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Zeitschrift der 端berkonfessionellen Bewegung Campus f端r Christus Schweiz

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relevant leben


I N H A L T relevant leben | inhalt

Inhalt ZUM THEMA

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«Wo sind die Christen?» Interview mit Andrea Vonlanthen, Chefredaktor «idea Schweiz»

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Christen, ihr habt eine grosse Verantwortung «U2»-Sänger Bono Vox über Armut und Aids

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«Wir haben eine grössere Relevanz, als wir meinen»

Einsatz auf der Brücke der Verzweifelten Wachen auf der Pont Bessière in Lausanne

Umfrage unter Freikirchenleitern

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REPORTAGE La Tanne – ein Kraftort der besonderen Art Eine betende Gemeinde auf einer Jurahochweide

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«Du musst raus! In die Welt hinaus!» Wie Nicole Metzler ihre Aufgabe und Liebe in Kuba fand

«Christen sind viel zu bescheiden» Aus dem Leben der EVP-Politikerin Brigitte Müller-Kaderli

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Ganzheitlich helfen in Kuba Gilberto Dominguez Sosa über die aktuelle Situation

Prägen Christen künftig die Gesellschaft stärker? Dr. Andreas M. Walker plädiert für Zukunftskompetenz

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KUNST

Dranbleiben lohnt sich Die Geschichte der Therapeutischen Gemeinschaft Neuhof

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Douglas Gresham und die Sehnsucht nach Narnia

Wenn der Glaube praktisch wird Über das Engagement von Edi und Agnes Wäfler

HINWEISE

Freikirchen wollen relevanter werden

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VFG veröffentlicht Positionspapier zur Politik

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CFC National Kurznachrichten von Campus für Christus Schweiz

Lettland: Christen prägen die Gesellschaft Hanspeter Nüesch berichtet vom Gebetsfrühstück in Riga

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Das Kino zurückerobern

Betroffenheit statt schlechtes Gewissen

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CFC international Was Agape in der Mongolei bewegt

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Was geschah, als David Wilkerson betete

Agenda Seminare und Kursangebote

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statt fernzusehen?

Inserate und Impressum Christliches Zeugnis

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EDITORIAL relevant leben | editorial

Editorial Was ist Relevanz? nen in ihren Bedürfnissen abgeholt fühlen. Könnte es sein, dass wir Christen neu und besser hinhören sollten, was unsere Mitmenschen von Gott und der Kirche erwarten, bevor wir ihnen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben? Das führt zu einem zweiten Aspekt: Relevanz kommt vom lateinischen Wort «relevare» und heisst wörtlich wieder aufheben (was darniederlag), erleich• Peter Höhn

Im Zeitalter der Diskussionen um Kopftuch, Kreuz und Kirchenaustritte bleibt die eigentliche Frage oft auf der Strecke: Wie können Christen gesellschaftlich relevanter werden? «Relevantes Leben» ist ein vielschichtiger Begriff. Gemäss Wörterbuch ist Relevanz ein Mass dafür, wie stark eine Sache die Realität beeinflusst. Also zum Beispiel, wie bedeutend die Kirche das gesellschaftliche Leben, die öffentliche Meinung oder die Politik beeinflusst. Oder wie spürbar jemand seine Nachbarschaft oder seinen Arbeitsplatz als Christ zu prägen vermag. Nun verhält es sich mit der Relevanz ähnlich wie mit echter Autorität: Sie kann nicht genommen, sondern nur verliehen werden. Nicht der Absender, sondern der Empfänger bestimmt die Wichtigkeit eines Beitrags. Nicht wie laut jemand schreit, ist relevant, sondern ob sich die Angesprochecz 1|07

Gemäss Wörterbuch ist Relevanz ein Mass dafür, wie stark eine Sache die Realität beeinflusst. tern, lindern, befreien. Christlich-relevantes Leben muss sich – von seiner wörtlichen Bedeutung her – daran messen lassen, wie entlastend und aufrichtend es für die Menschen rundherum wirkt. Ganz im Sinn von Jesus, der sagte: «Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!» (Matthäus 11,28-30), oder wie man auch übersetzen könnte: «... ich will euch aufrichten, erleichtern, für euch relevant werden!» Als Nachfolger Jesu sind wir eingeladen, sein relevantbefreiendes Wirken für unser eigenes Leben immer wieder neu zu erbitten und zu erfahren. Gleichzeitig sind wir berufen, für unsere Mitmenschen im Sinne dieser Worte Jesu relevant zu werden. Die Pharisäer waren nicht relevant, weil sie für ihre eigene Bedürftigkeit und Un-

barmherzigkeit blind waren und als Folge davon andere Menschen belasteten statt entlasteten. Könnte es sein, dass wir noch nicht in der gewünschten Weise für die Gesellschaft relevant sind, weil Jesus es für uns noch nicht so werden durfte, wie er es gerne wollte? Die Beiträge in diesem Heft möchten zu drei Dingen anregen: Zu einer engagierten Diskussion auf allen Ebenen, wie Christen in unserer Zeit an Salzkraft gewinnen können. Zum ebenso engagierten Beten um die Führung Jesu, in welcher Weise wir persönlich, als Familie, als Hauskreis, als Gemeinde die Relevanz von Jesus erleben und hinaustragen dürfen. Der diesjährige Aufruf «40 Tage Gebet und Fasten», der dem äusserst relevanten Kapitel 58 aus Jesaja folgt und

Relevantes Leben entsteht nicht über Nacht. Es erfordert nichts weniger als Blut, Schweiss und Tränen, Gottvertrauen, Gehorsam und einen langen Atem. diesem Heft beiliegt, kann eine zusätzliche Hilfe sein. Und zum Dritten: Tun Sie es und bleiben Sie dran! Relevantes Leben entsteht nicht über Nacht. Es erfordert nichts weniger als Blut, Schweiss und Tränen, Gottvertrauen, Gehorsam und einen langen Atem. Peter Höhn


RELEVANT LEBEN

P A C K E N D «Wo sind die Christen?» Der Chefredaktor von «idea Schweiz» wünscht sich mehr soziales Engagement Andrea Vonlanthen, Chefredaktor von «idea Schweiz», wünscht sich angesichts von Armut und Not mehr soziales Engagement von Christen und Kirchen in der Gesellschaft. Gleichzeitig vermisst er eine prägnante evangelistische Stimme in der Schweiz. Andrea Vonlanthen rät Kirchen vor Ort, ihre Identität zu klären sowie mit einem kreativen Konzept und möglichst vernetzt mit anderen Kirchen öffentliche Auftritte zu pflegen.

Manfred Kiener Christliches Zeugnis: Andrea Vonlanthen, Sie verbreiten als Chefredaktor von «idea Schweiz» Nachrichten und Meinungen aus der evangelischen Welt. Über welche Entwicklungen unter den Christen in der Schweiz freuen Sie sich besonders? Andrea Vonlanthen: Ich freue mich über das wachsende soziale Engagement der Christen. Die entsprechende Arbeitsgruppe der Evangelischen Al­ lianz blüht auf. Ich sehe, wie sich eine Stiftung Wendepunkt und eine Jobfactory in Basel entwickeln. Christen entdecken die tätige Liebe. Weiter wird unter Christen immer mehr politisches Engagement sichtbar. Das zeigt die positive Entwicklung der beiden E-Parteien EVP und EDU. Das neue Politpapier des Freikirchenverbandes VFG stellt eine interessante Diskussionsgrundlage dar. Mich freut die Vernetzung von Christen in der Evangelischen Allianz und im Freikirchenverband. Mich freut aber auch die Entwicklung unter jungen Christen, wie sie im Godi-Netzwerk sichtbar wird.

Diese Menschen zeigen eine Sehnsucht und eine Leidenschaft für ein ganzheitliches und glaubwürdiges Christsein, das ansteckend wirkt. Wie könnte die Botschaft vom Evangelium in der Schweizer Gesellschaft noch besser sicht- und erlebbar werden? Im Moment ist sie wirklich nicht sehr gut sichtbar. Vor allem die packende, überzeugende Botschaft fehlt, die man verbal in die Öffentlichkeit bringt. Mir fehlen in der Schweiz markante Evangelisten und Verkündiger, die kraftvoll und begeistert evangelisieren können, so wie damals ein Wilhelm Pahls oder ein Friedhold Vogel. Sie haben Evangelisation erwähnt. Reicht Verkündigung alleine? Sie reicht überhaupt nicht, nein. Zum Wort gehört die Tat. Aber mir fehlt heute in der Schweiz eine starke, prägnante evangelistische Stimme. Es gibt wertvolle Angebote wie Alphalive. Aber das sind meist örtliche Aktionen. Wir sollten die überregionale, die nationale Evangelisation neu pflegen,

die in den Medien wahrgenommen wird. Daneben brauchen wir mehr Mut und Leidenschaft, um zu unseren Positionen zu stehen. Wir müssen wegkommen von kleinlichen Diskussionen über theologische Nebenfragen unter Christen. Wir sollten untereinander grosszügiger sein und in ethischen Fragen zusammenarbeiten. Wir sollten weniger ängstlich unsere ethischen und politischen Positionen vertreten. Wir müssen nicht in erster Linie in der Gesellschaft möglichst gut dastehen, sondern Profil zeigen. Wir müssten uns marketingmässig professioneller verkaufen. Man nimmt christliche Gemeinden nicht wahr, weil sie keine attraktiven öffentlichen Anlässe planen und öffentliche Auftritte oft nicht pflegen. Wie erleben Sie das Spannungsfeld zwischen Christen und ihrer Botschaft einerseits und der Öffentlichkeit andererseits? Ich erlebe diese Spannung sehr wohl. Auf der einen Seite sehe ich, wie Jesus aufgetreten ist: mutig, leidenschaftlich und provokativ. Auf der anderen cz 1|07


relevant leben | wo sind die christen?

Zur Person Andrea Vonlanthen, geboren 1947, verheiratet, drei erwachsene Kinder, vier Enkel, wohnt in Arbon. Ursprünglich Lehrer, dann Mitarbeiter des Schweizer Radios, Redaktor der «Thurgauer Zeitung», Chefredaktor der «Schweizerischen Bodensee-Zeitung» und Medienbeauftragter des Chrischona-Verbandes. Seit Mai 2005 Chefredaktor von «idea Schweiz». Mitglied des Thurgauer Grossen Rates, des Arboner Stadtparlamentes und des Bodenseerates.

