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Zeitschrift der 端berkonfessionellen Bewegung Campus f端r Christus Schweiz

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Werte Zeitgeist und


I N H A L T werte und zeitgeist | inhalt

Inhalt ZUM THEMA

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Auf der Suche nach Werten Wolfgang Bittner über Werte in einer vermeintlich bindungslosen Welt.

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Oder: Wie kann man es besser machen? Von Tom Sommer

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Veränderung von Werten – Teil 1 Zeugnisse von Andreas Bürge, Joel Gerber und Beat Rufener

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Prophetisch den Zeitgeist erkannt

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Wie sollen wir denn denken?

Man kann nicht zwei Herren dienen

Wie beständig sind Ewigkeitswerte? Beat Rink über geschichtlichen Wandel und Wellen des Heiligen Geistes.

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Persönlich – Die Basis aller Grundwerte Von Hanspeter Nüesch

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Veränderung von Werten – Teil 2 Zeugnisse von Isabelle und Hansjörg Forster sowie Willi Hasler

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Der durchtriebene Verwalter Wie einer sich mit Geld Freunde machte. Von Adrian Hofmann

REPORTAGE

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«Ja, da wollen wir hin, wo Jesus gelebt hat.» Wie das jüdische Volk Denken und Fühlen einer Schweizer Familie geprägt hat. Von Tom Sommer

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Wahr ist auch ... Medien und Realität. Von Brigitte Eggmann

Alle beten an – aber was und wie? Auf der Spur veränderter Werte: Tom Sommer im Gespräch mit Lobpreisleitern

Das geheime Drehbuch des Lebens Monika Blatter über die Lust auf (Film-)Geschichten.

Ein Bibellehrer und ein Theologe befragen unser Glaubensfundament: Derek Prince und Paul Veraguth.

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Sehnsucht nach Werten Stephan Holthaus und Beat Rink zum Umgang der Christen mit dem Zeitgeist.

Animismus, biblischer Theismus und Säkularismus im Vergleich.

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Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Benedikt XVI. Zwei Männer präg(t)en mit Tat und Wort. Von Brigitte Eggmann

Der heutige Zeitgeist im Buch Daniel. Von Andrea-Giorgio Xandry

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Welche Werte bestimmen unsere Wirtschaft?

FÜR SIE NOTIERT

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Veranstaltungen | Medien | Stelleninserat | Impressum

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EDITORIAL werte und zeitgeist | editorial

Editorial Werte glauben – Werte leben wach zu sein und zu prüfen, was da alles auf mich einstürmt.

Tom Sommer

Das Thema «Werte» ist in aller Munde: In christlichen Schriften wie in öffentlichen Medien scheint die Frage nach Werten Hochkonjunktur zu haben. Offensichtlich sucht die Gesellschaft nach Leitlinien, die sowohl praktische Fragen des Lebens berücksichtigen als auch einen tieferen Sinnhorizont im Leben eröffnen. Aber nach welchen Kriterien werden diese Werte eigentlich ausgewählt? Ich denke nach und realisiere, dass das Thema «Werte» in meinem Alltag oft gar kein Thema ist! Ich bin fast etwas schockiert! Nehme ich denn alles so selbstverständlich hin? Bin ich immun geworden? Habe ich es verlernt (oder aufgegeben), zum Beispiel Medienberichte, Filme, politische Äusserungen und Wirtschaftsmeldungen auf ihre Werte hin zu hinterfragen? Dabei gehörte es doch sowohl zu meinen beruflichen Aufgaben als auch zu meiner Verantwortung als Christ,

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Es ist sehr viel, was da tagaus, tagein wahrgenommen und verarbeitet werden will. Kann es da sein, dass ich durch die Menge an Informationen und Ereignissen nachlässig werde, nach Werten und Wahrheit zu fragen? Dass ich lieber einfach mal, vielleicht auch aus Müdigkeit, handle oder mich vor dem TV-Gerät gehen lasse, ohne mir weitere Gedanken zu machen? Wie geht es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser? Kennen Sie das Phänomen? Haben wir vielleicht, Sie und ich, ganz unbe-

Von welchen Werten bin ich letztlich selbst zutiefst geprägt? Wie «biblisch-christlich» sind sie wirklich? Wo sind sie vielleicht verbogen worden? Welche blinden Flecken habe ich selber? wusst die Haltung eingenommen, als Christen mit einem klaren Bekenntnis und einer gemeindlichen Zugehörigkeit seien die Positionen doch klar? Beim Zusammenstellen und Ordnen der Ansichten und Artikel verschiedener

Autoren wurde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert: Von welchen Werten bin ich letztlich selbst zutiefst geprägt? Wie «biblisch-christlich» sind sie wirklich? Wo sind sie vielleicht verbogen worden? Welche blinden Flecken habe ich selber? Zwei Autoren unseres Heftes betonen, dass man – in Anlehnung an das biblische Wort – nicht zwei Herren dienen könne, dem biblischen Gott und dem humanistischen Geist. Die Gegenüberstellung hätte ich in dieser Schärfe nicht erwartet. Aber vielleicht ist sie so scharf formuliert einmal nötig, um uns aufzuwecken und uns klar zu machen, dass wir uns als Christen dieser Auseinandersetzung mit den prägenden Werten in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen nicht entziehen können. Ich möchte Sie ermutigen, sich nicht nur vor schlechten Werten zu schützen, sondern in Ihrem Umfeld Ihre biblisch-christlichen Überzeugungen zu leben. Reden Sie mit, prägen Sie mit! Lassen Sie sich bewusst auf diesen Prozess ein! Ich heisse Sie willkommen zu dieser Ausgabe unseres Magazins – spüren Sie verschiedenen Blickwinkeln unseres Themas und persönlichen Zeugnissen nach. Werden auch Sie Werte-Präger!

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WERTE UND ZEITGEIST

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Auf der Suche nach Werten ...

... in einer vermeintlich bindungslosen Welt Der vorliegende Text ist ein Auszug1 aus dem gleichnamigen Vortrag von Dr. Wolfgang J. Bittner, gehalten 1992 am Triangel Kolloquium II, 9 des Forum Guardini «Geistliche Musik der Gegenwart – Musikalisches Denken zwischen Bindung und Freiheit» im AGAPEZentrum Auggen, Deutschland. Es geht um die Fragen, was eigentlich unter «Werten» verstanden wird, wie sich deren Wandel bemerkbar macht, wie wir als einzelne Menschen darauf reagieren, wie dieser Wandel aus einer biblisch-theologischen Sicht gedeutet werden und die Antwort eines biblischen Christentums aussehen kann.

Wolfgang J. Bittner

Als ich als Kind für meine Mutter einkaufen ging, gab es zwei Sorten Brot: dunkles Brot und Weissbrot. Es mag mehr gegeben haben, aber für das Verstehen des Kindes gab es diese beiden Sorten. Der Entscheid war einfach, war gewissermassen selbstverständlich. Der grösste Lebensmittelhändler der Schweiz bietet derzeit pro Woche gegen neunzig verschiedene Sorten Brot an. Wer einkauft, der muss entscheiden. Wer also «verantwortlich» einkaufen will, muss in einem komplizierten Verfahren zuvor Informationen beschaffen und gegeneinander sorgfältig abwägen. Das braucht ein grosses Mass an Einsatz, an intellektueller Kraft, an Zeitreserven und letztlich an seelischer Energie. Was früher selbstverständlich war, das wird heute zum

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Der Vortrag wurde nach Rücksprache mit

Wolfgang J. Bittner von Christian Bachmann und Brigitte Eggmann gekürzt und bearbeitet.

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Problem. An die Stelle von Selbstverständlichkeiten treten komplizierte Prozesse der Einschätzung und Entscheidung. Das Leben des Einzelnen wie das Zusammenleben in unserer Gesellschaft wäre unmöglich, wenn es solche Selbstverständlichkeiten nicht gäbe, wenn die «Werte» in unserer Gesellschaft nicht einigermassen stabil wären.

Ein Wert – was ist das? Die moderne Soziologie kennt bis heute keine allgemein anerkannte Definition des Wertebegriffs. In der Regel trägt sie einige Merkmale zusammen, die gemeinsam die Bedeutsamkeit und Weite dieses Begriffes deutlich machen: 1. Werte sind allgemeine Richtlinien, damit ich mich in der Vielfalt der Entscheidungsmöglichkeiten zurechtfinden kann. 2. Werte vermitteln mir Ziele, indem sie mir Auffassungen vorgeben über das, was wünschenswert ist und was nicht.

Was ist denn wünschenswert? Zum Beispiel die Entfaltung des Einzelnen gemäss den in ihm wohnenden Möglichkeiten – oder mehr das Wohl der Familie, hinter der die Bedürfnisse des Einzelnen eindeutig zurückzustehen haben? 3. Werte sind, zumindest in Teilbereichen, kulturell verschieden. Werte sind, das lässt sich daraus ableiten, nicht nur von der jeweiligen Kultur geformt, sondern auch selbst kulturprägend. 4. Werte sind die wesentlichen Voraussetzungen jeder sozialen Ordnung, das heisst, sie sind Legitimationsund Rechtfertigungsgrundlage für die Halt gebenden Institutionen des sozialen Zusammenlebens. Das betrifft sowohl die Normen des täglichen Lebens und Entscheidens als auch die Sanktionen, die gegen einen Übertritt dieser Normen unternommen werden. cz 4|05


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Wertewandel – drei Stossrichtungen Bedeutende Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte, vor allem die internationale Wertewandelstudie, machen deutlich, dass wir uns, wenigstens soweit es unser sogenannt christliches Abendland betrifft, in einem geradezu dramatischen Wertewandel befinden. Diese Beobachtung lässt sich in drei Stossrichtungen zuordnen: a) Rationalismus Trotz der Zunahme von Gefühlsbetontheit und Emotionalität in der Öffentlichkeit stehen wir vor einer Zunahme des Rationalismus. Gemeint ist damit die Art, wie in der Öffentlichkeit Sachfragen diskutiert und Entscheide begründet und damit letztlich Gefühlsanteile einer ganzen Gesellschaft überdeckt werden. Nur das, was als vernünftig erweisbar ist, wird diskutiert. Dabei wissen wir aus dem persönlichen Leben sehr gut, dass ungute Empfindungen ausserordentlich wichtige Steuerfunktionen haben, die teilweise lebenswichtig sind. b) Individualismus Die zweite Bewegung des Wertewandels, die die erste noch verstärkt, ist der zunehmende Individualismus. Werte der Familie, der Gemeinschaft, für die der Einzelne seine persönlichen Interessen zurückstellt, ja die er als Opfer auch als sinnvoll akzeptieren kann, verlieren radikal ihre Selbstverständlichkeit. Dass alte und kranke Eltern von ihren Kindern, die dafür finanzielle und menschliche Opfer zu bringen haben, aufgenommen und gepflegt werden, ist von einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit zur bewundernswerten Ausnahme geworden. c) Hedonismus Damit eng verbunden ist die dritte cz 4|05

Stossrichtung, der zunehmende Hedonismus. Zählt Gott mit seinen Geboten nicht mehr als Mass, bietet auch die Gemeinschaft mit ihren Bedürfnissen keine sinngebenden Ziele für mein persönliches Leben, dann bleibe am Ende bloss ich selbst übrig mit meiner Frage, was mir Spass macht, was mich befriedigt. Wo Gott und sein Wort aus der Öffentlichkeit in den privaten Bereich verdrängt werden, wo das Individuum und seine Entfaltung vor der Gemeinschaft und dem Dienst an ihr eingereiht werden, verschwindet auch die Fähigkeit des Einzelnen, sich zu verpflichten, sich zu binden. Der Einzelne ordnet sich einer Firma, einer Gruppe, ja auch einer Familie zu, solange ihm das für seine jeweiligen Ziele nützlich erscheint.

Lösungsversuche – vier Fluchtbewegungen Kennzeichnend für die Situation unserer Gegenwart ist, wie sich der Einzelne auf diesen Wandel einstellt, um damit für seine Situation fertig zu werden. Ich meine, dass man diese verschiedenen Lösungsversuche als Fluchtbewegungen verstehen muss, die in vier Richtungen weisen. Das Drama dieser Fluchtbewegungen aber, das sei hier schon angemerkt, liegt darin, dass sie nicht als Fluchtbewegungen erkannt werden, sondern geradezu als Lösungen erscheinen. a) Die Flucht in den «Ausschnitt» aus der Wirklichkeit Der Wandel der Werte hat keineswegs bloss ein negatives Antlitz. Dass Menschen zu ihren eigenen Bedürfnissen stehen und gegenüber unberechtigten Ansprüchen anderer auch nein sagen lernen, statt sich blind für die Ansprüche von anderen zu opfern, ist zu begrüssen. Man kann dabei mit Recht von einem Gewinn innerer Freiheit sprechen. Oder: Die Tatsache, dass der Staat nun mit

Steuermitteln dafür sorgt, dass ältere und kranke Mitmenschen gepflegt und bis in ihre letzten Tage hinein versorgt werden, wer wollte das nicht als echte Hilfe sowohl für die Betroffenen als auch für die Angehörigen auffassen? Nun aber kann es geschehen, dass jemand jene positiven Aspekte, aus welchem Grund auch immer, so sehr schätzt, dass er die teilweise schwerwiegenden Konsequenzen, die damit verbunden sind, nicht mehr wahrnehmen will, vielleicht auch nicht mehr wahrnehmen kann. Zur Flucht jedoch wird dieser Weg, wo ich mich unter Berufung auf die positiven Aspekte eines Wertewandels innerlich verweigere, auch die negativen Aspekte dieser Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen – und damit die gesamte Wirklichkeit nur noch in jenem Ausschnitt wahrnehmen will, der mich und meine Sicht der Dinge bestätigt. b) Flucht in die Resignation, in die Privatisierung Ein Beispiel zur Illustration: In der Schweiz werden Gesetze, die vom Bundesrat entworfen und von der Bundesversammlung, also dem Ständerat und dem Parlament, genehmigt worden sind, dem Volk auf Verlangen zur Abstimmung vorgelegt. Jeder Einzelne kann und soll sich mit der immer komplizierter werdenden Materie politischen Entscheidens auseinander setzen und die Verantwortung an der Gestaltung des Staatswesens mittragen. Der einzelne Bürger scheut sich vor solcher Überforderung. Er lässt die anderen, die er in solchen Sachfragen für «kompetent» hält, entscheiden, um sich äusserlich und innerlich ins Privatleben zurückzuziehen. In diesem eng begrenzten Raum übernimmt er dann durchaus Verantwortung. Flucht also ins Private, weil der Bereich der Öffentlichkeit zu kompliziert geworden ist. 5

Trotz der Zunahme von Gefühlsbetontheit und Emotionalität in der Öffentlichkeit stehen wir vor einer Zunahme des Rationalismus.


c) Flucht in die Ideologie Die ersten beiden Fluchtmöglichkeiten bestehen darin, die Wirklichkeit so zu reduzieren, dass ich mit dem Rest noch zurechtkomme. Realität und Verantwortlichkeit bleiben noch weitgehend im Blickfeld. Anders ist es bei der Flucht in die Ideologie. Diese führt dazu, mir eine Deutung der Wirklichkeit zu vermitteln, durch die ich den Spannungen, die die Wirklichkeit in sich trägt, entgehe. Drei Elemente kennzeichnen eine Ideologie: a) eine richtige Erkenntnis, die für einen Teilbereich Geltung hat, b) wird isoliert und zur Haupteinsicht erhoben, aus der alles andere nun erklärt werden kann und c) die in ihrem zentralen Stellenwert nicht mehr hinterfragbar ist. Was bei der Flucht in eine Ideologie auffällt, ist die Anziehungskraft, die von vorbildhaft erfahrenen Menschen ausgeht. Man glaubt der «Wahrheit» einer Ideologie nicht einfach darum, weil man sie als wahr erkennt, sondern weil die Menschen, die von ihr überzeugt sind, überzeugend wirken. Der Einzelne hat ja nun Recht, weil er sich einer ihm überlegenen Erklärung der Wirklichkeit einpassen kann. Hier liegt der Unterschied zum Christentum, sofern es innerlich lebendig geblieben ist. Beim Glauben des Christen liegt die Verantwortung für die Wahrheit eines Lebensentscheides immer beim Einzelnen selbst. Niemand, auch nicht die Kirche, kann und wird sie ihm abnehmen. Die Kirche kann eine Vordenkerrolle übernehmen. Aber dort, wo der Einzelne in der Verantwortung seines Lebens steht, wird sie ihm diese Verantwortung nie abnehmen. d) Flucht in die Krankheit Wir hätten auch hier viel Zeit nötig, um 6

uns anhand konkreter Beobachtungen diese Zusammenhänge deutlich zu machen. Bei der Flucht in die Krankheit geht es darum, die Wirklichkeit in ihrer Komplexität überhaupt auszublenden, so dass ich mit ihr keine Mühe mehr habe bzw. mit ihr überhaupt nicht mehr in Beziehung treten muss. Eine Beobachtung aus der Psychotherapie ist hilfreich, das zu verstehen: In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts überwogen bei den seelisch kranken Menschen deutlich die beziehungsstiftenden Neurosen. Angstneurosen zum Beispiel führten dazu, dass sich der kranke Mensch durch die Nähe eines anderen erleichtert fühlte. Hinter diesen Neuroseformen steckt der Ruf nach einem Menschen, nach einer Beziehung, auch wenn dieser Ruf nur noch in krankhafter Form ausgedrückt werden kann. In den letzten Jahrzehnten jedoch nehmen diese Formen der Neurose deutlich ab und werden abgelöst durch beziehungsverweigernde Neurosen, vor allem die Drogensucht, das Borderline-Syndrom und die Magersucht. Dabei handelt es sich um Neuroseformen, hinter denen die Angst steckt, in Beziehungen gewissermassen verschlungen zu werden. Nach enger Beziehung wird zwar gehungert, aber eine Beziehung kann nur aufrechterhalten werden, solange eine grosse Distanz erhalten bleibt – was letztlich zur Ausweglosigkeit, zur Beziehungsverweigerung, ja zur Existenzverneinung selbst führt.

Eine biblisch-theologische Deutung Der Begriff «Wert» taucht in der Bibel nicht auf. Es ist jedoch die Überzeugung der Bibel, dass jeder Mensch schon von der Schöpfung her ein Wissen um das in sich trägt, was dem Menschen angemessen ist und was nicht. Wer in die Schöpfung und ihre Ordnung sieht, wer die cz 4|05


werte und zeitgeist | auf der suche nach ...

Menschen und ihren Umgang betrachtet, wer sich selbst und sein eigenes Herz wahrnimmt, der hat eine deutliche Ahnung dessen, was dem Menschen angemessen ist. Nun spricht aber das Neue Testament gleichzeitig sehr deutlich von einer Entwicklung, die dem, was wir als «Werteunsicherheit» bzw. «Werteverfall» beobachten, entspricht. In all den Kapiteln des Neuen Testamentes, die von der Endzeit sprechen, ist davon die Rede. Der Zerfall des Gebotes selbst geht einher mit dem Zerfall der Liebe als jener Kraft, die das Gebot am Leben erhält. Man höre den Wortlaut nur sehr genau: «Und weil die Gesetzesverachtung überhand nimmt, wird die Liebe der vielen erkalten» (Matthäus 24,12). Wir gewinnen damit eine biblisch-theologische Deutung, die uns wichtig sein muss: Wertewandel ist, insofern er Werteverfall wird, ein geradezu apokalyptisches Zeichen, soziologisch würde man sagen: der nach-christlichen Zeit, biblisch: der anti-christlichen Zeit.

Bindung und Freiheit Wenn wir die vier Fluchtbewegungen auf gemeinsame Leitmotive abhören, dann zeigt sich etwas, was vielleicht überrascht: Es geht um die Frage nach Beziehungen, die mich binden. Um unseren Weg als Christen in dieser Welt zu finden, ist es grundlegend, immer neu auf das Zeugnis Jesu und der ersten Christen zurückzublicken. Jesus und seine Jünger haben zwar «Werte» vertreten, aber nicht ausdrücklich nach ihnen gefragt. Woran lag das? Sie waren nicht bloss überzeugte, sondern zunächst gebundene Menschen. Jesus sagt über seine Beziehung zum Vater: «Der Sohn kann nichts von sich aus tun, er sehe denn den Vater etwas tun» cz 4|05

(Johannes 5,19). Die Erfahrung, im Glauben gebunden zu sein, vermittelt ein Ziel: in Liebe für Gott zu leben und an seiner Sendung in der Welt teilzuhaben. Durch diese Zielsetzung wird das Leben nun auch als ein sinnvolles Leben erfahren, als ein persönlich gerufenes Leben. Und damit werden gleichzeitig «Werte» vermittelt. In der Bindung an Gott in Jesus Christus werden die Werte zum inneren Besitz, zum eigenen Wollen des Menschen. Sie werden vielleicht fragen, warum ich jetzt von der Bindung, nicht aber vom Glauben spreche. Das hat sachliche Gründe: Im neutestamentlichen Glaubensverständnis liegen Glaube und persönliche Verpflichtung unlösbar ineinander. Der Glaubende ist ein an Jesus, den Sohn Gottes, gebundener Mensch. Nur der so Gebundene ist ein Glaubender. Unsere neuzeitliche Sprachgewohnheit lässt diesen Zusammenhang kaum mehr durchscheinen. Damit wird die Chance des biblischen Christentums sichtbar, zugleich aber auch die weitverbreitete Tragik unserer Christlichkeit. Sie ist mit den Stichworten «Freiheit» und «Bindung» treffend gezeichnet. Die landläufige Gestalt unserer Kirchen vermittelt nicht den Anschein, der modernen Gesellschaft noch Werte vermitteln zu können. Woher hatte denn die christliche Kirche die Kraft der Werteentwicklung und Wertevermittlung für die gesamte abendländische Kultur? Sollte das wirklich nur Vergangenheit sein? In den Zeiten, in denen die Christenheit, die Kirchen stark waren, lebten sie aus der Gebundenheit an Gott und der damit gegebenen klaren Unterschiedenheit von Kirche und Welt. Ein Glaube, der keine Bindung in sich schliesst, trägt diese Kraft nicht in sich.

