einsetzen. Wir suchen dafür eine motivierte, theologisch ausgebildete Fachkraft. Wir möchten eine gute Mischung mit gabenorientiertem Laiendienst herstellen.» • Stand der Chrischona Schöftland am Dorfweihnachtsmarkt

Die Gemeinde werde heute im Dorf stärker wahrgenommen. Kanzel und Schlagzeug im Gottesdienst organisiert heute den Kaffee, ist Fan der Mitarbeiterin und sitzt in der Vorprobe, wenn die Jungen spielen. Andererseits sagte kürzlich ein Teenager: «Wenn das bei euch möglich ist, könnte ich mir auch vorstellen, mal zu predigen.»

Leben weitergeben

Einen barmherzigeren Gott gefunden

Heinz erzählt davon, was Gott schon erreicht habe. Eine Kultur der falschen Scham sei eingestürzt, Krankheiten und Eheprobleme seien offengelegt worden

Albert hätte sein Engagement gerne schon seit längerem abgebaut. Doch dann wollte er die anderen im Prozess des Aufbruchs nicht im Stich lassen. Für

... mit Rückschlägen Natürlich sind sie enttäuscht. Über Jahre waren die Kräfte im Aufbau gebunden. Mit Rued geht die Zusammenarbeit vor­läufig weiter. Ziel ist es, die beiden Gemeinden in absehbarer Zeit zusammen­

und könnten nun behandelt werden. «Wir prägen als Gemeindeleiter, was wir selber vorleben. Wenn wir offen und praktisch Dinge aus unserem Leben und Alltag weitergeben und uns auf der Kanzel auch mal die Tränen kommen, schaffen wir die Voraussetzung, dass andere auch den Mut haben, etwas Persönliches zu sagen.» Eine andere Motivation waren Meiers eigene Kinder. «Ich will, dass unsere Jungen Gott anders erleben, als ich es früher konnte, ohne Zwang. Wir alle, auch die Senioren, machen Aha-Erleb­ nisse mit Gott. Der grösste Skeptiker gegenüber Kirchenkaffee, Frauen auf der

auf die geklärten Beziehungen. Der Struktur­abbau bringe Nähe zu den Menschen. Und daraus wachse auch ein Netz des Gebetes für die Menschen im Dorf.

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Brigitte Eggmann

Carl Lutz Carl Lutz

Für die Schweizer Diplomatie beginnt in Ungarn mit dem Zweiten Weltkrieg die sogenannte «Wahrung fremder Interessen». Dazu gehört die Betreuung fremder Staats­angehöriger in Ungarn, deren Rechtsschutz, das Pass- und Unterstützungswesen, die Heimschaffungen sowie der Schutz des fremden öffentlichen und privaten Eigentums. Im Januar 1942 nimmt Carl Lutz als Leiter des Büros für fremde Interessen seine Arbeit in Budapest als Vertreter einer ganzen Reihe alliierter und neutraler Staaten auf: der Schweiz, der USA und Kanada, Grossbritanniens, Belgiens, Jugoslawiens, Ägyptens, aber auch für Länder aus dem Mittelmeerraum, dem Balkan und Südamerika.

«Gerechte der Völker» Übermenschen oder barmherzige Samariter? Während der Zeit des Nationalsozialismus setzten zahlreiche nichtjüdische Männer und Frauen verschiedenster Nationalitäten ihr Leben, ihren Ruf und ihre Familie aufs Spiel, um Juden zu retten. Sie verstiessen gegen Gesetze oder umgingen sie. Überlebende des Holocaust in Israel ehren diese Menschen als «Gerechte der Völker». Nahezu 19 000 Menschen sind es bis heute, die in Jerusalem auf diese Art geehrt wurden. 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gehen wir mit vier kurzen Porträts den Fragen nach, was dies für Menschen waren, was sie antrieb und was es für Folgen haben konnte, während der Zeit des Nationalsozialismus jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, ihnen Nahrung und Kleidung zu besorgen, gefälschte Papiere zu verschaffen oder sie über Grenzen zu schmuggeln. Dazu wird auch der geschichtliche Hintergrund etwas aufgerollt.

Ungarns Juden Ungarn hat nach dem Ersten Weltkrieg bei den Friedensverträgen von Versailles über 70 Prozent seiner Vorkriegsgebiete, zwei Drittel seiner Bevölkerung und den grössten Teil seiner Bodenschätze verloren. Durch Bündnisse mit Hitler und Mussolini machen die ungarischen Regierungen bis 1944 einige dieser Verluste wieder wett. Als Gegenleistung wird Ungarn militärisch aufgerüstet, die antideutsche Opposition ausgeschaltet und verschiedenste Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung erlassen. 1941 leben in Ungarn rund 800 000 Juden. In immer grösserer Zahl werden sie aus • Budapest Ende Oktober/Anfang November 1944: Die Juden stehen vor der Abteilung «Aus­wanderung» der schweizerischen Gesandt­schaft Schlange, um sich einen Schutzbrief zu verschaffen. Polizisten tragen

• Carl Lutz über sein Motiv, gegen das Unrecht einzuschreiten: «Als Christ, der ich immer trachtete nicht nur dem Namen nach zu sein, hielt ich die Notlage und meine Position als Befehl des Gewissens, einen Weg zu finden, diesen Tausenden zum Tode Verurteilten beizustehen.»

ihren angestammten Berufen und Stellen entfernt und zur Zwangsarbeit für die ungarischen Truppen und für die Industrie verpflichtet. Diese für die Gesamtheit der ungarischen Juden aber noch nicht lebensbe­ drohende Lage ändert sich nach der deutschen Besetzung im März 1944 fast auf einen Schlag: jüdischer Besitz wird in grossem Masse eingezogen, Lebensmittel rationiert, jüdische Schriften verboten, der gelbe Stern eingeführt; und bereits zwei Monate später trifft der erste Zug mit ungarischen Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein. In Spitzenzeiten verlassen pro Tag 12 000 Juden, in Eisenbahnwagons gepfercht, Ungarn Richtung Vernichtungslager. Für das Internationale Rote Kreuz sind ungarische Juden zu dieser Zeit Teil der «Zivilbevölkerung für neutrale Staaten» ungarische Staatsbürger. Jede Intervention seitens eines Diplomaten würde als unerlaubte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns verstanden.

ein Kepi und lange Uniformmäntel, die Pfeilkreuzler Schiffchenmützen.

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Ein juristischer Trick Dank eines juristischen Tricks können

ungarische Juden jedoch zu ausländischen Staatsbürgern werden. Die Möglichkeit dazu bieten die sogenannten «Palästinazertifikate», die Lutz als diplomatischer Vertreter Grossbritanniens an den Leiter des Palästinaamtes der Jewish Agency weiterleitet. Moshe Krausz, ein ehemaliger Sportjournalist und Leiter des Amtes, organisiert die noch offiziell möglichen, wenn auch konzessionierten Auswanderungstransporte nach dem damals englischen Mandatsgebiet Palästina. Nach Lutz‘ und Krausz‘ grosszügiger Interpretation sind Inhaber dieser Zertifikate bereits Bürger des Landes Palästina und «dürfen» also von der Schweiz geschützt werden. Alle jüdischen Ungaren, die so ihren «Ausländer­status» belegen können, müssen weder den gelben Stern tragen, noch werden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet, die ab April 1944 faktisch die Deportation nach Auschwitz bedeutet. Endlich finden im Ausland Berichte über die Vernichtung in Auschwitz und anderen Lagern Gehör, ist doch im Juni 1944 bereits die Hälfte der ungarischen Juden deportiert worden. Diplomatischer Druck aus dem Ausland veranlasst die ungarische Regierung, die Deportationen zu stoppen. Trotzdem, das Schicksal der Juden Ungarns ist besiegelt. Gestapo und SS sind noch immer im Land und warten darauf, ihr tödliches Werk beenden zu können. Verantwortung «Wenn es so viele Länder gibt, die die Gesetze verletzen um zu töten, so darf es doch ein Land geben, das die Gesetze verletzt, um zu retten.» Mit dieser Be­gründung bekommt Lutz von der Schweizer Regierung endlich die Erlaubnis, die Auswanderung von 7000 unter Schweizer Schutz stehenden «ausländi­ schen» Juden durchzuführen. Mit spe­ ziellen Schutzzertifikaten, als Einzeloder Familienzertifikate ausgestellt, 23


mut | «gerechte der völker»

Vom damaligen EPD kommt kein Dank, sondern nur die Rüge, er hätte keine Schweizer Kollektivpässe ausstellen dürfen. Erst Jahre später, 1958, würdigt Bundesrat M. Feldmann, Vorsteher des EJPD, Lutz‘ Arbeit in Budapest. Carl Lutz wird 1964 zusammen mit seiner Frau Gertrud Lutz als «Gerechte der Völker» ausgezeichnet.

Hildegard Gutzwiller Hildegard Gutzwiller

• Schutzbriefe werden verteilt: Gegen 120 000 Juden verdanken schliesslich Carl Lutz, Raoul Wallenberg und weiteren Helfern ihr Leben, weil sie durch Schutzbriefe vor der Deportation bewahrt werden konnten und so überlebten.

1 1935 gründete

Ferenc Szálasi die Partei des nationalen

kann eine ganze Familie zusammen mit dem Zertifikatsinhaber die Ausreise beantragen. So übernimmt Carl Lutz in kürzester Zeit nicht nur für 7000, sondern schliesslich für rund 40 000 Juden die Verantwortung.

Willens aus der 1937 die Pfeilkreuzler entstanden. Sie übernahmen im Oktober 1944 die Führung einer Re-

Am 19. August 1944 entschliesst sich die ungarische Regierung, die Deportationen der Juden aus Budapest weiterzuführen. Lutz hofft, wenigstens 2000 Juden, die schon in einem Kollektivpass aufgeführt sind, nach Westeuropa schleusen zu können.

gierungskoalition, nachdem der Versuch der vorherigen Regierung unter Horthy, einen Separatfrieden mit den Alliierten zu schliessen, gescheitert war. (Deutsche Enzyklopädie)

Die Schwierigkeiten sind masslos, wie Lutz‘ Aufzeichnungen zu entnehmen ist: «Ein grosser Teil der zur Auswanderung bestimmten Juden, deren Namen bereits in den Kollektivpass aufgenommen sind, wurden durch Pfeilkreuzler1 abgeführt, die Passbescheinigungen der Betreffenden zerrissen und die Inhaber derselben an Orte auf freiem Feld konzentriert. Bei den drauffolgenden Dauermärschen fallen eine beträchtliche Anzahl durch 24