Seite sehe ich, wie ängstlich und harmoniebedürftig wir selber sind. Da haben wir in Bezug auf den öffentlichen Auftritt noch zu wenig von Jesus gelernt. Es wäre wichtig, für unsere Botschaft in der Öffentlichkeit mehr Interesse zu wecken. Dazu brauchen wir ein klareres Profil und mehr gesunde Provokation. Jesus provozierte oft mit seinen Auftritten und seinen Gleichnissen. Als wie relevant nehmen Sie Christen aus dem Raum der Evangelischen Allianz in der Gesellschaft wahr? Sie sind zu ängstlich und zu diskret, oft auch zu wenig kreativ. Wenn wir sie vergleichen mit der Wirtschaft, den Parteien, mit Sportvereinen oder Interessengruppen wie beispielsweise den Homosexuellen, sind wir noch Waisenknaben in unserem cz 1|07

Wir sollten untereinander grosszügiger sein und in ethischen Fragen zusammenarbeiten. Wir sollten weniger ängstlich unsere ethischen und politischen Positionen vertreten. Wir müssen nicht in erster Linie in der Gesellschaft möglichst gut dastehen, sondern Profil zeigen. Wir müssten uns marketingmässig professioneller verkaufen. Auftritt. Hier haben wir wenig Relevanz. Meist haben islamische Organisationen heute sogar mehr Relevanz als die Freikirchen. Dies, obwohl sie relativ wenig dafür tun. Aber es gelingt ihnen, sich so in die öffentliche Diskussion einzubringen, dass sie zu einem Thema und damit öffentlich relevant werden.

Köhler, den Schuhfabrikanten HeinzHorst Deichmann oder den TV-Mann Peter Hahne, die sich öffentlich zum Evangelium bekennen. In der Schweiz kommt mir Pfarrer Ernst Sieber in den Sinn. Er ist nicht unbedingt wegen seiner evangelistischen Botschaft im Gespräch, aber wegen seines sozialen Wirkens und wegen seiner Originalität. Er pflegt einen Auftritt und eine Kommunikation, um welche die Medien nicht herumkommen. Pfarrer Fredy Staub ist ein weiteres gutes Beispiel. Ihm gelingt es, mit kreativen Aktionen und aktuellen Themen das

Welche Christen sind für Sie modellhaft relevant in der Schweiz? Die gibt es natürlich. Man nimmt sie jedoch nicht gleich wahr wie etwa den deutschen Bundespräsidenten Horst


Interesse der Medien zu wecken. Er gilt in den Medien ja als Eventpfarrer. Er macht das überzeugend, professionell und glaubwürdig. Weiter denke ich an Nationalrat Werner Messmer. Er hat es als Christ im liberalen Umfeld der FDP schwerer als Leute in einer E-Partei. Doch er lebt sein Christsein konsequent und glaubwürdig. Wie wurden die erwähnten Pfarrer und Politiker relevant? Was können wir von ihnen lernen? Wer öffentlich relevant werden will, der muss einen Leistungsausweis mitbringen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die schaut, wie sich jemand im beruflichen, sportlichen und politischen Umfeld bewährt. Zudem braucht es eine theologische und eine geistliche Kompetenz. Wir müssen verständlich sagen können, woran und warum wir glauben. Dazu kommt die persönliche Integrität und Überzeugungskraft. Weiter braucht es Mut und Kommunikationsfähigkeit, um die Botschaft weder arrogant noch langweilig zu vermitteln. Sie soll möglichst demütig, aber kompetent daherkommen. Öffentlich relevante Personen haben ein gesundes Medienbewusstsein. Es gehört dazu, den Medien gegenüber offen zu sein und auch auf schwierige, zum Teil fast boshafte Fragen ruhig und gelassen zu reagieren. Wir haben vom Geist Gottes her

allen Grund, gelassen zu bleiben. So können wir in den Medien in einer guten und überzeugenden Art kommunizieren. Wie kann eine Kirche an ihrem Ort relevanter werden? Sie muss ein Bewusstsein für ihren Auftrag haben, der an der Kirchentüre nicht aufhört, sondern dort erst beginnt. Sie soll hinausgehen und die Gesellschaft mit Salz und Licht durchdringen. Die Gesellschaft hat das bitter nötig. Eine solche Kirche hat ein klares missionarisches Bewusstsein. Sie weiss, wer sie ist, und hat eine klare Identität, ein definiertes Profil. Auf dieser Basis geht sie mit einem kreativen Konzept an die Bevölkerung und an die regionalen Medien heran. Sie versucht, sich mit weiteren Kirchen und Gemeinden zu vernetzen, damit der Auftrag gemeinsam erfüllt werden kann. Der gemeinsame Auftritt geniesst eine grössere Glaubwürdigkeit als fünf oder sechs Gemeinden, die alleine marschieren. Eine Gemeinde, die wahrgenommen werden will, investiert in eine überzeugende Jugendarbeit mit einem Programm, das auf die Jungen abgestimmt ist. Sie hat zudem ein starkes Augenmerk auf die Seniorinnen und Senioren, nimmt doch der Anteil der über 50-jährigen Personen in der Schweiz stark zu.

Eine Zeitung fragte letzthin: Eine Million Arme in der Schweiz - wo sind sie? Was heisst das für die Kirchen? Noch mehr als diese Frage beschäftigt mich die folgende: Wo sind die Christen? Der soziale Auftrag geht uns als Christen alle an. Es gilt, zuerst innerhalb der Gemeinde versteckter Armut zu begegnen, damit Menschen auch wirtschaftlich begleitet werden können. Es gilt weiter, sich gegenüber den Nachbarinnen und Nachbarn zu öffnen, Begleitperson zu sein, um Armut und Not zu entdecken. Oft schämen sich Menschen, ihre Probleme öffentlich zu machen. Da sind wir gefragt, sie sensibel wahrzunehmen und ihren Bedürfnissen zu begegnen. Welche Kirchen und Gemeinden sind für Sie relevant in der Schweiz? Im Sozialbereich nehme ich zuerst die Heilsarmee positiv wahr. Sie tut uneigennützig viel Gutes. Ich staune jedoch, dass sie von ihrem guten Sozialimage nicht mehr profitiert für ihren Gemeindebau. Die Heilsarmee ist keine wachsende Freikirchenbewegung. Ihr gutes Image hilft zwar, erfolgreich zu wirken. Dies allein löst aber noch kein Gemeindewachstum aus. Von ihrem sozialen Engagement her ist die Heilsarmee für mich eine vorbildliche Bewegung. In der Ostschweiz fällt mir die Godi-Bewegung auf. Sie veranstaltet überregionale Jugendgottesdienste cz 1|07


relevant leben | wo sind die christen?

• Andrea Vonlanthen: «Auf der einen Seite sehe ich, wie Jesus aufgetreten ist: mutig, leidenschaftlich und provokativ. Auf der anderen Seite sehe ich, wie ängstlich und harmoniebedürftig wir selber sind.»

an sieben oder acht Orten, wirkt breit und ist vernetzt unter den Kirchen. Was sie gemeindeübergreifend unter den Jungen tut, ist fantastisch. Das wird Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Ich höre zudem viel Positives von Evangelischen Allianzen, sei es in Winterthur oder Thun, wo sich über zehn Kirchen und Gemeinden zusammengefunden haben, um die Gesellschaft mit dem Evangelium zu erreichen und zu verändern. Sie sind nicht nur Christ und Chefredaktor, sondern wirken auch als Kantonsrat im Thurgau. Sollen sich jetzt Christen mehr politisch, sozial oder spirituell engagieren? Christen sollen sich engagieren in der Gesellschaft, das ist keine Frage! Doch bereits die ersten Jünger wirkten auf unterschiedlichen Gebieten. Es war nicht jeder ein Paulus oder ein Stephanus. Zuerst wird von uns ein grundsätzlicher Entscheid und der Wille gefordert, uns an den Platz in Kirche und Gesellschaft hineinzugeben, wo Gott uns hingestellt hat. Unsere Gesellschaft geht immer mehr vor die Hunde. Da sind wir als Christen gefordert. Ob unser Platz in der Politik, im Sozialen oder in einem geistlichen Auftrag ist, das hängt vom Auftrag sowie von unseren Gaben und Neigungen ab. Im Sozialbereich dürfen wir dem Staat nicht cz 1|07

mehr zumuten. Er kann die Aufgaben nicht mehr finanzieren. Deshalb müssen wir in Kirchen und Gemeinden mehr soziale Aufgaben übernehmen, angefangen bei der Kinderarbeit über die Unterstützung von stellensuchenden Jugendlichen bis hin zur Seniorenarbeit. Wichtig ist mir die Bildungspolitik. Ich wünsche mir mehr Christen, die sich in der Schulpolitik, in der Schulpflege oder in Schulleitungen engagieren. In den Schulen werden Wertegrundlagen unserer Gesellschaft geprägt. Wenn uns die Wertevermittlung nicht besser gelingt, leben wir in zehn, zwanzig Jahren in einer Gesellschaft, die völlig ohne christliche Grundlagen dasteht.

beschäftigen. Ich fragte mich: Wenn Gott mich in dieser Nacht holen und mich fragen würde, was ich aus meinem Leben gemacht habe, würde ich wohl eine jämmerliche Figur abgeben. Ich war zwar beruflich erfolgreich und anerkannt, doch vor Gott ein elender Kneifer. Meine Frau hatte in all den Jahren immer eine Freikirche besucht. Ihr gelang es, mich mit einem Prediger in Verbindung zu bringen. Er vermittelte mir die Liebe Gottes in einer Art und Weise, die mir in der Kindheit fremd gewesen war. Für mich stellte Gott eine strenge, fordernde und autoritäre Figur dar – eben wie mein leiblicher Vater. Da erkannte ich: Gott ist anders. Er ist derjenige, der aus Liebe alles gibt, um mich für sich zu gewinnen. Dieses Erlebnis half mir, den ganz anderen Gott zu finden. Die gesundheitliche und geistliche Krise wurde mir zum Glücksfall. Je mehr ich seither gerade auch in politischen Herausforderungen stehe, desto mehr erkenne ich, wie ich es ohne die Hilfe Gottes, des Heiligen Geistes, gar nicht schaffen würde. Gerade in der Politik gerät man oft in schwierige Situationen. Wenn ich heute nicht diese Gelassenheit aus dem Glauben und aus dem Vertrauen in Gottes Möglichkeiten hätte, hätte ich wohl schon in mancher politischen und auch beruflichen Situation resigniert.