Sehe ich recht, dann besteht gerade unter den hellwachen Menschen unserer Generation eine tiefe Sehnsucht danach, Verpflichtung einzugehen und zu teilen. Da und dort entstehen innerhalb der christlichen Kirchen Gruppen, die so zu leben beginnen. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen und von einer Kirche träumen, die sich selbst als das erkennt, was sie von Gott her ohnehin ist: Als Kirche, die aus ihrer Bindung an Jesus und sein Wort die Kraft empfängt, Menschen an Jesus als den Herrn der Kirche zu binden und so in die Freiheit zu weisen. Nur eine solche Kirche könnte die Werte, die unsere Welt zum Überleben so dringend braucht, nicht als bloss äussere Normen vertreten, sondern als inneren Besitz gleichsam ausstrahlen: liebend, dienend und sie so auch lehrend. – Natürlich, solch eine Kirche würde auch abstossend sein, würde Widerstand entfachen, würde Ärger hervorrufen, würde Ablehnung, würde den Vorwurf des Hochmutes auf sich ziehen. Doch – ist der Kirche in unserer Welt je etwas anderes versprochen worden? Einer Welt, die auf der Suche nach Werten ist, können wir nur die Gebundenheit des eigenen Lebens im Glauben an Jesus als den Sohn Gottes, den Gott der Bibel, als Antwort vorweisen, die das eigene Leben weit übersteigt. Und nur da, wo das eigene Leben auf einen solchen ewigen Sinn hin überstiegen wird, haben wir für unsere Welt noch ein Wort. Sonst haben wir nichts zu sagen!

Weiterführende Literatur: • Bittner, Wolfgang J.: Kirche – das sind wir! Von der Betreuungskirche zur Beteiligungskirche. Neukirchen-Vluyn: Aussaat-Verlag 2003 und 2004 • Bittner, Wolfgang J.: Kirche in nachchristlicher Zeit? Perspektiven für das Christsein. Neukirchen-Vluyn: Aussaat-Verlag 2005

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PROPHETISCH Prophetisch den Zeitgeist erkannt Das Buch Daniel Als überzeugter Christ, der es liebt, in der Heiligen Schrift zu forschen, merkte ich in den letzten Jahren immer mehr, wie sehr mein Leben nicht nur von meinen Bibelstudien, sondern auch vom Zeitgeist beeinflusst wird. Zwar bin ich es gewohnt, oft ganz andere Wege als die Menschen meines Umfeldes zu gehen. Darum hat man mir da und dort auch das Etikett eines christlichen Querdenkers verpasst, obwohl ich es gar nicht so «quer» empfinde, was ich denke und ausspreche! Nun, damit lässt sich leben, solange es nur um Unterschiede in der biblischen Auslegung oder um einen vielleicht etwas freieren Lebensstil geht. Wenn es sich jedoch um den Einfluss des Zeitgeistes handelt, um «weltliches Denken», will und kann ich das nicht mehr ignorieren. Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist aufgrund des Buches Daniel hat mir dabei sehr geholfen.

Andrea-Giorgio Xandry Wer nicht mehr zur ganz jungen Generation gehört und die verschiedenen christlichen Zeitschriften unserer Tage studiert, wird unschwer feststellen, wie anders man noch vor wenigen Jahrzehnten «als Christ dachte». Nicht nur in «theologischen Schlüsselthemen» wie der Rolle von Mann und Frau im Reich Gottes oder Fragen der Endzeit, sondern auch in ganz alltäglichen Themen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Was früher klar als «unbiblisches» Verhalten verpönt war, zum Beispiel Scheidung oder Wiederverheiratung, wird heute von Christen – unter dem Druck des Zeitgeistes – neu geprüft und anders gewichtet. Oft nicht zum Vorteil der Betroffenen. Auf der anderen Seite kamen, nicht zuletzt als Folge des Zeitgeistes, im innerchristlichen 12

Umfeld Themen auf wie «innere Heilung», «sexuelle Zerbrochenheit» oder «geistlicher Missbrauch»: Hatte man solches aus dem Munde unserer christlichen Väter und Mütter gehört? Ich denke eher selten oder nie. Was auch immer um uns herum thematisiert wurde – wie oft wurde es von bekennenden Christen zunächst abgelehnt! Aber so nach und nach sickerte doch vieles in unser Denken hinein; zum Teil begrüssten, zum Teil bekämpften wir es. Persönlich muss ich mich besonders in der Seelsorge und Begleitung von Menschen in Not vermehrt mit dem «zeitgeistlichen» Denken biblisch auseinander setzen und lerne oft so manches neu zu sehen: manchmal zur klareren Abgrenzung, manchmal zu einem vertiefteren Verständnis. Immer wieder ist es, als ob Gott einen neuen Blick in sein uraltes, ewig gültiges Wort erlaubte!

Unser Zeitgeist, abgebildet im Buch des Propheten Daniel Was sagt die Bibel eigentlich zur Thematik des Zeitgeistes? Was können wir aus ihr herauslesen, wie unser zeitgeistliches Denken durch die Jahrhunderte hindurch geformt und geprägt wurde? In welcher Weise haben alle Zeitepochen ihre kollektiven und individuellen Spuren in unserem Denken hinterlassen? – Eine der besten Quellen dafür finden wir beim Propheten Daniel. Seit seiner Epoche hat er für alle Zeitalter auf Erden den roten Faden der weltgeschichtlichen Entwicklung erkannt und aufgezeichnet. Er ist der einzige biblische Zeuge, der historisch-chronologisch (geschichtlich richtig aufeinander folgend) berichtet. Bei allen anderen prophetischen Aussagen in der Bibel liegen manchmal Jahrhunderte zwischen zwei Sätzen. cz 4|05


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Daniels Zeit war jene des Königs von Babel, Nebukadnezar. Gott wählte diesen Despoten als Offenbarungsträger. Nebukadnezars Reich wurde zum Anfang und zum Inbegriff der Weltreiche. Aus biblischer Sicht fing das erste grosse Weltreich mit Babel an (siehe 1. Mose 10,10) und das letzte Weltwirtschaftsreich wird mit Babylon aufhören (Offenbarung 18,3-21). Die Chronologie (Zeitenfolge) der Weltreiche wird biblisch gesehen von Nebukadnezars Reich an gezählt. Wir wollen zwei Träume aus dem Buch Daniel untersuchen. Beide lassen die Horizonte weltgeschichtlicher Entwicklungen in eindrücklicher Klarheit durchscheinen.

Der Traum von König Nebukadnezar – ein Standbild

Die historische Folge der Reiche nach Daniel 2 ergibt also folgende Aufstellung: • Der Kopf aus Gold: Symbol für das Babylonische Reich • Brust und Arme aus Silber: Symbol für das persisch-medische Reich • Bauch und Lenden aus Erz: Symbol für das antike Griechenland • Die Schenkel aus Eisen: Symbol für das Römische Reich • Die Füsse aus Eisen und Ton: Symbol für das letzte Weltreich • Der Stein: Symbol für das (irdische) Reich Gottes

Beispielhafte Betrachtungen der Standbild-Symbolik

1. Bauch und Lenden – Geburt von Philosophie und Emotionen Nebukadnezar hatte einen Traum. Er verEs gibt kaum eine Stadt in Europa, in gass ihn zwar beim Aufwachen, spürte der die alte Kultur Griechenlands nicht aber instinktiv, dass dieser Traum sehr in Form von Statuen und Bildnissen wichtig war und ... – nun, diese Geschich- augenfällig wäre. Der ehemalige Bibelte liest man am besten selbst nach im lehrer Derek Prince erzählt in seiner Buche Daniel 2,31-45! Publikation «Die Verführung des HumaGott zeigte dann dem Daniel, was der nismus» (siehe auch in dieser Ausgabe König geträumt hatte: von einer Statue ab Seite 20) von einer kleinen Begebenmit goldenem Haupt, silberner Brust heit mit seiner Frau, als er dieser die und silbernen Armen, bronzenem Bauch, Stadt London zeigte. Es fielen ihr nämmit Beinen aus Eisen und Füssen aus lich die vielen griechischen Statuen auf, Eisen und Ton vermischt. Und wichtiger und sie zeigte sich sehr erstaunt über noch: Daniel konnte den Traum auch «all die Götzen». Diese Bemerkung weckte ihn quasi aus seinem gewohnHistoriker kommentieren, dass Rom Griechenten Blick, der ihn land zwar militärisch überwunden, aber Griegar nicht mehr chenland dem römischen Weltreich in philosohinterfragen liess, phischer Hinsicht seinen Stempel aufgedrückt wie eigenartig das habe. Ganze eigentlich auslegen und sagen, welcher Teil des ist. Wir übernehmen hier gekürzt seine Standbildes welches Reich symbolisierte. Gedanken, die er im Anschluss an diese Es ging um des Königs Reich und alle Begebenheit beschreibt: Reiche danach. Also von Nebukadnezars Zeit (ca. 600 v. Chr.) bis in die Vollendung Bauch und Lenden meinen, mit anderen der Weltreich-Zeitalter, die Daniel als Worten ausgedrückt, den Unterleib, woZerbruch aller Weltreiche sieht. Sogar rin auch die Geschlechtsorgane des Menschen enthalten sind. Es geht also um das «Danach», der Aufbau des Reiches Fortpflanzung. Wenn wir die Geschichte Gottes, ist im Traum enthalten. cz 4|05

Europas aus einer historischen Perspektive betrachten, wird klar, dass die dominierende Philosophie die griechische ist. Weder Babylon noch Persien noch Rom sind heute so nachhaltig präsent. Historiker kommentieren, dass Rom Griechenland zwar militärisch überwunden, aber Griechenland dem römischen Weltreich in philosophischer Hinsicht seinen Stempel aufgedrückt habe. Und – ist nicht das gesamte Gedankengut des europäischen Kontinents sehr stark von Griechenland beeinflusst? Die drei Hauptelemente in der damaligen griechischen Kultur waren Rationalismus, Körperkultur/Sport und Homosexualität. Ist es heute in unserer Kultur nicht auch so? In dem Zusammenhang möchte ich drei griechische Philosophen erwähnen, deren Aussagen zu den Grundlagen des Humanismus gehören. Zunächst Heraklit: Er hat mit seinem Satz «Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen» ein Fundament des Relativismus geschaffen. Alles sei nämlich relativ, nichts absolut. Vom Philosophen Protagoras stammen die folgenschweren Worte: «Der Mensch ist das Mass aller Dinge.» Damit hat er den Humanismus schlechthin in einem Satz zusammengefasst. Somit entscheidet der Mensch, was gut und böse ist. Und weil ja alles relativ ist, kann morgen alles wieder anders sein. Und für Aristoteles war Gott das Konzept eines guten, vollkommenen Verstandes, der über sich selbst und das Denken an sich nachdenkt. Diese Aussagen gehören zu den dominierenden Kräften unserer abendländischen Kultur und Gesellschaft. So weit die Ausführungen von Derek Prince. Eine ergänzende Beobachtung aus unserer heutigen Zeit möchte ich dem noch anfügen: Das Philosophische steht nicht nur für das Denken, sondern auch für das «emotionale Denken» 13


Alle Werte, die wir heute haben, sind aus den verschiedenen Zeitgeistströmungen der Weltgeschichte zusammengesetzt.

1 «Die Weltwo-

che», 1/2005

(Bronze steht für den Bauchbereich, zum Beispiel für Individualismus und Entscheidungen «aus dem Bauche heraus»). Hier ist auch die Beeinflussung durch die Medien, besonders das TV, zu nennen. Bestimmte Ereignisse, voll «medialisiert», bewegten Milliarden von Menschen: Die Solidarität und Spendenflut nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2004 waren einzigartig in der Geschichte. Desgleichen löste nur drei Monate später der Tod des Papstes eine ähnliche emotionale Reaktion aus, medial ersichtlich und allgegenwärtig. Die Gefahr, den «Bauchbereich» in die Politik zu übertragen, könnte schon in naher Zukunft zu schweren Fehlentscheidungen führen. Der französische Philosoph Paul Virilio sieht in der zunehmenden Emotionalität sogar eine Gefahr für die Demokratie.1 2. Eisen und Ton – Neuzeitliche Mixtur: von allem etwas Alle Werte, die wir heute haben, sind aus den verschiedenen Zeitgeist-Strömungen der Weltgeschichte zusammengesetzt. Damit ist unser Zeitgeist nicht mit einem einzigen Begriff fassbar. Wir erkennen daran, dass unser Denken und Handeln von allen Aspekten quasi gleichzeitig geprägt ist. Die Komponenten sind religiös, wirtschaftlich, philosophisch, humanistisch und in verschiedene Strukturen eingekleidet. Die Zusammenhangslosigkeit und Zerbrechlichkeit dieser Mixtur ist gerade heutzutage offensichtlich. Wir befinden uns, gemäss der Chronologie, im Zeitalter von Eisen mit Ton – schon von Daniel als unbeständige Mischung vorausgesagt. Betrachten wir daraus zwei Aspekte: a) Religiös vermischtes Denken und Handeln Die Religion wurde gerade im 19. und 20. Jahrhundert oft totgesagt. Doch spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer ist sie in Ost und West wieder fest im 14

Vormarsch. Umfragen zufolge glauben zurzeit etwa 60 bis 70 Prozent der Europäer an Gott, an ein (moralisch handelndes) höheres Wesen. Polen und Finnland bringen über 90 Prozent in diese Statistik ein, Tschechien ist das Schlusslicht mit 37 Prozent. Die deutschsprachigen Länder liegen bei etwa 70 Prozent. Das Stichwort «Esoterik» gehört auch zur «Religion»: Der Arbeiter legt Steine (wie Amulette) auf und durchforscht Horoskope, bevor er den Lottozettel ausfüllt. Der Manager rückt seine Möbel nach chinesischem Geistwind zurecht und konsultiert vor millionenschweren Entscheidungen am liebsten den Guru. Die Hausfrau brüht geistig wirkende Teesorten auf, und die Jugend nimmt bewusstseinserweiternde Drogen, um die ultimativen (religiösen!) Kicks zu suchen. Aber auch die Bibel findet wieder Millionen neuer Leser. Auf den Glauben ausgerichtete Jugendbewegungen boomen. Selbst die traditionelle römisch-katholische Kirche gewann während des Pontifikats von Johannes Paul II. weltweit rund 300 Millionen(!) Menschen dazu oder zurück, und auch Papst Benedikt XVI. vermochte zumindest zum Jugendwelttag im August 2005 die Massen zu mobilisieren. Doch alles Vorhandene vermischt sich mehr und mehr: Könnte man vielleicht die heute oft gelebte Transzendenz als kirchlich-esoterischen Zeitgeist bezeichnen?

schaftliche Werte, die bisher als «abnorm» Empfundenes zur Norm erklären (zum Beispiel im gleichgeschlechtlichen Bereich). Humanistisch denkt auch die Wissenschaft, besonders bahnbrechend in der Medizin zu sehen: Alles, was dem Menschen irgendwie dienen könnte, wird «erforscht» – und dabei im ethischen Grenzbereich manövriert (Beispiel Genmanipulation). Hier die eisernen Gesetzeselemente, dort Liebe, Mitgefühl und leere (= tönerne) Versprechen. Oft hat der gesundvernünftig denkende Zeitgenosse den Eindruck: Das hält nicht zusammen! Als biblisch gesinnte Christen sind wir oft in einem Dilemma. Wir sind herausgefordert – besonders, was die Toleranz gegenüber andersdenkenden Menschen angeht. Da gilt es, das Wort Gottes mit Gebet um fördernde Antworten zu studieren!

b) Eisern durchgreifen und human behandeln Wir sind sehr stark umgeben von gesetzlichen Regelwerken. Gerade die EU ist ein gutes Beispiel dafür. Auf der anderen Seite findet aber auch eine starke Betonung von Menschenrechten und Bekämpfung von – auch scheinbarer – Diskriminierung (wie Rassismus) statt. «Humanistisch geprägt» zeigen sich nicht nur die sozialen «Errungenschaften», sondern auch veränderte gesellcz 4|05


werte und zeitgeist | prophetisch den zeitgeist ...

«Verstehen wir das?» Matthäus 19,10-12 als zeitgeistlicher Bibeltext zum Weiterdenken Zunächst: In 5. Mose 29,28 steht schon, dass alles (in der Schrift) Geoffenbarte den Menschen gehört. Nur das Verborgene gehört Gott. Also muss sich der Suchende tiefer in den jeweiligen Text begeben und – dranbleiben, bis er versteht. Versteht er, muss er weiter dranbleiben, um besser zu verstehen, denn er wächst ja im Glauben und in der Reife. So blieb ich an obigem Text dran. Dieser Text hat mit Sexualität zu tun. Mit einer Sexualität, die eine Ehe verhindert. Nun zu Matthäus: Hier geht es um die fast entsetzte Reaktion der Jünger Jesu, dass es, bei all den möglichen Problemen, nicht förderlich sei zu heiraten. Jesus antwortet: «Nicht alle fassen dieses Wort (da gibt es also schwierig zu begreifende Zusammenhänge im Bibelwort!), sondern denen es gegeben ist (das sollte man durch stetiges Lesen und Beten herausfinden!), denn es sind Verschnittene, die von Mutterleib so geboren sind; und es sind Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es sind Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben, um des Reiches der Himmel willen. Wer es zu fassen vermag, der fasse es.» Das Wort «Verschnittener» und «verschnitten» heisst auf griechisch «eunuchos» (Nomen) und «eunuchizo» (Verb). Selbst der nicht griechisch Lesende sieht sofort das deutsche

Lehnwort «Eunuch». Es ist einer, der durch Sexualverkehr nicht zeugungsfähig ist, weil er kastriert wurde. Da der obige Text aber mehr als den geschlechtlichen Verkehr und eine buchstäblich verstandene Kastration meint, ersieht man am Anfang und Ende des Zitats: Man wird nicht kastriert geboren, sondern einige «kastrieren» sich selbst «um des Reiches der Himmel willen» – also eine geistige Art der Kastration. Ausser dem Eheverzicht von Priestern und Mönchen (Zölibat) gibt es gewiss noch andere Erklärungen dazu. Kann «von Mutterleib an verschnitten» beispielsweise heissen, dass sich jemand in seiner gesellschaftlich erwarteten Rolle als Mann nie zurechtfand? Und der nicht heiraten konnte, weil er an Frauen keinen Gefallen fand? Der aber wohl eine Sexualität in sich reifen spürte – und eine homosexuelle Richtung einschlug? Ganz sicher: Es geht hier nicht um die moralisch wertende Frage «Homosexualität ja oder nein?», sondern nur um neue Denkansätze, die auch biblisch durchzudenken sind. Weiter heisst es im Text, dass es «von Menschen Verschnittene» gebe. Deshalb möchte ich herausfinden, wie ich diesen Menschen nachgehen soll, um eine eventuell gewünschte Hilfe anzubieten und eine Lebensverbesserung zu finden. Denn was von Menschen «verschnitten» wurde, dort können Menschen helfen! Ohne dass der Zeitgeist auch uns Christen mehr und mehr mit Homosexualität konfrontierte, würden wir kaum unsere traditionell verstandenen Positionen überdenken.

Der Traum Daniels: Die Tiere aus dem Meer Auch Daniel hat einen Traum, der in Kapitel 7 beschrieben ist. Er sieht aus dem Meer (Symbol für die Völker) vier grosse Tiere aufsteigen, eines nach dem anderen. Er erkennt in ihnen die Symbole der Macht – und des Handelns – der Weltreiche. Wir würden diese Tiere heute wohl als «Wappentiere»2 bezeichnen. Daniel bekommt durch sie einen Einblick in die dahinterliegende Gesinnung dieser Weltreiche und ihres jeweiligen Zeitgeistes. Erstes Tier: Mischung aus Löwe, Adler, Mensch Einige denken sofort an die Sphinx bei den grossen ägyptischen Pyramiden, die sich aus Menschenantlitz, Löwenpranken, Adlerflügeln und Stierleib zusammensetzt. In Babel gab es Tausende von Sphingen, die aus der Religiosität der alten Ägypter übernommen wurden. Der Löwe zeigt die Majestät und den Raubtiercharakter Babels an, die Flügel die Engelsmächte, die Nebukadnezar wieder ein menschliches Herz nach seiner Erniedrigung gaben (siehe Daniel, Kapitel 4). Daniel schaut in seinem Traum in das geistlich zu verstehende Innenleben der Weltreiche. Nebukadnezar sah nur die Aussenseite. Schauen wir in das Innenleben unserer Kirchen, Gemeinden und der christlichen Werke – erkennen wir nicht hier und dort ähnliche geistlich-religiöse Vermischungen nach babylonischem

2 Viele Staaten führen wilde, aggressive Wappen-

tiere in ihren Wappen (Wappenkunde = Heraldik). Stehen sie nicht für die «Gesinnung» dieser Staaten? Denken wir an den gefrässigen russischen Bär, der aber nicht nur im riesigen russischen Reich zu finden ist, sondern auch im vergleichsweise winzigen Kanton Bern! Weitere Beispiele sind: der französische Hahn, das englische Einhorn, der spanische Löwe und der deutsche Adler.