Krankheit und Erschöpfung aus ...» Oder: «Nachdem bereits alle in Frage kommenden Passbescheinigungen an die Inhaber verteilt worden sind, vernimmt die Gesandtschaft nun plötzlich durch die Tagespresse, dass diese Passbescheinigun­ gen nur Gültigkeit haben, wenn sie mit Lichtbild und Unterschrift versehen sind», schreibt er im November 1944 in einer Verbalnote der Abteilung für fremde Interessen an das ungarische Aussenministerium. Im Dezember ist Budapest, das auf Be­­fehl Hitlers bis zum letzten Mann ver­tei­ digt werden sollte, fast vollständig von der sowjetischen Roten Armee um­­zin­gelt. Der Kampf um die Stadt dauert bis Mitte Februar 1945. Eine Auswande­rung der in Budapest verbliebenen Juden wird je länger, je unmöglicher. Die politische Lage entgleitet der ungarischen Regierung völlig. Die bereits ausgestellten Schutzpässe reichen nirgends hin. Tausende werden gefälscht und verteilt oder zu hohen Preisen verkauft. Als die Fälschungen auf­ fliegen, ist das Grund genug, auch echte Schweizer Schutzpässe nicht mehr gelten zu lassen. Lutz, seine Ehefrau Gertrud und sein Team werden herangezogen, um

die Inhaber echter und falscher Schutzpässe zu trennen. Da die Schutzbriefe ihre Funktion nur noch mangelhaft erfüllen, wird die Funktion der insgesamt 76 Schutzhäuser umso wichtiger, wo schliesslich gegen 50 000 Menschen eingepfercht sind. Diese Häuser stehen unter dem Schutz der Schweiz und des IKRK und werden entsprechend gekennzeichnet. Zum Teil übernehmen junge Zionisten die Bewachung dieser Häuser, da sich die Pfeilkreuzler häufig nur durch Gegengewalt aufhalten lassen. Nach dem Fall Budapests erhalten Ende März alle Gesandtschaften die mündliche Aufforderung, das Land innert zwei Tagen zu verlassen. Die «ausländischen» Staatsbürger, die vorher unter Schweizer Schutz standen, müssen ihrem Schicksal überlassen werden. Es wird keine andere Schutzmacht ernannt. Carl Lutz, zwanzig weitere Schweizer Helfer sowie der katholische Nuntius mit seinem Stab müssen Ungarn am 6. April 1945 verlassen. Lutz‘ Einsatz für die Budapester Juden ist in der Schweiz nur wenig bekannt. cz 2|05

Hildegard Gutzwiller wächst in Basel auf und ist vor und während des Zweiten Welt­ krieges Oberin des Klosters der Herz-JesuSchwestern in Budapest. Zum Kloster ge­­hört eine Schule, und so ist sie für Hunderte von Kindern und Studentinnen der führenden Schicht Ungarns verantwortlich. Mit Hilfe ihrer Mitschwestern nimmt sie während des Krieges Flüchtlinge auf, darunter auch 40 Jüdinnen, die alle den Krieg überleben. Wie knapp allerdings, zeigt ein Ausschnitt aus ihren Tagebuch­ aufzeichnungen vom Winter 1944/45: 27. Dezember 1944 ... Ein ungarischer General kommt mit seinem Offiziersstab. Er belegt den Josefsgang. Sie sind sehr anständig. Wir werden täglich mit Gesuchen bestürmt. Immer gelang es bisher, die Besetzung mit Mannschaft zu umgehen. Das So­­ phia­­num steht unter dem Schutz der Nun­tiatur und der Schweizer Gesandtschaft. Diese Schutzbriefe halfen uns sehr während der Naziherrschaft. Im Kriegsfall können aber keine Gründe mehr geltend gemacht werden. 31. Dezember Die Schiesserei war in der Nacht bedrohlich nahe. ... Wir begeben uns zum General, um ihm ein gutes Jahr zu wünschen. Er beneidet die Schweiz und sagt, er bleibe auf seinem Posten. Man spürt die Verzweiflung, eine Stadt verteidigen zu

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sollen, die die doppelte Zahl von Bewohnern beherbergt und in keiner Weise zur Verteidigung vorbereitet ist. ... Bei uns sind nun 45 Kinder, im Vorraum der Waschküche rund 70 Flüchtlinge mit 10 Kindern, im Bügelzimmer 15 Studentinnen, im Vorraum der Heizung weitere 25 Aufgenommene, von der Klausur sind wir 57. Im Badezimmer leben Familien, zu denen noch «Englische Fräuleins» stossen. Im Ganzen hatten wir während der Belagerung für bis zu 250 Menschen zu sorgen, das kleinste Kind drei Monate alt, die älteste Frau achtzig Jahre. ...

20. Januar Grosse Fliegertätigkeit. ... Zwei Mächte bekämpfen sich in der schönen Hauptstadt von Ungarn, und alles geht dabei zugrunde. 25. Januar Grosse Freude: Agota, die junge Jüdin, kommt aus Zugliget zurück und bringt endlich Nachrichten von unserer Niederlassung jenseits der Donau. 82 Personen hätten dort überlebt ...

1. Januar 1945 ... Am Abend diese ersten Januartages ziehe ich vor dem Nottabernakel Bilanz: acht Volltreffer auf Nummer 19, zwei bis in den Keller hinunter. Ja, lieber Herr, wie ist das nun mit dem Vertrauen? 14. Januar Alle acht Minuten eine Kampfmaschine von morgens bis abends. Fünf Granaten ins zertrümmerte Haus. Ob wir wohl unser Glaubensleben noch einmal unter normalen Umständen führen dürfen?

• Hildegard Gutzwiller erhielt wie alle anderen Ausgezeichneten die Medaille des Yad Vashem Institutes, der Gedenkstätte für die Shoah in Jerusalem. Die hebräische Inschrift auf der Medaille heisst übersetzt: Wer eine Seele (eigentlich ein Leben)

17. Januar Sehr unruhige Nacht. Während der Messe dringen die ersten russischen Soldaten ins Haus. Sie zeigen sich freundlich, holen die ungarischen Soldaten ab. ... Zwei Strassen sind noch in deutscher Hand. Wieder tobt die Schlacht ums Sophianum herum. Wunderbarerweise kommen die Kämpfenden nicht in unsere Keller wie andernorts. 19. Januar ... Gott sorgt mit Liebe für uns. Die Verfolgten, denen wir das Leben retten konnten, sind sehr dankbar. ... Auf der Strasse werden Männer abgefangen. Deshalb wagt sich niemand hinaus. ... Viele Frauen und Mädchen suchen Zuflucht bei uns, und sei es nur für die Nacht.

rettet, rettet die ganze Welt. Rund 400 Deutsche, nahezu 80 Österreicher sowie etwa 30 Schweizer und Schweizerinnen sind damit ausgezeichnet worden.

Hildegard Gutzwillers Gesundheit ist zeit ihres Lebens fragil, aber die Mitschwestern beobachten, dass sie während der ganzen Zeit in den Trümmern des Klosters keine Migräneanfälle hat. Sie bleibt mit Unterbrüchen bis 1950 in Ungarn. Dann müssen sie und ihre Mitschwestern das Land infolge des sowjetischen Herrschaftsanspruches verlassen. Hildegard Gutzwiller wird 1995 als «Ge­rechte der Völker» ausgezeichnet. 25


mut | «gerechte der völker»

Schiff nach Palästina besteigen und so dem Holocaust entkommen.

Hermann Gräbe

Die Schweizer Konsulate in Triest, Venedig und Mailand nehmen es mit der Weisung aus Bern ebenfalls nicht so genau. Sie stellen mehr als 2800 Visa für österreichische Emigranten aus. • Grenzkontrolle und Grenzsperre an der Schweizer Grenze

Paul Grüninger Paul Grüninger

Polizeihauptmann Paul Grüninger weigert sich 1938, 3000 Juden, deren Pass mit einem «J» gestempelt ist, zurück­ zuweisen. 1938, nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, veranlasst die Zu­nahme der Fluchtbewegungen in die Schweiz die Schweizer Regierung, die Visumspflicht für Inhaber österreichischer Pässe wieder einzuführen. Gleichzeitig empfiehlt das Eidgenössische Justiz- und

Polizeidepartement in Bern, Flüchtlinge nur zurückhaltend aufzunehmen. In weniger als eineinhalb Jahren verlassen 150 000 Juden Österreich, viele in Richtung Schweiz. Mit der Begründung «das Boot ist voll» werden am 19. August 1938 die Grenzen zu Deutschland und Öster­ reich dichtgemacht. Flüchtlinge ohne Visum sollen und werden zurückgewiesen. In ganz unterschiedlichem Mass, die wenigsten im Alleingang, machen Menschen und Institutionen nicht mit. Dazu gehören Paul Grüninger, Recha

Sternbuch, Ernest Prodolliet, die israeli­tische Flüchtlingshilfe und ganze Gesandtschaften. Zusammenarbeit In Wien weiss man schnell, dass man bei Hohenems fast trockenen Fusses über den Rhein nach Diepoldsau in die sichere Schweiz kommt, dass es Grenzwächter gibt, die einem dabei helfen, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Hohenems die Schlepper organisieren, dass der Grenzübertritt in der Regel nachts erfolgt und dass anschliessend ein Anruf bei der israelitischen Flüchtlingshilfe eingeht oder eine Fahrt nach St. Gallen folgt. Recha und Yitzchak Sternbuch sind ein jüdisch-orthodoxes Ehepaar, das gezielt und planmässig Menschen in die Schweiz zu retten versucht. Recha Sternbuch versteckt Flüchtlinge in ihrer Wohnung und verhandelt mit der israelitischen Flüchtlingshilfe. Diese wendet sich an Grüninger, der eine weitere Ausnahme bewilligt, eine Bestimmung umgeht oder auch persönlich eine Abschiebung verhindert.

Recha Sternbuch wird 1939 verhaftet und sitzt für mehrere Wochen wegen Emigrantenschlepperei in Untersuchungshaft. Später verweigern die Behörden ihren Eltern das Einreisevisum aus dem besetzten Belgien in die Schweiz mit der Begründung, die Tochter habe schon einmal gegen fremdenpolizeiliche Gesetze verstossen. Anfang April 1939 trifft es auch Paul Grüninger. Er wird vorläufig seines Amtes enthoben. Schliesslich wird er wegen Urkundenfälschung und Amtspflicht­ verletzung vom Dienst suspendiert. Seine älteste Tochter findet bei der jüdischen Textilfirma Sternbuch eine Anstellung. Die Tochter eines Judenretters will niemand sonst anstellen.

Hermann Gräbe

Hermann Gräbe arbeitet als deutscher Unternehmer bei der Baufirma Jung aus Solingen. Als Ingenieur und Geschäftsführer der Firma ist er von 1941 bis 1944 in der Ukraine für die deutsche Reichsbahn tätig. Als Leiter der Zweigniederlassungen in der Ukraine kann er all sein Personal, das er benötigt, selber aussuchen und einstellen. Obwohl er 1931 auf Drängen eines Geschäftspartners der Nationalsozialistischen Partei beitritt, beschreibt er seine Haltung zum Nationalsozialismus später folgendermassen: «Ich marschierte nach meiner eigenen Melodie. Ich hatte nicht gelernt, politisch zu sein. Deshalb habe ich mich dem Nationalsozialismus weder aus ideologischen Gründen widersetzt, noch ihn aus diesen Gründen zunächst unter­ stützt. Ich geriet zu ihm in Opposition, als ich persönlich zum Zeugen seiner Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit wurde.» Nach kurzer Zeit verliess Gräbe die Partei wieder.

es ihm möglich, ein paar Hundert Menschen zu retten und die Vernichtung einiger Tausend hinauszuschieben. In den Riss zwischen Henker und Opfer zu treten, ist lebensgefährlich. Als der Reichskommissar für die Ukraine dem Gebiet im Juli 1942 einen Besuch abstatten will, wird Gräbe zwei Tage vorher von seinem Baustellenpolier Fritz Einsporn informiert, dass eine «Aktion» geplant sei: Alle im Gebiet von Rowno lebenden Juden sollten vernichtet werden; die zuständigen Reichsbeauftragten für jüdische Angelegenheiten wollten dem Reichskommissar als Geschenk die

• Unten links: Hermann Gräbe 1984 vor seinen Auszeichnungen durch Yad Vashem und den United Jewish Appeal. • Unten rechts: Hermann Gräbe mit Mitarbeitenden in der Ukraine ungefähr 1942. Eine seiner überlebenden Sekretärinnen stellte nach Kriegsende fest, dass viele Juden nur deshalb so lange gelebt hatten oder am Ende überlebten, weil Fritz Gräbe um Aufträge gekämpft hatte, um sie beschäftigen zu können, weil

In der Ukraine stellt er Juden als Arbeiter, Ingenieure, Sektretärinnen und in anderen Berufen ein. Auf diese Weise ist

er sie für die Arbeit angefordert, ihnen Papiere und Nahrungsmittel gegeben und sie an andere Orte umgesiedelt hatte.