Wann wurden für Sie selbst christliche Werte und der Glaube relevant? Ich erhielt im Elternhaus eine gute, aber gesetzliche christliche Basis. Als ich siebzehn Jahre alt war, kam es zum Zerbruch: Der Vater verliess die Familie. Ein Vater, der mich gesetzlich erzogen hatte. Das führte bei mir zu grossen Zweifeln. Ich hielt vieles im Glaubensbereich nicht mehr für möglich. Nach zwanzig Jahren, in denen mich der Beruf als Chefredaktor stark gefordert hatte, schlitterte ich in eine schwere gesundheitliche Krise. In jenem Lebensabschnitt nahm ich mir Zeit, um mich mit Fragen nach Sinn, Tod und Ewigkeit zu


U M F R A G E «Wir haben eine grössere Relevanz, als wir meinen» Umfrage unter Freikirchenleitern über die Relevanz der Christen in der Öffentlichkeit Der Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz (VFG) hat ein Positionspapier zur politischen Wertediskussion veröffentlicht (siehe Artikel Seite 30). Im VFG bilden 14 Freikirchen und Gemeindeverbände die Leiterkonferenz. Den Präsidenten oder die Delegierten dieser 14 Organisationen baten wir, zu sechs Fragen Stellung zu nehmen (siehe Kasten). 5 der 14 angeschriebenen Leitungspersönlichkeiten haben geantwortet.

Fragen an die Freikirchenleiter 1. Was denken Sie über die Relevanz der Schweizer Christen in der Gesellschaft? 2. Wie kann der einzelne Christ in seiner Umgebung relevanter werden? 3. Wie kann eine Freikirche vor Ort relevanter werden? 4. Wie werden die Gemeinden Ihres Verbandes im Allgemeinen von der Öffentlichkeit wahrgenommen? 5. Wo, denken Sie, gibt es gute Beispiele von Gemeinden Ihres Verbandes, die an ihrem Wirkungsort für die Gesellschaft relevant sind? 6. Sind die Themen Diakonie und soziales Engagement Teil der Ausbildung der künftigen Gemeindeleiter, Pastoren, Pfarrer oder Diakoninnen in Ihrem Werk?

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relevant leben | wir haben eine grössere …

Manfred Kiener

1. Relevanz der Christen?

2. Als Christ relevanter werden?

• Heinz Strupler, Delegierter vom Bund der evangelischen Gemeinden: «Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Christen seien in der Schweiz gegenwärtig nicht sehr relevant für die Gesellschaft. Aber: Wo stünde die Schweizer Gesellschaft, wenn es die Christen nicht gäbe? Wir Christen haben in der Schweiz eine grössere Relevanz, als wir meinen.»

• Heinz Strupler: «Annelies und ich leben als Ehepaar in einem Quartier, in dem wir bewusst zur guten Wohnqualität beitragen wollen. Wir helfen mit, die Kultur des Umgangs miteinander positiv zu verändern. Wir grüssen die Nachbarinnen und Nachbarn, gehen auf Leute ein, zeigen uns hilfsbereit, freundlich und pflegen ein offenes Haus. Andere Nachbarinnen und Nachbarn nehmen das auf und handeln ebenso. Zudem helfen wir mit, jährlich ein Quartierfest zu organisieren. In der Nachbarschaft können wir als Gläubige doch alle positiv anstecken!»

• René Winkler, Leiter der Chrischona-Gemeinden Schweiz: «Sicher sind wir längst nicht so relevant, wie es unsere Vorfahren waren. Sicher sind wir noch längst nicht dort, wo wir sein sollten und könnten. Aber die Entwicklung geht in die richtige Richtung.» Anzeichen dafür sind für Winkler die wachsende politische Kraft der Parteien EVP und EDU sowie Politikerinnen und Politiker mit christlichem Bekenntnis in anderen Parteien. Christen sähen politische Verantwortung als Teil des Reiches Gottes. Immer mehr Christen engagierten sich in Medien und Kunst. Schliesslich verwies René Winkler auf sozial-diakonische Projekte, die aus christlicher Motivation heraus entstanden seien und Vorbildcharakter hätten wie die Stiftung Wendepunkt oder die Jobfactory. • Max Schläpfer, Präsident der Schweizerischen Pfingstmission, meint, die Relevanz der Christen sei besser als ihr Ruf. «Ich denke hier an die Christen, die in sozialen Berufen stehen, in Pflege- oder Lehrberufen, und die ihre Aufgabe aus innerer Überzeugung und Berufung tun. Sie sind in der Öffentlichkeit nicht so sichtbar.» Dasselbe gelte für die Freiwilligenarbeit, die in den Gemeinden bei der Kinder-, Jugend- und Seniorenarbeit sowie im Besuchs- und Betreuungsdienst geleistet werde. Schläpfer: «Das sind alles gesellschaftsrelevante Aktivitäten.» Man dürfe nicht vergessen, welchen sozialen Nutzen die eigentliche Gemeindearbeit als geistliche Arbeit in sich trage. • Daniel Suter, bis Ende 2006 Präsident des Evangelischen Gemeinschaftswerkes: «Die Relevanz der einzelnen Christen in der Gesellschaft ist gross!» In vielen Bereichen nähmen Christen Einfluss und handelten entsprechend. Den einzelnen Personen stellt Suter die Institutionen gegenüber: «Die christlichen Kirchen, Gemeinden und Werke als Institutionen haben eine weit geringere Relevanz und werden kaum wahrgenommen.»

• René Winkler ermutigt dazu, nach Werten anstelle von Verhaltenskatalogen zu leben. «Dies könnten Werte sein, wie wir sie für unseren Umgang Chrischona-intern definiert haben: Vertrauen, Verantwortung, Versöhnung, Verfügbarkeit und Voraussicht.» Christen sollten auf Not in ihrem Umfeld persönlich eingehen und nicht warten, bis jemand ein Konzept vorlege. Reduziert werden müssten das eigene Programm und die eigenen Ansprüche etwa im Umgang mit Zeit, Geld und Menschen. • Max Schläpfer empfiehlt, nach dem alten Motto zu leben: Tue Gutes und sprich darüber! «Christen dürften durchaus noch mutiger werden im Einnehmen von gesellschaftlichen Positionen wie etwa in Fragen der Menschenwürde, der Abtreibung und der Homosexualität.» Die Wahrheit sei nicht immer beliebt, und wer sie vertrete, müsse mit Widerstand rechnen. Christen dürften sich davon nicht abschrecken lassen. • Daniel Suter: «Jesus sagt: Ihr seid das Licht der Welt, und ihr seid das Salz der Erde. Das kann kaum schiefgehen.» • Stefan Gisiger: «Authentizität und Transparenz sind gefragt. Wenn es für andere Menschen nicht erfahr- und erlebbar ist, dass mein Glaube, meine Überzeugungen, mein Reden und mein Handeln stimmig sind, dann bin ich nicht relevant. Sobald ich jedoch transparent und ohne fromme Masken ehrlich mein Leben mit allen Schwächen und Stärken in Beziehungen lebe, in meinem Teil der Gesellschaft, und interessiert bin am Menschsein meines Nächsten, beginne ich, relevant zu werden. Erst so kann das Evangelium heute in einem Menschen Gestalt annehmen und ihn verändern.»

• Stefan Gisiger, Generalsekretär vom Bund Schweizer Baptistengemeinden: «Wenn wir bedenken, dass nach der freikirchlichen Definition um die zwei Prozent der Bevölkerung Christen sind, dann empfinde ich, gesamtschweizerisch gesehen, die Relevanz der Schweizer Christen für die Gesellschaft als marginal.» Die Freikirchen würden bestenfalls als die kleinen Geschwister der grossen Landeskirchen wahrgenommen. cz 1|07


3. Als Gemeinde relevanter werden? • Heinz Strupler: «Die City-Church in Zürich bietet ihren Besucherinnen und Besuchern beispielsweise Budgetberatungen an und hilft ihnen beim Ausfüllen ihrer Steuererklärung. Spezialistinnen und Spezialisten machen ihre Fähigkeiten praktisch für andere verfügbar.» Relevanter werde eine Gemeinde, wenn sie zu den Menschen gehe. «Wir evangelisieren regelmässig auf den Strassen und an Esoterikmessen.» Nicht zuletzt sei er ein starker Verfechter der Freundschaftsevangelisation, meint Strupler. «Wir planen in den Gemeinden bewusst Zeit ein für befreundete Menschen und versuchen, das interne Programm nicht zu überladen.» • René Winkler: «Die Summe dessen, was einzelne Mitglieder einer Gemeinde tun, ergibt schon ein starkes Zeugnis.» Die Gemeinde verstehe das, was Einzelne im Beruf, in der Nachbarschaft oder in der Politik täten, als Dienst an Menschen im Namen von Jesus Christus. «Je nach Kraft einer Gemeinde bestehen sicher viele Möglichkeiten, sich mit Projekten gesellschaftlich einzubringen.» • Max Schläpfer: «Eine Gemeinde hat schwerpunktmässig eine geistliche Aufgabe und darauf soll sie sich konzentrieren. Sie gewinnt allein schon durch zahlenmässiges Wachstum an gesellschaftlicher Relevanz, weil sie Menschen positiv prägt in ihrem Denken, in ihrer Einstellung zur Gesellschaft und in politischen Auffassungen. Wenn durch den Dienst einer Gemeinde Familien heil werden, die Arbeitsmoral bei Menschen steigt, Einzelne ihre persönliche Verantwortung vermehrt ernst nehmen und zunehmend Schwache unterstützen, steigt damit ihre gesellschaftliche Bedeutung.» • Daniel Suter: «Wir haben die Kraft, Menschen zu lieben. Abgrenzung ist fehl am Platz. Es geht nicht ohne Opfer an Zeit und Geld. Weniger gemeindeeigene Infrastruktur, Organisation und Programme würden Freiraum schaffen.» • Stefan Gisiger: «Eine Freikirche kann relevanter werden, wenn sie eine klare Identität hat nach innen wie nach aussen.» Wenn sie wisse, welche Werte sie leben wolle. Wenn sie wisse, welches ihre tragenden Glaubensinhalte seien, und darüber spreche. Wenn sie wisse, welchen besonderen Auftrag ihr Gott an ihrem Ort zugedacht habe. «Auch dort gilt: transparent und authentisch sein! Es geht nicht über das Programm, sondern über Beziehungen.»