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Muster? Interessanterweise hatte Jesus in seinen Himmelreich-Gleichnissen (Matthäus 13) oft diese Bilder der Vermischungen erwähnt. Zum Beispiel in Vers 33: «Das Reich der Himmel ist gleich einem Sauerteig, welchen eine Frau nahm und unter drei Mass Mehl verbarg, bis es ganz durchsäuert war.» Nach Jesu Warnung in Lukas 12,1 steht Sauerteig symbolisch für «Heuchelei», also eine (geschauspielte) Vermischung zwischen äusseren und inneren Aussagen. Darum wird das Reich der Himmel, die Durchmischung (Ausbreitung) des Evangeliums in dieser Welt, nicht nur positive, sondern auch heuchlerische Ausgestaltungen finden – vielgesichtige, verlogene wie die babylonische Sphinx: Nach aussen hin gut

Wenn Geduld zur verlorenen Tugend wird, dann wird Ruhe zum verlorenen Gut, Stille und Besinnung zu Luxus. Doch am schlimmsten ist die innere Unruhe, die wohl heute jeder empfindet, wenn er Ruhe zulässt. organisierte Gottesdienste, nach innen hin Leere. Nach aussen gezeigte Bruderschaft, nach innen Machtkämpfe. Nach aussen gezeigte Offenheit, nach innen enge Lieblosigkeit. Nochmals zum Beispiel Sexualität: Die Sünden wie Geiz, Unversöhnlichkeit, Neid und dergleichen werden weitaus weniger «von der Kanzel geächtet» als Vergehen im geschlechtlichen Bereich. Oder: Hartherzige Leiter gibt‘s zuhauf in den freien Gemeinden. Und heimliche Hurer vielleicht einige mehr, als man denkt. – Aber einem «ertappten» Sexsünder selbst nach seiner Busse (Umkehr) wieder öffentlich Vertrauen auszusprechen, geschieht selten. Oder wie wäre es mit einem Homosexuellen in einer Leiterschaft? Undenkbar, auch wenn er die besten Charaktereigenschaften hätte und nicht «werben» würde für seine Lebensweise. Nochmals: Es geht hier nicht um Rechtfertigungen, 16

sondern um Denkanstösse. Wenn wir uns immer wieder neu Gott in einer echt erlebten Beziehung «aussetzen», so wird er uns vor den Auswüchsen der Heuchelei, der babylonischen Vermischung im Geist, bewahren. Zweites Tier: der Bär Das persisch-medische Reich gleicht einem gefrässigen Bären, auf einer Seite nach Bärenart höher aufgerichtet. Dies deutet an, dass Persien stärker war als Medien. Der Bär frisst viel Fleisch. Dieses Reich dehnte sich durch seine Eroberungskriege viel weiter aus als Babel und «verschlang» somit viel Fleisch. Der persisch-medische Geist hat – symbolisch gesehen in Daniel 2 – mit Geld und Handel zu tun. Da merken wir auf: Wie die letzten Kriege in Kuwait, Afghanistan und im Irak haben Eroberungskriege auch heute mehr wirtschaftliche Hintergründe, als von den kriegführenden Parteien zugegeben wird. In unseren europäischen Breitengraden kommt der geistlich gedeutete Aspekt der unzähligen Wirtschaftsopfer hinzu: die Entlassenen, Arbeitslosen, Ausgesteuerten und psychisch Ruinierten, die nach langen treuen Dienstjahren dem Moloch Gewinnmaximierung geopfert wurden. – Der Bär «Wirtschaft» frisst viele Menschen! Drittes Tier: der Panther Der Panther deutet auf das griechische Weltreich hin, das Alexander der Grosse in kürzester Zeit eroberte. Schneller noch als ein normaler Panther rennt, denn er flog mit vier Flügeln, seinen vier Feldherren, die auch nach seinem Tod als «vier Köpfe» dargestellt werden. Die zeitgeistliche Entsprechung weist auf die Schnelligkeit unserer Gesellschaft hin. In jeder Hinsicht muss alles heute «fliegen». Die elektronische Vernetzung unseres Planeten zeigt es am deutlichsten. Nachrichten aller Art reisen jeden Tag milliardenfach hin und her. Das tägliche

Arbeiten wird oft zur Hetze, im Verkehr sieht es ähnlich aus. Geduld wird zur verlorenen Tugend unserer Zeit! Alles soll sofort machbar und erhältlich sein. Anschaffungen? Ja, sofort! Kein Geld? Wozu gibt es denn Kreditinstitute? Dieser Lebensstil bringt Stress, Stress macht krank – aber die nötige Heilung muss auch «subito» (schnell) geschehen! So ersetzen Medikamente die Bettruhe. Das Lebensrad dreht sich immer schneller ... und macht ... Lärm! Lärm überall, nicht nur bei den ewigen Baustellen. Wenn Geduld zur verlorenen Tugend wird, dann wird Ruhe zum verlorenen Gut, Stille und Besinnung zu Luxus. Doch am schlimmsten ist die innere Unruhe, die wohl heute jeder empfindet, wenn er Ruhe zulässt. Da hätten wir Christen Alternativen: periodischer Rückzug in die Abgeschiedenheit und Stille vor Gott, innere Kraft tanken, Lebensformen überdenken, Gemeinschaft mit Gottes Geist suchen! Viertes Tier: zehn Hörner und eiserne Zähne Nach Nebukadnezars Traum waren es fünf Weltreiche. Da aber von Daniel kein fünftes Tier gesehen wird, achten wir genau auf die Aussagen hier im Text.Es werden zwei Reiche, die beiden letzten, miteinander gesehen. Ein «schreckliches» Tier! Alle schrecklichen Charaktereigenschaften aller Weltreiche scheinen sich in diesem Tier zu konzentrieren. Mit eisernen (siehe obengenannte EisenSymbolik) Zähnen zermalmt und frisst es alles. Und mit seinen Füssen zertritt es das Übrige. Das Eisen und die Füsse geben den vergleichenden Hinweis zu Daniel 2. Die zehn Hörner weisen weit in die Zukunft: zu Offenbarung 13,1-2. Dort taucht dieses Tier wieder in der Vision von Johannes auf: als Chimäre (= Mischwesen) aus Löwe, Panther und Bär. Auch bei diesem Tier sieht Daniel Menschenaugen und einen Mund, der prahlerisch redet. cz 4|05


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Viele Ausleger sehen hier einen Hinweis auf den kommenden Antichristen, der dieses letzte Weltreich anführen wird. Nach diesem allen schaut Daniel ein grosses Gericht, ähnlich wie ja auch im Traume Nebukadnezars die Weltreiche ins Gericht – in die Zerstörung – kommen.

«Kriminalitätsbekämpfung» – alles andere als demokratische Freiheiten oder gar rechtsstaatlichen Schutz der Bürger. Die raubtierhaften Züge aller Weltreiche vereinigen sich im letzten Weltreich: «Das Tier» steigt aus dem Völkermeer auf (Offenbarung 13,1 ff.).

oft Zeit: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.»

Zusammenfassende Interpretation der Symbolik nach Daniel 7

Der Zeitgeist lehrt uns ...

Drittens war Daniel ein Mann der Schrift (9,2) und verglich sie mit dem Zeitgeschehen. Jesus war traurig über die Leute seiner Zeit, die nicht forschten und die Zeichen ihrer Zeit nicht erkannten (Lukas 12,56 und 19,42-44). Ich bin überzeugt, dass sich Hebräer 5,14 praktisch im Leben auswirkt. Ich zitiere frei: «Wenn man die Gewohnheit hat, in der Bibel zu lesen und darüber zu sinnieren, wird man lernen, Gutes und Böses zu unterscheiden.»

Der Zeitgeist setzt sich aus Komponenten zusammen, die in ihrem Wesen raubtierhaft sind. Selbst das Humanistische, das scheinbar Gute, wird uns eines Tages zerreissen. Wer würde heute gerne auf den Segen der persönlichen Freiheit verzichten, den ihm – scheinbar – die Menschenrechte bieten? Wer im Westen wollte nicht in einer Demokratie leben? Die Liste der Fragen liesse sich leicht verlängern, doch wer denkt dabei, dass wir mit unserem Zeitgeist auf eine antichristliche Weltordnung zusegeln? Die Neue Weltordnung (New World Order) hat schon längst begonnen3! Demokratie und Toleranz sind Schlagworte der Mächtigen in der westlichen Welt. Jedoch zeigten die demokratischen Beschlüsse von Senat und Kongress in den USA nach dem 11. September 2001 ein anderes Gesicht. Unter dem Schock der Ereignisse (siehe obengenanntes Stichwort «Philosophie und Emotionen») wurden Kontroll- und Überwachungsgesetze durchgebracht, die vorher vermutlich Jahre an politischem Tauziehen gebraucht hätten. Diese Kontrollgesetze werden nun anderen Staaten und ihren Bürgern aufgezwängt. Wer einen tieferen Einblick in die neuen Gesetze der EU nimmt, entdeckt dort – Stichwort

3 Mehr dazu ist auf der 1-Dollar-Note mit ihrer un-

zweideutigen Symbolik ersichtlich. Eine diesbezügliche «Bildbetrachtung» mit Hintergrundinformationen ist auf www.xandry.ch einsehbar.

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... dass wir uns mit unserer Zeit auseinander setzen müssen. Es ist mehr denn je geboten, der Herausforderung des Zeitgeistes zu begegnen, mit all unserem Denken und Handeln. Wir alle sind davon umströmt. Als Christen sollten wir diese Tatsache nicht sofort abweisen, sondern mit Weisheit und Verständnis zu durchschauen suchen, mit Geduld und Glaube dem Zeitgeist zu widerstehen lernen. Das rät uns Johannes im letzten Buch des Neuen Testamentes, in der Offenbarung. Diesem Rat möchte ich folgen.

Daniels Überlebensstrategie Daniel selbst lebte inmitten des gottlosen babylonischen Systems, konnte jedoch auch darin Gott erfahren und ihm dienen. Dafür war er vier Überzeugungen treu, die auch wir in unserer Zeit beherzigen können: Erstens hielt sich Daniel aus der babylonischen Götzenvermischung heraus. Wo immer ich heute eine solche in meinem Umfeld «rieche», werde ich vorsichtig. Moderne Götzen kommen meistens via Medien daher, via Modeströmungen und verführerisches Verhalten. Die Angebote Babylons wollen gut auf das «Kleingedruckte» untersucht werden! Ein bewusst einfacherer Lebensstil als den der Umwelt hilft sehr dabei, die Geister zu unterscheiden. – Ich mache aber auch nicht jede neue Welle bei meinen Glaubensgeschwistern mit. Viel Babylonisches schleicht sich in die Versammlungen ein. Jedoch mit Urteilen darüber warte ich zu. Unterscheidung braucht

Zweitens suchte Daniel Gemeinschaft mit Gleichgesinnten (Daniel 2,17-18) und tauschte sich mit ihnen aus, suchte Ermutigung und Korrektur.

Viertens war er der «Obrigkeit untertan», wie es in etwas altmodischem Deutsch heisst. Das heisst für mich, dass Römer 13, das neutestamentliche Kapitel dazu, immer noch zu beachten ist. Dem Staat kann ich dort gehorchen, wo er nichts Unmoralisches oder Ideologisches/Religiöses von mir verlangt. Ich kann durch Offenheit und praktizierte Nächstenliebe ein Zeuge des Evangeliums Jesu Christi sein. Daniel ging viel weiter als mancher von uns: Er diente Herrschern in despotischen Staatsgefügen und beeindruckte sie durch seine Glaubenshaltung. Widerstand leistete er nicht umstürzlerisch, sondern moralisch. Seine Treue, sein Charakter, sein Glaube – damit «evangelisierte» er.

• Andrea-Giorgio Xandry ist verheiratet mit Eva und Vater von fünf Kindern. Nach einem Kunststudium arbeitete er sieben Jahre bei einer Werbeagentur, danach zwanzig Jahre als Pastor. Heute ist er tätig als Mentor, Bibelund Griechischlehrer.

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FUNDAMENT Man kann nicht zwei Herren dienen Ein Bibellehrer und ein Theologe befragen unser Glaubensfundament «Ich habe feststellen müssen, dass es ein Fehler war, Humanismus als etwas Unwichtiges und Kraftloses anzusehen, als etwas, worüber Intellektuelle an Universitäten sprechen und für Christen nicht von Bedeutung sei.» Mit diesem Gedanken leitet Derek Prince1, einer der letzten grossen Bibellehrer unserer Zeit, ein kleines Buch2 zum Thema «Humanismus» ein. Es gehe ihm darum, so betont er im Schlusskapitel, dass man letztlich nicht zwei Herren dienen könne: dem Wort Gottes und zugleich dem Humanismus. Der Theologe und Pfarrer Paul Veraguth geht mit seiner spitzen Feder noch weiter und spricht von der «Diktatur des Humanismus»3. Zwei Buchauszüge4.

Derek Prince

Die Verführung des Humanismus

1

1915-2003

2 Derek Prince, Die Verführung des Humanismus,

Derek Prince Ministries International, 2000 3 Paul Veraguth, Einen zur Rechten, einen zur

Linken, Schleife Verlag, erscheint 2006 4 Mit freundlicher Genehmigung gekürzt, zu-

sammengefasst und mit neuen Titeln versehen von Tom Sommer

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Ein erhobener Zeigefinger Man stelle sich vor: Die Jünger sind mit Jesus rund drei Jahre lang zusammen, sie erhalten tiefe geistliche Erkenntnis und erleben Zeichen und Wunder. Und genau diesen engen Vertrauten mutet er sein Wort zu: «Lasst euch nicht verführen!» In Matthäus, Kapitel 24, redet Jesus über die Endzeit und spricht mehrfach Warnungen aus, sich nicht verführen zu lassen. «Seht zu, dass euch niemand verführe! Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! Und sie werden viele verführen ...» (24,4-5). «... und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen ...» (24,11). «Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden Zeichen und Wunder tun, um, wenn cz 4|05


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möglich, auch die Auserwählten zu verführen ...» (24,24). Wenn also selbst die Jünger gewarnt werden mussten, so dürfen wir nicht meinen, heute diese Warnungen nicht nötig zu haben. Nicht einmal Zeichen und Wunder sind Garant dafür, wirklich Botschafter der Wahrheit Christi zu sein! Der Apostel Paulus warnte später die Gemeinde in Thessalonich ähnlich, allerdings im Hinblick auf einen «Gesetzlosen», der kommen werde, um sich über alles, ja selbst über Gott, zu erheben, und der den Anspruch stellen werde, selbst Gott zu sein. Paulus wörtlich: «Dass niemand euch auf irgendeine Weise verführe! Denn dieser Tag – ‹der Tag des Herrn› – kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall gekommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit geoffenbart worden ist, der Sohn des Verderbens» (2. Thessalonicher 2,3). Der in unserem Thema wichtige Aspekt dieses Verses ist der Abfall (griechisch «apostasia», was so viel wie «Abkehr von der offenbarten Wahrheit» heisst). Offensichtlich bewirkt diese Abkehr von der offenbarten Wahrheit, vom Wort Gottes, dass sich das Böse zunehmend den Weg bahnen kann. Wenn sich die Gemeinde der Gläubigen von der Autorität des Wortes Gottes abwendet, öffnet das den Kräften der Gesetzlosigkeit Tür und Tor. Dies ist ein schleichender Prozess, aber in der Zurückdrängung des jüdischchristlichen Erbes doch deutlich zu erkennen. Oft sind Relikte – zum Beispiel Kirchen, Formeln des Verhaltens oder Worthülsen im Gegensatz zu ernsthaften und überlegten Gedanken und Taten – Kennzeichen dieser Entwicklung.

Geschichte ist oft eine sanfte, aber wirkungsvolle Macht, uns von Gott wegzuziehen. Ein englisches Wörterbuch definiert wie folgt: «Humanismus ist die Verneinung jeglicher Kraft oder aller moralischer Werte, die dem Menschen (der Schöpfung) übergeordnet sind; die Zurückweisung und Ablehnung von Religion zugunsten der Annahme, dass sich die Menschen (die Schöpfung) aus eigenem Antrieb weiterentwickeln werden.» Zwei Worte dieser Definition haben mich besonders stutzig gemacht: «Ablehnung» und «Zurückweisung». Damit ist der Humanismus ganz klar eine Grundhaltung, die Gott beiseite schiebt und den Menschen selbst an dessen Stelle setzt. Über welche Wege passiert das? a) Lust und Autorität In 1. Mose 3,1-7 lesen wir über die Begegnung der Schlange mit Eva im Garten Eden. Die Schlange, listiger als alle anderen Tiere, stellte gleich die Kardinalfrage: «Hat denn Gott wirklich gesagt, man dürfe von keinem Baum essen?» Eva konnte richtig antworten, sie war im Bild. Aber die Schlange konterte und stellte das Wort Gottes, das Eva gerade zitiert hatte, als Lüge hin. Mehr noch, sie stellte das Gebot quasi als üblen Trick Gottes dar, dass ihm ja niemand in die Karten schauen könne. Offensichtlich war Eva beeindruckt, sie nahm die Frucht, ass davon und machte sie auch dem Adam schmackhaft. Und in dem Moment erkannten sie ...

Zwei Aspekte, Lust der Augen und Autorität, die zu dieser verhängnisvollen Entwicklung führten, möchte ich beleuchten. Zunächst unsere «Lust der Augen». In Vers 6 des oben erwähnten Abschnittes heisst es, dass Eva sah, dass der Baum gut zur Speise, dass er eine Lust für die Augen und begehrenswert sei, Einsicht zu geben. Es heisst ausdrücklich «und die Frau sah». Das bedeutet, sie konzentrierte sich auf ihre Sinne und liess das Gebot des Wortes Gottes ausser Acht. Es ging hier um drei konkrete Dinge: 1. dass die Frucht gut zu essen sei (das heisst, dass sie gut schmecken würde), 2. dass sie eine Lust für die Augen sei (das heisst, schön anzusehen), 3. und dass sie einen klug machen könne. Damit sind drei Dimensionen beschrieben, die Menschen «schwach werden» lassen, so dass sie von ihren Überzeugungen abweichen, sie einer Anfechtung erliegen. Die Lust der Sinne stellt uns oft vor die Wahl: Entweder schmerzt es, wenn es darum geht,

Die Wurzeln der Verführung Das Gedankengut des Humanismus mit seiner vielfältigen, langen und komplexen cz 4|05

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gewisse Dinge nicht zu beachten, einfach sein zu lassen, oder es schmerzt später, wenn wir die Folgen eines Weges, abseits von Gottes gesetztem Rahmen, ertragen müssen. Eine Kreuzigung ist immer schmerzhaft! Der zweite Aspekt gilt der Frage, welche Autorität gilt. Eva begab sich ausserhalb der göttlichen Ordnung, von der ihr Mann Adam ein Teil war. Alleine konnte sie mit dieser an sie gerichtete Versuchung nicht umgehen, es fehlte ihr der Schutz. Sie hätte zumindest antworten müssen, noch mit Adam darüber zu sprechen bzw. auch an ihn die Frage zu richten. Stattdessen liess sie sich auf eine Diskussion mit der Schlange ein, wodurch sie sich aus dem ihr von Gott gegebenen Autoritätsbereich entfernte. So läutete sie den Anfang vom Ende im Paradies ein. Wir müssen uns heute der Frage stellen: Stehe ich unter der Autorität Gottes bzw. unter einer Autoritätsbeziehung zu 22

Menschen? Im Allgemeinen müssen wir anerkennen, dass Gott bestimmte Menschen als Autorität über uns gesetzt hat. Leiterschaft anerkennen ist ein lebenswichtiges Thema. Zu oft habe ich erlebt, dass das Handeln aus eigener Motivation, ohne den Schutz einer geistlichen Autorität, früher oder später zu Schwierigkeiten führt. Noch einmal: Eva machte einen grossen Fehler, als sie der Schlange zuhörte, als diese die Wahrheit des Wortes Gottes in Frage stellte. Es denke bloss niemand, klug genug zu sein, mit dem Bösen argumentieren zu können! Viele Theologen haben den gleichen Fehler begangen wie Eva, indem sie auf die Frage der Schlange eingingen. Mit welchem Resultat? Die Autorität des Wortes Gottes wurde weggeworfen und an seine Stelle eine menschliche Theologie gesetzt. Und das hat Konsequenzen nicht nur für diese Theologen, sondern auch für das Leben jener, die unter ihrem Einfluss stehen. Jesus hat für die Menschen bei seinem Vater im Himmel Fürbitte eingelegt und darum gebeten, er möge sie durch die Wahrheit heiligen; sein Wort sei die Wahrheit (Johannes 17,17). Ja, wir haben es nötig, uns dem Bekenntnis des Psalmisten anzuschliessen, der sagt: «In Ewigkeit, Herr, steht dein Wort fest in den Himmeln» (Psalm 119,89). b) Stolz und seine Überwindung Die meisten Probleme in unserem Leben haben irgendwie mit Stolz zu tun. Wie bei Eva wollen wir nicht akzeptieren – oder haben zumindest Mühe damit –, dass es bezüglich der Freiheiten im Leben bestimmte Einschränkungen gibt. Zutiefst klagen wir Gott an, er enthalte uns gewisse Dinge vor – und glauben damit der alten Argumentation, die die Schlange der Eva schon vortrug. Sinngemäss wurde Evas Stolz mit den Worten genährt: «Wenn du von diesem Baum isst, wirst du nicht länger von Gott abhängig sein; du wirst sein wie er.» Mit diesem

Schritt zur Unabhängigkeit trennen wir uns von Gott und begehen damit die Sünde. Es bedeutet, nicht Gottes Definition von Gut und Böse zu akzeptieren, sondern diese Frage selbstherrlich zu klären und zu entscheiden, ja eigene Wertmassstäbe aufzurichten. Grundsätzlich steckt dieser Wunsch in jedem von uns. Das ist der natürliche Mensch. Die Rebellion gegenüber Gott beginnt unter Umständen schleichend. Warum? Wenn wir unser Herz nicht gegenüber der Wahrheit öffnen, wenn wir uns der Liebe zur Wahrheit verschliessen, stehen wir in Gefahr (2. Thessalonicher 2,10). Im griechischen Urtext steht für die Wahrheitsliebe das Wort «Agape», was «leidenschaftlich», «hingegeben» und «bedingungslos» bedeutet. Das meint sicher mehr, als am Wochenende zehn Minuten lang die Bibel zu lesen oder morgens ein paar Minuten «Stille Zeit» zu haben. Agape ist mehr! Eine Warnung Der Prophet Jesaia spricht ein klares Wort: «Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse. Die Finsternis zu Licht machen und Licht zur Finsternis. Die Bitteres zu Süssem machen und Süsses zu Bitterem. Wehe denen, die in ihren eigenen Augen weise sind und sich selbst für verständig halten» (Jesaja 5,20-21). Der Prophet spricht hier eine Warnung aus, die ganz sicher auch für unsere heutige Zeit gilt. Es geht um die Ablehnung aller absoluten Werte und die Verdrehung der Massstäbe, was uns zum Teil gar nicht mehr auffällt. Wie oft wird heute Böses gut und Gutes böse genannt! Vielleicht haben wir uns (unbewusst) schon damit abgefunden, dass «die Wahrheit auf dem Marktplatz gestürzt ist und die Geradheit keinen Eingang mehr findet. Und so geschieht es, dass die Wahrheit fehlt, und wer sich vom Bösen fernhält, wird beraubt» (Jesaja 59,14-15). In welcher Athmospähre leben wir? cz 4|05


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Paul Veraguth

Umkehr der Werte – die Diktatur des Humanismus Die Diktatur des Marktes (Gewinnmaximierung, Arbeitslosigkeit, Armut usw.) werden viele Menschen nicht überleben, aber die Diktatur des Humanismus wird zur quälendsten Phase der Menschheitsgeschichte für alle, deren Gewissen noch am Leben ist. Denn machtlos in der Marktwirtschaft am Rande zu stehen, das ist noch eines. Aber zusehen zu müssen, wie unschuldige Menschen missbraucht, seelisch verstümmelt, schon im Kindesalter verführt und mit der ganzen SexSauce übergossen werden – und dann gegen das Diktat dieses Humanismus nichts mehr sagen zu können, das ist das andere. Gesetze werden all jene zu Volksfeinden machen, die dem breiten Pfad des Lustprinzips weder glauben noch folgen, sondern davor warnen. Sie werden wegen Diskriminierung abgestempelt werden. Wenn also einmal neu definiert ist, was human ist, zum Beispiel dass man Kinder im Mutterleib tötet, dass man Kinder als Objekte sexueller Bedürfnisse brauchen kann oder dass Schwule und Lesben Kinder adoptieren dürfen, dann ist auch schon im nächsten Augenblick definiert, was nicht human ist, was also unmenschlich ist: Als unmenschlich werden solche Menschen hingestellt, die die neue Humanismus-Vision nicht teilen. Ihre Warnung wird mit Hass und Hetze gleichgesetzt. Christenmensch, höre! Höre, was für eine Stunde geschlagen hat! Wenn du heute ein ungeborenes Kind in Schutz nimmst, wenn du ein geborenes Kind in Schutz nimmst, wenn du einen Schwulen, der sich sexuell neu orientieren will, unterstützt und erniedrigende, ausbeuterische und identitätsberaubende Praktiken beim Namen nennst, wirst du in Bälde mit dem Gecz 4|05

setz im Namen des Humanismus in Konflikt geraten. Denn dieses Gesetz gibt sich selber Recht, nicht den Gefährdeten. Was wohl tut, ist gut, ist erlaubt und ist gegen jede Hinterfragung zu schützen. Wir werden noch Zeiten sehen, in denen Johannes der Täufer einmal mehr im Gefängnis liegt, weil er Unrecht Unrecht, Sünde Sünde und Missbrauch Missbrauch genannt hat. Er wird draussen kaum noch Anwälte finden. Die werden in der Zelle nebenan sitzen. Diese Gesetze, die so vollmundig und sachkundig Freiheiten verkünden und eröffnen, werden das Ende ganz anderer Freiheiten markieren: Das Gewissen und das Evangelium werden zu schweigen haben. Es wird verboten sein, Menschen aus diesem Treiben herauszurufen. Sünden wird es nicht mehr geben, also wird man auch niemanden aus Sünden herausrufen dürfen. Trotzdem wird genau dies natürlich getan werden durch Menschen, die den entsprechenden Preis bezahlen. Und die Kirche? Wo war die Kirche bei den verschiedenen Gelegenheiten, wo es darum ging, Stellung zu beziehen? Ist sie heute mutiger geworden? Theologen in Zürich haben im Frühjahr 2005 gefordert, dass ein Moratorium für die Opfertheologie anberaumt werde: Für die folgenden fünfzig Jahre dürfe, so die Forderung, nicht mehr der lästige Gedanke und die unmenschliche Theorie, Christus sei als Opfer gestorben, verbreitet werden. Dies vertreibe die Menschen aus den Kirchen. Es zeichne einen grausamen Gott. Eine solche Welt wird als ungemütlich und wenig heimelig empfunden, wo für Menschen und deren Lebensqualität mit Blut zu bezahlen ist. Der Mensch, so die Vorstellung, habe wenig Würde, wenn man für ihn sterben müsse, bloss damit er ein anständiges Christenleben führen könne. Und zudem mache ein solch grausamer Gott nicht gerade gute PR für seine Sache.