• Paul Grüninger ungefähr um 1960. Er

• Paul Grüninger 1925, nach der Beförde-

kehrte nie in den Polizeidienst zurück.

rung zum Polizeihauptmann

Paul Grüninger wurde erst 1995 von der Schweizer Regierung rehabilitiert, aber schon 1971 von Israel als «Gerechter der Völker» aufgenommen.

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Recha Sternbuch bittet auch einen Schweizer Konsulatsbeamten in Bregenz, Ernest Prodolliet, dreihundert Flüchtlingen Schweizer Rückreisevisa aus­zustellen. Die Flüchtlinge benutzen diese Visa für die Durchreise nach Italien, von wo sie ein cz 2|05

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Kommentar Zum Retter geboren?

• Hermann Gräbe 1965 in Jerusalem beim Pflanzen seines Baumes in der «Allee der Ge­rechten» der Holocaust-Gedenkstätte. Die «Allee der Gerechten» ist den nichtjüdischen Rettern gewidmet, denen jedem zum Gedenken ein Baum gepflanzt wird. Einer der bekanntesten Deutschen, dem diese Ehre zuteil wurde, ist Oskar Schindler.

«Es war fürchterlich. Was sollte ich machen?! Als sie sich daranmachten, die verbarrikadierte Tür zu zertrümmern, entschied ich, dass ich keine andere Wahl mehr besass. Ich riss die Maschinenpistole aus meinem Mantel und machte ihnen sehr deutlich, dass ich schiessen würde, wenn sie nicht verschwanden. Sie schienen die Sprache der Gewalt zu verstehen, ich jedoch hatte fürchterliche Angst.»

Gegend «judenrein» übergeben. Vom Vorabend bis kurz vor sechs Uhr morgens steht Gräbe an einer Stelle Wache, wo ihn seine jüdischen Arbeiter aus ihren Verstecken in zwei Häusern des Ghettos von Rowno sehen können. Er befürchtet, dass seine Arbeiter aus Angst die Flucht ergreifen und ihr Leben so noch mehr gefährden könnten. Seine Gegenwart soll 28

sie beruhigen. Während der Nacht erscheint plötzlich ein Trupp ukrainischer Milizmänner an der Tür eines der Häuser, wo Gräbes Juden verborgen sind. Gräbe stürzt auf das Haus zu und schreit sie an, aber weil er kein Ukrainisch sprich, verstehen ihn die Milizionäre nicht. Gräbe sollte die schreckliche Szene niemals vergessen: «Es war fürchterlich. Was sollte ich machen?! Als sie sich daranmachten, die verbarrikadierte Tür zu zertrümmern, entschied ich, dass ich keine andere Wahl mehr besass. Ich riss die Maschinenpistole aus meinem Mantel und machte ihnen sehr deutlich, dass ich schiessen würde, wenn sie nicht verschwanden. Sie schienen die Sprache der Gewalt zu verstehen, ich jedoch hatte fürchterliche Angst.»

Diese und weitere Massaker setzen sich in seinem Gedächtnis und Herzen fest. Gegen Kriegsende kann er sich mit einigen seiner Schützlinge nach West­europa absetzen. Als einziger Deutscher sagt er 1945 bei den Nürnberger Prozessen gegen die SS-Einsatztruppen aus. Dafür wird er in Deutschland angefeindet und mit Morddrohungen überhäuft. Zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn, die beide während der Aktion in Rowno bei ihm zu Besuch waren, wandert er wenige Jahre nach Kriegsende in die USA aus, baut sich eine neue Existenz auf und wird 1965 als «Gerechter der Völker» geehrt. Erst 1986, nach seinem Tod, beginnt in Deutschland Gräbes Rehabilitierung.

Obwohl nicht immer völlig auszumachen ist, wie weit ihr moralisches Ver­ halten explizit christlich motiviert war, hebt sich die Handlungsweise eines Hermann Gräbe, einer Hildegard Gutzwiller, eines Paul Grüninger und eines Carl Lutz von der Vielzahl derer ab, die damals Täter oder Zuschauer waren. Als Retter waren sie weder Heilige noch Übermenschen, sondern hatten ihre Stärken und Schwächen. Carl Lutz zum Beispiel handelte direkt und sofort, die Impulse seines Gewissens waren ihm wichtiger als diplo­matische Erwägungen. Historiker und Journalisten sind sich über die Gesinnung Paul Grüningers (weil er ehemaliges Mitglied der pro-nazistischen «Nationalen Bewegung der Schweiz» war) nicht einig. Hermann Gräbe trat 1931 wider besseres Wissen und gegen den Widerstand seiner Frau, aber auf Drängen eines Geschäftspartners der Nationalsozialistischen Partei bei, die er später wieder verliess. Die sozialwissenschaftliche Arbeit von Perry London aus den frühen sechziger Jahren nennt drei wichtige Charaktereigenschaften, die das moralische Verhalten vieler Judenretter prägte. Perry London identifiziert sie als «Abenteuer­ geist», «Identifikation mit einem mora­­lisch starken Elternteil» und eine gewisse gesellschaftliche «Aussenseiterstellung».

Alle diese Eigenschaften lassen sich auch bei Carl Lutz, Hildegard Gutzwiller, Hermann Gräbe und Paul Grüninger finden, aber auch bei Recha Sternbuch, die als Jüdin selber für andere zur Helferin und Retterin wurde. Wie weit kann eine solche Haltung, die immerhin das eigene Leben kosten kann, erlernt werden? Huneke ist überzeugt, dass alle sieben Charaktereigenschaften trainiert werden können. Obwohl vermutlich kein einziger der er-

wähnten Retter je damit rechnete, in die oben beschriebenen Krisensituationen zu geraten, scheinen sie die genannten Eigenschaften kultiviert zu haben. Für Huneke ist das Üben von «Gastfreundschaft» eine herausragende Möglichkeit, uneigennütziges Verhalten zu erlernen. Er schreibt, dass die meis­­ten Retter, die zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in einer Kirchengemeinde aktiv waren, die Bibeltexte präsent hatten, die sich auf Gastfreundschaft bezogen, sei es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder auch Stellen wie Matthäus 25,40: «Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» Kaum je ein Mensch war aus dem Nichts heraus in der Lage, Hunderte oder Tausende Menschen zu retten, sondern nur wer zuvor in seine Aufgabe hineingewachsen war. Diese Vorbereitung geschah jeweils nicht durch unbeteiligtes Nachdenken, sondern durch aktive Auseinandersetzung und durch eigenes Engagement. Menschen, die in vielen konkreten Situationen unterscheiden lernten zwischen menschlichen Gesetzen und dem, was sie als das Gesetz Gottes verstanden, haben zur rechten Zeit auch die Kraft gefunden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. (be)

Verwendete Literatur • Carl Lutz Werner, Johann-Markus: Konsul Carl Lutz, Im Dienste der Menschlichkeit. Lizentiatsarbeit. Tschuy, Theo; Carl Lutz und die Juden von

Schliesslich kann er fast alle seiner 120 Juden dem Massaker entreissen. Die übrigen werden umgebracht.

Douglas K. Huneke, dessen ausgezeichnetes Buch «In Deutschland unerwünscht» Grundlage des Kurzporträts über Hermann Gräbe war, arbeitete insgesamt sieben unterscheidbare Charakterzüge eines menschlichen Retters während des Zweiten Weltkrieges heraus: 1. Sie waren ausgestattet mit mit­ fühlender Vorstellungskraft. 2. Sie stellten sich kritischen Situationen und blieben darin Herr der Lage. 3. Sie waren fähig, Strategien für ein zielbewusstes Leben zu entwickeln und zu erproben. 4. Sie machten schon vor dem Krieg entscheidende persönliche Erfahrungen mit Leiden und Tod. 5. Sie konnten gesellschaftliche Vorurteile prüfen und mit ihnen umgehen. 6. Sie bauten eine Gemeinschaft zur Rettung von Menschen auf. 7. Sie schufen den Opfern ein wohlgesinntes Umfeld.

Budapest. Verlag Neue Zürcher Zeitung, 1995 • Hildegard Gutzwiller

willer, eine mutige Christin, die Juden rettete.

• Hermann Gräbe

Kanisius Verlag, 1998

Huneke, Douglas K.: In Deutschland uner-

• Paul Grüninger Keller, Stefan: Grüningers Fall. Geschichten von

wünscht! Hermann Gräbe – Biografie eines Judenretters. Brunnen Verlag, 2004

Flucht und Hilfe. Rotpunktverlag Zürich, 1993, Action Fall 5763/2002

Gutzwiller, Jörg: Sanfte Macht. Hildegard Gutz-

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C O U R A G E

mut | zivilcourage

Politische Kultur ohne Maulkörbe Seit 25 Jahren treffen sich Parlamentsmitglieder während der Session der eid­genössischen Räte zu gemeinsamen Besinnungen. Alfred Aeppli, evangelischreformierter Pfarrer in Jegenstorf, gehört zum überkonfessionellen Team, das die­-

Zivilcourage Keine Angst vor freier Meinungsäusserung Es gibt Menschen, die mit innerer Notwendigkeit für ihre Sache einstehen. Ihre persönliche Bestimmung prägt ihr Denken und Fühlen, Reden und Tun. Sie lassen sich nicht einschüchtern und können nicht mundtot gemacht werden. Unerschrocken treten sie auf, um die Welt zum Guten zu bewegen. Man sagt, sie hätten Zivilcourage.

Pfarrer Alfred Aeppli So wirken sie zumindest von aussen ge­sehen. Aber im Herzen sind solche Menschen oft geplagt von Zweifel und Angst. Einer von ihnen war der Prophet Jeremia. Als ihn seine Parteikollegen, die Priester und Propheten am Königshof in Jerusalem, wegen seiner Verkündigung um­­brin­­­gen wollten, antwortete er (Jeremia 26,12–13): «Der Herr hat mich gesandt. Nun also, bes­sert euer Verhalten und euer Tun, und hört auf die Stimme des Herrn, eures Gottes!» Die Berufung auf den göttlichen Auftrag und seine couragierte Verteidigung haben Jeremia damals das Leben gerettet. Es wur­de eine Volksversammlung einbe­ rufen, und die Meinungsführer kamen zum Schluss, dass man den Propheten nicht beseitigen, sondern auf ihn hören sollte. Jeremia konnte weiter wirken. Aber er litt sehr unter seinem Amt und wünschte sich einmal sogar, dass er nie geboren wäre. Doch wenn er wieder vom Heiligen Geist erfüllt wurde und Gottes Wort sich einstellte (Jeremia 15,16), er­lebte er, dass 30

er durch Gottes Zuspruch gestärkt und ermutigt wurde. So wagte er wieder zu reden, auch wenn seine Bot­schaft von den Mächtigen abgelehnt wurde. Die Zeiten sind glücklicherweise vorbei, als in der Schweiz jemand wegen einer pointierten Aussage mit der Todesstrafe rechnen musste. Aber immer wieder wollen bestimmte Gruppierungen jene Mutigen zum Schweigen bringen, die