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4. Werden Ihre Gemeinden wahrgenommen? • Heinz Strupler: «Unsere Gemeinden werden in der Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht besonders wahrgenommen. Wir sind mit rund tausend Mitgliedern auch ein kleiner Gemeindeverband. Ich wende mich selber wenig an die Öffentlichkeit und an die Medien. Das ist vielleicht sogar gut so.» • René Winkler: «Das kann ich nicht repräsentativ beantworten. Die öffentliche Wahrnehmung hängt davon ab, wie sich die einzelnen Mitglieder bzw. die Gemeindeverantwortlichen vor Ort in der Öffentlichkeit bewegen und engagieren. Mehrheitlich, so befürchte ich, werden unsere Gemeinden eher als frommer Club mit gutem Programm für Kinder, Jugendliche und Senioren wahrgenommen. Wir sind noch zu wenig in der Welt.» • Max Schläpfer: «In der Vergangenheit wurden Freikirchen vor allem in den Medien immer wieder negativ bewertet. Man stellte sie als vereinnahmend dar und platzierte sie gerne in Sektennähe. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, und wir werden mehr und mehr als ernst zu nehmende Partner wahrgenommen. Wir sind in einem Prozess, der dazu führen soll, dass die freikirchlichen Gemeinden bekannter und anerkannter werden, ohne dass sie dabei ihre biblische Botschaft verwässern müssen.» • Daniel Suter: «Das Evangelische Gemeinschaftswerk (EGW) hat das Glück (und manchmal auch die Last), eine lange Tradition zu haben und an vielen Orten etabliert zu sein. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass wir oft als geschlossene Gesellschaft wahrgenommen werden.» • Stefan Gisiger: «In kirchlich interessierten Kreisen sind wir bekannt, weil es ausserhalb Europas doch etliche Baptisten gibt. Lokal gilt, dass es sehr auf die Gemeinde ankommt. Weil sich die Baptisten kongregationalistisch organisieren, gibt es lokal sehr grosse Unterschiede in der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Da müsste man die einzelnen Gemeinden befragen.»

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relevant leben | wir haben eine grössere …

5. Wo gibt es gute Beispiele? • Heinz Strupler: «Da kommt mir die Jugendarbeit der Haslichile in Niederhasli in den Sinn. Jugendliche der Kirche sprachen im Dorf Teenager an, die sich langweilten, und begannen, mit ihnen diverse Aktivitäten wie einen Orientierungslauf durchzuführen. So entstanden Kontakte. Einmal im Jahr veranstaltet die Haslichile ein Bodysoccer-Turnier (Menschen-Tischfussball) in einem Park.» • René Winkler nennt als gute Beispiele die Godi-Arbeit unter den Jugendlichen in der Ostschweiz, die Kindersozialarbeit in Mendrisio und Chiasso (siehe Christliches Zeugnis 4/2004, Anm. d. Red.), die Schülermittagstische von Chrischona-Gemeinden in Muttenz und Uster sowie den Kidstreff am Mittwochnachmittag in Dottikon. Die Evangelische Freikirche Rafz treffe sich im Zentrum Tannewäg, dessen Mehrzwecksaal sowie andere Räume auch von der politischen Gemeinde sowie Vereinen, Firmen und Privatpersonen gemietet werden könne. Oder in Genf werde eine multikulturelle Quartierarbeit unterhalten. • Max Schläpfer: «Ich denke hier an eine Gemeinde im Raum Zürich, die es durch ihre vorbildliche Jugendarbeit jede Woche Hunderten von Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sinnvollen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen durch Sport, Pfadfinderaktivitäten und Wochenendlager.» Es gebe weiter Gemeinden, die in Seminaren gesellschaftsrelevante Themen aufgriffen, wie beispielsweise den Umgang mit Geld, und die Erziehungsseminare oder Ehekurse anbieten würden. Zahlreiche Gemeindeglieder engagierten sich in Kommissionen und Ämtern ihrer politischen Gemeinden als Dienst an der Gesellschaft. • Daniel Suter: «Ich erlaube mir, nur ein Beispiel zu nennen: In Unterlangenegg wird dem EGW jeweils die Gestaltung der 1.-August-Feier übertragen.» • Stefan Gisiger: «Die Baptistengemeinde Wettingen unterstützt das Projekt einer Hip-Hop-Church im Merkerareal in Baden. Man beginnt, darüber zu sprechen.» Die Baptistengemeinde in Zürich baue zusammen mit dem Diakoniewerk Salem Wohnmöglichkeiten für Alterswohngruppen. Die Baptistengemeinde Bülach führe jugendkirchliche Anlässe in einer ehemaligen Fabrik durch und die Baptistengemeinde St. Gallen organisiere jährlich eine Sportprojektwoche für Jugendliche, die in der Region guten Anklang finde.

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6. Wird für soziales Engagement ausgebildet? • Heinz Strupler: «Soziales Engagement ist in unseren Ausbildungen definitiv ein wichtiges Thema. Ich denke, soziales Engagement wird in Zukunft für unsere Gemeinden angesichts der gesellschaftlichen Situation noch wichtiger werden.» • René Winkler: «In unserer Grundausbildung ist dies bis jetzt kein Schwerpunkt. Es gelang aus verschiedenen Gründen nur ansatzweise, einen Studienzweig Diakonie zu etablieren. Es gibt im Bereich der Weiterbildung verschiedene Angebote, die solche Themen aufnehmen. Insgesamt sind wir diesbezüglich noch schwach bzw. nutzen andere bestehende Angebote zur Weiterbildung.» • Max Schläpfer: «Wie schon erwähnt, muss die Gemeinde bei ihrer Kernaufgabe bleiben. Diakonisches Handeln ist uns in der Bibel geboten, bildet aber nur einen Teil des Gesamtauftrages. Wir achten bei der Ausbildung der Pastoren darauf, dass sie das Gleichgewicht in der vielfältigen Herausforderung der Gemeindearbeit behalten können. Die Gemeinde bildet Hirten aus, nicht Sozialarbeiter. Aber alle Gemeindemitarbeitenden sind ein Stück weit automatisch sozial tätig, denn es geht um das Wohl des ganzen Menschen nach Geist, Seele und Leib.» • Daniel Suter: «In diesen Bereichen leben wir zurzeit mehr von einer ruhmvollen Geschichte. Vieles durfte in der Vergangenheit entstehen und selbstständig werden. Jetzt sind wir gefordert, neue Schwerpunkte zu setzen. Eine spezifische Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden ist bis jetzt nicht vorhanden. Ausnahmen bestätigen die Regel.» • Stefan Gisiger: «Gemeindeleiter und Pastoren auszubilden, damit sie das System Gemeinde am Leben erhalten, war noch nie zukunftsträchtig und auch nicht im Sinne des Erfinders. Mag in der Vergangenheit zu viel in Theologie ausgebildet worden sein, so ist es heute unumgänglich, Diakonie und soziales Engagement in der Ausbildung zu haben. In diesem Sinne: Ja.»

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La Tanne – ein Kraftort der besonderen Art Eine betende Gemeinde auf einer Jurahochweide «Auf 1000 Meter Höhe betet sich‘s besser», titelte die Regionalzeitung im Jahr 2004 zum Vierzig-JahrJubiläum der Gemeinde La Tanne. Doch abgeschieden ist die Gemeinde lediglich geografisch. Es ist eine Gemeinschaft, die Friede und Begeisterung in die Umgebung ausstrahlt. Was tut sie?

Tom Sommer Kaum zu glauben, dass sich Sonntag für Sonntag rund dreihundert Erwachsene und Kinder mit ihren Fahrzeugen die lange Bergstrasse von Tavannes zur Jurahöhe La Tanne hinaufbewegen, um dort Gottesdienst zu feiern. Abgeschiedener gehts fast nicht. Und noch erstaunlicher: Jeden Mittwoch treffen sich hier fünfzig bis achtzig Leute zum Gebetsabend. Damit seien, so der langjährige Leiter Marcel Niederhauser, jeweils rund zwei Drittel der Gemeindeglieder repräsentiert. Auch die winterlichen Strassenverhältnisse, manchmal schon ab Ende November, scheinen das Engagement dieser Christen nicht zu hindern.

Eine Lektion in Geschichte Zunächst muss ich mich im Gespräch darüber aufklären lassen, dass die Gründung der christlichen Gemeinde La Tanne nichts mit den bekannten Täufer- und Mennonitengemeinden zu tun hat, die sich seit dem 16. Jahrhundert – keineswegs freiwillig! – auf die Jurahöhen zurückzogen. Das ist bekanntermassen ein 12

anderes, dunkleres Kapitel der Schweizer Geschichte. Die Gemeinde La Tanne geht auf eine Brüdergemeinde zurück, die sich im dortigen Bauernhof versammelte. Die Zwillingsbrüder Willy und Alfred Niederhauser stammten aus der Region Bern und übernahmen Mitte der Fünfzigerjahre den Bauernhof La Tanne. Die beiden Familien Niederhauser integrierten sich gut in die bestehende Gemeindearbeit. Versammlungsort blieb nach wie vor ein kleiner Saal innerhalb des Wohnhauses. Sein Vater Willy sei ein tiefgläubiger Mensch und Gottessucher gewesen, erzählt Gemeindeleiter Marcel Niederhauser. Leider sei er nach einigen Jahren in der neuen Heimat von schweren Depressionen geplagt worden. Das habe ihn umso mehr auf Spaziergänge und in die Stille getrieben, um Gottes Gegenwart zu suchen. «Für ihn war klar, dass er aus diesen Depressionen herauskommen wollte und Gott bestimmt eine Antwort parat hatte. So stiess er einmal auf die Bibelstelle, dass diejenigen, die Gottes Wort angenommen hatten, sich taufen

liessen. Dieses Wort brachte die Wende: Beide Brüder liessen sich taufen.» Der Brüderverein konnte sich mit der Taufe von Erwachsenen nicht einverstanden erklären, was dazu führte, dass man den Hof La Tanne als Versammlungsort verliess. So blieben die beiden Familien Niederhauser in La Tanne zurück. Vater Willy erfuhr eine vollständige Befreiung von seinen Depressionen. Vermehrt wurden nun Nachbarn auf die kleinen

• Vater Willy Niederhauser starb im Jahr 2005 im Alter von 76 Jahren. «Bis zuletzt wach und begeistert, für das Evangelium zu arbeiten.»

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vom relevant glauben reden leben | la freude tanneam …

Hauskreisgottesdienste aufmerksam. Marcel Niederhauser: «Der Hauskreis wurde grösser und grösser. Im Zentrum stand immer das gemeinsame Gebet, das Flehen vor Gott. Neue Menschen kamen mit ihren Sorgen und verschiedenen, zum Teil massiven Problemen, und wir erlebten, wie sie frei wurden von Depressivität, Selbstmordgedanken usw.» In jener Zeit habe es auffällig viele Menschen mit derartigen Problemen gegeben, erwähnt Marcel, und es habe sich dann eben herumgesprochen, dass in La Tanne Menschen gesund geworden seien.