In Gesellschaft mit Petrus Erinnern wir uns an Petrus, der gesagt hat: «Das widerfahre dir nur ja nicht, dass du gekreuzigt werdest!» Petrus «roch»das Ende. Er ertrug es nicht. Vielleicht grübelte er so: «Es sollte doch einen Weg an diesem Tod vorbei geben. Das Leben sollte doch mehr sein als Tod. Es liesse sich doch noch einiges verbessern – ja, Jüngerschaftsprogramme, Bevollmächtigungen, Kraftorte, Geheimlogen ... Wer immer strebend sich bemüht, den können wir doch wirklich erlösen!» Petrus fühlte noch Kraft in seinen Gliedern, er hatte doch eine regelrechte Blutauffrischung durchgemacht. Er hatte Volksmassen gesehen, Heilungen, hatte eine Idee von einem andern Reich mitten im galiläischen Hinterland bekommen, also in dieser Welt, und sein Meister hatte sogar gesagt: «Das Reich ist mitten unter euch» (Lukas 17,21). Und vielleicht dachte Petrus jetzt: «Warum zum Teufel dieser Humus, dieser Tod? Wenigstens ein Opfermoratorium bis anno ... Dann wäre Jesus vielleicht achtzig, da sähe alles anders aus. Aber jetzt ist Jesus doch da, in der Vollkraft seines Lebens, und mit dem Rückenwind des VolAls unmenschlich werden kes!» So hatte sich solche Menschen hingestellt, Petrus gerade in die die neue Humanismusguter Absicht in Vision nicht teilen. eine Verhinderungsaktion hineingesteigert, da trifft ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel: «Teufel!» Der Teufel ist also nicht in diesem Ärgernis vom Kreuz, sondern er ist in Petrus persönlich am Werk. Er ist so sehr in dieser Denkweise des Petrus wirksam, dass sich Jesus eine solche Brüskierung des Kapitäns der Zwölf erlaubt: Er identifiziert ihn mit dem Satan. Und was ist das Teuflische an diesem plausiblen Einwand von Petrus, das solle Jesus nur ja nicht widerfahren? Er sinnt, was menschlich, hominum, ist, nicht was göttlich, divinum, ist! Man kann nicht zwei Herren dienen. 23


GEISTLICHE WELLEN Wie beständig sind Ewigkeitswerte? Geschichtlicher Wandel und Wellen des Heiligen Geistes. Geschichtlicher Wandel betrifft auch den christlich gesinnten Menschen. Verändert dieser Wandel auch seine Wertvorstellungen? Kennt er Werteverschiebungen? Und wie begegnet ihm Gott im Wandel der Zeit? Wie gehen Christen damit um, dass es Wellen des Heiligen Geistes gibt, die nach einiger Zeit wieder abebben und neuen geistlichen Bewegungen Platz machen?

Beat Rink Solche schwerwiegenden Fragen in Kürze befriedigend zu beantworten, ist unmöglich. Trotzdem wollen wir ansatzweise einige Antworten geben. Zuerst zur Frage nach den Werteverschiebungen: Das Wort klingt etwas bedrohlich. Hören wir da nicht sogleich den Begriff «Wertezerfall» mit? Wir müssen uns zuerst darüber klar werden, was wir unter «Werten» verstehen: Sind damit Ordnungen gemeint wie Jesu Doppelgebot der Liebe oder die Zehn Gebote, die zumindest für uns Christen unverbrüchlich sind? Oder denken wir an andere Werte, Regeln oder Anschauungen, die wohl eher zeitgebunden gelten? Denn viele von ihnen sind tatsächlich fliessend. Bereits die Vorstellung davon, wie man die Zehn Gebote oder die Bergpredigt umsetzen soll, ist vom Wandel der Zeit mitbestimmt. Wie verhält es sich zum Beispiel mit dem fünften Gebot: «Du sollst Vater und Mutter ehren»? Für die Israeliten war es eine Weisung zur Altersversorgung, eingebettet in den tiefen Respekt gegenüber den Eltern. Denn im 24

Alten Israel war die ökonomische Versorgung der Alten keineswegs selbstverständlich. Was heisst nun aber das fünfte Gebot heute? Ist es damit erfüllt, dass wir die Eltern in Alters- und Pflegeheime abschieben? Dort ist ja der Lebensstandard bestens gesichert, und neuerdings werden auch Streicheltherapien für die emotionalen Defizite angeboten. Bestimmt, das fünfte Gebot ist damit gerade nicht erfüllt. Wir sehen: Schon die Gebote müssen, ohne dass an ihrem Gehalt Abstriche gemacht werden, in die jeweilige Zeit hinein übersetzt und hier und jetzt zur Geltung gebracht werden.

Mit dem kulturellen Wandel verschieben sich Werte Zum kulturellen Wandel gehört: Altes aufnehmen, umgestalten und Neues entwerfen. Kraft seiner schöpferischen Fähigkeiten bringt der Mensch einen kulturellen Fortschritt in Gang, der zuweilen in gewaltigen, die Gesellschaft erschütternden Schüben (man denke an die technischen Revolutionen) verläuft. Oft bleibt da im Gesellschaftsgefüge kein Stein auf dem anderen, und auch Weltbilder und

Wertvorstellungen geraten meist gehörig durcheinander. Leider geht mit dem technischen nur selten auch ein moralischer Fortschritt einher. Betrachten wir ein paar Beispiele: Man schlendere, um sich den schnellen Wandel der Zeit vor Augen zu halten, nur einmal in einem Kunstmuseum von der alten zur modernen Abteilung hinüber. Wie verändern sich da doch die Malweisen, geschweige denn die Themen! Hier ein mittelalterlicher Altar, dort der Einblick in eine bürgerliche Wohnstube mit Familienidyll. Hier ein niederländisches Landschaftsbild mit unendlich weitem Himmel, dort eine düstere Fabrik mit bedrückt umherschleichenden Menschen. Man versuche nun, die jeweils neuen Bilder mit den Augen der älteren Meister zu sehen und sich zu fragen: Was hätte Rembrandt über van Gogh gesagt? Und wie hätte sich wohl van Gogh über Salvador Dalí geäussert? «Pantha rhei» – «Alles fliesst», sagte schon der antike Philosoph Heraklit. Dass sich in diesem rasanten Lauf der Geschichte und im Wandel der Kulturen auch Wertvorstellungen und Weltanschauungen bei cz 4|05


werte und zeitgeist | wie beständig sind ...

Christen verändern, ist gar nicht anders möglich. Oder wenden wir uns kurz der Mode zu: Sie ist bereits im Neuen Testament ein (Rand-)Thema. Paulus verbietet den Männern in 1. Korinther 11,1-16 bekanntlich die Kopfbedeckung, während er sie von den Frauen verlangt. Man lässt zwar im christlichen Abendland diese Kleiderordnung bald einmal beiseite, hält dafür aber an einer verkürzten, mehr männlich geprägten denn biblisch sauberen Ausdeutung fest, wonach der Mann das bestimmende «Haupt» der Frau sei. An diesem Punkt entstehen auch heute noch Reibungen zwischen verschiedenen «christlichen Kulturen». Und noch einmal das Thema «Mode»: Bei einer internationalen christlichen Konferenz gestaltete eine amerikanische Gruppe das Teenie-Programm. Nach zwei Tagen gab es ein brennendes Problem: Manche europäischen Girls wollten sich auf keinen Fall einer Regel beugen, die erst während des Camps erlassen worden war: Tops mit Spaghetti-Trägern seien im Schrank zu lassen ... Was lehren uns diese Beispiele? Es ist wirklich so: Wir haben zeit- und kulturbedingte Wertevorstellungen. Und wir haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie diese Grundwerte in einer bestimmten Situation umzusetzen seien. Wollen wir nicht einem starren, religiösen Regelwerk erliegen, das Menschen gefangen hält, so wie es Jesus bei den Pharisäern erlebt hat, dann müssen wir um unsere Werte richtiggehend ringen. Dabei gilt es, zwei Dinge im Blick zu haben: die unverbrüchlichen ethischen Konstanten einerseits und die kulturell und geschichtlich gewachsene Vielfalt der Meinungen andererseits.

Gott geht mit unserer Geschichte mit Eigentlich müsste uns dies leicht fallen. Denn keine anderen Religionen nehmen cz 4|05

die Geschichte so ernst wie die jüdische und die christliche. Die Bibel ist weitgehend ein Geschichtsbuch, und das apostolische Glaubensbekenntnis spricht nicht zufälligerweise von einem konkreten historischen Datum: «Gelitten unter Pontius Pilatus». Dass ein geschichtliches Ereignis höchsten Ewigkeitswert hat – die Kreuzigung Christi –, ist religionsgeschichtlich einmalig und höchst bedeutungsvoll! Gott offenbart sich in der Bibel und in der Kirchengeschichte immer wieder als der, der den Gang der Geschichte ernst nimmt. Und dies nun nicht in negativem Sinn – als sei die Gestaltung von «Kultur» und «Geschichte» durch den Menschen an sich sündhaft und verwerflich. Bereits im Garten Eden lässt Gott Adam die Tiere benennen – und gibt ihm so einen konkreten kulturellen Auftrag: sprachschöpferisch tätig zu sein und zugleich Herr über die Tierwelt zu werden. Interessant ist in diesem Text ein Detail: Gott sieht zu, wie der Mensch die Tiere benennt (1. Mose 2,19). Schon hier und nicht erst nach dem Sündenfall lässt Gott den Menschen schöpferisch tätig werden! Der Mensch darf so Kultur gestalten – und später, jenseits von Eden, muss er dies sogar, um überleben zu können. Aber auch dann gilt noch: Gott zieht sich nicht von der Geschichte des Menschen zurück, so unheilvoll diese auch sein mag. Er nimmt sie ernst, er geht auf sie ein – und er geht, wenn man das so sagen darf, mit der Geschichte mit. Eine der markantesten Weichenstellungen im Volk Israel zeugt davon: Beeindruckt von den Völkern ringsumher und zugleich erschüttert von inneren sittlichen Wirren («Zu der Zeit war kein König in Israel, jeder tat, was ihn Recht dünkte», Richter 21,25), möchte Israel auch ein gekröntes Haupt haben. Dies ist nicht nach Gottes Plan, da er sein Volk selber leiten möchte. Und doch geht er auf den Wunsch seines Volkes ein: «Und

sie (die Ältesten Israels) sprachen zu ihm (Samuel): Siehe, du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in deinen Wegen; so setze nun einen König über uns, der uns richte, nach der Weise aller andern Völker! Dieses Wort aber missfiel Samuel, da sie sagten: Gib Selbst was krummen uns einen König, menschlichen Wertmassder uns richte! stäben entspringt, kann Und Samuel durch Gottes Eingreifen betete darüber zu wertvoll werden. dem HERRN. Da sprach der HERR zu Samuel: Gehorche der Stimme des Volkes in allem, was sie dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, dass ich nicht König über sie sein soll. ... So gehorche nun ihrer Stimme; doch verwarne sie ausdrücklich und verkündige ihnen das Recht des Königs, der über sie herrschen wird.» (1. Samuel 8,5-9). Und wie nun Gott auf diesen Wunsch seines Volkes eingeht! Das Königshaus wird mit David sozusagen der Steigbügelhalter seines eingeborenen Sohnes. Wieder wird aus dem, was Menschen mit ihren unlauteren Motiven tun und mit seltsamen geschichtlichen Winkelzügen bewerkstelligen wollen, unter Gottes Hand etwas ewig Gültiges. Selbst was krummen menschlichen Wertmassstäben entspringt, kann durch Gottes Eingreifen wertvoll werden. Wir Christen neigen dazu, die Geschichte immer wieder aus unserem Glauben und aus unserem Denken auszublenden, als sei nur etwas mit Ewigkeitswert gültig! Dies stimmt, wie auch zweifellos gilt, dass unsere Geschichte angesichts der Wiederkunft Christi einen gewissen Konjunktiv-Charakter hat: «Das aber sage ich: Die Zeit ist beschränkt! Darum gilt für die Zeit, die noch bleibt: Kauft, als ob ihr das Gekaufte nicht behalten würdet, und geht so mit der Welt um, dass ihr nicht darin aufgeht. Denn die Gestalt dieser Welt vergeht» (1. Korinther 7,29 ff.). 25


Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass Gott gerade in unserer Geschichte Ewigkeitswerte entstehen lässt, weil sein Reich in diese Welt kommt, und dass Jesus uns sendet, wie ihn der Vater gesandt hat, nämlich mitten in diese Welt hinein (Johannes 20,21).

Viele Vorbehalte gegenüber dem «andersartigen Wirken» des Heiligen Geistes sind rein ästhetischer Natur!

Der Heilige Geist in der Geschichte «Da sprach Jesus wiederum zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und nachdem er das gesagt, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget Heiligen Geist!» (Johannes 20,21 f.). Es ist bedeutungsvoll, dass der HeiligeGeist die geschichtliche Sendung der Jünger antreibt. Wie fern sind da alle Konzepte einer weltabgewandten Religiosität, die nur mit dem Wirken eines göttlichen Geistes in einem möglichst «reinen», geschichtslosen Raum rechnet! Die Jünger treten so, angehaucht von Jesus, den Gang durch die weitere Weltgeschichte an, die sie von jetzt an entscheidend mitgestalten werden. Der Heilige Geist wird sie dabei in vielfältigster Weise leiten und beschenken, je nach geschichtlicher Situation und kultureller Lage. Sein Wirken ist ganz unterschiedlicher Art und doch nie widersprüchlich, weil es immer das Wirken des einen Geistes ist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht. Der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar schreibt in seinem Buch «Die Wahrheit ist symphonisch»: «Das Pfingstwunder verkündet zu Beginn der Kirchengeschichte sowohl den Willen wie die Macht des göttlichen Geistes, sich mit einer klar umrissenen, keineswegs verschwommenen Botschaft in der grössten Verschiedenheit der Weltsprachen universell verständlich zu machen.» Denn: «Wenn Gott sein Einmaliges in menschlicher Sprache ausdrücken will, muss er mit dem ganzen Geflecht der Denkformen und Sprechweisen der Welt als Instrument vorlieb nehmen. Das 26

wird für ihn kein Nachteil sein, denn was er zu sagen hat, das Göttliche, ist viel reicher, als was alle Sprach- und Denkformen der Menschheit zusammengenommen ausschöpfen können.»

Wir und die Geschichte des Heiligen Geistes Das Problem ist nur, dass wir Christen oft ungeschichtlicher und kulturell undifferenzierter denken als der Heilige Geist. Wie? Indem wir von bestimmten Wirkungsweisen des Geistes (nicht zufälligerweise gerade von jenen, die wir soeben selber erfahren haben!) sagen, sie seien die massgeblichen und auch für die anderen verbindlichen. Oder indem wir gewisse Geist-Erfahrungen anderer Christen beargwöhnen und ihnen sozusagen die geistliche Legitimität absprechen. Warum? Weil sie nicht in den Erfahrungshorizont hineinpassen, den uns unsere eigene geistliche Heimat anbietet. Weil sie vielleicht sogar die Angst wecken, wir müssten plötzlich, quasi mit einer geschichtlichen Spitzkehre, auch so werden wie «jene». Oder weil wir von aussen (oder von innen) mit der Frage konfrontiert werden, warum wir nicht längst auch die Gabe der Zungenrede, die Freiheit des Tanzens, das brennende Herz für dieses oder jenes Anliegen, denselben Lobpreis oder dieselbe missionarische Tätigkeit entfaltet haben. Vielleicht schotten wir uns dann ab und ziehen uns auf unsere eigene christliche Kultur und unsere altbewährten Gemeindewerte zurück, oder wir träumen heimlich von einer grösseren christlichen «Einheitskultur». Aber wie ungeschickt: Auch die Turmbauer von Babylon wollten ja eine im menschlichen Eigenfabrikat produzierte Einheitlichkeit ...

Die ästhetische Frage Dabei wäre es wichtig zu erkennen: Viele Vorbehalte gegenüber dem «andersartigen Wirken» des Heiligen Geistes

sind rein ästhetischer Natur! Wir möchten nämlich nur nicht die gleichen Lieder singen müssen wie die anderen: Wir lieben es nicht so steif und klassisch wie «diese hier» oder dann längst nicht so emotional und poppig wie «jene dort», und deshalb empfinden wir den jeweils anderen Musikstil als weniger «geisterfüllt» oder «tief» wie den unsrigen. Oder wir könnten uns nie vorstellen, in einem Taizé-Gebet zu knien oder dann «charismatisch» die Arme zu erheben. Oder ... man möge hier Beispiele aus der eigenen christlichen Biografie anfügen. Werden nun die eigene Kultur und der eigene ästhetische Geschmack zum heimlichen geistlichen Massstab, so bringen wir uns selber um die Chance der Horizonterweiterung. Und wir nehmen dem Leib Christi die Fähigkeit, dank seiner verschiedenartigen Glieder in gesunder Weise zu funktionieren, sich zu bewegen. Und schliesslich wird auch dem Heiligen Geist selbst die Wirkungsfreiheit beschnitten. Diese ästhetisch bedingten Lähmungserscheinungen im Leib Christi begleiten auch die Missionsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Von einem balinesischen Christen hörte ich, ihm und seinen einheimischen Glaubensgeschwistern bedeuteten die Lieder nichts, die sie sonntags in der Gemeinde sängen. Selbst die in ihrer Sprache gesungenen Texte seien kaum verständlich, weil sie in einer fremden, das heisst westlichen Musiksprache einherkämen. Von westlichen Missionaren werde aber umgekehrt den balinesischen Rhythmen die Fähigkeit abgesprochen, dem Heiligen Geist Raum zu geben ... So befindet man sich auf Bali in einer schwierigen Pattsituation. Warum? Weil man sich nicht vorstellen kann, dass der Heilige Geist über den begrenzten (ästhetischen) Horizont hinaus wirken kann und will; dass er zum Beispiel Instrumente, die in anderem Kontext der Götzenverehrung cz 4|05


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dienen, zu seiner Ehre einsetzen will (als würden im Westen sämtliche E-Gitarren, Keyboards und Schlagzeuge nur Gott verherrlichen ...). Leider muss man nicht bis nach Bali gehen, um einer unreflektierten Vermischung von ästhetischen und geistlichen Urteilen zu begegnen.

Die Wellen des Heiligen Geistes Gott geht, wie oben gesagt, mit unserer Geschichte mit. Aber zugleich ist er der Herr der Geschichte, die er überblickt und in die er eingreifen kann. Wie und wo er eingreift und weshalb er manchmal nicht eingreift, ist uns manchmal unverständlich. Nicht nur im Blick auf die säkulare Geschichte, sondern auch hinsichtlich der (davon ja nicht abzulösenden) Kirchengeschichte stellen wir fest, dass Gott auf manchmal überraschende Weise handelt – so gibt es Wellenbewegungen des Heiligen Geistes: grosse, weltumfassende Wellen und dann auch wieder zahllose kleine, eher lokale Aufbrüche. Im Gespräch mit Glaubensgeschwistern stelle ich fest, dass wir oft Mühe haben mit diesen Flutwellen des Geistes, die plötzlich auftauchen und dann auch wieder allmählich abebben. Wir haben Mühe damit – vor allem, wenn wir selber mittendrin sind. Wäre es uns da nicht lieber, der Heilige Geist wirkte überall

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gleich, mit gleichmässiger Verteilung des Segens? Gottes Geist begibt sich tatsächlich in unsere Geschichte hinein! Er ist nicht nur eine Welle, die über unsere Kultur und Geschichte hinwegschwappt, sondern er bewegt sich mit unserer Geschichte mit: mit der Lebensgeschichte jedes Christen, mit der Kirchengeschichte und mit der Weltgeschichte. Er ist kein militärischer «Weltgeist» (wie es der Philosoph Hegel sah) – im Gegenteil: Er geht sensibel auf die Regungen unserer Herzen und auf die Bewegungen unserer Geschichte ein – oder er zieht sich, wo er nicht willkommen ist, von uns zurück. Andererseits ist er unserer Geschichte nicht unterworfen, sondern er lenkt unsere Herzen und Geschicke immer wieder souverän: «Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du weisst nicht, woher er kommt, noch wohin er fährt. Also ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist» (Johannes 3,8). Das Wirken des Geistes bringt in der Glaubens- und Kirchengeschichte ganz unterschiedliche Wellenbewegungen und Strömungen hervor, zum Beispiel die Heiligungsbewegung und die kontemplative Frömmigkeit, die charismatischen Aufbrüche und die geistlichen Initiativen sozialer Nächstenliebe, die reformatorisch-wortbezogenen Erweckungsbewegungen und die Impulse zur Gestaltwerdung des Glaubens durch

«Kunst und praktisches Handeln» (nach Richard Foster: Viele Quellen hat der Strom. Aus dem Reichtum der Glaubensgeschichte schöpfen). Es steht nicht jeder in derselben Tradition, da Gott ja unterschiedliche Begabungen schenkt und verschiedene Berufungen ausspricht. Aber wir können andere geistliche Bewegungen hoch achten, von ihnen lernen und uns durch sie ergänzen lassen. Dies ist gar nicht so einfach, weil die eigene geistliche Tradition und kirchliche Kultur den Blick für das jeweils «Andere» nicht immer freigibt. Wir tun gut daran, das Verständnis für das Andere in den eigenen Reihen zu wecken. Sonst, fürchte ich, werden wir nicht wirklich offen für das «Wehen» des Heiligen Geistes, der uns vielleicht einmal aus einer ganz anderen Himmelsrichtung anweht, als wir es gewohnt sind, und der doch möchte, dass wir seine «Windsurfer» oder, um ein Bild von Rick Warren («Kirche mit Vision») zu gebrauchen, seine «Wellenreiter» werden.