Ich bin dankbar für Männer und Frauen mit Zivilcourage, die aus einer tiefen Liebe und hohen Achtung gegenüber allen Menschen ihre Stimme erheben. unbequeme Wahrheiten aufzeigen oder sich nicht parteikonform verhalten. Ich betrachte solche Versuche als Zeichen der Schwäche. Wer sich selbst sicher ist, muss niemandem einen Maulkorb umhängen. Im Gegenteil: Innere Grösse zeigt sich an der Bereitschaft, von den Andersdenkenden zu lernen. Tragfähige Entscheidungen beruhen darauf, dass verschiedene Meinungen angehört und positiv gewogen werden. cz 2|05

Ich plädiere für eine politische Kultur ohne Maulkörbe und ohne Stimmenzwang. In einem solchen Klima können Regeln für unser Zusammenleben erarbeitet werden, die breit abgestützt sind. Und dann brauchen wir auch heute noch Frauen und Männer, die wie der Prophet Jeremia von Gottes Geist erfüllt sind und mit Zivilcourage auftreten. Solche Menschen hören auf die zarte Stimme Gottes und vertreten mit innerer Überzeugung, was sie im Gebet und in der Stille an Einsicht gewonnen haben. Jeremia konnte nicht anders als weitersagen, was er als Gottes Stimme vernommen hatte. Unerschrocken mahnte er (Jeremia 7,5–6): «Ihr müsst euer Leben und Tun gründlich ändern! Geht gerecht miteinander um; nutzt nicht Fremde, Waisen und Witwen aus; vergiesst nicht das Blut unschuldiger Menschen! Lauft nicht den fremden Göttern nach, die euch ins Unglück bringen!» Die kritischen Themen sind bis heute die gleichen geblieben: • Gerechtigkeit im täglichen Umgang, in der Geschäfts- und Arbeitswelt • Achtung und Offenheit gegenüber den Fremden • Unterstützung der sozial Schwachen und Benachteiligten • Achtung jedes Menschen und niemals Unschuldige eigennützig schädigen • Aufrichtige Gottesfurcht, ohne irgendwelchen Götzen nachzulaufen

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se Impulse am Mittwochmorgen verantwortet. Im gegenwärtigen politischen Um­feld werden Parlamentsmitglieder we­gen ihrer unabhängigen Meinungs­ äusserung zunehmend von ihren Par­­tei­en diszipliniert. Das war für Aeppli der Anlass, mit der hier (leicht gekürzten) abgedruckten Besinnung vom

29. September 2004 zu einer «politischen Kultur ohne Maulkörbe» aufzurufen. Eine Botschaft, die man auch ausserhalb des Bundeshauses hören darf, nämlich überall dort, wo Menschen miteinander unterwegs sind, um gemeinsam nach konstruktiven Lösungen zu suchen.

Es braucht auch heute noch eine innere Motivation, um sich pointiert für diese Anliegen einzusetzen. Ein solches Engagement braucht allerdings eine Wurzel in der persönlichen Überzeugung. Wer sich hinauswagt, braucht eine verborgene Quelle der Kraft. Der Apostel Paulus beschrieb diese Quelle äusserst knapp mit der Formel: «Christus ist mein Leben.» Er meinte damit die innere Verbundenheit mit dem auferstandenen Christus und das vom Heiligen Geist erfüllte Herz. Ich könnte es nicht besser sagen. Wer sein Leben auf Christus gründet, hat eine tragfähige Basis, um mutig aufzutreten. Er wird sich nicht von Menschenfurcht leiten lassen, sondern aus Gottesfurcht handeln.

Engagement, das auf einem starken Fundament des christlichen Glaubens beruht. Ich bin dankbar für Männer und Frauen mit Zivilcourage, die aus einer tiefen Liebe und hohen Achtung gegenüber allen Menschen ihre Stimme erheben. 2500 Jahre nach Jeremia haben die Worte des Propheten ihre Aktualität behalten. Er liess sich von oben inspirieren. Tun Sie das auch heute, zum Beispiel mit einem stillen Gebet, wenn Sie die Schritte zum Rednerpult gehen müssen.

• Pfarrer Alfred Aeppli ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. In seinem ersten Beruf war er als Dr. sc. techn. in der landwirtschaftlichen Forschung

Liebe Mitglieder der eidgenössischen Räte, ich plädiere für ein politisches

tätig.

25 Jahre Besinnung unter der Bundeskuppel 1979 wurde die Bundeshausandacht von EVP-Nationalrat Otto Zwygart ins Leben gerufen. Seither finden sich regelmässig zwischen 15 und 30 Parlamentsmitglieder aus allen Parteien zum geistlichen Input und Gebet ein. Ver­anstalterin ist die «überkonfessio­ nelle Gruppe der Bundesversammlung», die zurzeit vom Aargauer EVPNationalrat Heiner Studer und vom Bündner CVP-Ständerat Theo Maissen präsidiert wird. Gemäss einem Interview mit der Zeitung Südostschweiz

sieht Maissen den Wert dieser Besinnung vor allem darin, dass «sie dem besseren gegenseitigen Verständnis dient» und «zu einer Streitkultur beitragen kann, die von persönlichen Verletzungen absieht.» Jeweils am Schluss einer Legislatur werden die Besinnungstexte veröffentlicht. Die ak­ tuelle Ausgabe der Reihe «Besinnung unter der Bundeskuppel» kann gratis bezogen wer­ den unter der Adresse: Zentrales Sekretariat der Parlamentsdienste, 3003 Bern. E-Mail: zs.kanzlei@pd.admin.ch 31


mut | «herr, zeig mir meine motilonen!»

den Mut für irgendein verrücktes Unterfangen «für den Herrn» anzueignen, sondern betend zu fragen, zu wem Jesus mich denn senden möchte. Zunächst hörte ich nicht viel, aber das Gebet gab mir innere Ruhe.

«Herr, zeig mir meine Motilonen!»

Mut, den nächsten Schritt zu tun Nicht viel später wurde ich aufmerksam auf das Gebetsseminar «Herr, lehre uns beten». Man führte diesen Kurs damals in vielen Gemeinden und Kirchen für die Vorbereitung der Aktion Neues Leben (ANL) in Basel und Zürich durch. Obwohl im Kanton Bern zu dieser Zeit noch keine ANL in Sicht war, fand ich, ein Gebetsseminar täte unserer Gemeinde gut. Gedacht, getan, ich stiess in der Gemeinde

Warum Gott auch einen Menschen wie mich brauchen kann Kennen Sie die verrückte Geschichte von Bruce Olson? Vom 19-jährigen Draufgänger, der sich völlig allein in den Dschungel Venezuelas wagte? Er hat sich in den Kopf gesetzt, den wilden Motilonen das Evangelium zu bringen, einem Stammesvolk, das mit jedem, der ihr Gebiet betritt, kurzen Prozess macht und ihn gleich mit ihren Giftpfeilen durchsiebt! Olsons umwerfend spannende Story liess mir das Blut mehr als einmal gefrieren. Aber ich fühlte mich auch ziemlich elend, als ich mit dem Buch «Ich schwör‘s bei diesem Kreuz, ich töte euch!» zu Ende war. Woher nimmt man bloss diesen Mut? Was war ich doch für ein weicher Kerl, der schon beim Gedanken an einen einfachen Strasseneinsatz Herzklopfen bekam!

«Habe ich dich nicht bis heute getragen?»

Peter Höhn Ich war damals etwa 25 und hätte gerne etwas Profiliertes für Jesus getan, aber schien für die wirklichen Aufträge im Reich Gottes offensichtlich ungeeignet. Bis es eines Abends auf einem Spaziergang plötzlich über mich kam und ich mich beten hörte: «Herr, zeig mir meine Motilonen!»

Mut zu beten

peterschaeublin.com

Ich war selber überrascht über dieses Ge­bet; fand es noch gut, so zu beten. Es war wie eine Eingebung. Und ich bekam eine andere Perspektive. Ich merkte, dass es nicht darum ging, sich 32

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auf offene Ohren und durfte den Kurs anbieten. Später stellte ich den Gebetskurs auch anderen Kirchen und Gemeinden in Burgdorf vor und konnte ihn in der evangelischen Landeskirche und in drei weiteren Freikirchen durchführen. Ein Jahr später wurden meine Frau und ich angefragt, ob wir uns nicht eine vollzeitliche Mitarbeit für die Aktion Neues Leben bei Campus für Christus vorstellen könnten. Wir sollten mit­helfen, dass Christen aus allen Kirchen in den Grundlagen des Glaubens zugerüstet und befähigt würden, in ihre Berufung zu finden und selber das Evangelium wieder anderen weiterzugeben. Inzwischen haben wir das seit 22 Jahren auf vielfältige Art getan, mit zeitweiligen Wüstenzeiten und doch mit ungebrochener Begeisterung. Gott hat uns unsere Motilonen gezeigt! cz 2|05

Mut, dranzubleiben In den vergangenen Jahren gab es auch etliche Phasen, in denen ich durchhing. Hatte ich damals einen fatalen Fehler gemacht, mich «dieser frommen Orga­ni­­sation» Campus für Christus anzuschliessen? Wäre ich nicht gescheiter in einem bodenständigen Beruf geblieben? Wer garantiert mir überhaupt, dass ich motiviert und meine Existenz bis zum Ende gesichert bleiben würde? – Und dann kamen die anderen Gedanken, göttliche Gedanken, die mich ermutigten: «Habe ich dich nicht bis heute getragen?»

Mut, das eigene Feld zu beackern Gott hat mich während dieser Wüstenzeiten schliesslich immer wieder zurück zu meinem eigenen Lebensacker geführt. Er hat mir deutlich gemacht, dass ich nicht berufen bin, fremde Äcker zu pflügen. Aber den, der vor meinen Füssen liegt, zu sehen, anzunehmen, hin­ einzuknien und Gott zu vertrauen, dass er hier auf diesem gewöhnlichen Boden etwas Originales, IHN Ehrendes wachsen lässt.

Mut, geradeaus zu blicken Mut hat in der Bibel nie den Klang von kopflos kühnem Unternehmungsgeist für den Herrn. Der «alte» Petrus hat uns gezeigt, wo das hinführt. Vielmehr geht es darum, mich mutig, glaubensvoll und mit ganzem Herzen dort zu engagieren, wo Gott mich hineingestellt hat. Ob das nun in der Schule, am Krankenbett, in der Industrie, hinter dem Computer, im Verkauf oder in der Kirche sei. Nicht neidisch nach links oder rechts zu schielen, sondern geradeaus zu blicken und das,

was ich sehe, anzupacken. Dann werde ich spüren, dass Gott mir den notwendigen Mut dafür bereits tief ins Herz gepflanzt hat.

Jesus im eigenen Herzen trauen Das französische Wort für Mut, Courage, kommt von coeur (Herz). Mutig sein heisst beherzt denken, reden und handeln. Paulus betet für die (gläubigen!) Epheser, «dass der Christus durch den Glauben in ihren Herzen wohne» (Epheser 3,17)! Das ist eine noch viel zu wenig beachtete Dimension des Christseins. Sie bedeutet, dass wir damit rechnen sollen und auch darum beten dürfen, dass wir es fassen können: Jesus wohnt in meinem Herzen! Was ich im glaubensvollen Aufblicken zu ihm in meinem Herzen vorfinde, das darf ich freimütig aussprechen und durch mein Tun ausdrücken. Genau dazu will Gott uns Mut machen! Und genau dazu wird er sich früher oder später auch stellen, nicht nur bei einem Bruce Olson, sondern auch bei gewöhnlichen Menschen, wie Sie und ich es sind. 33


WEIL DU ES SAGST «Weil du es sagst, Herr!» Die Bibel – und Alltägliches – zum Thema Mut Mut hat im Lauf der Zeit immer mehr die Bedeutung von Unerschrockenheit und Kühnheit bekommen. Heute, im Zeitalter der Risikosportarten, ist noch ein weiterer Aspekt dazugekommen, nämlich die Bereitschaft, sich absichtlich (und oft auch fahrlässig) in Gefahr zu begeben. Früher deckte der Begriff «Mut» ein wesentlich anderes Bedeutungsfeld ab und bezeichnete vor allem innere Kraft und Gesinnung, Herz und Gemüt eines Menschen. Noch in diesem Sinn gebrauchte etwa Martin Luther das Wort im alten Kirchenlied: «Komm, Heiliger Geist, Herre Gott! Erfüll mit deiner Gnaden Gut Deiner Gläubigen Herz, Mut und Sinn.»