Schicksal und Berufung Der Hof blühte, die Hauskreisgruppe wuchs, sodass man einen Anbau realisierte, um rund hundertzwanzig Menschen für die Versammlungen aufnehmen zu können. Anfang der Siebzigerjahre wurde auch das zu eng, sodass sich die Gemeinde 1973 an einen Neubau wagte. Während des Baus starb Alfred Niederhauser an Krebs, was für seinen Bruder Willy einen sehr schweren Schlag bedeutete. Wie weiter mit dem Hof und der Gemeinde? Gemeinsam mit einem Sohn

Alfreds, der seine Ausbildung zum Schreiner abbrach, wurde nun der Landwirtschaftsbetrieb weitergeführt. Zehn Jahre später widmete sich Vater Willy dann zu hundert Prozent der Gemeindearbeit. Marcel Niederhauser im Rückblick: «Da die beiden Brüder Willy und Alfred keine eigentliche geistliche Ausbildung hatten – sie waren mit Leib und Seele Bauern –, stellte das Wachstum der Gruppe eine grosse Herausforderung für sie dar. Ganz praktische Fragen wie zum Beispiel zu Heirat und Beerdigung standen immer wieder an. Zudem forderte sie die Sprache heraus: Französisch sprachen sie nicht. Aber eines bestätigte sich trotz allem immer wieder: die Berufung, Menschen mit dem Evangelium bekannt zu machen und sie dazu auszurüsten, ihren Glauben hinauszutragen.» Dieses Engagement habe seither stetig Früchte getragen. Rund zehn bis fünfzehn Leute seien jährlich neu dazugestossen. Dies führe er, so betont Marcel Niederhauser, nicht primär auf die regelmässigen traditionellen Evangelisationen zurück, sondern auf die Gebetstreffen, wo für alles Mögliche und für jedermann, für Christen

wie Nichtchristen, gebetet werde. Anlässlich meines Besuches auf La Tanne erfahre ich als Gast eines solches Gebetstreffens die besondere Atmosphäre. «Hast du auch ein Anliegen?», werde ich gefragt, und ich fühle mich zutiefst wertgeschätzt und getragen.

«Gott kennen, um ihn bekannt zu machen» So formuliert der gelernte Feinmechaniker Marcel Niederhauser den Hauptauftrag seiner Gemeinde, der er nun seit bald zwanzig Jahren vorsteht. Schon als Kind sei er am Gemeindegeschehen sehr interessiert gewesen und habe schon immer geholfen, die Gottesdienste und anderes zu organisieren - meist zusammen mit seinen insgesamt zehn Geschwistern, Cousins und Cousinen. Die beiden Familien Niederhauser seien immer eine feste Gemeinschaft mit dem gleichen Anliegen gewesen. Ob er denn, so frage ich, besonders bedeutungsvoll für Gott habe sein wollen. «In dem Sinne ja, dass ich schon immer einfach Menschen für Jesus Christus gewinnen wollte. Ohne Hemmungen konnte ich bereits

• Blick vom Gemeindezentrum La Tanne auf den Nachbarhof und die Jurahochweide.

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Als sein Sohn und heutiger Leiter müsse er jedoch betonen, dass es wirklich nie um Strategien und Methoden gegangen sei, die sie sich überlegt hätten. Vielmehr seien sie überzeugt: Grundlage ist das gemeinsame Einstehen und Flehen vor Gott. Die ältere Generation hat damit die Basis gelegt, und das wollen wir bewusst wertschätzen.

«Ich danke euch»

• Gemeindeleiter Marcel Niederhauser

damals in der Lehre davon Zeugnis ablegen, was mir Gott bedeutet.» Marcel betont, dass es ihm, damals wie heute, nie um die Gemeinde an sich gehe, sondern allein darum, dass Menschen Gott kennenlernen. Das hat Konsequenzen, wie die Gemeinde den Missionsauftrag versteht. Jesus habe ja gesagt, wenn er zum Vater zurückkehre, müsse das Werk weitergehen und die Jünger sollten andere auch zu Jüngern machen. «Um das zu können, müssen wir selbst ein tiefes Verständnis von Jüngerschaft haben, und dann werden wir mutig und fähig, uns wirklich nach aussen zu orientieren und auf die Menschen ausserhalb der Gemeinde zuzugehen. Seit rund zwei Jahren erleben wir diesbezüglich einen Durchbruch: Die Gemeinde wächst stetig, sodass wir ein neues Versammlungslokal in Dorfnähe planen.» Der in Deutsch und Französisch versierte Leiter Marcel Niederhauser hält inne. «Gerade im Laufe des letzten Lebensjahres von Vater Willy kamen viele Leute und sagten ihm: ‹Schau her, das Wachstum der Gemeinde und die Missionsarbeit in Afrika sind die Frucht deiner Gebete.›» 14

«Danke, danke, dass ihr gekommen seid. Danke, dass ihr euch ausrüsten lassen wollt, um füreinander und für die Menschen da zu sein. Gott nimmt jeden Einzelnen von uns ernst, und so wollen auch wir ihm unser Vertrauen ausdrücken und an ihm uns aufrichten. Es geht um Jesus Christus!» Diese Begrüssung zum Gebetsabend am Mittwoch berührt, kommt von Herzen und aus Überzeugung. Ich denke zurück an das Gespräch vom Nachmittag und erahne die Bedeutung dieser Zusammenkünfte. Erwartete ich doch im Zusammenhang mit unserem Thema Events, Aktionen und Facts. «Ja, das gibt es selbstverständlich. Aber es geht ja um mehr, als dass der Chor, das Bläserensemble, die Jugend- und anderen Gruppen öffentlich auftreten. Nicht mal beim Hauskreis, in der Lobpreiszeit oder bei der Predigt geht es um die Aktivität an sich», betonte Marcel im Gespräch. Es gehe einzig und allein darum, dass sich Jesus Christus bemerkbar machen könne in all den Aktionen.

Die besondere Aussenpolitik Was das konkret heisst, will ich wissen. «Wir wollen die Aussenorientierung gezielt suchen. Wenn der Chor im Altersheim auftritt, dann erzählen einzelne Personen auch zeugnishaft aus ihrem Leben. Wenn das Bläserensemble in Spitälern, auf dem Dorfplatz oder zum Beispiel an der BEA-Ausstellung in Bern auftritt, wird bewusst der Kontakt zum Publikum gesucht. Mit unseren

«… wir wissen nie, was in einem Gottesdienst passieren wird. Wir bitten Gott einfach inständig darum, dass irgendetwas Positives mit den Menschen geschieht.»

Handwerksarbeiten nehmen wir an öffentlichen Basaren teil, um Kontakte mit den Menschen zu knüpfen und ihre Nöte zu spüren. Die Kindergruppe präsentiert sich mit ihrem Kreativatelier, die Jugendgruppe geht zusammen mit anderen Jugendgruppen an Dorffeste.» Ziel sei, andere Jugendliche in ihrem Umfeld abzuholen. Auch die Hauskreise, Senioren- oder Frauengruppen seien nicht nur interne Treffen, sondern sollten die Nachbarn darauf aufmerksam machen, dass sie sich jederzeit anschliessen dürfen. Die Stossrichtung bestehe also darin, den Gemeindegliedern immer und immer wieder zu vermitteln, dass Gott jede Gelegenheit nutzen könne, um Menschen für das Göttliche zu interessieren. Aber, und dies betont Marcel zum wiederholten Mal, es seien die Gebetstreffen, wo letztlich alles vorbereitet werde. «Dort erfahren die Menschen schliesslich, dass ihre Anliegen aufgenommen und vielfach auch beantwortet werden. In allen Veranstaltungen wird damit gerechnet, dass neue Menschen und Nichtchristen dabei sind, die es abzuholen gilt.» Ein Beispiel ist die Familie des Chefpolizisten von Tavannes: Dessen Frau suchte in der Gemeinde La Tanne eine Möglichkeit, sich taufen zu lassen, da die Landeskirche diesen Weg nicht vorsieht. Nur widerwillig begleitete er an jenem Taufsonntag seine Frau in die Gemeinde, da er zu Kirche und Glaubensfragen keinen Bezug hatte. Der Gottesdienst berührte ihn allerdings so sehr, dass er weinend hinausging, an den folgenden Sonntagen cz 1|07


vom relevant glauben reden leben | la freude tanneam …

in der Gemeinde und an einer Evangelisation im Städtchen erschien und sich dann bei Marcel meldete, um sein Leben Gott anzuvertrauen. Heute habe dieser Mann, so Marcel Niederhauser, ein bewegendes Lebenszeugnis zu erzählen – und das sei mittlerweile im Dorf bekannt. Umso mehr, als der einst drogenabhängige Sohn zwei Wochen nach einem Gebetsabend zu Hause angerufen und gesagt habe, er nehme nun keine Drogen mehr. «Immer wieder erleben wir, dass Nichtchristen hellhörig werden, dass der Gott der Bibel auch heute relevant ist. So erfuhr ich letzthin vom Chef der Strassenbauer, dass es jetzt für die Bauplanung des neuen Gemeindezentrums wirklich vorwärtsgehen sollte ...»

«Man soll spüren, dass hier Leben ist» Wenn jeden Sonntag so viele Autos den Berg Richtung La Tanne hinauffahren, macht das natürlich auch neugierig. «Aber wir wissen nie, was in einem Gottesdienst passieren wird. Gott allein weiss es. Wir bitten ihn einfach inständig darum, dass irgendetwas Positives mit den Menschen geschieht. Nicht nur hier im Gottesdienst, sondern überall, wo wir Christen mit der Gesellschaft Kontakt haben. Man soll spüren, dass es nicht um

ein religiöses Programm geht, sondern um Leben, das durch Jesus Christus positiv verändert werden kann.» Marcel betont, dass es zu den Schlüsselaufgaben der Gemeinde gehöre, immer wieder zu kommunizieren, dass die persönlich erfahrene Annahme durch Jesus anderen bekannt gemacht werde und für alle gelte. «Wenn wir uns nur auf uns selbst konzentrieren und es uns hier oben auf dem Berg gefallen lassen, wie es ist, ziehen wir keine Kreise. Aber wir wollen, dass neue Menschen zum Glauben kommen und für ihr Leben gestärkt werden.» Die Gemeinde La Tanne bewegt sich, um ihre Überzeugung zu leben. Im Tal unten am Stadtrand von Tavannes wird ein grösseres Versammlungslokal geplant, um noch mehr Menschen gemeinsam anzusprechen. Die Seelsorgeteams werden ausgebaut, und spezifische Fürbitteteams werden ihnen zur Seite gestellt, um den Nöten, die aus der Bevölkerung an die Gemeinde herangetragen werden, noch besser begegnen zu können - kommen doch rund ein Drittel der Seelsorgeanfragen von Menschen, die keine oder nur eine lose Beziehung zur Gemeinde haben. Und: Die Meinungsmacher der Gesellschaft, die Medien, werden zu den öffentlichen und übergemeindlichen

Anlässen eingeladen, um sich ein Bild von dem zu machen, was den Christen wichtig ist. «Sie sehen, dass gar in der finstersten Situation Licht zu entdecken ist, dass wir nichts Sektiererisches, sondern etwas Erlösendes ausstrahlen.» Wir kommen zum Schluss unseres Gesprächs. Ich nehme zur Kenntnis, dass es im Laufe der vergangenen Jahrzehnte unter den verschiedenen Gemeinden der Gegend auch schwierige Beziehungen gegeben hat. Schon zu Beginn führte ja die Tauffrage zu einem Auseinandergehen der Christen auf dem Hof La Tanne. Heute könne ehrlich von einem versöhnten Miteinander gesprochen werden, was in den mehr als zwanzig übergemeindlichen Veranstaltungen der Region zum Ausdruck komme, so Marcel Niederhauser. Die Medien reagierten darauf: «Christen sind fähig, zusammenzuarbeiten. Sie stehen zusammen in leidvollen Situationen und freuen sich in einer natürlichen Weise, gemeinsam Feste zu feiern.» Die zu Beginn erwähnte Zeitung spricht von einer «Ambiance fraternelle», einer «brüderlichen Atmosphäre». Und ich denke beim Nachhausefahren: Haben wir Christen verstanden, was wir mit unserem Potenzial in der Gesellschaft auslösen könnten?