• Pfarrer Beat Rink

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PERSÖNLICH Die Basis aller Grundwerte «Siehe, ich bin der Herr; sollte mir etwas unmöglich sein?» Diesen Bibelvers, Jeremia 32,27, zog ich am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag auf dem Säntis. Aus den umliegenden Kantonen hatten sich gut 200 Fahnenträger und ihre Gebetspartner versammelt, um Gott die Ehre zu geben und speziell für die Ostschweiz zu beten. Als Höhepunkt wurde auf der Spitze des Säntis ein Kreuz errichtet. Gleichzeitig wurde am Ende der Galerie beim Säntisgipfel der Bibelvers Johannes 3,16 angebracht: «Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.» Das Kreuz steht nun in unmittelbarer Nähe einer tibetischen Stupa, einem buddhistischen Altar.

Hanspeter Nüesch Seit einigen Jahren trafen wir uns, das heisst einige Gemeindeverbands- und Werkleiter, einmal jährlich mit unseren Ehefrauen auf der Säntisspitze, lobten Gott und waren gleichzeitig betrübt, dass statt eines Christuskreuzes eine buddhistische Stupa den Säntisgipfel zierte. Wir empfanden diese Tatsache als Symbol für den geistlichen Zustand unseres Landes. Und nun konnte ohne unser Dazutun ein Christuskreuz aufgerichtet und von den zahlreich versammelten Fahnenträgern der umliegenden Gemeinden sowie ihren Gebetspartnern im Beisein von Vertretern aus der Politik mit Lobpreis eingeweiht werden! Gott hat dazu vor allem drei Frauen gebraucht: Pfarrerin Christa Heyd, Esther Beerle und Jacqueline Schneider: drei sehr unterschiedliche Frauen, alle aber mit einem leidenschaftlichen Glauben, dass Jesus Christus wieder in unserem Land regiert. Sie waren überzeugt, dass für Gott nichts unmöglich ist und 28

er die Herzen der Verantwortlichen öffnen werde und sie schliesslich die Erlaubnis zur Kreuzaufrichtung mit der Unterstützung der kantonalen Regierung des Kantons Appenzell Ausserrhoden erhalten würden. Als dann zum Abschluss der Feier überraschend die Sonne durchbrach, war es für uns alle ein Zeichen, dass Gott auch im übertragenen Sinn den Himmel aufriss und uns segnete. Wenn man den geschichtlichen Kontext betrachtet, in dem Gott zu Jeremia spricht, dann sind die Parallelen zu unserer Schweizer Situation augenfällig: «Sie haben mir den Rücken zugewandt und nicht das Gesicht. Obwohl ich ihnen immer wieder meine Weisungen gab, weigerten sie sich beharrlich, auf mich zu hören, und besserten sich nicht ... Sie errichteten Kulthöhen für Baal ... Ich bringe sie dazu, nur eines im Sinn zu haben und nur eines zu erstreben: mich alle Tage zu fürchten, ihnen und ihren Nachkommen zum Heil» (Jeremia 32,33 ff.). Wie passend

dazu auch die Losung zum Eidgenössischen Bettag: «Die Furcht des Herrn ist die Schule der Weisheit» (Sprüche 15,33), und der entsprechende Wochenvers: «Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat» (1. Johannes 5,4). Bevor das Volk Israel zur Zeit Jeremias Gottes erneuernde Gegenwart erlebte, musste es durch eine sehr schwierige Zeit hindurch, eine Zeit voller Demütigungen. Alles, was vor Gott nicht Bestand hatte, musste entfernt werden, damit das Volk für Gottes Gegenwart bereit war. Auch unser Schweizer Stolz muss (weiter) zerbrochen und unsere innere Armut offenbar werden, bevor wir fähig sind, Gottes Reichtum zu empfangen. Je mehr wir in einer Haltung der Zerbrochenheit leben, desto weniger muss Gott uns zerbrechen. Je mehr wir in Demut und Gottesfurcht leben, desto weniger muss Gott uns demütigen. Im vergangen Frühling zog ich mich mit meiner Frau für eine längere Zeit des Innehaltens zurück. Das Wort Gottes sprach cz 4|05


werte und zeitgeist | persönlich

tief in unser Herz: Auf die Schweiz warten, von der Bibel her betrachtet, grosse Gerichtswehen als Folge davon, dass wir uns immer mehr von Gottes guten Ordnungen entfernen. Im Kopf wussten meine Frau und ich schon lange um diese Konsequenz, aber nun traf die Botschaft unser Herz. Nach einer Zeit des heiligen Erschreckens empfanden wir, dass Gott noch eine zweite Botschaft an uns Schweizer hat, ähnlich wie diejenige an das Volk Israel zur Zeit Jeremias: Das Gericht ist letztlich auch Gnade. Gott möchte die Schweiz zurechtrichten, denn er hält noch grosse Segenspläne für unser Land bereit, aber auch für Europa. Er möchte, dass Ströme der Barmherzigkeit und der Heilung von der Schweiz ausgehen und die Schweiz gleichzeitig zu einem Ort der Zuflucht und Erneuerung für viele wird. Das Gericht über unserem Land können wir nicht einfach wegbeten; aber unser Leben und Beten hat einen Einfluss auf die Schwere des notwendigen Zurechtrichtens. Im endzeitlichen Katastrophenkapitel Matthäus 24 mahnt uns Jesus, nicht überrascht zu sein und nicht zu erschrecken (Vers 6), wenn als Folge der missachteten Gebote Gottes und der erkalteten Liebe (Vers 12) Katastrophen aller Art hereinbrechen, sondern wach und aktiv zu sein, so dass der Herr uns Knechte an der Arbeit des Brotverteilens findet, wenn er überraschend kommt (Verse 45 ff). Jesus möchte, dass wir unsere gottgegebenen Gaben in der Kraft des Heiligen Geistes zum Wohl unserer Mitmenschen einsetzen. Er unterstreicht diese Tatsache anschliessend in Matthäus 25 mit zwei Gleichnissen, dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen und jenem von den anvertrauten Talenten. Katastrophen und Krisen sind immer auch ein Ruf zur Umkehr und zum Handeln. Am Vorabend des Nationalen Gebetstages vom 1. August hörte ich kurz vor cz 4|05

Mitternacht, wie eine Frau in der Nachbarschaft nach ihrem davongelaufenen Kind rief. Zuerst tat sie es fein und leise, dann immer eindringlicher und schliesslich so laut, dass auch noch der Letzte aus dem Schlaf gerissen wurde. In gleicher Weise ruft Gott uns Schweizer durch Schwierigkeiten und Katastrophen auf, unsere Irrwege zu verlassen und zu ihm umzukehren. Je früher wir auf die Stimme Gottes hören und ins Vaterhaus zurückkehren, desto weniger laut muss Gott rufen. Es ist Gottes tiefster Wunsch, uns Menschen Gnade zu erweisen. Er empfindet tiefes Mitleid für jeden, der seine Liebe und Vergebung nicht ergreifen will. Deshalb sucht er unermüdlich nach Wegen, um das Herz der Menschen zu erreichen, so dass sie seine Freundschaft erwidern. Und er sucht nach Nachfolgern, die ihm kindlich vertrauen, dass aus einer geistlichen Wüste ein wunderbar fruchtbares Land entsteht. Wenn wir gut hinschauen, dann sehen wir, dass in unserem Land da und dort schon einiges am Spriessen ist. Zum Beispiel treffen sich im Moment im Rahmen der Alphalive-Initiative jede Woche an 469 Orten im ganzen Land Christen mit suchenden Mitmenschen, um ihnen den Weg zum Heil in Jesus Christus zu weisen. Jede Woche legen Menschen im Rahmen der Fernsehsendung «Fenster zum Sonntag» Zeugnis ab von der umwandelnden Kraft Christi in ihrem Leben. Kürzlich kamen über 300 Personen im Rahmen von FamilyLife zusammen, um sich zurüsten zu lassen, damit sie in ihrem Umfeld Ehekurse durchführen und so etwas gegen den Zerfall der Ehen und Familien in unserem Land tun können. Wussten Sie, dass seit dem Christustag.04 nicht nur für jede politische Gemeinden mindestens ein Beter, eine Beterin einsteht, sondern in den letzten Jahren auch 1 200 Gebetsgruppen für Schulen im Rahmen der Gebetsbewegung «Mütter in Kontakt» entstanden

sind? Das sind nur einige der augenfälligeren Beispiele, dass Gott auch in unserem Land am Wirken ist. Es ist erst ein Anfang. «Für Gott ist nichts unmöglich» (Lukas 1,37). Dieses Wort des Engels an Maria war der Bibelvers, den ich an der Jahreswende anlässlich der EXPLO 04 zog. Diese Wahrheit muss allen Werten und Leitlinien Gott möchte die Schweiz unseres Lebens zuzurechtrichten, denn er grunde liegen, hält noch grosse Segenspläsonst enden wir im ne für unser Land bereit anthropozentrischen Machbarkeitswahn, im Humanismus. Gleichzeitig macht uns obiges Wort auch Mut: Gott ist es ein Leichtes, in unserem Land eine geistliche, moralische und gesellschaftliche Erneuerung zu schenken und unser Land zum grossen Segen für die Welt zu machen. Wenn er der Maria, «die von keinem Mann wusste», und der «unfruchtbaren» Elisabeth Kinder geben kann, dann kann er auch die Schweiz, ja Europa zu geistlichem Leben erwecken. Eine Umfrage ergab, dass die Mehrheit der japanischen Eltern sich wünscht, dass ihre Kinder erfolgreich sind und eine Mehrheit der britischen Eltern, dass ihre Kinder glücklich sind. Wie wäre es, wenn bald eine Mehrheit von Schweizer Eltern sich wünscht, dass ihre Kinder gute Menschen wären, die ihren Mitmenschen mit ihren gottgegebenen Gaben dienen würden? Für Gott ist nichts unmöglich! Daran glaube ich felsenfest. Sie auch?

• Hanspeter Nüesch, Leiter von Campus für Christus Schweiz

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ANBETUNG Alle beten an – aber was und wie? Im Gespräch mit Lobpreisleitern auf der Spur veränderter Werte Es war 1985, als mir jemand ein kleines Geschenk mitbrachte, eine Lobpreiskassette von «Jugend mit einer Mission». Titel: «Er ist der Lebende». Eine Stunde lang Lieder zum Mitsingen; Klänge, die man damals landauf, landab hörte. Heute ist die Kassettenhülle vergilbt, und die Lieder bei jungen Christen kaum mehr bekannt. Lobpreis hat sich zu «Worship» gewandelt und das in einer fast unübersichtlichen Vielfalt. Viele der neuen Songs sind musikalisch anspruchsvoll, weniger eingängig, oft schwierig, allein zu singen. Ein Spannungsbogen, der zwar durchaus Freude am «neuen Lied» macht, aber auch vielen Christen und Gemeinden Kraft kostet. Wir haben drei Persönlichkeiten mit jahrelanger Erfahrung gefragt: «Wo stehen wir heute im Lobpreis wirklich – als Einzelne, als Musiker, als Gemeinde?»

Tom Sommer Die erwähnte Liederkassette ist Ausgangspunkt unseres Interesses: Die Musikerin Marion Warrington, Deutschland, mitverantwortlich für diese Produktion, prägte schon damals mit ihrem Engagement die Lobpreiskultur im deutschen Sprachraum wesentlich mit. Gesucht hatte sie das nicht. Ihr Anliegen war es, zusammen mit ihrer Familie und der damaligen Lebensgemeinschaft den Menschen Gott bekannt zu machen. So gingen sie auf die Strassen und Plätze der Städte und evangelisierten – und sie sangen Lieder von Gott.

Erste Kurskorrektur Mit der Zeit realisierten sie allerdings, wie Kraft und Eifer für ihr Anliegen nachliessen. Eines Tages kam eine aussen30

stehende Person mit der Bemerkung auf sie zu: «Liebe Leute, euch fehlt etwas. Ihr müsst euch ausstrecken nach Gott, ihn und seine Kraft aktiv suchen, so wie es in Psalm 105,4 steht.» Ohne zu zögern liessen sie sich herausfordern, und so bekamen schon ihre Vorbereitungszeiten auf die evangelistischen Einsätze eine andere Prägung. Sie gewannen eine ganz neue Erwartungshaltung, dass Gott irgendwie praktisch erfahrbar sein und sich zu seiner Verheissung stellen werde: «Wenn ihr euch mir nähert, werde ich euch nahe kommen» (Jakobus 4,8). Das war kein Konzept, aber eine deutlich neue Ausrichtung, die die Passanten spürten: «Es entstand eine Atmosphäre, die die Leute gar nicht erklären konnten, und manchen traten Tränen in die Augen. Es tat gut zu erleben, wie Gott seinem Volk entgegenkommt.»

Gott bringt zur Reife Ein Wort in der Bibel schien unendlich oft vorzukommen: «allezeit». Marion sollte nun lernen, dass die freudigen Erfahrungen von Gottes Nähe auch für die Turbulenzen im Haushalt mit den Kindern und Gästen usw. eben allezeit gelten. Oft musste sie sich eingestehen, das Leben mit all den praktischen Herausforderungen nicht alleine meistern zu können. Aber sie lernte, ihre Hände auszustrecken – als urtümlich menschliche Geste eines Hilfeschreies – und zu Gott zu beten: «Gott, du bist mein Gott, du bist wunderbar, du hast versprochen, meine Kraft zu sein, und so komme ich vor dein Antlitz. Ich öffne mich dir, ich preise dich, dass du mein Hirte, mein Freund, meine Kraft, mein Vater bist. Du bist meine Quelle des Lebens, und ich danke dir dafür.» Das wirkte sich aus – cz 4|05


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bis heute: Mehr und mehr erfährt sie, wie nur kurze Zeit später Ruhe in ihr Inneres einkehrt. Sie kann sich vor dem Ansturm der Dinge, die da kommen sollen, innerlich sammeln, ihr Haar zurechtstreichen und selbstbewusst und doch demütig vor Gott und die Welt treten. «Hier bin ich, und Gott, meine Quelle, ist mit mir!»

Alte Prägung – neue Ausrichtung Markus Hofstetter und Judith Müller sind langjährige Lobpreisleiter aus der Region Zürich. Ihre ersten Erfahrungen, Gott mit Stimme und Instrument die Ehre zu geben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Judith: «Ich meinte damals, es wirklich gut machen zu müssen, um Gott zufrieden zu stellen. Das war eine sehr stressige Zeit.» Und Markus: «Ich denke gern zurück an die Jungscharzeit. Das Zusammengehörigkeitsgefühl mit den anderen jungen Menschen hat mir viel bedeutet, und im gemeinsamen Liedersingen haben wir unsere Beziehung zu Gott gelebt.» Für ihn also eine locker-entspannte Zeit, bei Judith drückt irgendwie ein Leistungsdenken durch. Heute, nach Jahren hat sich einiges gewandelt. Judith: «Ich fühle mich frei, keine Erwartungen mehr erfüllen zu müssen, weder Gott, der Band noch den Gemeindegliedern gegenüber», denn Gott freue sich einfach an ihr, so wie sie ist. Punkt. «Wie von selbst dankt es heute in mir mit Worten und Melodien.» Für Markus hingegen ist es heute schwieriger: Die Verantwortung in der Bandleitung hat sich für ihn richtiggehend als Job mit grossem Machtpotential – was man nicht alles machen könnte oder tun müsste! – herauskristallisiert. Nichts mehr von der Leichtigkeit von damals. Wo es früher in der Jungschar einfach darum gegangen sei, diesen Gott kennen und lieben zu lernen, gebe es heute im gemeindlichen Umfeld Strukturen, Vorstellungen und cz 4|05

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Verordnungen, die (scheinbar?) berücksichtigt werden wollten. Tieferer Hintergrund von Judiths angespannten Zeiten als Lobpreisleiterin war nicht nur das vage Gefühl, Gott und den Menschen genügen zu müssen, sondern auch die Vorstellung, gegen das Böse anzugehen. «Das war sehr kräfteraubend», betont sie. Heute ist sie überzeugt, einfach sich selbst sein zu dürfen. Es gehe wirklich darum, Gottes Grösse und Allmacht zu besingen, ihm allein alles zuzutrauen. Markus, der momentan seine Verantwortung für die Lobpreisband abgegeben hat, glaubt, neben der persönlichen Neuausrichtung auch im Verständnis der Gemeindeglieder eine veränderte Sichtweise im Hinblick auf die Anbetung Gottes zu erkennen. Die Akzeptanz und Freude an gefälliger, moderner Musik, die Offenheit für ganz neue Töne seien wirklich sehr positiv. Die Kehrseite bestehe allerdings darin, dass man heute vielleicht von einer Konsumhaltung und einer gewissen Übersättigung an diesem Modernen sprechen müsse, mit der Konsequenz, dass die Leute passiv würden. Gott selbst, ureigenst, gerate vielleicht aus dem Fokus, die positiven Gefühle rückten dafür ins Zentrum. Und hier sei als Bandleader eine Gabe ganz besonders wichtig: das Gespür für den Heiligen 32

Geist, um nicht zu manipulieren. «Man hat sehr viel in der Hand als Leiter, und diesen Druck spüre ich!»

Überzeugt: Begeisterung wird sich fortpflanzen «Was gibt es als Band Schöneres, als Menschen durch Gott berührt zu sehen, zu vernehmen, dass seelische Knoten sich gelöst haben und das Vertrauen zu Gott einen neuen Aufschwung genom-

«Ich glaube», so Markus Hofstetter, «unsere Konsumhaltung am Sonntagmorgen ist gesättigt. Die Gewohnheit, am Sonntagmorgen von Worship umgeben zu sein, senkt unwillkürlich unsere Erwartung an Gott.» men hat?!» Diese Begeisterung ist Judith deutlich anzusehen, und sie wünscht sich zunehmend gemeindeübergreifende Veranstaltungen, da man hier besonders lernen könne, Jesus ineinander zu sehen und somit auch ganz neu Wertschätzung auszudrücken. Damit werde der Blick auf etwas gelenkt, was zutiefst Gottes Anliegen ist: die Einheit der Gemeinde Jesu, über die Grenzen hinweg. Und Markus betont, dass diese offensichtlichen Berührungen Gottes völlig unabhängig von Stil und Lautstärke der Musik seien. Ob voller Sound oder volle

Pause, beide Aspekte könnten sowohl hilfreich als auch störend sein, Gott zu begegnen. Hier stelle sich für die Gemeindeglieder die Frage, auf wen oder worauf sie ihre Aufmerksamkeit wirklich richteten. Und wenn sowohl die Sonntage als auch die Werktage ein Lobpreis für Gott sein sollten, dann kratze das vielleicht an einem «Sonntagmorgendenken» und somit auch am traditionellen Gemeindedenken. «Ich glaube», so Markus Hofstetter, «unsere Konsumhaltung am Sonntagmorgen ist gesättigt. Die Gewohnheit, am Sonntagmorgen von Worship umgeben zu sein, senkt unwillkürlich unsere Erwartung an Gott. Deshalb betrachte ich ein Time-out der Worshipband, also ohne die gewohnte Worship-Zeit am Sonntagmorgen, als Reinigungsprozess Gottes. So sind wir auf ihn selbst geworfen.» Ein solches Wort eines begeisterten Musikers muss tief begründet sein, denn was tut ein Musiker am liebsten? Keine Frage! Aber es sei ihm wie Judith das tiefste Anliegen, von jeglicher Religiosität wegzukommen, denn das ersticke echtes Leben. Und das sei es ja, was wir letztlich alle suchten. Hier erinnere ich mich selbst: Das mehrmalige Erleben eines Gottesdienstes ohne die so genannte «Anbetungszeit» – oder »nur» einem Instrumentalstück ab CD – liess mich allerdings realisieren, dass mir irgendetwas fehlte. Aber was? cz 4|05


werte und zeitgeist | alle beten an – aber was ...

Durch verschiedene Gespräche wurde mir plötzlich wieder bewusst, dass wir ja eine Seele haben und dass unser Innerstes zutiefst darauf wartet, Gott ganzheitlich anzubeten. Zusammen mit anderen laut gesungene Wahrheiten über Gott sind einfach erbaulich!

Wahrheit über Gott und mich selber Zurück zu Marion. Ihre Lebensgeschichte ist stark geprägt von Freud und Leid, von Gottes sanfter Nähe und auch scheinbarer Ferne. So entstehen unter anderem auch aus tränenbegleiteten Gebeten neue Lieder. «Manchmal merkte ich, wie Melodien sich einfach formten. Ich habe mich, gerade in traurigen Momenten, dafür entschieden, meinen Kopf, meinen Geist mit der Wahrheit über Gott zu füllen und mich auszustrecken nach ihm – und er ist mir entgegengekommen!» All das lässt sie zu einer Persönlichkeit reifen, die andere Anbeter und Musiker liebevoll auf Hintergründiges, Wahrheit und Stil von Songs hinweisen kann. Oft seien Lieder gar keine Anbetungslieder in dem Sinne, dass Gott die Mitte sei, sondern gesungene Gebete, mit selbstzentriertem Inhalt. Weil sie selber erfahren hat, dass sich ihre Grundhaltung und ihr Befinden gerade dadurch immer wieder veränderte, dass sie Gottes Grösse und seine fantastische Liebe in Blick nahm, formuliert sie ihr persönliches Credo wie folgt: «Wenn man ganz bewusst den Kopf und das Herz mit der Wahrheit über Gott auftankt, kommt das irgendwie zum Ausdruck. Es macht dankbar und führt letztlich dazu, sich vor Gott zu beugen, ja niederzufallen. Das öffnet den Blick dafür, was Gott für einen alles tun kann. Eine innere Begeisterung und Freude macht sich breit. Wenn Gottes Geist meinen Geist anrührt und ich meine Liebe, meine Anerkennung und mein Staunen vor ihm zum Ausdruck bringen will, spielt es auch keine Rolle, ob ich cz 4|05

eine extrovertierte oder eher introvertierte Persönlichkeit bin. Und auch der Stil des Liedes oder der Musik spielt letztlich keine Rolle.»