Peter Höhn Wer wünschte sich nicht mehr Mut? Doch wo und wie ist er zu haben? Im Be­­stehen von möglichst waghalsigen Abenteuern oder im tieferen Erfassen dessen, was Mut eigentlich ist? Lassen Sie sich auf eine biblische Entdeckungsreise mitnehmen, die zeigt, wie wir echte Herzensstärke gewinnen können! Denn wie sich «courage» vom lateinischen Wort «cor» (Herz) ableitet, so bedeutet auch Mut im ursprünglichen Sinn schlicht Beherztheit.

Verschiedene Arten von Mut Als menschliche Wesen müssen wir uns ständig mit unterschiedlichsten Herzens- und Gemütsbewegungen auseinander 34

setzen, die in unserem Inneren kämpfen. Sie zeigen, welche innere Einstellung und welche Empfindungen wir unseren Mitmenschen, unserer aktuellen Situation,

Der Ermutiger schlechthin ist der Heilige Geist, der uns als Tröster, Fürsprecher, Zuspruchgeber und Beistand geschenkt ist (Johannes 14,16). uns selbst und auch Gott gegenüber hegen. Sie beschreiben, in welchem Sinne wir im Moment oder auch im Kern unseres Wesens -mutig oder -mütig sind. Dazu eine Aufstellung: • demütig: eigentlich «niedrig». Jesus sagt von sich, dass er «sanftmütig und von Herzen niedrig ist» (Matthäus 11,29-30) und dass wir diese Gesinnung, die den anderen höher achtet, von ihm lernen sollen. cz 2|05

mut | «weil du es sagst, herr!»

• sanftmütig: das griechische Wort im Urtext («pra-ys») hat dieselbe Wurzel wie unsere deutschen Worte «Freund» und «freundlich». • langmütig: kann auch «weitherzig» bedeuten. Langmut gehört (wie auch die Sanftmut) zur Frucht des Geistes in Galater 5,22-23 und ist eine Gesin­nung, die anderen Raum und Zeit lässt. • einmütig: meint eine Gesinnung, die gemeinsam ein Ziel verfolgt. Sie kann positiv (Apostelgeschichte 2,46; Römer 15,6) oder negativ gefärbt sein (Apostelgeschichte 18,12). • hochmütig: meint eine stolze und überhebliche Gesinnung. (Römer 1,30; Lukas 1,51; 1. Timotheus 6,17). • kleinmütig: wörtlich «kleinseelig». Das beschreibt eine Gesinnung von Menschen, die in sich selbst unsicher und ungefestigt sind. Sie sollen ermutigt und getröstet werden (1. Thessalonicher 5,14). • wankelmütig: eigentlich «zweiseelig». Das Wort bezeichnet eine innere Zerrissenheit. Jakobus 4,8 sagt: «... reiniget die Herzen, ihr Wankelmütigen». • freimütig: wörtlich «alles sagen könnend». Eine zum offenen Reden be­ freite Gesinnung. Wir dürfen wie Paulus und die Apostel um diese Freimütigkeit beten, um das Evangelium ungehindert und treffend verkündigen zu können (Apostelgeschichte 4,29; Epheser 6,19). Es gibt noch weitere Formen von -mut, wie etwa den Missmut von Jona (Jona 4,6), die Anmut der Worte von Weisen (Prediger 10,12) oder den Unmut, den wir nicht herausplatzen lassen, sondern aus unseren Herzen entfernen sollen (Sprüche 29,11; Prediger 11,10). Ein zentraler Begriff im Neuen Testament ist das Ermutigen oder Zusprechen («parakalein»), das in den deutschen Über­setzungen mit «ermahnen» cz 2|05

Den kleinen Schritt tun Die Anfrage, ob ich etwas zum Thema «Mut» schreiben könnte, kam für mich total überraschend. «Warum gerade ich?», fragte ich mich. Ich bin nicht gerade mutig. Schon in meiner Kindheit vermied ich es, bei Mutproben dabei zu sein. Auch in meinem Erwachsenenleben bin ich nicht die Mutigste. Ich sehe mich nicht als eine Persönlichkeit, die grosse Reden halten oder kühne Taten vollbringen kann. Oft sehe ich mich nur als ein kleines Fischlein in einem grossen Schwarm. Und doch gibt es auch für mich Situationen, in denen ich Mut brauche. Auch bitte ich Gott immer wieder, mir Mut zu geben. Ganz besonders vor neuen und unbekannten Herausforderungen. Vor ein paar Jahren zogen wir mit unserer Familie in das Dorf, wo wir jetzt leben. Nach kurzer Zeit ging ich zum ersten Mal in meinem Leben in einen Hauskreis. So etwas kannte ich vorher nicht; doch ich dachte, ich würde gerne Leute kennen lernen und auch mehr vom Glauben erfahren. In jenem Hauskreis war es so, dass jeweils reihum jemand für die Vorbereitung ver-

(1. Thessalo­nicher 5,11), «ermuntern» (Hebräer 3,13) oder «trösten» (2. Korinther 1,4-6) wieder­gegeben wird. Der Ermutiger schlechthin ist der Heilige Geist, der uns als Tröster, Fürsprecher, Zuspruchgeber und Beistand geschenkt ist (Johannes 14,16). Lernen wir, seine Stimme immer besser wahrzunehmen, das heisst zu spüren, wozu er uns gerade jetzt den Mut gibt! Auch die Entmutigung gibt es in der

antwortlich war. Viel zu schnell kam ich an die Reihe, den Abend zu Hause vorzubereiten und dann das Treffen zu leiten. Leiten, das hiess, Lieder auszuwählen, einen Text zu lesen und ein Gebet zu sprechen. Ich dachte mir: «Das kann ich nicht, ich bin nicht so gut wie die andern. So was habe ich noch nie gemacht!» So suchte ich alle möglichen Ausreden. Und doch, irgendetwas in mir sagte, ich solle es doch versuchen. Schliesslich sagte ich zu. Doch zu Hause kamen Zweifel. Aber ich spürte: Gott wollte mir etwas zeigen, nämlich dass jeder Mensch mit seinen Worten und seinem Herzen Gott loben und ehren soll; und nicht mit den Worten der anderen, die «es besser können». An diesem ersten Hauskreisabend war ich sehr nervös. Wollte ich doch alles richtig machen. Aber alle Angst war umsonst. Gott brauchte mich so, wie ich war. Er wusste genau, wann es Zeit war für neue Schritte. Nach diesem Abend merkte ich, dass ich mit Gottes Hilfe noch viele kleine, aber auch grosse Schritte wagen konnte. Gott braucht nicht nur Leute, die vorne stehen, Gottesdienste leiten. Er braucht auch kleine Fischlein, die im Hintergrund für ihn arbeiten und ihm dienen. Silvia Seiler

Bibel. 5. Mose 20,8 spricht davon, dass furchtsame Männer, statt in den Krieg zu ziehen, lieber zu Hause bleiben sollen, um nicht die Herzen ihrer Brüder verzagt zu machen. Aus den vielfältigen biblischen Aussagen geht hervor, dass wir unseren Gemütsbewegungen nicht wahllos ausgeliefert sind, sondern mit Gottes Hilfe eine innere Einstellung entwickeln können, die Gott ehrt und dem Leben dient. 35


mut | «weil du es sagst, herr!»

Was Mut nicht bedeutet Mut hat in der Bibel nie den Klang von Eigenmächtigkeit oder kopflosem Risiko. Im Gegenteil: Wir werden gewarnt vor dem «Sprung von der Zinne» (Lukas 4,9-12), vor der Vermessenheit, das uns von Gott zugeteilte «Mass des Glaubens» zu überschreiten (Römer 12,3; 14,23). Auch das Verharren in der Verstocktheit des ei­­genen Herzens hat mit Mut nichts zu tun.

Worauf wir unseren Mut gründen dürfen

• Weil Gott uns an bereits Vollbrachtes erinnert. «In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und sprach: Sei guten Mutes! Denn wie du meine Sache in Jerusalem bezeugt hast, so musst du sie auch in Rom bezeugen.» (Apostelgeschichte 23,11) • Wenn wir Etappenziele erreichen. «Aber wir bauten weiter an der Mauer; und die ganze Mauer wurde bis zur Hälfte

geschlossen, und das Volk hatte Mut zur Arbeit.» (Nehemia 3,38) • Wenn wir die Gegenwart von Glaubensgeschwistern erfahren. «Und von dort kamen die Brüder, als sie von uns gehört hatten, uns ... entgegen; und als Paulus sie sah, dankte er Gott und fasste Mut.» (Apostelgeschichte 28,15) • Wenn wir auf den Herrn harren. «Seid stark, und euer Herz fasse Mut, alle,

die ihr auf den Herrn harret!» (Psalm 31,24) • Wenn wir am Wort Gottes dranbleiben. «Nur sei sehr stark und mutig, dass du darauf achtest, zu tun nach dem ganzen Gesetz, welches mein Knecht Mose dir geboten hat. Weiche nicht davon ab zur Rechten noch zur Linken, auf dass es dir gelinge überall, wohin du gehst.» (Josua 1,7)

• «Du bist ein begnadeter und gesegneter Mensch mit einer göttlichen Berufung.» (Epheser 1,3.6.18) • «Du hast nicht einen Geist der Verzagt­­heit bekommen, sondern der Kraft der Liebe und der Besonnenheit.» (2. Timotheus 1,7)

Wenn wir uns in der Tiefe von diesen Zu­­sprüchen der Gnade Gottes ergreifen lassen, wird unser Herz fest werden (Hebräer 13,9). Nicht weil wir etwas ge­tan haben, sondern weil ER gesprochen hat.

Mut ist eine Entscheidung

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Ab und zu alleine einen Spaziergang zu machen, tut mir sehr gut. Dabei kann ich meinen Ballast bei Gott abwerfen, und wenn niemand in hörbarer Nähe ist, tue ich das am liebsten laut. Nachher bin ich frei, zu hören oder einfach nur die Natur und die frische Luft zu geniessen. Über längere Zeit machte ich diese Spaziergänge auch abends nach der Arbeit. Eines Tages wurde mir jedoch mulmig zumute, als ich darüber nachdachte, ob es nicht doch ein bisschen fahrlässig sei, im Halbdunkel allein übers Feld zu spazieren. Da kam mir eine – soviel ich weiss wahre – Geschichte in den Sinn. Es ging um eine Frau, die immer wieder mal alleine ein abgelegenes Wegstück gehen musste. Eines Tages wurde sie als Zeugin vor Gericht geladen, weil an jener Stelle schon mehrmals Frauen von einem Mann belästigt und tätlich angegriffen worden waren. Der mutmassliche Täter wurde gefasst und vor Gericht gefragt, ob er diese Frau kenne. Er be­stätigte, dass er sie öfters dort habe vorbeigehen sehen. Auf die Frage, weshalb er diese Frau nie angegriffen habe, antwortete er: «Sie hatte immer einen grossen schwarzen Hund dabei!» Von diesem Hund wusste die Frau nichts. Aber sie war gläubig und hatte jeweils bewusst um den Schutz Jesu gebeten.