• Die Reihen füllen sich zum Gebetsabend im Saal von La Tanne.

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«Christen sind viel zu bescheiden»

Die Chance der Christen, sich um Kinder zu kümmern Die dreissigjährige EVP-Politikerin und Leiterin einer Kindertagesstätte Brigitte Müller-Kaderli ist überzeugt, dass viele Augen auf die Christen gerichtet sind, mehr als diese denken. Dass sie Einfluss nehmen und vorleben können durch die Art, wie sie Dinge bewältigen, und durch ihre Ausstrahlung in der jeweiligen Situation. Dass sie sehr viel zu bieten haben, aber zu scheu sind - und sich manchmal auch zu schade.

Veronika Schmidt

Brigitte Müller-Kaderlis politischer und beruflicher Werdegang scheint vorgegeben durch ein geistlich, politisch und gesellschaftlich waches Elternhaus. Doch die lang anhaltende Krankheit eines Familienmitglieds lässt die kleine Brigitte sich in ihrer eigenen Welt einschliessen. Sie redet nicht und muss in der Folge den Sprachheilkindergarten besuchen. Stottern und Lispeln lösen sich zwar, doch Brigitte bleibt scheu und zurückgezogen, die schlechten Augen hinter einer starken Brille verborgen. Die Teeniezeit bringt eine aufmüpfigere Seite von ihr zum Vorschein, aber noch immer ist sie darauf bedacht, es allen recht zu machen und dazuzugehören. Ihre ersten politischen Gehversuche führen sie mit fünfzehn Jahren als Tochter der Grossrätin Christine Kaderli und des CEVI-Sekretärs Ernst Kaderli ins Wettinger und später ins Aargauer Jugendparlament.

Verändert vom Leben in Israel Nach Abschluss der Diplommittelschule reist Brigitte für ein halbes Jahr nach 16

Israel in einen Kibbuz, kurz nachdem Yitzhak Rabin ermordet wurde und die zweite Intifada ausbrach. Viele Volontäre reisen nach Hause, die junge Schweizerin bleibt, weil sie sich in einen israelischen Soldaten verliebt hat. Sie überlebt drei Terroranschläge, was sie dazu bringt, ihr Leben bedingungslos Gott auszuliefern und nach ihrer gottgegebenen Berufung zu suchen. Diese Zeit in Israel verändert Brigitte: Dort hat sie Zeit im Gebet, um Gott ihr Herz ganz zu überlassen, sie räumt ihr Leben auf und verarbeitet ihre Kindheit. Zurück aus Israel, ist aus dem braven, angepassten Mädchen eine selbstbewusste, kompromisslose junge Frau mit Ideen und Überzeugungen geworden. Neben ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin arbeitet sie hart, um in den Ferien nach Israel zu ihrem Freund reisen zu können. Zunehmend ist Brigitte politisch aktiv und lässt sich immer wieder bei Wahlen aufstellen. Nach der Ausbildung zieht es die junge Frau zurück nach Jerusalem, auch wenn die Jugendliebe verflossen ist. Nach

einem halben Jahr Hebräischstudium an der Jerusalemer Uni erhält sie eine Stelle als Kindergärtnerin in der Krippe eines riesigen Friedensprojekts des International YMCA (CEVI) mit 270 Kindern aus allen Bevölkerungsgruppen. Zusammen mit jüdischen, moslemischen und christlichen Kindergärtnerinnen unterrichtet sie ein Jahr lang mit viel Engagement. Die unverlängerte Aufenthaltsbewilligung zwingt sie zurück in die Schweiz; noch in Jerusalem, hat sie für die EVP für den Nationalrat kandidiert und kann zurück in der Schweiz in den Grossen Rat des Kantons Aargau nachrücken. In Israel hört sie auch Gottes Ruf, in der Schweiz ein Netz von christlichen Kindertagesstätten aufzubauen. Vorerst sitzt sie jedoch für eine Legislatur mit viel Herzblut im Grossen Rat, Ressort Bildung, bis sie bei der Verkleinerung des Gremiums 2005 abgewählt wird.

«Wir müssen den gesellschaftlichen Puls spüren» Brigitte Müller-Kaderli wird in die Stiftung Wendepunkt gerufen, um mit cz 1|07


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relevant leben | christen sind viel zu …

ihrer grossen Erfahrung eine christliche Kindertagesstätte aufzubauen und ein multiplizierbares Konzept auszuarbeiten. Seid drei Jahren ist sie nun dafür verantwortlich. Ich will von ihr wissen, was es ihrer Meinung nach heisst, für unsere heutige Gesellschaft als Christen relevant zu sein.

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Brigitte Müller-Kaderli: «Wer in der Gesellschaft ein relevanter Faktor sein will, muss deren Puls spüren. Jesus ging immer zu den Menschen hin und hat nicht in seinem warmen ‹Stübli› Heilungen verteilt. Ebenso müssen wir die Zusammenhänge unseres politischen und gesellschaftlichen Systems und seines Wandels erkennen. Die Frage lautet: Was tue ich für die Gesellschaft?, nicht, welche Idealvorstellung habe ich davon, wie die Gesellschaft sein sollte.»

Sie nennt das Beispiel christlicher Kindertagesstätten, die durchaus auf Widerstand stossen in frommen Kreisen. Diese sträuben sich gegen die dem christlichen Idealbild widersprechende ausserfamiliäre Betreuung von Kindern und werfen den Initiantinnen und Initianten Zerstörung der kleinsten Zelle unserer Gesellschaft vor. Doch für die junge Politikerin ist dieser Ansatz falsch und beruht ihrer Meinung nach auf Fehlinformation. «Ich kann nicht hingehen und die Menschen zum Idealfall bekehren, das ist pharisäisches Evangelium. Jesus linderte immer zuerst Not, und danach wies er auf Gott hin.» Sie sieht die Chance, sowieso fremdbetreuten Kindern und deren Eltern christliche Werte nahezubringen, ihren kulturellen Erfahrungsschatz zu erweitern und sie in ihrer Verantwortung als Eltern zu stärken. «Wir könnten so die Schweiz prägen, weil wir die nächsten Generationen prägen.» Bezüglich Kinderbetreuung stecke die Schweiz im Mittelalter. Der Staat übernehme keine Verantwortung dafür, weil der Markt nicht spiele. cz 1|07

• Brigitte Müller-Kaderli (rechts): «Würden wir Christen zupacken, könnte die Kinder betreuung in der Schweiz auf einem christlichen Fundament basieren.»

Die Chance der Christen, Werte zu vermitteln

Brigitte Müller-Kaderli kann nicht verstehen, dass Christen dieses Erntefeld anderen überlassen. «Ich erlebe, wie Mütter erzählen, dass ihre Kinder vor dem Einschlafen beten und wie gut es ihnen tue. Natürlich treten bei der Ostergeschichte die nichtchristlichen Eltern in mein Büro. Dann thematisiere ich Feiertage, ebenso Themen wie Demokratie, Respekt voreinander, auch als Mann vor der Frau, Vergebungsbereitschaft, Hilfsbereitschaft usw. Meine Erfahrung ist, dass auch Schweizer Eltern dankbar sind, wenn ihre Kinder Nächstenliebe und Offenheit lernen, wie Frieden geschlossen und man einander ohne Vorurteile begegnen kann.» Es sei die Generation Eltern, die sage: «Endlich jemand, der meinem Kind Werte vermitteln kann, weil ich selber keine Ahnung davon habe, aber spüre, dass mein Kind dies braucht.» Die Dreissigjährige erlebt, «dass diese Menschen wie Schwämme sind, die sofort alles aufsaugen und viele unserer Rituale in ihren Alltag übernehmen. Wo sonst sollen Menschen das Evangelium hören

und in ihren Alltag integrieren, wenn sie gar nicht mehr in die Kirchen gehen?»

Fach- und Erfahrungsaustausch pflegen

Die kirchlich Engagierte ist überzeugt, dass es nicht genügt, Christ zu sein und eine grosse Vision zu haben. «Bezogen auf die Gesellschaft müssen wir uns bemühen, alle Anforderungen zu erfüllen, die gesetzlich vorgegeben sind. Um auf einem Level zu arbeiten, der die Welt eifersüchtig macht, sollten wir unseren von Gott gegebenen Verstand einsetzen und in dem Fach, in dem wir arbeiten, fundiert ausgebildet sein.» Wir müssten wissen, wie die weltlichen Systeme funktionierten. Ebenso wichtig seien Fachund Erfahrungsaustausch, um von anderen zu lernen, auch von Fachleuten aus der Welt. «Das ist ein qualitätssteigernder Powerfaktor.»

Zu den eigenen Schwächen und Grenzen stehen Es gibt Kennzeichen von Relevanz, sagt Brigitte Müller-Kaderli: «Dranbleiben, beständig sein, etwas durchziehen, zu 17


titel | christen sind ...

seinem Wort, aber auch zu seinen Schwächen stehen, indem man zugeben kann, dass man sich geirrt hat. Den Menschen Blösse zeigen macht menschlicher und authentischer. Trotzdem sollten meine Bemühungen von guter Qualität sein, für die ich auf Wesentliches fokussiere. Dazu sollte ich mich sowie meine Stärken und Schwächen kennen, um gabenorientiert und mit anhaltender Freude arbeiten zu können. Bei Gott gibt es nur das Beste vom Besten.»

meinem Vater lernte ich durchzuhalten und auf die Zähne zu beissen, und mein Ehemann ist ein gutes Korrektiv, wenn ich auf die Überforderung zusteuere. Seit Beginn unserer Ehe halten wir fix an einem Eheabend fest. Bei Hausarbeiten, Sport, Singen und Lesen von Tageszeitungen kann ich mich regenerieren, ein anbetender Lifestyle prägt meinen Alltag.»