Was wollen wir? Die Frage nach der Stilveränderung in Lobpreis und Anbetung, die sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der zunehmenden Professionalität von Musikern und Technik stellt, hatte mich ursprünglich im Hinblick auf diese Gespräche mehr beschäftigt. Sicher, man könnte detaillierte Vergleiche anstellen, wie sich Formen und Inhalte verändert haben, welche Altersklassen welchen Stil bevorzugen usw. Und überhaupt: Die Verlagskataloge und CD-Regale quellen über von christlichen Titeln. Heute darf ich festhalten: Ja, wir erleben vielfältige Veränderungen in der Art und Weise, wie wir Gott anbeten. Die Kreativität scheint unendlich! Betrachten wir das doch als angebotene Kanäle Gottes, seine Jünger und die Menschen, die er zu sich ziehen möchte, zu beschenken. Aus dieser Perspektive sind Fragen und Herausforderungen durch beispielsweise neue Stilrichtungen gar nicht mehr so bedeutungsvoll. Die einzige bedeutungsvolle Frage, die wir uns alle stellen müssen, lautet: Bin ich bereit, die Anbetung, ob nun liturgisch oder charismatisch, hinterfragen und mich zutiefst im Herzen von Gott treffen zu lassen? Bin ich bereit, mir im Erforschen des Wortes Gottes ein biblisches Verständnis zu Bedeutung von Lobpreis und Anbetung anzueignen, das auch im Alltag durchträgt? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend und muss von jedem ganz persönlich formuliert werden. Ich schliesse mich Marion Warrington an: «Gott anzubeten bedeutet, ihn zur Mitte meines Lebens, zur Quelle für alles in meinem Leben zu machen» – unabhängig von Formen und Umständen.

CD von Markus Hofstetter: Unveiled. Inspiration now vol.1. c|works 2003 CD von Marion Warrington: Zurück zu Dir. cap music 1999 Die neueste Produktion ist in Bearbeitung und erscheint 2006

Calling All Nations Berlin 2006 Initiiert von Noel Richards, Worshipleiter aus England, findet am 15. Juli 2006 im Olympiastadion Berlin ein internationaler Tag des Gebets und der Anbetung mit vielen nationalen und internationalen Musikern und Anbetungsleitern statt. Dem Beispiel von Nehemia folgend sollen Tausende motiviert werden, ihre Verantwortung als Jünger Jesu an ihrem Ort – ihr Teil der Mauer – zu übernehmen. Der Sound des Himmels soll, so die Ankündigung auf www.callingallnations.com, hinausklingen, um allein Jesus Christus anzubeten und die Erkenntnis seiner Liebe für die Welt zu proklamieren.

• Markus Hofstetter mit Ehefrau Daniela

• Marion Warrington

• Judith Müller 33


VERÄNDERUNG Veränderung von Werten – Teil 2 Zwei Zeugnisse

Isabelle und Hansjörg Forster

«Gott ist mir begegnet!» Diese Erfahrung machten Isabelle und Hansjörg Forster wie auch Willi Hasler und seine Frau. Ihre zwei Zeugnisse sind in ursprünglicher Länge vergangenen Sommer im Büchlein von Alphalive «Kurs nehmen auf Gott» erstmals erschienen.

Vertrauen auf Gottes Liebe und Kraft

machte, bildete sich Isabelle als Inhaberin eines Coiffeursalons nebenbei in zahllosen Esoterikkursen weiter. Ganz kurz erzählen sie, wie sie im Vertrauen auf Gottes Liebe und Kraft Veränderung ihrer Prioritäten erlebt haben.

Geschäft, Esoterik, Familie, Sport – vier Welten, die Hansjörg und Isabelle Forster bis 2001 völlig in Beschlag nahmen. Während Hansjörg im Kader der Schweizer Handball-Nationalmannschaft Karriere

Isabelle: Seit ich ein kleines Kind war, war ich auf der Suche nach Liebe. Nach wahrer, reiner Liebe, aber ich konnte sie nicht finden. Ich wusste: Da muss es mehr ge-

ben. Ich besuchte einen esoterischen Kurs nach dem anderen und stellte jedes Mal fest: Immer ging es nur um mich selbst. Hansjörg: Über den Sinn des Lebens habe ich eigentlich nie tiefer nachgedacht. Ich bin in einer Bauernfamilie aufgewachsen und hatte mit 16 nur Beruf, Sport und Freundin im Kopf. Auch später, als wir schon ein Kind hatten, drehte sich alles um die Familie, das Geschäft, den Beruf und Handball. Ich dachte schon, dass es etwas Höheres geben muss, aber danach gesucht habe ich nicht wirklich. Isabelle: Mein Schlüsselerlebnis hatte ich am zweiten Alphalive-Abend beim Referat «Warum starb Jesus?». Da spürte ich, hier geht es um das, wonach ich mein Leben lang gesucht hatte. Es wurde mir bewusst, dass Jesus wirklich für mich gestorben ist, dass er mich liebt, so wie ich bin, ohne Wenn und Aber, und mich einfach annimmt. Nach dieser Liebe hatte ich mein Leben lang vergeblich gesucht. Hansjörg: Bei mir ging es nicht so schnell wie bei Isabelle. Zunächst sah ich einfach die Veränderung bei ihr. Eigentlich war ich nie glücklich gewesen über ihren

• Isabelle und Hansjörg Forster

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werte und zeitgeist | veränderung von werten

Ich fand, in den Kneipen rumzuhängen, um eine Frau kennen zu lernen, sei Zeitverschwendung. So lernte ich meine Frau über ein Inserat kennen. Nun sind wir seit bald zwanzig Jahren verheiratet. Dass Ehe auch nach so langer Zeit noch Spass machen kann und ein Geschenk Gottes ist, habe ich erst vor kurzem begriffen. • Willi Hasler

esoterischen Lebensstil, aber ich habe ihn toleriert. Ich habe dann am zweitletzten Abend Jesus mein Leben anvertraut und konnte viele Altlasten ablegen. Isabelle: Mein Bild über Gott hat sich verändert; ich habe erfahren, dass Jesus lebt und wirklich Veränderung schaffen kann. Auch für uns als Ehepaar hat sich alles radikal verändert: Wir haben eine neue Basis für unser Leben gefunden, auf die wir unsere Beziehung, unsere Aktivitäten und unseren Wert aufbauen können. Hansjörg: Vor vier Jahren habe ich mit dem Handball aufgehört. Vielleicht werde ich einmal als Juniorentrainer wirken, wenn mein Sohn Handball spielt. Inzwischen fasziniert mich meine Tätigkeit in unserer Werkstatt, in der wir Umbauten an Autos für Menschen mit Behinderungen erstellen. So kann ich meinen Mitmenschen ganz praktisch dienen. Von meiner Natur her bin ich ein Kämpfer, und ich tue noch zu vieles im Alleingang. Dabei erlebe ich besonders in Situationen, wo ich Gott einbeziehe, dass es viel besser läuft und dass ich auf Gottes Hilfe vertrauen darf.

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Auch in geschäftlichen Belangen war ich äusserst zielstrebig: Auf Biegen und Brechen mussten die Ziele erreicht werden. Mit meinen Nachbarn war ich zerstritten. Von meinem Bruder, mit dem ich anfangs in meiner Zimmerei zusammenarbeitete, hatte ich mich getrennt. Desgleichen herrschten Spannungen zwischen meinen Eltern und meiner Frau und somit auch mir. Meine Frau habe ich kläglich im Stich gelassen. Für mich existierten nur Geschäft und Geldverdienen. Daneben war ich noch in neun Vereinen und Vorständen engagiert, darunter auch im katholischen Kirchenrat. Doch mein Aktivismus machte mich blind für das Wesentliche, nämlich für meine fünfköpfige Familie. Es kam, wie es kommen musste: Die grosse Ehekrise, das geschäftliche Fiasko. Beinahe ging alles bachab, die Trennung von meiner Frau stand kurz bevor.

Eine unerwartete Wende Meine Schwester nahm mich eines Tages in einen Gottesdienst einer Freikirche mit. Der Pastor predigte über Vergebung. Bei mir platzte innerlich eine Bombe, und die ganze Zeit sah ich die Personen vor mir, mit denen ich nicht im Reinen war: Meine Frau, meine verhassten Nachbarn, mein Bruder, meine Eltern. Ich wusste: «Willi, du musst etwas tun!» Durch einen Glaubenskurs kam ich dem Glauben an Gott tiefer auf die Spur und meldete mich in der Folge für einen Alphalive-Kurs an. Nun bemerkte meine Frau, dass sich etwas in mir am Verändern war; sie kam mit zum Kurs und konnte sich später ebenfalls für Gott begeistern, was auch ihr Leben umwandelte. Der Alphalive-Kurs gab den «Kick», all die Veränderungen anzupacken, die ich eigentlich schon lange hätte angehen sollen. Nach langem Ringen schaffte ich es, all den Leuten Auge in Auge zu vergeben und sie um Verzeihung zu bitten. Anschliessend fühlte ich mich wie ein leerer Garderobenständer: Eine riesige Last war fort! Jeden Morgen, wenn ich ins Büro oberhalb der Werkstatt komme – ich bin Zimmermann und Unternehmer –, setze ich mich nun ans Pult, stülpe den Pamir (einen Gehörschutz) über und lese ungestört in der Bibel. Die Bibel ist nichts Gefährliches, es sei denn, man liest sie. Das hat Auswirkungen – nicht nur im eigenen Leben!

«Kurs nehmen auf Gott» das Büchlein mit Zeugnissen zum Alphalive-Kurs kann bezogen werden bei Alphalive Schweiz, Josefstrasse 206, 8005 Zürich Telefon 044 274 84 74, E-Mail info@alphalive.ch, www.alphalive.ch Kosten pro Exemplar: CHF 7.90, ab 10 Exemplare pro Stück: CHF 6.00

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Willi Hasler

«Gemeinschaft und Bibellesen»


WIRTSCHAFT Welche Werte bestimmen unsere Oder: Wie kann man es besser machen? «Unternehmen können nur funktionieren, wenn sich Leiter und Mitarbeiter genügend loyal und ehrlich in den Arbeitsprozessen engagieren», sagte Dr. Walter Dürr am diesjährigen «TRANSFORUM», einer Konferenz, die sich zum Ziel gesetzt hat, den christlichen Glauben in allen Lebensbereichen wieder gesellschaftsrelevant zu machen. An der diesjährigen, achten Konferenz im August 2005 ging es am ersten Tag besonders auch um praktizierte Werte in Wirtschaftsunternehmen. Was Transforum-Mitbegründer Dr. Walter Dürr und der Geschäftsmann Werner Jakob zu sagen hatten, stand im Zentrum meines Interesses. Beim Firmenjubiläum der Rimuss- und Weinkellerei Rahm AG sprach der Unternehmer Robert Rahm über ihre Firmenphilosophie. Zunächst aber schnappte ich mir am Morgen des Konferenztages am Kiosk noch die neueste Ausgabe der Wirtschaftszeitung «CASH» ...

Tom Sommer

«Die Schlimmsten sind die Chefs – aber Moral wirkt als Filter» Welch ein Zufall: Wie wenn mir «CASH» an jenem 11. August bestätigen wollte, dass ethische Standards in der Wirtschaft tatsächlich ein Thema von Bedeutung sind. Der obige provokative Titel bringt sowohl eine Täterschaft von Wirtschaftskriminalität als auch einen Lösungsansatz auf den Tisch. Es seien gerade nicht die Angestellten, sondern in über der Hälfte der Fälle Kadermitglieder, die sich an Firmeneigentum bereicherten. Begründung der Diebstähle: In 43 Prozent der Fälle Racheakte, weil sich die Betroffenen ungerecht behandelt fühlten, und zu 49 Prozent einfach Habgier – die kriminelle Motivation steige gar mit dem Wohlstand und dem Bildungsgrad! Ethische Standards, gesellschaftliche 36

Bindungen und moralische Hürden würden, so Prof. K. Bussmann in «CASH», untergraben, wenn man den marktwirtschaftlichen Wettbewerb als eine Art Kriegsführung betrachte. Von Gerechtigkeit sei dann nicht mehr die Rede. Der Artikel endet mit der Bemerkung eines Firmenchefs, der einst von seinen Mitarbeitenden sogar Killerinstinkt forderte. Nach dieser Lektüre kommt in mir schon die Frage auf, wann wir im «CASH» Berichte von Wirtschaftskapitänen und Fachkräften über die Umsetzung von biblisch-christlichen Werten lesen können. Offensichtlich müssen zum Funktionieren einer Wirtschaft im Menschen Faktoren wirksam sein, die er nicht einfach in sich trägt, sondern die er lernen muss.

Ein breites Reich-Gottes-Verständnis «Sind wir bereit, uns fundiert und praxisbezogen eine Reich-Gottes-Sicht zu erar-

beiten, damit wir gemäss dem Jakobusbrief 1,25 mit Taten die verschiedenen Gesellschaftsbereiche mitgestalten können?» Diese Frage zu Beginn der Konferenz machte deutlich, dass wir zunächst ganz persönlich gefragt sind, unser Denken und Handeln an Gottes Massstab auszurichten. So, und erst dann werden wir wirklich fähig, an der Transformation der Gesellschaft mitzuwirken. Unternehmer und Wirtschaftsführer stehen hier, so mein Eindruck, in einer besonderen Herausforderung, persönliche ethische Überzeugungen, wie zum Beispiel Ehrlichkeit, im grösseren Umfeld der Firma wirklich anzuwenden. Zunächst entführte Dr. Walter Dürr, Leiter der landeskirchlichen Gemeinschaft «JAHU» in Biel und Mitgründer des Instituts, das Publikum in die Philosophieund Theologiegeschichte. Eine spannende cz 4|05


werte und zeitgeist | welche werte bestimmen ...

Wirtschaft? und verständlich präsentierte Einführung, um zu verstehen, welche geistigen und geistlichen Kräfte die Entwicklung unserer Gesellschaft über die Jahrhunderte gesteuert und geprägt haben. Daraus zusammengefasst zwei grundlegende Gedanken: 1. «Es gab eine Zeit, wo der Glaube gegen die Vernunft verteidigt werden musste, aber es kommt eine Zeit, wo der Glaube für die Vernunft einstehen muss. Warum? Die vornehmlich durch René Descartes (1596-1650) begründete Ära der Vernunft zerstört sich schliesslich durch andauerndes Hinterfragen, Relativieren und Kritisieren selbst und öffnet so mit völlig irrationalen Deutungen der Lebenszusammenhänge Tür und Tor. Welche spirituellen Werte werden dann aber gesucht? Sind wir Christen fähig, auch in wirtschaftlichen Belangen biblisch-christliche Werte als eine Quelle für Lebenssinn und Erfolg auszuweisen? Haben wir den Mut, Unvernünftiges und Irrationales anzusprechen? Treten wir dafür ein, dass mit Jesus Christus als unserem Glaubensfundament vertrauensvoll Wege beschritten werden können, die vielleicht nicht so populär erscheinen? Sind wir bereit, Unkorrektes und Unwahres beim Namen zu nennen?» 2. «Unternehmen können nur funktionieren, wenn sich Leiter und Mitarbeiter genügend loyal und ehrlich in den Arbeitscz 4|05

prozessen engagieren. Gerade Ehrlichkeit ist aber eine Voraussetzung, die sich die Wirtschaft nicht selber geben kann. Sie ist eine Tugend, die von woanders, von aussen her, kommen muss. Sind die Christen bereit, glaubwürdige Beispiele zu präsentieren und damit zu zeigen, dass der christliche Glaube sogar wirtschaftstauglich ist?» Im Vertiefungsforum «Wirtschaft» wurde es konkreter. Ich fasse im Folgenden das Gehörte unter den Aspekten «Der Wahrheit in die Augen schauen», «Neue Grundhaltungen entwickeln» und «Entscheidende Merkpunkte umsetzen» zusammen. Ein konkretes Firmenbeispiel am Schluss demonstriert die Umsetzung dieser Ausführungen.

Der Wahrheit in die Augen schauen Der Unternehmer Werner Jakob und sein Team von der Firma Vitaperspektiv referierten im Vertiefungsforum über die negative und positive Werteentwicklung in Unternehmen. Gleich zu Beginn wurde klar, in welcher Richtung die weltanschauliche Grundlage des erwähnten marktwirtschaftlichen Krieges zu suchen ist, den wir tagtäglich auch medial demonstriert bekommen, zum Beispiel in Form von laufend aktualisierten Börsenkursen, übersteigerten Übernahmegeschäften und Arbeitslosenzahlen. Folgende These des englischen Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith (1723-1790) bildete den Ausgangspunkt des Vertiefungsforums zur Werteentwicklung: «Der Gesamtwirtschaft eines Staates wird dann am besten gedient, wenn jeder Einzelne seine Ziele für sich so festlegt, dass am Ende der grösste Nutzen1 für ihn herauskommt.» Zusammenfassend meinte Werner Jakob dazu: Die Weltanschauung hinter der genannten These ist sehr stark dem Individualismus und Egoismus verpflichtet – und

nicht zuletzt dem Mammon. Diese Grundhaltung scheint heute Trumpf zu sein, in jeder Wirtschaftsmeldung ist die Gewinnmaximierung augenfällig oder mindestens hintergründig präsent. Wenn die Behauptung von Adam Smith wirklich richtig wäre, müsste es doch der Welt heute viel besser gehen?! So klar fragwürdig diese Behauptung also ist, wird sie heute doch als Grundlage für die Ausbildungen im Wirtschaftsbereich gelehrt. Einzelne Beispiele dieser Kehrseite sehen wie folgt aus: • Das erste, was Leute mit Geldsorgen nicht zahlen, sind die Steuern. • Die Firma X brüstet sich, dass ihr Budget für den Sozialplan von 26 auf 67 Millionen Franken gestiegen ist, verliert aber kein Wort über die resultierenden Probleme der neuen Arbeitslosen. • Die staatlichen Sozialausgaben haben sich in den neunziger Jahren von 64 auf 128 Milliarden Franken verdoppelt – Tendenz steigend. Dabei wird der grösste Teil ohne konkreten Bedarfsnachweis ausbezahlt (Quelle: Berner Zeitung vom 30. Juli 2005). • 60 Prozent der Manager leiden – als psychische Folge der Gewinnmaximierungshysterie – an Neurosen. Das sind die Führungspersönlichkeiten, die andere führen sollen! • Die Verschuldungen von Privaten und Staaten nehmen kontinuierlich zu. • Die Gewinne bekommen die Wirtschaftsführer und Aktionäre, die Sozialkosten für die Arbeitslosen trägt die Gesellschaft.

1

Gemäss dem Lexikon «Wikipedia» ist Adam Smith, entgegen der landläufigen Meinung, nicht ein Verfechter eines reinen, ungeregelten Kapitalismus. Er postuliere zwar, dass der freie Markt den Wohlstand mehre, mahnte aber seinerseits ausdrücklich das menschliche Mitgefühl als Korrektiv an. Ob diese Mahnung heute wohl gehört wird? (Anmerkung der Redaktion)

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Es braucht nicht einmal neue Werte, sondern eine ernsthafte Anwendung bekannter Grundsätze auf biblischc Basis.

Der Swatch-Gründer Nicolas Hayek bemerkt zur Börsenhysterie, man solle die Börse reformieren, denn sie sei heute zweckentfremdet. Ursprünglich dazu gedacht, den Unternehmen Geld zur Verfügung zu stellen, sei sie heute zur Geldmaschine verkommen. Einzelne Stimmen sind also auch im Land auszumachen, die mahnen, dass die herkömmlichen Prinzipien des Wirtschaftens untauglich sind. Es braucht nicht einmal neue Werte, sondern eine ernsthafte Anwendung bekannter Grundsätze auf biblisch-christlicher Basis.

dürfen, wie es so oft der Fall ist. Dies leistet nämlich einer doppelbödigen Moral Vorschub, bis dahin, die privaten Taschen zu füllen und Firmendefizite und Lasten den Untergebenen bzw. dem Staat und der Öffentlichkeit zu überlassen. Zu dieser Ganzheitlichkeit gehört andererseits, nicht nur menschliche Kenntnisse und Erfahrungen zu nutzen, sondern das Leben Jesu zu beobachten. Das eröffnet ungeahnte Ressourcen, wie zum Beispiel tiefes Vertrauen, Bescheidenheit, Mitgefühl. Und das hat Konsequenzen für das Unternehmen.

Neue Grundhaltungen entwickeln 1. Eine Perspektive des Vertrauens In den Medien ist oft die Forderung zu hören, unsere Marktwirtschaft, unsere Unternehmen müssten ethischer werden. Aber es scheint der Gesellschaft noch zu gut zu gehen, als dass etwas konkret angepackt würde. Es könnte jedoch die Zeit kommen, da es zu spät ist, denn Reformen müssen vor der Krisenspitze angepackt werden. Da ein Unternehmen immer auch aus Menschen besteht, muss die Veränderung auf dieser Ebene ansetzen. Der französische Ausdruck für Aktiengesellschaft lautet «société anonyme». Hier kommt das wahre Wesen mancher Unternehmung zum Vorschein, nämlich «anonym» zu bleiben, um die nötigen und herausfordernden Veränderungsprozesse in der Anonymität zu verbergen. Ehrlichkeit und Transparenz müssen neu prioritäre Tugenden werden. Auf die kritische Rückfrage an einen Unternehmer, warum er lüge, kam die Antwort, dass er sonst die Aufträge verliere. Ganz klar: Ihm fehlte die Perspektive des Vertrauens. 2. Eine Perspektive der Ganzheitlichkeit Eine weitere Grundhaltung eines Unternehmers, dem das biblische Zeugnis als Vorbild dient, ist eine Perspektive der Ganzheitlichkeit. Hiermit ist einerseits gemeint, dass das berufliche und familiäre Engagement nicht getrennt werden 38

Entscheidende Merkpunkte umsetzen • Wer ein Unternehmen führen will, prüfe, wie er sich selbst führt. • Um aus der Energiequelle Gottes zu schöpfen, braucht es mehr als Aktion rund um die Uhr. Die Stille Zeit wird zum Produktionsfaktor. • Vertrauen und Optimismus nähren sich aus der stetigen Beziehung zu Gott. • Mitarbeiter, denen Wertschätzung ausgedrückt wird, sind viel motivierter, Leistung zu erbringen. Das setzt neue Kräfte frei. • Über 50-jährige Arbeitnehmende einzustellen ist nicht nur eine Dienstleistung an ihnen, sondern eine kluge Nutzung von Weisheit und Erfahrung. • Die zuweilen bewusste Einstellung von schwächeren Arbeitnehmenden gibt Gott die Möglichkeit, das Unternehmen auf seine Weise mit einer positiven Schlussbilanz zu überraschen. • Arbeitsplätze zu erhalten oder gar zu schaffen gehört zur sozialen Verantwortung, die nicht einfach dem Staat abgeschoben werden soll. • Die weise formulierten Überzeugungen des Leitbildes müssen immer wieder kommuniziert werden. Eine gelebte biblisch-christliche Wertebasis in einem Unternehmen bleibt nicht

ohne Auswirkungen. Wird ein solcher Werteprozess neu eingeführt, kann es auch zu unangenehmen Situationen kommen, wie zum Beispiel Kündigungen von Lieferanten. Aber das Reich Gottes beginnt sich auszudehnen, über die Ebene der persön-lichen Erlösung hinaus.