So spazierte ich also und dachte: «Wenn Jesus diese Frau so beschützt hat, kann er das doch auch bei mir!» Von da an fühlte ich mich sicherer im Wissen, dass ich nicht alleine war und jemand auf mich aufpasste. Obwohl ich gar kein Hundefreund bin, fand ich es doch angenehm, von «einem unsichtbaren grossen Hund» begleitet zu werden. Einmal, an einem Sonntagnachmittag, waren wohl alle Leute mit ihren Hunden unterwegs. Ich beobachtete, wie sich die Hunde gegenseitig beschnupperten, anbellten oder miteinander rauften. Mir war plötzlich nicht mehr so wohl. Ich wollte doch nicht, dass die anderen Hunde «meinen Hund» anbellen würden! Da kam mir in den Sinn, dass Jesus verschiedene Seiten hat, so auch die eines kleinen Schäfleins. Also, dachte ich, könnte ich ja auch mit meinem Schaf an der Leine spazieren! Und dieses Schaf würde in seiner Friedfertigkeit sicherlich auch aufgeregte Hunde beruhigen! Ich musste schmunzeln und hatte das Gefühl, dass die entgegenkommenden Leute mich etwas verdutzt ansahen. Was ich nur allzu gerne wissen möchte: Sahen sie wohl mein süsses Schäflein? Yvonne Reiss

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Ein festes, getrostes, mutiges Herz wächst aus dem Überwinden unserer Ängste. Deshalb gebraucht die Bibel statt «Sei mutig!» viel häufiger die Formulierung «Fürchte dich nicht!» Zwar nicht 365-mal, wie immer wieder behauptet wird, aber doch rund 180-mal. Im Buch Josua bringt Gott beides zusammen: «Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Erschrick nicht und fürchte dich nicht! Denn mit dir ist der HERR, dein Gott, wo immer du gehst.» Es ist Gottes Befehl – und darin liegt auch immer Gottes Verheissung –, dass wir furchtlos und mutig werden sollen. Denn je mehr wir Gottes Liebe erfassen, umso mehr wird alle Furcht aus unserem Herzen vertrieben (1. Johannes 4,18).

Mut durch Demut Insgesamt zeigt die Bibel, dass der Weg zu wahrem Mut über die Demut führt. Allerdings über richtig verstandene Demut! Nämlich über die Einsicht, dass ich als Mensch mich nicht selbst mutiger machen kann. Aber dass mein Mut im Vertrauen auf Gottes Beistand wachsen wird. Wahre Demut heisst, sich nicht mehr selbst zu beurteilen und zu verurteilen, sondern sich unter das zu beugen, was Gott in seinem Wort über mich sagt: • «Du bist ein geliebtes Kind Gottes.» (Epheser 5,1) • «Du warst zwar ein Sünder, aber jetzt bist du gerecht geworden durch Jesu Blut.» (Römer 5,9) cz 2|05

Gabi Mache

Mit Jesus an der Leine

Wahrer, Gott wohlgefälliger Mut entwickelt sich in einer engen Glaubens- und Gehorsamsverbindung mit Gott. Jesus sprach seinen Jüngern und den Menschen, die bei ihm Hilfe suchten, oft Mut zu. Und er sagte ihnen auch, weshalb sie, und auch wir heute, mutig sein dürfen: • Weil Jesus die Welt überwunden hat. «In der Welt habt ihr Drangsal; doch fasset Mut, ich habe die Welt überwunden.» (Johannes 16,33b) • Weil der Herr uns nicht verlassen noch versäumen wird. «Daher sind wir ermutigt zu sagen: Der Herr ist mein Helfer, ich werde mich nicht fürchten; was soll mir ein Mensch tun?» (Hebräer 13,6) • Weil Gott durch Jesus unsere Sünden vergeben hat. «Jesus sagte zu dem Gelähmten: Fasse Mut, Kind! Deine Sünden sind vergeben.» (Matthäus 9,2) • Weil wir Jesus vertrauen und uns in allem an ihn wenden. «Jesus aber wand­ te sich um, und als er sie sah, sprach er: Sei guten Mutes, Tochter! Dein Glaube hat dich geheilt. Und die Frau war geheilt von jener Stunde an.» (Matthäus 9,22) • Weil Jesus auch übers Wasser laufen kann. «Fasst Mut! Ich bin es, fürchtet euch nicht!» (Markus 6,50b) • Weil Jesus uns ganz persönlich ruft. «Und Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn! Und sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Sei guten Mutes! Steh auf, er ruft dich!» (Markus 10,49)

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mut | melanie – dem leben trauen

gut tat, und machte sich auch auf die Suche nach all dem, was ihr gut tat.

Kampfgeist entdecken Eine zweite Fähigkeit, die Melanie bei sich zu entdecken begann, war ihr Kampf­-

jedoch immer weniger zu und achtete stattdessen mehr auf die Zusagen des Herrn, darauf, wie er sie sah und sieht. Jesus tröstete sie, ermutigte sie und zeigte ihr auf unterschiedlichste Art und Weise, dass er mit ihrem Ringen nicht über-

zum Beispiel Menschen angesprochen oder sogar zu et­was herausgefordert hatte! Am meisten erstaunt und überrascht hat sie mich jedoch, als sie eines Tages kam und mir erzählte, sie würde gerne einen Sprachkurs in England besuchen!

fordert war, dass er ihr begegnen konnte und kann, ohne dass bei ihr eine Angst vor Nähe aufsteigen muss.

Das hiess für sie, erstmals allein zu fliegen, in ein Land zu reisen, das fremd war, sich in einer Sprache zu verständigen, die sie nicht gut beherrschte, völlig neuen Leuten zu begegnen, mit der Gefahr des Versagens im Sprachkurs zu leben und nicht einfach heimfahren zu können, wenn es zu viel würde. Mit Gottes Ja und Sicher­heitsmassnahmen für alle mög­­lich­en Ab­­sturz­situationen im Gepäck machte sie sich auf die Reise und kam erfolgreich wieder! Melanie lebte lange im Bann von Angst und Selbstverachtung, aber hat mit Gottes Hilfe begonnen, ihrer – und Gottes – Sehnsucht nach dem Leben zu trauen und wandert heute zunehmend freier durch ihr Leben.

Melanie – dem Leben trauen Margit Eichhorn über Schritte aus Angst und Selbstverachtung

Margit Eichhorn

Gabi Mache

«Ich hatte einen Traum von einem Turmspringer, der vom Fünfmeterbrett sprang, und alle Menschen jubelten ihm zu. Er bekam alle Anerkennung, alle schauten auf ihn, und dann trainierte er für den Sprung vom Zehnmeterbrett, und er wird es schaffen. Und ich? Ich stand vorm Einmeterbrett und schaffte nicht einmal dies und werde es nie schaffen, und die Leute ...» Melanie1, die mir ihren Traum erzählte, kam nun schon eine Weile in die Beratung. Sie weinte, war traurig und frustriert, dass sie diesen so «kindischen» Sprung vom Einmeterbrett einfach nicht schaffte, ja nie schaffen würde. Dabei war sie nicht körperlich behindert und hatte keine Angst vor dem Wasser, aber ihr fehlte ganz einfach der Mut oder die Hoffnung, dass sie es jemals schaffen könnte.

Als ich Melanie vor Jahren zum ersten Mal traf, war sie eine Frau in ihren besten Jahren. Sie wirkte jedoch unscheinbar, schüchtern, traurig und energielos. Hätte ich sie damals gefragt, ob sie eine mutige Person sei, hätte sie klar nein gesagt. Heute schaut die Sache völlig anders aus! Mit einem verschmitzen Lächeln gab sie mir die Erlaubnis, ihre Geschichte zu erzählen.

genügt, und lebte entsprechend. Als sie Jesus kennen lernte, fühlte sie sich anfänglich zwar freier. Mit der Zeit konnten sich jedoch die alten inneren Stimmen und Bilder wieder Gehör verschaffen, und jetzt sagten sie ihr, dass sie ja auch gegenüber Gott immer wieder versage und er sie ja für nichts einsetzen könne. Dabei hätte sie doch so gerne auch erfolgreich sein, etwas für Gott tun und ihm dienen wollen. Nur gelang es ihr nie in einem zufriedenstellenden Ausmass.

Alltagsbewältigung meistens die ganze Kraft von Melanie aufgebraucht. Und nun gelang es im Lauf der Jahre, diese Sehnsucht nach mehr, eigentlich die Sehnsucht nach Leben, freizulegen, und Melanie fing an, dieser Sehnsucht zuzu­hören. Anfänglich zeigte sich diese Sehnsucht nur darin, dass sie sich zu ärgern

Angst als ständige Begleiterin

Sehnsucht nach Leben

Melanie hatte in ihrem Leben so manche Niederlage erlitten. Ihre Jugend war überschattet gewesen von schwierigen und schmerzvollen Erlebnissen im engsten Familienkreis. Seit eh und je war Angst ihre ständige Begleiterin, und schon früh begann sie sich als jemand zu sehen, die nichts kann, nicht wertvoll ist, nicht

Im Lauf unserer Beratung konnte Melanie aus diesem Gefängnis zeitweise ausbrechen und geht inzwischen immer seltener wieder dorthin zurück. Im eingangs erwähnten Traum kam für mich die erste wichtige Fähigkeit für diesen Ausbruch zaghaft zum Vorschein: ihre Sehnsucht nach mehr. Diese Sehnsucht trug entscheidend zur Veränderung bei. Früher hatten die Hürden der gewöhnlichen

begann, wenn sie bei schönem Wetter wieder Überstunden machte und sich nicht zu fragen traute, ob sie frei­haben könne. Sie begann mehr wahrzu­nehmen und zu spüren, wenn Begegnungen beängstigend wirkten. Sie verurteilte sich immer weniger, wenn wieder Flashbacks (blitzartig auftauchende, negative Erinnerungssegmente) auftauchten und sie nicht mehr reagieren konnte. Sie bemerkte, spürte, nahm wahr, was nicht

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Name geändert 38

Eine zweite Fähigkeit, die Melanie bei sich zu entdecken begann, war ihr Kampf­geist.

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g­ eist. «Ich kann üben, was ich will, es nützt ja eh nichts ...», drückt zwar den Frust über die mangelnde Veränderung aus, lässt aber auch die Kraft des Kampfgeistes durchschimmern. Dem gingen wir nach und fanden viele Situationen, wo Melanie eben nicht aufgegeben hatte oder nach einer Enttäuschung nicht liegen geblieben war. Je mehr wir diesen ge­sunden Kampfgeist identifizierten, desto kleiner wurden Melanies Frustration, ihre Angst vor Neuem und die Abwertung ihrer selbst. Denn Madame Selbstverachtung war stets mit hundertprozentiger Sicherheit überall dort zur Stelle, wo Melanies Erwartungen nicht erfüllt wurden, die eigenen wie auch die der anderen, wo sie einen Fehler machte oder wieder einmal nicht so belastbar oder nicht so begabt war wie andere. Sehr machtvoll konnte ihr die Selbstverachtung immer wieder sagen: «Du bist eine Versagerin, du bist nicht belastbar, du schaffst das sowieso nie!» Melanie hörte ihr nun cz 2|05

Träume verwirklichen In dieser wachsenden Sicherheit und An­nahme ihrer selbst gewann die Sehnsucht nach Leben wesentlich mehr Raum, und Melanie begann zu träumen – ein erstes Zeichen von Mut. Eines Tages kam sie in völlig neuer, modischer Kleidung hereinspaziert und war sogar noch geschminkt! Dabei strahlte sie bis über beide Ohren. Dann entschied sie sich, nach zwanzig Jahren erstmals wieder mit Freunden Ski fahren zu gehen. Sie fing an, für sich allein kleine Reisen in die nähere Umgebung zu unternehmen. Da­neben begann sie Begegnungen mit Menschen zu gestalten, tauchte nicht mehr ab in Rückzug und Fluchtgedanken, sondern zeigte Interesse an anderen Leuten. Mehrmals war ich sehr berührt, wie sie erzählte, was sie so im Lauf einer Woche erlebt, wie sie

• Margit Eichhorn ist klinische und Gesundheitspsychologin und arbeitet bei Agape Österreich im Institut für Lebensgestaltung.