Und wie schafft es die Ehefrau Brigitte, Privatleben, Beruf, politische Ämter und Gemeindeleben unter einen Hut zu bringen? «Meine Mutter vererbte mir einen hohen Energielevel, auf Radtouren mit 18

Die Stiftung Wendepunkt ist ein christliches Sozialunternehmen für Menschen und fördert deren Einarbeitung und Eingliederung. Ebenso bietet die Stiftung geschützte Arbeitsplätze sowie begleitetes und betreutes Wohnen an. Sie ist in diesem Sektor die grösste Partnerin des Kantons Aargau. Die Stiftung möchte auch Segensbringerin für viele Kinder sein, und zwar mit dem Konzept einer christlich geführten Kindertagesstätte. Falls Sie beim Aufbau einer Kindertagesstätte Hilfe benöttigen, melden Sie sich bitte über

Für die Kaderfrau bedeutet relevant zu sein auch, seinen Auftrag zu trennen von Positionen und Machtansprüchen. «Wenn ich über Kleinerem zuverlässig bin, kann mich Gott über Grösseres setzen. Das kann heissen: Ich ertrage das Schreibaby in meinen Armen und nehme es als die Herausforderung des Tages an!» Ebenso gehört für die junge Frau der Demutsmantel dazu: «In meinem geistlichen Übermut stehe ich manchmal in der Versuchung, Menschen mit meinen Ideen zu überfahren oder nicht Gottes Zeitpunkt einzuhalten. Mein Motto lautet: Man hat es zwar besser als Christ, aber man ist nicht besser. Demut ist zu wissen, woher man kommt. Ich habe nicht vergessen, woher mich Gott geholt hat, dass ich nicht sprechen konnte.» Wenn sich Brigitte Müller-Kaderli etwas vorzuwerfen habe, sei es ihre Neigung zu Naivität: «Ich habe die Tendenz, Menschen einfach zu glauben, was sie sagen. Das brachte mich in Israel in die Fänge einer Sekte. Diese Erfahrung und die Politik machten mich vorsichtiger. Ich nehme nicht mehr alles für bare Münze und prüfe besser. Trotzdem: Fehler sind menschlich, und man lernt extrem aus ihnen.»

segensbringer Stiftung Wendepunkt

kinderlaendli@wende.ch bei der Stiftung. Die einzelnen Arbeitszweige der Stiftung Wendepunkt sind unter www.wende.ch einsehbar.

Zur Person Brigitte Müller-Kaderli, geboren 1976, ausgebildete Kindergärtnerin. Führungsausbildung im psychosozialen Bereich, alt Grossrätin des Kantons Aargau, Parteipräsidentin EVP Baden und Mitglied des Einwohnerrats Baden, Leiterin der Kindertagesstätte in Muhen, seit drei Jahren verheiratet mit Benjamin Müller, Assistenzarzt. Gemeinde: ICF Zürich

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relevant leben | prägen christen künftig …

Prägen Christen künftig die Gesellschaft stärker? Wir brauchen Zukunftskompetenz, um lösungsorientiert anzupacken «Trendprognosen und Szenarien zeichnen ein düsteres Zukunftsbild unseres Planeten: negative Wirtschaftsaussichten, Energiekrisen, Pandemieängste und Terrordrohungen. Weltverschwörungs- und Weltuntergangstheorien greifen um sich – auch in christlichen Kreisen. Christliche Autorinnen und Autoren versuchen, die apokalyptischen Texte der Bibel aktuell zu deuten. Christliche Propheten verkünden an Konferenzen und in Prophetenschulen den Anbruch der Endzeit und die Rekrutierung für den geistlichen Kampf. Der Auftrag der Bibel an uns Christen, Licht im Dunkel und Hoffnungsträger zu sein, geht dabei immer wieder vergessen.

Dr. Andreas M. Walker

Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Neutestamentliche Schlüsselthemen: Liebe, Friede, Freude, Hoffnung, Freiheit von Sorgen

Zukunft

Gegenwart

Vergangenheit

Die biblischen Religionen, das Judentum und das Christentum, kennen ein ausgeprägtes Geschichts- und Zeitverständnis. Alle drei Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sind in

der biblischen Überlieferung und der christlichen Lehre wichtig. In der Bibel fällt uns die emotionale Bandbreite auf: einerseits sind Freude, Verantwortung, Hoffnung und die Freiheit von Sorge christliche Kernthemen. Andererseits werden aber auch Angst, Verzweiflung und Schrecken bis hin zu Krisen und Katastrophen in der Bibel behandelt.

• Merkmal der biblischen Religionen Judentum und Christentum: Ausgeprägtes Geschichts- und Zeitverständnis. In der Bibel fällt zudem die emotiona-

Zeitqualitäten in der Bibel

„Alpha und Omega“ als Ewigkeit und als Zeit-Souveräntität

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Bibel und 2000 Jahre Christentum als Grundlage einer ganzheitlichen Weltanschauung

le Bandbreite auf.

Emotionale Spannung und Bandbreite der Bibel

Keine religiös-naive Romantik, sondern brutale Realität: Angst, Verzweiflung, Schrecken, Krisen und Katastrophen

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Prägende Rolle übernehmen? Um die letzte Jahrtausendwende haben sich die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Kirche in der Schweiz an einer ökumenischen Konferenz zum Thema «Welche Zukunft wollen wir?» erstmals gemeinsam der Frage nach der sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz gestellt. Die Publikation «Wort der Kirchen – Miteinander in die Zukunft» erwähnt: «Ein offenes Ohr zu haben für die Sorgen und Ziele der Gesellschaft, stärkte die Fähigkeit der Christen, Vorschläge auszuarbeiten. Die Kirchen müssen in einer Gesellschaft, die in einer Zeit tief greifender Umwälzungen nach neuen Orientierungshilfen sucht, ihren Platz einnehmen. Jetzt geht es darum, vorwärtszuschauen und es zu wagen, gemeinsam mit anderen die Zukunft zu bauen.» War diese Konsultation zur Zukunft bloss eine einmalige Aktion im Milleniumsprogramm? Können und wollen sich kirchliche Organisationen im 21. Jahrhundert auf diese Herausforderung einlassen? Ist in den Kirchen der Wille sowie die Kompetenz vorhanden, um in der Gesellschaft eine zukunftsprägende Rolle zu übernehmen? In Deutschland publizierte Prof. Dr. Stephan Holthaus aus Giessen zur Jahrtausendwende zwei Bücher zu diesem Thema. Mit «Hope.21» organisierte die Europäische Evangelische Allianz im Sommer 2002 einen Kongress in Budapest, zu dem Prof. Dr. Thomas Schirrmacher einen Tagungsband gestaltete und darin 66 Thesen publizierte. Weil diese Thesen in der Schweiz kaum thematisiert werden, frage ich mich, ob damit das Thema «Zukunft» unter evangelikalen Christen bereits wieder abgehakt ist. Das Plädoyer von Markus Spieker für eine christliche Avantgarde ist in der Schweiz gar nicht erst bemerkt worden. Das Buch «Der E-Faktor – Evangelikale und die 20

Kirche der Zukunft» existiert in der evangelikalen Rezeption und im christlichen Issue-Management* in der Schweizkaum. An den zahlreichen christlichen theologischen Ausbildungsstätten fand das Thema «Zukunft» ausserhalb der Lehre von den letzten Dingen bis vor kurzem kaum Beachtung in Lehrplänen oder in Forschungsprogrammen.

Warum sitzen in den bekannten Think-Tanks weder Vertreter christlicher Organisationen noch Einzelpersonen, die als Christen bekannt sind? Seit 2005 wird das Thema einer «christlichen Zukunftskompetenz» in der Schweiz von der Akademie für christliche Führungskräfte (AcF) und dem Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW) an Veranstaltungen aufgenommen, gemeinsam mit der Evangelischen Volkspartei (EVP), der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA), der Internationalen Vereinigung christlicher Geschäftsleute (IVCG), den Vereinigten Bibelgruppen (VBG), dem «Nehemia-Team» und christlichen Medien.

Künftige Chancen und Risiken Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Universitäten und Think-Tanks wie das GottliebDuttweiler-Institut aus Rüschlikon bei Zürich, die Avenir Suisse in Zürich oder die swiss future als schweizerische Interessensvereinigung für Zukunftsforschung publizieren futurologische Studien und laden zu Konferenzen ein. So fand im Sommer 2005 die «1st European Futurists Conference» und im Herbst 2006 die «2nd European Futurists Conference» in Luzern statt. Die schweizerische Bundesverwaltung arbeitet seit Mitte der Neunzigerjahre gemeinsam mit dem Parlament und der ETH an einer interdisziplinären «Risikoanalyse Schweiz». 2002 beschäftigten

sich die Spitzen der Bundesverwaltung in einem Workshop mit den künftigen «Herausforderungen an die moderne Zivilisationsgesellschaft» in der Schweiz. Anfang 2005 übte der Gesamtbundesrat mit seinen Stäben die Krise einer möglichen Influenza-Pandemie in der Schweiz. Dabei beschäftigen sich nicht nur solche strategischen Projekte oder ScienceFictions wie «The Day After Tomorrow» mit Krisenszenarien, die den apokalyptischen Prophetien in der Bibel sehr nahekommen. Mit Krisen- und Katastrophenängsten werden wir alle konfrontiert, sei es durch die mediale Präsenz des Tsunami in Südostasien, der Hurrikans in der Karibik, der Geflügelpest in Südostasien oder der Terrorangst. Viele Veränderungen werden die meisten von uns konkret und persönlich betreffen: Denken Sie an die Globalisierung der Märkte und Werte, die weltumspannende Völkerwanderung, die demografische Entwicklung in Europa, die unsere Kranken-, Sozial- und Altersversicherung herausfordert, an den Umbruch des Identitäts- und Aufgabenverständnisses von Mann und Frau, von Ehe und Familie in einer postindustriellen Arbeitswelt und postmodernen Gesellschaft. Das Europa des 21. Jahrhunderts wird sich deutlich von den bürgerlichen Wertvorstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterscheiden. Eigentlich bewegen sich viele dieser Szenarien im Bereich zentraler biblischer Themen und stehen in direktem Zusammenhang zu christlichen Werten. Doch in den Stiftungsräten, Geschäftsleitungen und Expertenbeiräten der oben genannten Think-Tanks ist kein einziger Vertreter einer christlichen Organisation erkennbar. Keiner der Autoren und Referentinnen dieser Plattformen ist jemals an den grossen christlichen Events aufgetreten. cz 1|07


relevant leben | prägen christen künftig …

Zur Person: Dr. Andreas M. Walker studierte Geografie und Geschichte. Er schrieb eine Doktorarbeit in Wirtschaftsgeografie, die mehrere internationale ökonomische Preise erhielt, arbeitete mehrere Jahre als Direktionsmitglied in Strategiestäben bzw. als Linienverantwortlicher in schweizerischen Banken. Darüber hinaus war er mehrere Jahre lang Ausbildungsverantwortlicher eines Armeestabteils, der sich mit zukünftigen Krisen und Katastrophen beschäftigt, und mehrmals an der Projektleitung grosser nationaler Krisenübungen der schweizerischen Regierung beteiligt. Er ist Eigentümer und Gründer der Firma «Dr. Andreas M. Walker Strategieberatung – Your Partner for Future, Hope & Responsibility», Präsident der Akademie für christliche Führungskräfte (AcF) Schweiz sowie Dozent für christliche Futurologie am Institut für Gemeindebau und Weltmission (www.igw.edu) und an der AcF (www.acfschweiz.ch).