Beispielhafte Betriebsführung – Gelebte Werte in der Rimuss- und Weinkellerei Rahm AG1 Tradition und Innovation Das übergeordnete Thema unseres RimussJubiläums heisst: «Tradition und Innovation». Zur Tradition gehört bei uns, dass wir bei aller Unvollkommenheit versuchen, uns von diesem seit zweitausend Jahren bewährten christlichen Geist leiten zu lassen. Es sind einige Prinzipien, die auch für ein gutes Gedeihen einer Firma wichtig sind. Ich möchte sechs Prinzipien nennen, die wohl mitentscheidend waren, dass sich unser Unternehmen so positiv entwickelt hat. 1. Integrität und Wahrhaftigkeit Es ist uns ein Anliegen, dass das, was wir sagen, auch so gelebt wird. Wir versuchen eine grosse Transparenz zu pflegen gegenüber Mitarbeitenden wie auch gegenüber Kundinnen und Kunden und Lieferanten. 2. Gerechtigkeit Im Blick auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denke ich, dass sie ein ihrer Leistung entsprechendes, gerechtes Gehalt bekommen sollen. Auch leistungsfähige Lieferanten sollen für gute Lieferungen einen kostendeckenden Preis realisieren können. Und unsere Kundschaft soll 1

aus dem Referat von Robert Rahm zum 50-jährigen Firmenjubiläum, von uns gekürzt

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werte und zeitgeist | welche werte bestimmen ...

Produkte mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis erhalten.

während kurzfristiges, einseitig egoistisches Denken vom Absturz bedroht ist.

3. Treue Das hebräische Wort für «Treue» bedeutet: Dauerhaftigkeit in der Beziehung. Ich bleibe bei dir, ich lasse dich nicht fallen. Gute Mitarbeitende und Lieferanten sollen eine gewisse Sicherheit einer langfristigen Partnerschaft geniessen.

Diesen Grundsatz versuchten wir in den vergangenen 50 Jahren zu verfolgen, und dies soll weiterhin unsere Geschäftsphilosophie bleiben. Wir möchten der Kundschaft mit überdurchschnittlich guten Produkten zu einem fairen Preis dienen. Wenn unsere Kundinnen und Kunden von der guten Qualität eines Produktes so positiv überrascht sind, dass sie anderen begeistert davon erzählen, dann ist eine gute Entwicklung eines Unternehmens nur noch eine Frage der Zeit. Ich denke, dass unsere Rimuss-Produkte zu dieser Begeisterung geführt haben. Sogar Kinder sind von Rimuss begeistert und stecken die Eltern an – und umgekehrt.

4. Vertrauen Wir kennen das Wort «Kredit», lateinisch «credere», was «vertrauen, glauben» bedeutet. Der grösste Kredit im Geschäft ist das Vertrauen der Kundschaft. Wir verkaufen nicht nur Produkte, wir verkaufen mit unseren Produkten auch Vertrauen. So haben wir es bei der Einführung unseres neuen Rimuss Litchi-Perl erlebt, dass Abnehmer das Produkt aufgrund der Offerte, einer Beschreibung und einer Flaschenabbildung aufgenommen haben, ohne das Produkt degustiert zu haben. Das zeugt von einem offensichtlich grossen Vertrauen gegenüber uns als Kellerei. Wenn Rimuss ein neues Produkt bringt, so ist es keine Frage, dass es sehr gut sein wird. Es gibt ein Sprichwort, das immer noch gültig ist: «Solange man einander in die Augen schauen kann, muss man einander nicht auf die Finger schauen.» 5. Sozialkompetenz Es ist uns ein Anliegen, dass wir uns in konkrete Situationen unserer Mitarbeitenden, Kundinnen und Kunden und Lieferanten versetzen können. Wir wollen die Wertschätzung und das Wohl des andern suchen. Und unser wichtigster Grundsatz lautet: 6. Dienen Dienen vor ver-dienen. Gewinn ist für ein Unternehmen wichtig, er soll aber als Frucht des Dienens zurückfliessen. Dieses Denken führt langfristig zum Erfolg, cz 4|05

Unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wollen wir nicht nur dienen, indem wir ihnen gute und sichere Arbeitsplätze bieten. Wenn es unserem Unternehmen gut geht, so sollen auch sie davon profitieren. Es gebührt ihnen Dank für ihre langjährige Mithilfe, das Unternehmen mitzutragen. Seit jeher war es unser Anliegen, mit einem bedeutenden Teil des Gewinnes christliche und soziale Werke zu unterstützen, um Not auf dieser Welt zu lindern. Sei es mit Gratistransporten von Hilfsgütern in die Ostländer, Unterstützung von Kinderhilfswerken oder weltweiter Hilfe für geistliche und körperliche Nöte. Wenn es auch oft aussieht, als wäre alles nur ein Tropfen auf einen heissen Stein, so meint Pfarrer Ernst Sieber zu Recht: «Wenn einem Menschen auf dieser Erde geholfen werden kann, dann haben wir eine bessere Welt.» Es gibt ein geistliches Gesetz, das besagt: Was wir mit Herz weitergeben, wird in irgendeiner Form wieder zurückkommen. Das durften wir während den vergangenen 50 Jahren vielfältig erfahren.

Institut für Biblische Reformen IBR, Postfach 8320, CH-2500 Biel 8 www.ibrnet.ch Vitaperspektiv Beratung/Personal/Training/Finanzen, Winterhaldenstrasse 12, CH-3627 Heimberg www.vitaperspektiv.ch Rimuss- und Weinkellerei Rahm AG, Postfach, CH-8215 Hallau www.rimuss.ch

Weiterführende Literatur: • Knoblauch, Jörg; Marquardt, Horst (Hrsg.): Mit Werten in Führung gehen. Konzepte christlicher Führungskräfte. Giessen und Basel: Brunnen Verlag 2001, ISBN 3-7655-1232-X • Dürr, Walter M.: Christliche Gemeinschaft in der Spannung von Sammlung und Sendung. Eine praktisch-theologische Arbeit über die JAHU-Bewegung und ihre ReichGottes-Theologie im Kontext gesellschaftlicher und kirchlicher Herausforderungen. Fribourg: Academic Press 2004 • Stückelberger, Christoph: Ethischer Welthandel. Eine Übersicht. Bern: Verlag Paul Haupt 2001, ISBN 3-258-06362-1

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SEHNSUCHT Sehnsucht nach Werten Christen im Umgang mit dem Zeitgeist Stephan Holthaus und Beat Rink betonten im Rahmen der EXPLO 04 im Seminar «Der Christ im Umgang mit dem Zeitgeist», dass es für die Gemeinde Jesu wichtig zu wissen sei, wie sie auf die aktuellen Zeitströmungen reagieren könne.

Stephan Holthaus: Vielleicht haben Sie sich angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Veränderungen auch schon die Frage gestellt, was denn unsere Zeit heute überhaupt bewege. Viele Menschen, auch Christen, wissen nämlich gar nicht mehr, was die Probleme unserer Zeit sind. In der Bibel lesen wir in 1. Chronik 12,33: «Und von den Söhnen des Issaschar waren solche, die die Zeiten zu beurteilen verstanden und wussten, was Israel tun musste.» Es ist wichtig, dass wir wissen, was die Gemeinde Jesu zu tun hat und wie wir auf Zeitströmungen reagieren können, und so die Verantwortung für diese Welt in den Blick bekommen. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, den Zeitgeist zu analysieren, aber bei der Analyse nicht stehen bleiben, sondern aktiv werden und handeln.

Die Situation unserer Zeit Wir leben in einer Zeit zunehmender Globalisierung. Innerhalb weniger Stunden können wir alle Teile der Erde besuchen und haben Bilder vom anderen Ende der Welt innert kürzester Zeit live im 44

Fernsehen. Globalisierung ist eine der ganz grossen Herausforderungen der Moderne. Als Christen haben wir in diesem Bereich eine Verantwortung und eine Chance. Es ist offensichtlich, dass die heutige Gesellschaft in einer unglaublich starken Wertekrise steckt. Uns sind die Werte abhanden gekommen. Werte sind menschliche Traditionen, die einer Gesellschaft helfen, richtig miteinander umzugehen. Werte der Nächstenliebe, der Zehn Gebote haben unsere westliche Gesellschaft Jahrhunderte lang getragen. Ich denke, uns allen ist klar, dass diese Wertekrise unser gesamtes gesellschaftliches Gefüge auseinander brechen lässt – bis hinein in die Medizin merken wir das. Ich erinnere an die Debatten um das menschliche Klonen und die Stammzellenforschung. Interessant finde ich eine Entwicklung, die sich heute abzeichnet: Die Trendforscher beobachten seit etwa fünf Jahren eine zunehmende Hinwendung des Menschen der westlichen Kulturen zur Religion. Allerdings nicht zum christlichen Glauben, sondern zu anderen Religionen: zum Buddhismus, zum Islam und vor

allem zur Esoterik. Die Menschen suchen das Religiöse, das Spirituelle, weil sie merken, dass das Materielle sie nicht mehr trägt. Dahinter steckt eine tiefe Sehnsucht nach Sinn und Orientierung. Darin besteht die grosse Chance eines lebendigen Christentums, dass wir diesen Trend aufnehmen, um den Menschen die wahre Antwort zu geben, die wirklich genügt: der Glaube an Jesus Christus. Deswegen lassen Sie mich ganz kurz sagen, was wir als Christen auf Globalisierung, Wertekrise und zunehmende Religiosität zu antworten haben. 1. Verantwortung für diese sterbende Welt: Wir brauchen junge Christen, die bereit sind, sich öffentlich zu engagieren. Das kann in der Politik, aber auch in vielen anderen Bereichen sein. Zum Beispiel in der Schulpflege. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, Schlüsselpositionen in unserer Gesellschaft einzunehmen. 2. Starke Bibelbezogenheit der Christen: Wissen wir überhaupt, was wir selber glauben? Ich merke, dass auch in unseren Kreisen die Bibelkenntnis abnimmt. cz 4|05


werte und zeitgeist | sehnsucht nach werten

Wir müssen Antworten haben, die von der Bibel geprägt sind. Wir brauchen eine Renaissance der Bibel in unseren Gemeinden und in unserem Leben. 3. Einen glaubwürdigen Lebensstil einüben: Wir müssen unbedingt lernen, dass das gelebte Zeugnis das überzeugendste Zeugnis in unserer Zeit ist. Wir brauchen kompromisslose Christen, radikale, konsequente Christen, die leben, was sie glauben.

Beat Rink: In der Kunst stossen wir auf Werke, die nicht nur Kinder eines Künstlers sind, sondern immer auch Werke eines Zeitgeistes. Jedes Kunstwerk ist ein Spiegel seiner Zeit. Kunst kann Trends spiegeln, verstärken und sogar setzen. So kann es nicht ganz falsch sein, auch in der Kunst nach Spuren des Zeitgeistes zu suchen. Ich zeige kurz auf, wie der Film «Der Herr der Ringe» den Zeitgeist trifft und wie wir Christen darauf reagieren können.

Die Sehnsucht nach dem Mythos

• Dr. Stephan Holthaus, Jahr-

Wer hätte gedacht, dass dieser Film ein solcher Erfolg werden würde? Die Trilogie führt uns in eine Welt, in der es etwas gibt, was der heutige Mensch verloren hat:

zu kämpfen und zu sterben. Zum Beispiel Treue und Loyalität zu einem Herrn oder zu einem einmal gefassten Auftrag. 3. Eine höhere Macht: Die Helden stehen nicht nur im Dienst von Werten, sondern

Diese Sehnsucht nach Höherem, nach Mystischem ist in der gegenwärtigen Kunst mit Händen zu greifen. Denken wir nur an Harry Potter oder den Esoterik-Boom, der auch in der Kunst Urstände feiert. auch von höheren Mächten. Diese Sehnsucht nach Höherem, nach Mystischem ist in der gegenwärtigen Kunst mit Händen zu greifen. Denken wir nur an Harry Potter oder den Esoterik-Boom, der auch in der Kunst Urstände feiert. Das Übersinnliche fasziniert die Menschen.

gang 1962, ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Er ist Dekan (Studienleiter) an der Freien Theologischen Akademie in Giessen und Dozent für Kirchengeschichte und Ethik. In den letzten Jahren hat er sich viel mit Fragen des Zeitgeistes und aktuellen Strömungen der Gesellschaft beschäftigt.

• Pfarrer Beat Rink, Jahrgang 1957, verheiratet, drei Kinder, studierte Germanistik, Geschichte und Theologie. Zusammen mit seiner Frau ist er verantwortlich für «Crescendo», eine Arbeit von Campus für Christus unter klassischen Musikern. Er ist schriftstellerisch tätig und beschäftigt sich mit dem Zeit-

1. Der Mensch kann handeln und Dinge verändern: Er ist kein anonymes Rädchen im Getriebe, sondern herausgefordert, eine wichtige Rolle einzunehmen. Es kommt auf ihn an. Diese Sehnsucht nach einer Berufung ist verständlich. Menschen empfinden sich heute als Rädchen in einem hochkomplexen und unüberschaubaren Getriebe. Sie werden kaum wahrgenommen und sind scheinbar unbedeutend. Diese Empfindung frustriert und lähmt jede Willenskraft. Nun aber lautet die christliche Botschaft gerade, dass jeder Mensch wichtig ist, dass er Teil einer grösseren Geschichte, einer Heilsgeschichte ist und durch sein Handeln Schicksale mitbestimmen kann. Auch unter Christen gibt es eine tiefe Sehnsucht nach Berufung, wie der Boom prophetischer Dienste zeigt. Christ werden allein ist nicht das Ziel der Berufung, sondern vom lebendigen Gott berufen zu sein, wird Menschen ermutigen und zu Jesus Christus führen.

geist aus dem Blickwinkel von Kunst und Kultur.

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Was ist die Antwort der Christen? Nun stellt sich die Frage: Wie können wir unseren Mitmenschen begegnen? Die Antwort werden wir dort finden, wo wir mit Liebe und grossem Verständnis für die Fragen der heutigen Gesellschaft und mit einer Sicht für die Berufung des Einzelnen mit Wort und Tat das Evangelium weitervermitteln. Wo Christen als Gesprächs- und Gebetspartner bereit sind, auf die brennenden Fragen der Menschen um uns herum zu antworten. Die unvergängliche Wahrheit Christi zu fördern, stellt in meinen Augen eine der grössten Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist dar. Diese Beiträge sind von Christian Bachmann gekürzt und zusammengefasst worden. Der komplette Vortrag ist auf Audiokassette bei coba comunication in Reinach zu beziehen.

Literaturempfehlung 2. Es gibt noch Gut und Böse: Im Film geht es um Werte, für die es sich lohnt,

• Holthaus, Stephan: Operation Zukunft. Christsein im neuen Jahrtausend. Basel und Giessen: Brunnen Verlag 2000, ISBN 3-7655-1214-1

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D R E H B U C H Das geheime Drehbuch des Lebens Die Lust auf (Film-)Geschichten Schon immer fanden die Menschen in Mythen, Märchen, Romanen und der bildenden Kunst eine Spiegelung des Lebens. Mit dem Film wurde jedoch eine speziell eindringliche Variante des Erzählens möglich. Als Zuschauer werden wir oft so stark ins Geschehen hineingezogen, dass wir Emotionen und Lebensstil der Schauspieler unbewusst in unser Leben einbeziehen. Doch wie stark ist der Einfluss von Kino und Fernsehen1 auf unsere Empfindungen und Wertmassstäbe wirklich?

Das kalte Herz

Monika Blatter Die westliche Welt schaut sehr viel fern. Durchschnittlich dreieinhalb Stunden täglich, wie eine Studie2 aus dem Jahre 2003 belegt. Keine andere Institution vermittelt so vielen Menschen so einheitliche Werte wie das Fernsehen. In unserer postindustriellen Gesellschaft ist es sozusagen zur Diesseitigkeitsreligion3 geworden, die sich im Denken und Handeln der Zuschauer einnistet.

1

Dem vorliegenden Text zum Thema «Fernsehen» liegt ein Referat von Peter Winterhoff-Spurk zugrunde: «Kalte Herzen. Zum Einfluss des Fernsehens auf den Sozialcharakter.» [Referat-Manuskript vom 5.5.2004, Lindau, www.lptw.de/vortraege2004/p_winterhoff-spurk.htm]. Buch: Winterhoff-Spurk, Peter: Kalte Herzen. Über die allmähliche Vereisung des Sozialcharakters durch das Fernsehen. Suttgart: Klett-Cotta 2005

2 Media Perspektiven Basisdaten, 2003

3

Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991

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Vor der Zeit des Fernsehens entwickelten sich Denken und Handeln aufgrund religiöser Gegebenheiten, erlebter Vorbilder, aufgrund von Geschichten und daraus entstandenen inneren Bildern. Heutzutage wird unser Vorstellungsvermögen, bei dem wir selber Bilder generieren, kaum mehr herausgefordert. Fast alles wird fixfertig visualisiert und serviert. Uns wird ein Bild gezeichnet, wie wir sein könnten oder sollten und das unter Umständen Minderwertigkeitsgefühle hervorruft, da wir das vorgegebene Idealbild nicht oder kaum erreichen. Klassisches Beispiel dafür sind der Schlankheits- und Schönheitswahn. Entwickelt man eigene innere Bilder, was beim Lesen oder Erzählen der Fall ist, braucht das zwar mehr Zeit, schafft aber auch mehr Tiefe. Unsere schnelllebige Zeit lässt das nicht zu, und wir begnügen uns mit der Oberflächlichkeit und nehmen eine Kaltherzigkeit der sogenannt hochentwickelten westlichen Gesellschaft in Kauf, obwohl sich unsere Herzen nach mehr sehnen. So kommt

es dem heutigen Typus Mensch gerade recht, wenn das moderne Fernsehen personalisiert und emotionalisiert. Was heisst «Personalisierung»? Wenn Personen und Einzelschicksale bis in alle Details ausgebreitet werden und einen hohen Stellenwert erhalten, spricht man davon, dass das Fernsehen «personalisiere». Das zeigt sich in Talkshows, welche die Leute vor laufender Kamera streiten oder hochleben lassen, oder in einer Sendung wie «MusicStar», die aus Nobodies Superstars macht; aber auch in Informationssendungen, in denen beispielsweise über persönliche Schicksale in einer Katastrophe berichtet wird, spricht man von «Personalisierung». Und was heisst «Emotionalisierung»? Vermehrt werden konflikt-, gewalt- und actionhaltige Sequenzen gezeigt. Studien belegen, dass dies deutlich häufiger der Fall ist als früher. Schockeffekte und Tabubrüche sind ein Muss, vor allem für Privatsender. An und für sich unspektakuläre politische Debatten werden zu cz 4|05


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emotionsgeladenen Diskussionsschlachten hochstilisiert. Das entspricht der heutigen, histrionisch (schauspielerisch) geprägten Persönlichkeitsstruktur und schürt deren eigene Tendenz, alles auf sich zu beziehen und zu dramatisieren. Einzelnen Personen und Emotionen wird deutlich mehr Gewicht beigemessen als früher. Erheblich mehr zu sehen sind Gewalt- und Erotikszenen sowie asoziales Verhalten, häufig anzutreffen in Videoclips. Das prägt vor allem auch jugendliches Publikum, das besonders unter grosser Bindungsunsicherheit leidet. Alles, was die Jugendlichen wollen, ist, jemand zu sein und geliebt zu werden.Wenn diese Sicherheit von Haus aus nicht gegeben wurde, sucht man sie sich ausserhalb.

Das inszenierte Leben Gemäss Winterhoff-Spurk, dem Autor der Studie «Kalte Herzen», sind wir eine Gesellschaft von Schauspielern geworden. Er erwähnt die wichtigsten Punkte einer solchen Persönlichkeitsstruktur: Dramatisierung der eigenen Person, andauerndes Verlangen nach Aufregungen und Aktivitäten, bei denen die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, leichte Beeinflussbarkeit, oberflächliche und labile Affektivität, unangemessene verführerische Erscheinung sowie übermässiges Interesse an körperlicher Attraktivität. Das Leben wird mehr inszeniert als kontinuierlich und echt gelebt. Gefällt einem eine «Rolle» nicht mehr, wechselt man die Szene. Das zeigt sich in Ehe, Beruf und Hobby. Gemäss einer deutschen Studie trennen sich Paare zum Beispiel früher und häufiger und verlassen ihre Kinder eher als einst.4 Der Job wird häufiger gewechselt, von Freizeitvergnügen gar nicht zu reden. Es gibt nichts Langfristiges mehr. «‹Nichts Langfristiges› desorientiert auf lange Sicht jedes Hancz 4|05

deln, löst die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung», sagt Richard Sennet im Buch «Der flexible Charakter. Die Kultur des neuen Kapitalismus».

Mann umarmt und mit den Worten getröstet: «Ich kann verstehen, was Sie mitmachen!» In der Serie hatte die vom Schauspieler dargestellte Figur gerade ein Kind verloren.

Liebt mich doch! Diese unstete Art von Leben ruft eine grosse Bindungsunsicherheit hervor. Auf diese Unsicherheit trifft nun das Fernse-

Die Sehnsucht nach dem Ideal ist offenbar dermassen gross, dass die Tatsache übersehen wird, dass diese Figuren nur inszeniert oder idealisiert sind. hen als eine Art Religionsersatz. Der angebotene Inhalt kann Halt, Identifikation und Antwort auf der Suche nach Werten vermitteln.