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LEBENSMUT

mut | lebensmut – und was dazugehört

2. Der gesunde Entwicklungs­- prozess Letztlich gehe es darum, eine Perspektive zu gewinnen und zu verstehen, wie Gott sich die gesunde, menschliche Entwicklung vorgestellt habe. In einfühlsamer Weise entfaltet das Autorenteam seine Erkenntnisse, wie die Lesenden sich selbst und auch andere durch die Augen eines liebenden Vater-Gottes sehen lernen. Schliesslich habe er, der Schöpfer, es von Anfang an gut gemeint. Und bei ihm fänden wir die Antwort auf unser weinendes Herz.

Lebensmut – und was dazugehört Entwicklungspsychologie und Charakterbildung Nur Mut, wir sind alle Betroffene! Im Buch Mut zur Reife von Frank und Catherine Fabiano (Verlag Projektion J, 1999) geht es darum, dass die meisten Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen mit schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert werden, die sich später irgendwann als Mangel oder Verletzung offenbaren, – mit entsprechenden Konsequenzen für Persönlichkeitsentfaltung, Wohlbefinden und Beziehungsfähigkeit. Das Buch begnügt sich nicht damit, die Leiden der Betroffenen zu beschreiben. Es leitet an, Gottes Heilung zu suchen.

Tom Sommer «Das Buch bewegt sich dort, wo sich unser Leben abspielt.» So bringt es das Vorwort auf den Punkt. Man spürt: Hier haben Menschen geschrieben, die das Leben selbst durchlitten, durch­dacht und verarbeitet haben. Frank und Catherine Fabiano haben eine psychologische Ausbildung und sind beide ordinierte Pastoren. Seite für Seite dringt ihr Anliegen durch, dem Leser das Potential seines Lebens aufzuzeigen und ihn erahnen zu lassen, wozu Gott dieses Leben geschaffen hat. Oft genug ist dies leider nicht von Anfang an erkennbar.

tern definieren, beziehungsweise «behandeln» lassen. In acht Kapiteln werden Phasen menschlicher Entwicklung analysiert, vom Mutterleib bis zum 30. Lebens­jahr. In einer jeweils angefügten Tabelle werden die typischen Merkmale einer gesunden und einer ungesunden Entwicklung einander gegenübergestellt. Diese tabellarischen Zusammenfassungen können auch gut als Leseeinstieg dienen: Wo beobachte ich bei mir selbst be­stimmte Auffälligkeiten oder Symptome? Gibt es Hinweise auf deren Ursprung? Welcher grundlegenden Thema­tik kann ich diese Beobachtung zuordnen?

Reif wird man nicht von heute auf morgen

Der Wahrheit in die Augen schauen Mut zur Reife leitet an, jenen Dingen in die Augen zu schauen, die den Lebensmut beeinträchtigen. In ihrer langjährigen Arbeit mit Hilfesuchenden hat das Autorenehepaar herauskristallisiert, dass sich sowohl Nöte als auch deren Lösung immer wieder nach gleichartigen Mus40

Ja, der Tatsache, dass Reife Zeit braucht, stimmen wir gerne zu, aber insgeheim wünschten wir, dass es doch schneller ginge. Umso mehr müsse man sich, so das Autorenehepaar, bewusst und absicht­lich auf diesen Prozess der Umwandlung einlassen, ja ihn mutig anpacken. Dazu gehöre, den eigenen Willen

3. Wunden und ihre Wurzeln Ob Menschen passiv-aggressives oder streitlustiges Verhalten zeigen, ob sie durch extremes Rückzugsverhalten auffallen oder ob sie deutlich zu Süchten neigen – diese und viele andere Verhal-

dem Willen Gottes anzubefehlen, damit ER wirken könne. Auch Paulus ermutigte die Epheser in seinem Brief (Epheser 4), in diesem Prozess nicht lockerzulassen. Der Aufbau des Buches Mut zur Reife macht es dem Leser nicht nur leicht einzusteigen, sondern auch dranzubleiben. In jedem der acht beschriebenen Altersphasen werden immer wieder anhand vieler praktischer Beispiele und Fallstudien die folgenden vier Aspekte besprochen.

tensmuster haben gemäss Frank und Catherine Fabiano eine mehr oder weniger klare Wurzel in der Vergangenheit. Ungestillte Bedürfnisse, negative Einflüsse und massive Enttäuschungen hinderten sowohl den eigenen Reifeprozess als auch die Fähigkeit, wichtige Dinge an die nächste Generation, zum Beispiel an die eigenen Nachkommen, weiterzugeben. Auf der Basis von Jesu Aussage, dass «nichts verhüllt ist, was nicht enthüllt werden wird, und nichts verborgen ist, was nicht bekannt werden wird» (Matthäus 10,26), werden mögliche Ursachen der beschriebenen Mängel aufgezeigt. Die vielfältigen Beispiele aus der langjährigen Seelsorge- und Beratungspraxis sind lebensnah und helfen, sich selber in der einen oder anderen Situation wieder zu erkennen. Ziel in alledem ist, Gottes Heilung einzuleiten.

4. Wie Gott-Vater eingreift Wie Gott nun heilend eingreift – sei es schnell oder längerfristig, prozesshaft – , dafür sind die praktischen und nachvoll­ ziehbaren Beispiele sehr hilfreich. Anhand von protokollarischen Aufzeichnungen wird da und dort richtiggehend erlebbar, wie ein entsprechendes Seelsorgegespräch ausgesehen haben muss. Es ist ermutigend zu lesen, wie Menschen konkret Heilung erfahren, aber auch ganz neue Seiten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein kommen können. Gottes Originalentwurf, so die Fabianos, solle schliesslich wieder in Kraft gesetzt werden.

Biblische Offenbarung und wissenschaftliche Erkenntnis Für alle, die an grundlegenden Fragen zur menschlichen Entwicklung und zu den Heilungswegen Gottes interessiert sind, bietet das Buch eine reiche Fundgrube. Mit vielen Bezügen zu Fachliteratur und weiterführenden Büchern bringen die Autoren zum Ausdruck, dass Wissenschaft und biblische Offenbarung in den seltensten Fällen Gegensätze sind. In der Einführung des Buches bekennt sich das Autorenehepaar klar dazu, dass der Massstab des Wortes Gottes zwar ein Prüfstein für wissenschaftliche Richtig­ keit sei, Gott jedoch oft seine Wahrheit durch das unabhängige Zeugnis wissenschaftlicher Forschungsergebnisse bestätige.

1. Probleme beim Erwachsenen Ausgehend von konkreten Problemen oder gar Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter versuchen die Autoren, vorhandene Denk- und Verhaltensmuster und emotionale Reaktionen mit der jeweiligen frühkindlichen Alters- und Entwicklungsphase in Zusammenhang zu bringen. So geht es zum Beispiel schon in der vorgeburtlichen Phase um tiefste menschliche Fragen wie «Gehöre ich dazu oder nicht?» oder «Bin ich angenommen oder abgelehnt?». cz 2|05

Mut zur Reife – ein Buch, das zweifach Mut macht: Zum einen, dem fehlenden Lebensmut, den verpassten Gelegenheiten des Lebens und der Wahrheit in die Augen zu schauen und Gott einzuladen, seine Hilfe konkret werden zu lassen. Zum anderen, sich in heilsamer Weise mit dem Spannungsfeld «Glaube und Denken» zu beschäftigen und zu erkennen, wie der Mensch mit Gottes Hilfe in beiden Dimensionen gleichermassen gesund und reif werden darf. cz 2|05

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lIFE LIFE LIFE

mut | life channel – radio für christen ...

• Verena Birchler ist Leiterin Kommunikation bei ERF Schweiz.

Life Channel – Radio für Christen und Zweifler

Kontakt: vbirchler@erf.ch

Life Channel bewegt schon vor dem Start

Der Tages-Anzeiger berichtete am 30. Dezember 2004 umfassend über das neue Projekt am Schweizer Radiohimmel. In der Schlagzeile «Ein eigener Radiosender für Christen und Zweifler» hat der Autor E. Haas das Zielpublikum des ERF perfekt beschrieben.

• Der Tages-Anzeiger berichtete am 30. Dezember 2004 ausführlich über das christliche 24-Stunden-Radio.

Verena Birchler

Wir sollten – aber können wir auch?

Am 10. Dezember 2004 ging für das Team von ERF Schweiz ein Traum in Er­füllung: Bundespräsident Joseph Deiss unterschrieb die Konzessionsbewilligung für ein christliches 24-StundenRadio. Dieser denkwürdige 10. Dezember 2004 war ein Feier-Tag im wahrsten Sinne des Wortes. Tausende von Christen

Rückblende: Der ERF störte sich immer wieder daran, dass in der Schweiz kein christliches Radio bewilligt war. Vor zwei Jahren lancierte der ERF dann eine Unterschriftenaktion mit der Forderung nach einem 24-Stunden-Radio auf UKW und Kabel. Vielleicht war es der Mut der Verzweiflung, vielleicht aber auch die Überzeugung: Gott will, dass alle Möglichkeiten des Einsatzes für sein Reich ausgenutzt werden. So auch das Radio. Die Überraschung war gross, als in kürzester Zeit 51 000 Männer und Frauen mit ihrer Unterschrift die wagemutigen Gedanken des ERF teilten und unterstützten. Im Frühsommer 2004 waren die Verantwortlichen noch einmal unsicher, ob sie dieses Risiko wirklich eingehen und dem Bundesrat die 51 000 Unterschriften samt Konzessionsgesuch übergeben sollten. Denn Medienarbeit kostet viel Geld. Angst vor der eigenen Courage wollte bremsen. Aber die Notwendigkeit eines christlichen Radios in der Schweiz trieb die ERF-Crew wieder an. Hin und her gerissen vom «Wir sollten – aber können wir auch?» wünschte

haben dafür gebetet, Tausende dafür gekämpft und gehofft. Diese Konzessi­on ermöglicht es dem christlichen Medienunternehmen, einen Radiosender zu betreiben, der sein Programm rund um die Uhr und in der ganzen Schweiz ausstrahlt. Nicht irgendein Programm, sondern ein christliches, eines voller Hoffnung! 48

sie sich ein Zeichen von Gott, dass letztlich auch er hinter diesem Projekt steht. Genau in diese Phase kam die Nachricht, dass der ERF in einem Testament grosszügig berücksichtigt worden sei.

Ein Wunder macht Mut Wie viel es war, wurde erst ein paar Tage später klar: 450 000 Franken! Dies war das erwünschte Zeichen und damit verbunden eine Verpflichtung, vorwärts zu gehen. Diese 450 000 Franken waren die Hälfte der Summe, die für das Startjahr nötig sind. Natürlich ist und bleibt das ganze Projekt «Life Channel» ein Risiko, und es gibt viele Fragen. Aber Gott hat die Hälfte der Startsumme geschenkt, und der Bundesrat hat dieses Projekt gutgeheissen. Es gibt keinen Grund, den Mut zu verlieren.

von ERF Schweiz werden schon heute regelmässig in den Programmen von schweizerischen Privatradios und über das internationale Programm von ERF Radio verbreitet. Mit Life Channel als 24-Stunden-Radioprogramm beginnt nun eine neue Ära in der Geschichte von ERF Schweiz.

Life Channel – das Programm Das Programm wird eine vielseitige Palette unterschiedlichster Sendungen zu aktuellen und alltäglichen Glaubens- und Lebensfragen umfassen. Nicht «theologisch hochtrabend», sondern «lebensnah praktisch». Kurzbeiträge, Porträts und Gesprächssendungen gehören ebenso

dazu wie Lebensberatungs- und Musiksendungen. Life Channel arbeitet mit einer Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus unterschiedlichen Konfessionen und Institutionen zusammen, um die Vielfalt der christlichen Lebensund Glaubensgestaltung entsprechend abbilden zu können. Life Channel wird ein Familienradio sein: Kinder- und Jugendsendungen werden genauso zum Angebot gehören wie spezielle Programme für Eltern, für Berufstätige und für pensionierte Hörerinnen und Hörer. Das Programm soll durch den ganzen Tag begleiten und umfasst des­halb auch nationale und inter­na­tio­­nale Nachrichten, einen Wetterservice sowie

Nachrichten und Informationen aus dem christlichen Umfeld. Musikalisch erhält Life Channel ein modernes Profil mit einem grossen Anteil zeitgemässer christlicher Musik (Christian Con­temporary Music), ergänzt und durch­mischt mit Titeln aus dem aktuellen Pop-Bereich. Wenn alles läuft, wie es der ERF geplant hat, geht Life Channel am 1. September 2005 live auf Sendung – im Internet. Und einen Monat später, am 1. Oktober 2005, wird Life Channel dann als Kabelradio zu empfangen sein. Weitere Informationen sind unter www.lifechannel.ch zu finden.

Ein neues Kapitel für ERF Schweiz Bereits von 1997 bis 2002 hat ERF Schweiz mit einer eigenen Radiokonzession ein Programmfenster auf dem Kanal von Radio EVIVA ausgestrahlt. Er verantwortet den 14-täglichen Talk des TV-Programms «Fenster zum Sonntag», das jeweils am Wochenende auf SF2 ausgestrahlt wird. Beiträge der Radioredaktion cz 2|05

• 51 000 Unterschriften bestätigen den

• Werner Messmer, Präsident des ERF Schweiz, übergibt die Unter-

Wunsch der Schweizer Christen nach einem

schriften Hans Werder, dem Generalsekretär des Eidgenössischen

eigenen Radio.

Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK).

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• Auf unzähligen Karten erhielt der ERF am Ende 51 000 Unterschriften.


PERSONLICH Das

den Glauben an Jesus Christus: Das war dann die Botschaft, die ich anhand des speziellen Bergkristalls den Fernsehzuschauern weitergeben konnte. Die Sendung hiess ja «Wenn Steine reden», und Gott hatte mich im richtigen Moment einen sehr seltenen Doppelspitz finden lassen, um den Zuschauern eine wichtige Botschaft im wahrsten Sinne vor Augen zu führen. Gott redete aber durch die Steine auch zu mir persönlich. Er wollte mich lehren, dass er Neues, Besseres für mich bereithält, wenn ich bereit bin, das Alte mutig zurückzulassen. Er ermutigte mich, meine Glaubensziele nicht an meinen beschränkten Erfahrungen, sondern an seinen Verheissungen auszurichten, und zeigte mir, dass wenn wir am Alten, «so Bewährten» noch festhalten, er manchmal eben liebevoll nachhilft, wie es mir mit den im Auto liegen gebliebenen Kristallen passierte.

Alte zurücklassen

Das persönliche Wort des Missionsleiters Die SF2-Sendung «Fenster zum Sonntag» plante einen Beitrag zum Thema «Wenn Steine reden». Das Team suchte für diese Sendung einen Hobbystrahler, also jemanden, der in seiner Freizeit Bergkristalle sucht, und fragte mich dazu an. Neben einem Interview wollten die Mitarbeiter Aufnahmen vom Felde machen und filmisch zeigen, wie man diesen Schätzen der Natur nachgräbt und sie findet. Idealerweise wollten sie Liveaufnahmen davon machen, wie prächtige Kristalle frisch dem Erdreich entnommen werden. Das ist aber leichter gesagt als getan, vor allem für einen Hobbysammler wie mich, der nur wenige Tage im Jahr den Mineralien nachgeht.

Nummer sicher gehen. Der Glaube für einen neuen, schönen Fund von Bergkristallen fehlte mir. So beschloss ich, früher gefundene Bergkristalle im Rucksack mitzunehmen und wenigstens zu zeigen, wo ich sie gefunden hatte. Ich wollte dem Publikum nichts vormachen.

In der Klemme

Hanspeter Nüesch Beim Planen der ganzen Sache verliess mich der anfängliche Mut immer mehr, gelingt mir doch nur etwa alle fünf Jahre ein grösserer Fund, der sich fürs Zeigen im Fernsehen eignen würde. Und auch diese Funde sind oft mehr Gottes Gnade zu verdanken. Also wollte ich auf 50

Der Tag kam. Nach drei Stunden Wanderung erreichten wir endlich meine Kristallhöhle, die ich vor Jahren gefunden hatte. Der Kameramann stellte sein Stativ auf, und ich packte den Rucksack aus, – um mit Schrecken festzustellen, dass ich die Bergkristalle im Auto liegen gelassen hatte! Jetzt war ich «verurteilt», neue Kristalle zu finden, und das in einer Kluft, die ich zwei Jahre zuvor in der Über­­zeugung aufgegeben hatte, es sei nichts mehr zu holen. Ich stiess ein Stossgebet zum Himmel: «Bitte lass mich dieser Höhle noch etwas Schönes entlocken, damit der Kameramann nicht vergebens seine schwere Ausrüstung

mut | persönlich

hier hinaufgetragen hat!» Es blieb mir nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen und Gott zu vertrauen. So versuchte ich mit Hilfe meiner Strahleruten­silien an Stellen zu graben, wo ich eigentlich nichts mehr erwartete. Und welche Überraschung: Das vermeintliche Ende der Kluft entpuppte sich als Zwischenwand für einen weiteren Hohlraum. Und hier hingen ein paar grosse, glasklare Bergkristalle an der Decke. Vor laufender Kamera konnte ich neben mehreren Kristallgruppen zwei meiner besten je gefundenen Einzelkristalle bergen.

Steine reden tatsächlich Und das Spezielle dabei: Ein Kristall hatte eine Basis, aber zwei Spitzen. Spontan kam mir der Vergleich mit einer guten Ehe in den Sinn, bei der zwei verschiedene Persönlichkeiten durch eine gemeinsame Basis, Jesus Christus, miteinander verbunden sind und eine Einheit bilden. Einheit in der Verschiedenartigkeit durch cz 2|05

Platz für das Neue schaffen In 3. Mose 26,10 gibt Gott dem Volk Israel folgende Anweisung: «Ihr werdet ... das Alte hinausschaffen müssen, um Platz für das Neue zu haben.» Der Text handelt davon, dass Gott eine Ernte schenken wollte, die in ihrem Ausmass nicht mit den bisherigen Ernten vergleichbar sein sollte. Ich bin überzeugt, dass Gott uns in den kommenden Jahren weltweit eine – was die Dimensionen betrifft – noch nie erlebte Ernte schenken will, nicht an Nahrungsmitteln, sondern an Menschen, die ihn suchen und zu ihm finden werden. Wir haben uns darauf vorzubereiten. Wie? Indem wir offen werden für ganz neue Dimensionen seines Wirkens und Segens. Von uns wird dies eine neue Dimension an Glaubensmut erfordern, damit wir die von Gott geschenkten Chancen packen. Voraussetzung dazu ist aber, dass wir die gleiche Hoffnung wie der Apostel Paulus haben: «Brüder, ich bilde mir nicht ein, cz 2|05

dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Jesus Christus schenkt» (Philipper 3,13-14). Paulus hätte allen Grund gehabt, auf das Vollbrachte zurückzublicken. Stattdessen schaute er mutig nach vorne, «auf den Anfänger und Vollender des Glaubens, Jesus» (Hebräer 12,2). Er erwartete nichts von sich selber, sondern alles von Jesus. Es war ihm bewusst, dass das erlebte Gute oft der Feind des Besseren ist, das Gott in Zukunft schenken will.

Welche Glaubenspfanne haben wir? Um für den zukünftigen Segen bereit zu sein, müssen wir um ein grösseres Glaubensgefäss bitten, damit wir dann die Gaben Gottes tragen und vielleicht auch ertragen können. Sonst geht es uns wie dem Fischer, der die kleinen gefangenen Fische zurückbehielt, die grossen aber wieder schwimmen liess. Auf die Frage, warum er sich so eigenartig benehme, antwortete er: «Meine Pfanne zuhause ist zu klein.» Oft ist unser Kleinmut das grösste Hindernis, das Gott und sein Wirken beschränkt. Es ist wichtig, dass wir unsere Ichbezogenheit – und um die handelt es sich letztlich – erkennen und bekennen,

damit wir fähig werden, Gottes grösseren Segen zu empfangen, den er vielleicht schon lange für uns bereithält. Es ist höchste Zeit, dass wir oft so kleinmütigen Europäer von den Christen in Erweckungsgebieten lernen und grössere Glaubenspfannen bereitmachen.

Nach vorne und auf Gott schauen Wenn wir Schweizer Christen uns in Leben und Dienst weiterhin vor allem von unseren beschränkten Erfahrungen bestimmen lassen, wird unser Glaubensmut nie wachsen. Im Gegenteil: Wir werden kleinmütiger und fangen sogar mit der Zeit noch an, diejenigen zu kritisieren, die mutig etwas für Gott anpacken. Wenn wir unser Leben und unseren Dienst jedoch an den gewaltigen Verheissungen der Bibel ausrichten und im Vertrauen auf Gott neue, mutige Schritte wagen, dann wird uns der Vater im Himmel immer schönere Schätze seines Reiches zeigen. Wir werden grössere Fische fangen, zur Ehre seines Namens und zum Zeugnis seiner Liebe und Allmacht. Vielleicht verstehen wir jetzt auch besser, warum Jesus uns in Lukas 9,62 so eindringlich davor warnt, uns beim Dienst am Reich Gottes von der Vergangenheit bestimmen zu lassen. «Jesus erwiderte: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.»

Es ist höchste Zeit, dass wir oft so kleinmütigen Europäer von den Christen in Erweckungsgebieten lernen und grössere Glaubenspfannen bereitmachen.

• Hanspeter Nüesch mit seiner Frau Vreni 51


Ich wünsche dir MUT Ich wünsche dir MUT. Vielleicht wirst du sagen: Gesundheit ist ein viel höheres Gut. Ich aber wünsche dir MUT, zu ertragen auch das, was dir wehe tut. Ich wünsche dir MUT, dich vom Stuhl zu erheben, nur ein Stückchen, nicht viel. Du wirst sehn: Nimmst du Anteil am Leben, bist du wieder im Spiel. Ich wünsche dir MUT zum Beginn einer Reise in die Welt oder auch in dich selber hinein, damit du auf deine Weise dich einmal ganz gross fühlst statt klein. Ich wünsche dir MUT, so zu sein, wie du bist und dich magst, und immer nur so zu denken, wie du es sagst, MUT – Gott wird dich lenken. Ich wünsche dir MUT für den Tag, für die Stunde, für all dein Beginnen. Ich wünsche dir MUT für jede Sekunde, in der du dich mühst, ihn neu zu gewinnen. Elli Michler


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