Parasoziale Bindungen Bei der Frage an Jugendliche, wer sie am liebsten sein möchten, nannten in einer australischen Untersuchung über 75 Prozent der befragten Jungen und 55 Prozent der Mädchen eine Medienfigur, nur 8 Prozent wählten die Eltern als Ideal. Ähnliche Untersuchungen wie die deutsche Shell-Jugendstudie bestätigen diese Resultate und folgern, dass diejenigen, die viel fernsehen und ein unsicheres Selbstbild haben, eher mediale Vorbilder wählen. Pseudobeziehungen zu Serienstars, Musikern oder Sportlern werden aufgebaut, die durch Fanclubs oder Fanartikel zum Nacheifern und Mitfiebern animieren. Die Sehnsucht nach dem Ideal ist offenbar dermassen gross, dass die Tatsache übersehen wird, dass diese Figuren nur inszeniert oder idealisiert sind. So erhielt zum Beispiel Dr. Welby aus einer amerikanischen Ärzteserie Tausende von Briefen, in denen er um Rat gefragt wurde. Und ein Darsteller der Serie «Gute Zeiten, schlechte Zeiten» wurde einmal von einem wildfremden

Was liegt der Inszenierung des eigenen Lebens und der Bindung an fiktive Figuren zugrunde? Es ist die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe, die durchs Fernsehen letztlich nicht gestillt werden kann. Trotz der «medialen Bedrohung» sieht Peter Winterhoff-Spurk allerdings Hoffnung, diese «Vereisung des Sozialcharakters», wie er sie nennt, aufzuhalten. Stabile Ehen, verantwortungsbewusste Erziehung der Kinder sowie elterliche Zuwendung seien wichtig. Eltern sollten zusammen mit ihren Kindern fernsehen und reflektieren, damit diese lernten, reale und fiktive Informationen besser zu unterscheiden. Im Weiteren seien nachbarschaftliche Beziehungen und soziales Engagement vor Ort wichtig, da Heranwachsende auch Bindungen ausserhalb des familiären Kontextes bräuchten. Schliesslich wohne man an einem Ort, in einem Land, zu dem man eine Bindung entwickeln sollte. Auch in Firmen und Organisationen sei es wichtig, ein Klima zu schaffen, das Bindungssicherheit fördere. Packe man das Problem bei der Wurzel und nicht nur oberflächlich am Medium Fernsehen, könne das von den Medien gekaufte Herz vielleicht ein warmes Herz werden. 4 Emmerling P.,

Hat nicht die Bibel das Problem auch schon aufgegriffen? «Ich schenke ihnen ein anderes Herz und schenke ihnen einen neuen Geist. Ich nehme das Herz von Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz von Fleisch, damit sie nach meinen Gesetzen leben und sie erfüllen» (Hesekiel 11,19). 47

2003, Entscheidungen 2002, Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 12, S. 1105-1115


Die besondere Erlebniswelt – das Kino Bei Toni Baumgartner von «Filmplus»5 über den Unterschied zwischen Fernsehen und Kino nachgefragt, meint er, Fernsehen schaue man, Kino erlebe man.

«Einen Film auf der Mattscheibe zu sehen, das ist etwa so, als würde man einen van Gogh auf einer Briefmarke betrachten.» (Jean-Paul Belmondo) Das macht die Faszination Kino aus. Fernsehen ziehe ich rein, Kino zieht mich rein. Der Regisseur Alfred Hitchcock betrachtete das Publikum immer als Teil der Szenen.

Die Geschichte erleben «Wirksame Filme regen nicht das Auge an, sondern setzen einen unbewussten Seelenbetrieb in Gang. Sie verlagern das Drama von der Leinwand in die Herzen der Zuschauer. Die Zuschauer sind dankbar für Filme, die ihnen ein aussergewöhnliches Erlebnis ermöglichen. Sie lieben diese Filme, weil sie ihnen einen Aspekt ihres Lebens zugespitzt nahe bringen.» So bringt Dirk Blothner6 die Erlebniswelt Kino auf den Punkt. Ich denke, viele Kinobesucher können diese Aussage bestätigen.

Das Kinoerlebnis beginnt schon mit dem Weg dorthin, der Atmosphäre vor und im Kino. Ich sehe mir Filme im Kino viel bewusster an als im Fernsehen, und ich werde tatsächlich mehr zu Diskussionen und eigener Hinterfragung angeregt als durch das TV. Interessanterweise faszinieren Geschichten, die in einer anderen Zeit spielen, genauso wie solche aus unserer Zeit. Denn wirklich gute Filme berühren uns auf einer tieferen Ebene als durch Zeit, Ort und Hauptdarsteller. Eigentlich sind die sichtbaren Tatsachen eines Films zweitrangig. Die tiefenpsychologische Wirkung löst mehr aus. Die Kriegshelden, Aliens, Gladiatoren, Verliebten usw. erleben das Gleiche wie wir in unserem Alltag: überraschende Wendungen (wie würde ich das Problem lösen?) oder Tod (wie ginge ich damit um?). Mystisches fasziniert damals wie heute. Ein Film bewegt dann, wenn man den Menschen mit den Geschichten in seinen tiefen Sehnsüchten trifft, die er vielleicht nicht mal verbalisieren kann. All die Gefahren, die, wenn auch zum Teil in anderer Form, in unserem Alltag lauern, finden wir in den Geschichten wieder, nur dass wir sie als «coach potatoes», also vom sicheren Sessel aus, meistern können.

Grenzenlose Freiheit nimmt uns gefangen

5 «Filmplus» verleiht christliche und von christlichen Werten geprägte

Filme und technische Geräte im Bereich Filmmedien. Toni Baumgartner arbeitet schon seit rund 20 Jahren bei «Filmplus», zuerst hauptamtlich, heute neben seiner Tätigkeit bei ERF Schweiz. 6 Siehe Fussnote 9, S. 16 7 Blothner, Dirk: Das geheime Drehbuch des Lebens. Kino als Spiegel

der menschlichen Seele. Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe 2003 8 In: Schnabel, Norbert: Wenn Gott ins Kino geht. 50 Filme, die man

kennen muss. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag 2004 9 In: Blothner, Dirk: Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung

des Films. Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe 1999, S. 36

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Unser Alltag ist technisch und kompliziert geworden. Ohne Alltagsmedien, Computer, Fernsehen und Automatisierung kommen sich viele Zeitgenossen wie seelische Analphabeten vor. Wir lieben es, in Filmen den «handfesten Alltag» zu entdecken, zu erkennen, wie das Leben wirklich funktioniert. So lieben wir zum Beispiel Filme wie «Cast away» (Tom Hanks), eine moderne Robinson-CrusoeAdaption, bei der es darum geht, mit fast gar nichts zu überleben.

«Noch nie waren die Menschen in ihrer Lebensführung so frei wie heute. Mit dem Rückzug der grossen Religionen und Weltanschauungen aus dem Alltag der westlichen Gesellschaften kann jeder nach seiner ganz persönlichen Fasson glücklich werden», schreibt Dirk Blother in seinem Buch «Das geheime Drehbuch des Lebens»7. Diese grenzenlose Freiheit ist gleichzeitig eine Überforderung und führt zu neuen, intensiv betriebenen Leidenschaften und gar Zwängen (Mode, Konsum, sozialer Status). Darum suchen wir nach einem bergenden Lebensrahmen, der uns Richtung weist, wofür es sich zu leben und zu sterben lohnt. Wie beeindruckt sind wir doch von Filmhelden und -heldinnen, wenn sie bis aufs Blut für etwas kämpfen. Nicht die Identifikation mit der Filmfigur ist hier die Hauptsache, sondern die tiefe Sehnsucht nach etwas, wofür wir selbst kämpfen könnten. So können Filme wie «Gladiator», «Braveheart» oder «Jeanne D‘Arc» zwar in einer anderen Welt und Zeit spielen, gleichzeitig aber eine Anregung sein, sich auch heutzutage für etwas ins Zeug zu legen. «Film heisst eben nicht nur, die Erwartungen zu erfüllen – das besorgt schon das Fernsehen –, sondern uns etwas zu erzählen, womit wir nicht gerechnet haben.»8 (Michael Althen) «Manchmal machen uns Filme sogar auf Festlegungen aufmerksam und werden zum Anstoss für ein Umdenken oder eine Veränderung. In seltenen Fällen kann ein Film den Wendepunkt eines Lebens markieren.»9 Dies bestätigt auch Toni Baumgartner, der davon ausgeht, dass christliche Filme durchaus Positives auslösen können. Christliche Filme sind für ihn jene, die den Menschen die biblische Botschaft und ebensolche Werte nahe bringen, wie zum Beispiel Filme über cz 4|05


werte und zeitgeist | das geheime drehbuch ...

Figuren des Alten Testaments oder «Ben Hur», «Die Stunde des Siegers»und «Joni».

Filme nicht drängenden, aus der Zeit geborenen Fragen Ausdruck gäben.

Ein Beispiel aus dem Film «Spiderman»: Der unscheinbare Junge, der von einer genmanipulierten Spinne gebissen wird, erhält spinnenähnliche Fähigkeiten. Zuerst weiss er nichts Rechtes damit anzufangen, bis sein Onkel ihm kurz vor dessen Tod sagt: «Aus grosser Kraft folgt grosse Verantwortung.» Als Spinnenmann rettet der Junge viele Menschenleben, was schliesslich seine Berufung wird. Vom Unbestimmten kommt der noch ungeformte Junge zum Bestimmten, zum verbindlichen Auftrag. Von der Alles-ist-möglich-Freiheit in ein kontinuierliches, diszipliniertes Leben, unter anderem mit dem Verzicht auf die grosse Liebe des Jungen und den Ruhm. Denn niemand weiss wirklich, wer Spiderman ist. Der Film trifft die Sehnsucht, jemand zu sein und einen Lebensinhalt zu finden, für den es sich lohnt, Opfer zu bringen. Obwohl Spiderman ein völlig fabuliertes Comic-Wesen ist, hat der Junge dahinter und dessen interessante Entwicklung mit uns ganz persönlich zu tun.

Auch Toni Baumgartner meint, Kino sei einerseits Spiegel der Gesellschaft, könne jedoch auch prägend sein. Negativ beeinflussend sei zum Beispiel die in den letzten zwanzig Jahren stark zunehmende Darstellung von Sexualität und Gewalt. Liebe werde mit Körperlichkeit gleichgesetzt. Als Problemlösung werde immer häufiger Gewalt als Antwort gezeigt. Plötzlich werde das auch im Alltag «normal». Was vor 30 Jahren undenkbar gewesen, sei heute gang und gäbe. Diesen Wertewandel erkenne man nicht nur bei Fernsehshows.

Filmkritik Wie beurteilt Toni Baumgartner einen Kinofilm? «Bevor Kritik angesagt ist, sollte man den Film selber gesehen und sich den Emotionen, die er hervorruft, ausgesetzt haben. Auch wenn die Geschichte ein beklemmendes Gefühl hinterlässt, muss der Film nicht schlecht sein. Die Frage danach, was das Gesehene mit mir ‹macht›, ist zu stellen und eine Antwort darauf zu finden.»

zu machen, um abzuchecken, ob und wie etwas angesprochen wird. Nicht ganz einfach, aber interessant, so etwas beispielsweise mit einer Gruppe durchzuführen. Es wäre zu viel verlangt, jeden Kinobesuch so auszuwerten, schliesslich soll der Kinoabend das bleiben, was er ist: ein genussvoller Abend. Aber dennoch lohnt es sich, Filme überhaupt einmal anzuschauen, und das mit einem genügend kritischen Blick. Paulus‘ Aufforderung aus 1. Thessalonicher 5,21 möge uns Wegweisung sein: «Prüfet aber alles, das Gute haltet fest!» «Wenn Gott ins Kino geht» heisst ein Buch von Norbert Schnabel, in dem er fünfzig gute Kinofilme beschreibt und eine Kurzbewertung abgibt. Ein Ansporn für Kinomuffel, sich wieder einmal vor die grosse Leinwand zu setzen. Allerdings macht der Autor im Buch keine Hinweise auf allfällige Gewalt- und Sexszenen, die in den entsprechenden Filmen vorkommen.

Traumwelt Selbst wenn die Kinowelt «die Welt der Träume» genannt wird, findet sie Anknüpfungspunkte in unserer Realität. Der Traum braucht den Anhalt der Realität, um eine lebenspraktische Richtung zu finden, und die Realität braucht den Traum, damit das Leben nicht erstarrt. Hollywood kann nicht als blosse Unterhaltung abgetan werden, meint Blothner. Denn es könnten niemals Tausende von Menschen so gefesselt werden, wenn die cz 4|05

Ich stimme mit ihm überein, dass nicht jeder Streifen, in dem nackte Haut, Ehebruch und Gewalt gezeigt wird, unmoralisch sein muss. Unser Leben besteht nun mal unter anderem aus Sex, Gewalt, Liebe und Tod. Die Frage ist, wie diese Themen gewertet oder welche Emotionen dabei hinterlassen werden. Eine Methode zur systematischen Analyse eines Films besteht darin, sich eine Liste mit wichtigen Themen und Werten

• Toni Baumgartner • Monika Blatter ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie hat das «Strategische Lebenstraining» (SLT) und die «Schule für biblische Prinzipien in der Geschäftswelt» (SBG) beim «Institut für biblische Reformen» (IBR) in Biel abgeschlossen.

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I S R A E L «Ja, da wollen wir hin, wo Jesus gelebt Wie das jüdische Volk Denken und Fühlen einer Schweizer Familie geprägt hat.

REPORTAGE

Die Geschichte beginnt in Israel in einem Kibbuz: Dort lernen sich Marc und Ruth Villiger 1969 kennen. Ein Jahr später heiraten sie und absolvieren Zusatzausbildungen an theologischen Seminaren, was sie schliesslich in einen Gemeindedienst nach Hannover führt. Nach ein paar Jahren werden sie angefragt, als Schweizer im von Deutschen aufgebauten Projekt «Dienste in Israel» Versöhnungsarbeit zu leisten. «Ganz bewusst wollten wir Mitverantwortung übernehmen, um in Israel vor Ort Volksgruppen verbinden zu helfen. Zu den Früchten dieser Zeit gehört, dass wir selbst neue Werthaltungen übernommen haben.»

Tom Sommer

Die Berufung zum Leben und Arbeiten in Jerusalem in den Jahren 1979 bis 1986 hat für die Familie Villiger vordringlich mit Dienen zu tun, nicht mit Predigen und Missionieren. Vor allem viele Jugendliche aus Deutschland, aber auch aus der Schweiz, kommen nach Israel, um als Volontäre zum Beispiel in einem Kibbuz oder einer sozialen Institution zu arbeiten. «Diese jungen Menschen galt es organisatorisch, freundschaftlich und geistlich zu begleiten; sie wollten ja nun eine Zeit lang dort leben. In vielen Gesprächen konnten wir unseren innersten Antrieb für diese Arbeit, nämlich die Versöhnung durch Jesus Christus, einbringen. Das hat Brücken gebaut.»

Am Puls des Volkes Die Faszination «Heiliges und modernes Land Israel» gehört schon jahrelang zu Marc und Ruth Villiger. Doch erst im prak50

tischen Leben dort spüren sie den inneren Puls des jüdischen Volkes. Beispiel 1: Erster Synagogenbesuch mit den Kindern. Diese werden vom Rabbi gleich bei der Hand genommen, in die erste Reihe begleitet und später bei der Esther-Geschichte aufgefordert, mit Schlaginstrumenten so richtig Lärm zu machen. Kinder und Eltern sind somit schnell integriert – und der genau gleiche Ablauf wiederholt sich dann Jahr für Jahr. «Die Juden lernen so: Dinge werden einfach wiederholt, immer und immer wieder. Und dadurch die ganze Kultur und Geschichte verinnerlicht – und später wieder so weitergegeben. Im Judentum werden auf diese Weise Traditionen über Jahrhunderte gepflegt und erhalten.» Beispiel 2: «Hey, wenn du heute Abend alleine bist, komm doch zu uns zum Essen!» Die Familie erlebt, dass bei den neuen Freunden und Bekannten Gastfreundschaft gross geschrieben wird. Schnell bieten sich auch flinke Hände an, wenn ir-

gendwo Hilfe nötig ist – die Spontaneität scheint manchmal fast grenzenlos. Für Villigers wird damit klar, dass das Judentum wirklich eine Tat-Religion ist. Es geht nicht um grosse Worte – man handelt.

Das Lebens- und Glaubensfundament wird bereichert Als Europäer sind auch Villigers mit dem griechisch-analytischen Denken aufgewachsen. Nun lernen sie in Israel die Thora kennen. Mit dem Vorurteil einer gewissen Gesetzlichkeit des jüdischen Volkes erfahren sie jedoch im Alltag mit diesen Menschen, dass das hebräische Denken sehr ganzheitlich ist. Kein Bereich werde ausgeklammert, die bei uns immer wieder diskutierte Trennung von Seele und Leib kenne man so nicht. «Wir haben entdeckt, dass die Thora eine Liebesbezeugung Gottes ist, wie die Menschen leben sollen. Es ist also eher ein Lebensbuch denn ein Gesetzbuch. Wir haben in cz 4|05


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reportage | «ja, da wollen wir hin, wo jesus ...»

• Familie Villiger

hat.»

1979-1986 in Israel

unserer Israel-Zeit gelernt, wie alles ganz natürlich zusammengehört.» Eigentliche Wortstudien – die ganze Familie spricht schliesslich fliessend Hebräisch – lassen sie neue Zusammenhänge erkennen: Beispiel 1: Wortwörtlich beschreibt der Psalmist, dass der Mensch Gott «mit all seinen Knochen» anbeten solle. Gläubige Juden nehmen diese Ganzheitlichkeit sehr ernst: Beim Loben und Beten ist der Körper immer in Bewegung - kein steifes Eingepferchtsein in Kirchenbänke ... Beispiel 2: Ein neuer Blick auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn lässt die Familie erstmalig tief erkennen, dass das jüdische Volk ihre geistliche Herkunftsfamilie ist. Der jüngere Sohn im Gleichnis, der wieder nach Hause zurückkehrt, symbolisiere die Christenheit, die ihre Wurzeln erkenne, betont Ruth Villiger. «Dieses Erkennen hat uns geholfen, uns voll und ganz mit der jüdischen Kultur mit all den Festen usw. zu identifizieren. So haben auch wir ganz selbstverständlich angefangen, am entsprechenden Fest Laubhütten zu bauen – ein besonderer Anlass vor allem für die Kinder, die dann vollends spüren, jetzt in dem Land zu leben, wo auch Jesus gelebt hat. So gehören das Hüttenbauen, gemeinsame Essen, Einander-Segnen, Vorlesen aus Gebetsbüchern cz 4|05

usw. ganz normal zu unserem Leben und Feiern. Wir haben gelernt, dass es möglich ist, einfach über das Leben zu erzählen, ohne über Sinn und Unsinn, über Glauben oder Unglauben zu diskutieren. Eine neue, lockere und doch nicht oberflächliche Dimension des Zusammenseins.» Beispiel 3: In der Schule ist es selbstverständlich, dass die Kinder vier Lektionen Thora-Unterricht pro Woche haben. Für die ganze Familie ein Ausdruck dafür, dass nicht nur die sogenannten Leistungsfächer wie Mathematik und Physik, sondern auch ethische und religiöse Aspekte des Lebens von diesem Volk als wichtig eingeschätzt werden. Wie man zum Beispiel mit alten Menschen umzugehen hat, ist ein sehr konkretes Thema.

Die Berufung weitet sich aus 1983, bereits vier Jahre in Jerusalem, erfolgt ein neuer Ruf, sich in diesem Land zu engagieren. Die Fernseharbeit CBN («Christian Broadcasting Network») fragt Marc Villiger an, TV-Sendungen zu produzieren, die Aspekte der Versöhnung zwischen den Volksgruppen dokumentieren sollen. Diese Berufung fällt nicht aus heiterem Himmel: Marc hatte sich schon lange in privatem und kleinem Rahmen mit Filmproduktionen beschäftigt. Vorbild war Jesus selbst, denn dieser habe ja auch dauernd «visualisiert», also sehr bildhaft zu seinen Zuhörern gesprochen. Auch in der Schweiz machen sich Firmen und Organisationen Gedanken darüber, die Botschaft des Evangeliums via Fernsehen in die Häuser zu bringen. Nach entsprechenden Kontakten entschliesst sich die Familie Villiger nach insgesamt sieben Jahren in Israel, wieder in die Heimat zu ziehen. Nun wollen sie hier helfen, Brücken zu bauen. Zunächst empfinden sie eine grosse Leere, denn nach den Jahren der intensiven Beziehungen in Israel, der Spontaneität und Lebendigkeit der dorti-

gen Menschen muss in der Schweiz wieder alles neu aufgebaut werden. Vieles aus der Israel-Zeit haben sie allerdings als ganze Familie verinnerlicht. Für alle vier Kinder ist klar: Man baut jetzt auch in der Schweiz Laubhütten, Feste werden wie in Israel gefeiert, und freitags kommt man zum Sabbat zusammen. Und der hebräische Segen über Brot und Wein ist bei jeder Gelegenheit selbstverständlich. «Die Israel-Zeit hat unsere Beziehung zu Jesus verstärkt. Wir feiern auch heute die Feste, wie er es getan hat.»

Was ist geblieben? «Die Jahre in Israel sind für uns eine grosse Lebensbereicherung», sind sich Marc, Ruth und die vier mittlerweile erwachsenen Kinder einig. Persönliche und geschäftliche Beziehungen im Rahmen der Fernseharbeit werden weiterhin gepflegt, und in der Schweiz bestehen auch viele Kontakte zu Israel-Freunden. Gastfreundschaft und Spontaneität sind Lebensmotto geworden. Zum wichtigsten gehört jedoch die Erkenntnis der korrekten Übersetzung – und Umsetzung – eines Bibelwortes: «Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du» (3. Mose 19,18). So gesehen sei der Einzelne angehalten, sich nicht mehr gar so wichtig zu nehmen. Es gelte anzuerkennen, dass der andere gleiche Stärken und gleiche Schwächen habe wie man selbst. Das sei eine entspannte Basis, auf andere Menschen zuzugehen und sie zu lieben.

«Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.»

Wieder in der Schweiz, produzierte Marc Villiger Dokumentarfilme fürs Schweizer Fernsehen. Anschliessend half er als Regisseur bei der Entwicklung der Fernsehsendung «Fenster zum Sonntag» auf SF2 mit. Heute führt er das Unternehmen visualproductions. Hier werden Film- und Videoprojekte inklusive anspruchsvoller Animationen und Soundtracks realisiert. Kontakt: www.visualproductions.biz

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