Werte isoliert und moralisierend verteidigen? Christliche Organisationen, Politiker und Prediger in der Schweiz exponieren sich zu Fragen des Kreationismus, der Abtreibung oder der Homosexualität. Doch häufig werden diese Themen isoliert und moralisierend angegangen und in restaurativer Weise verteidigt. Christliche Anregungen waren deshalb in der politischen Auseinandersetzung zum Scheitern verurteilt. Es entsteht der Eindruck, dass Christen mediales und politisches Märtyrertum suchen. Eigene gesellschaftliche Misserfolge werden mit dem Scheitern und Leiden der alttestamentlichen Propheten verglichen und somit als Bestätigung des göttlichen Sendungsauftrags verstanden. Interpretiert werden diese Misserfolge als neue Christenverfolgung und als Beweis für das vorantichristliche Zeitalter. Zu strategischen, politischen und ökonomischen Fragen gibt es in der Schweiz kaum beachtete, qualifizierte christliche Stimmen. Wer äussert sich schon zu künftigen Herausforderungen und cz 1|07

langfristigen Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt? Insbesondere gab es in den letzten Jahren kaum Stimmen aus dem Bereich der Evangelischen Allianz oder der freikirchlichen Organisationen und Bewegungen, die in den medialen oder in den akademischen Diskussionen beachtet wurden. Aktuelle Ausnahmen sind die Stiftung Wendepunkt in Muhen sowie die im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit tätige Jobfactory in Basel. Robert Roth, den Gründer der Jobfactory, hat das WEF zum «Schweizer Sozialunternehmer» des Jahres 2005 gewählt. Unter dem Dach der Evangelischen Allianz beschäftigen sich Arbeitsgruppen mit ähnlichen Themen wie etwa Migrations- und Integrationsfragen, den Bedürfnissen behinderter Menschen, mit Kunst und Kultur, mit der Initiative «Stopp Armut 2015» sowie mit dem sozialen Engagement. Im deutschsprachigen Europa sind keine anerkannten christlichen Think-Tanks und keine politik-, wirtschafts- oder

medienrelevanten Plattformen bekannt, die auf strategischem und akademischem Niveau zur Analyse und Problemlösung beitragen würden. Weder die Ausbildungsstätten noch die Printnoch die elektronischen Medien aus dem christlich-evangelikalen Raum zielen in diese Richtung. Doch suchen wir Christen diese Auseinandersetzung überhaupt? Sind wir bereit – persönlich und als christliche Institutionen –, menschliche Ressourcen und Finanzen zu investieren und die wichti­ gen Themen im Sinne eines Issue-Managements* entsprechend zu setzen? Zwar gibt es evangelikale Literatur und Lehren zur biblischen Sicht der Endzeit. Manche weisen in ihrer Argumentation und Wirkung erschreckende Ähnlichkeiten mit Weltverschwörungs- und Unterwanderungstheorien auf, die sich ihrerseits aus unchristlichen Quellen wie etwa den Prophezeiungen des Nostradamus nähren. Dabei schaffen es diese christlichen Autoren und Referentinnen im deutschsprachigen Raum weder als Person noch mit ihren Ideen, ausserhalb einer 21


Kulturauftrag 1. Mose 1,28

Spannungsfeld

Missionsauftrag: Matthäus 28,19 Fokussierte und maximierte Evangelisation, um die Menschen «aus der Welt heraus» zu retten?

Leben und die Welt aufbauen

Die Kirche als «neue Arche Noah»?

Zum Nachdenken: Wie sieht das Portfolio unserer christlichen Organisation, unserer Gemeinde aus? Wohin fliessen unsere Resourcen wie Personal, ehrenamtliches Engagement, Finanzen, Zeit, Nerven, Reputation, Issue-Management? • Wohin fliessen unsere Ressourcen?

spezifischen Subkultur beachtet zu werden. Sie erlangen keine Relevanz für die Lösung der anstehenden und zukünftigen Probleme von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Umwelt.

Wozu sollen wir uns noch einsetzen? Hier besteht ein relevanter Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischen Kulturraum. So haben zwar in den USA Bestsellerserien wie «Left Behind» eine beachtliche Wirkung auf die Welt- und Feindbilder der Bevölkerung auch ausserhalb der Kirchen. Bezüglich des deutschen Kulturraumes muss aber leider die These formuliert werden, dass gerade diese konkreten und kurzfristig angelegten Endzeitvorstellungen die Ignoranz evangelikaler Christen gegenüber Zukunftsfragen eher noch fördern, statt sie zu durchbrechen. Salopp ausgedrückt scheinen viele zu denken: Wozu sollen wir uns noch für eine bessere Welt einsetzen, wenn eh gleich der Antichrist kommt und alles zerstören wird, wir aber dank der Entrückung noch rechtzeitig den Ausstieg bzw. Aufstieg schaffen werden? 22

Vor dem Hintergrund des uns von Gott gegebenen und nie aufgehobenen biblischen Kulturmandates «Machet euch die Erde untertan» und dem Missionsauftrag, der neben der Wortevangelisation einen weiteren, integrativen zweiten Satz kennt: «Lehret alle Völker ... lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe», ist dies äusserst problematisch. Die Bibel zeigt uns immer wieder ein umfassendes Verständnis des Christseins: in der persönlichen Gottesbeziehung, in der Beziehung zu anderen Christen (in der eigenen Kirchgemeinde) und im verantwortungsvollen Handeln in der Welt. Hier fordert uns der Jakobusbrief heraus und zeigt, wie Lehre, Wortevangelisation und Lebensstil übereinstimmen sollen. Als Christen müssen wir uns deshalb (selbst-)kritisch fragen, ob wir unsere Ressourcen entsprechend einsetzen – seien dies Finanzen, Manpower, Wissen, Beziehungen, Netzwerke oder Issue-Management*. Das Ressourcenmanagement vieler christlicher Organisationen lässt an­ nehmen, dass etliche für die gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft gar nicht relevant sein wollen. Sie fokussie-

ren auf einen vereinfachten Missionsauftrag im engeren Sinne und investieren den grössten Teil ihrer Ressourcen in die theologische Ausbildung ihrer Prediger und in den Aufbau ihrer Kirchgemeinden, die häufig als geschlossene Subkulturen agieren. Das sozialdiakonische Anliegen wird zwar noch begrüsst, ist aber in den letzten Jahrzehnten meist durch staatliche und staatsnahe Institutionen übernommen worden. Ein umfassendes gesellschaftliches und politisches Engagement wurde bis vor kurzem ausserhalb der beiden evangelischen Parteien Evangelische Volkspartei (EVP) und Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) häufig nicht thematisiert. Wird nun das im Oktober 2006 von der Leiterkonferenz des Verbandes evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz (VFG) publizierte Grundlagenpapier «Suchet das Wohl des Landes» eine Trendwende in der freikirchlichen Landschaft der Schweiz bringen? Letztlich gipfeln diese Überlegungen in der Frage: Ist es überhaupt christlich, sich für eine Zukunft der «diesseitigen cz 1|07


relevant leben | prägen christen künftig …

So beten, als ob die Arbeit nichts nützte

Christliche Spiritualität ist ganzheitlich und ausbalanciert

So arbeiten, als ob das Gebet nichts nützte

• Ist es überhaupt christlich, sich für eine Zukunft der «diesseitigen Welt» zu engagieren?

Welt» zu engagieren? Oder müssen wir alle geistlichen Aktivposten in die «jenseitige Welt» umschichten, weil die Aussagen des Apostels Paulus zu Fleisch und Geist einseitig ausgelegt werden und weil Theorien ein nahes Ende dieser Welt prophezeien? Luther hat einmal gesagt, wir sollten so beten, als ob alles Arbeiten nichts nütze, und so arbeiten, als ob alles Beten nichts nütze. Und Dietrich Bonhoeffer meinte, dass die Nachfolge Christi voraussetze, dass wir als Menschen zu unserer Diesseitigkeit stehen müssten. Christentum ist ganzheitlich – wenn wir wollen, dass wir als Christen und als christliche Organisationen relevant für die Zukunft sind, müssen wir uns entsprechend in diese Thematik investieren und die nötigen Fach-, Methodik- und Beziehungskompetenzen erwerben.

Hoffnung als christliche Kernkompetenz Angesichts der Herausforderungen und Ängste in Gesellschaft, Wirtschaft und Umweltschutz, der Endzeittheorien und biblisch-apokalyptischen Prophetien sind wir gefragt, was es für uns als Christen bedeutet, wenn doch statt Angst und Verzweiflung die Hoffnung eine christliche Kernkompetenz ist. Was bedeutet der Luther zugeschriebene Spruch «Und wenn morgen die Welt untergeht, will ich dennoch heute ein Apfelbäumchen pflanzen» für uns hier und heute? cz 1|07

Zehn Thesen

Als Christen sind wir gefordert, Verantwortung für unsere eigene Zukunft und für jene der Welt zu übernehmen sowohl in unserem persönlichen Leben wie auch in unseren Ehen und Familien. Als Fachleute im Beruf und als aktive Bürger in der Politik können wir dazu beitragen, das Christentum von einer innerkirchlichen Theorie stärker zu einer weltbewegenden und hoffnungsstiftenden Praxis werden zu lassen. Jesus Christus ist der Weg zum Leben, und er allein bringt Licht und Hoffnung. Wir Christen sollen Salz und Licht sein in der Welt.

1. Der alttestamentliche Kulturauftrag bleibt gültig. 2. Christliche Fachleute müssen sich als Experten gezielt und problemlösungsorientiert im fachlichen Teil futurologischer Themen engagieren. 3. Christliche Fachleute, Sponsoren und Organisationen müssen sich in den Stiftungsräten und Beiräten der offiziellen Think-Tanks einbringen und entsprechende Studien mitfinanzieren. 4. Christliche Organisationen müssen eine eigene Zukunftsfitness erarbeiten. 5. Zukunftskompetenz muss einen Platz im IssueManagement der christlichen Organisationen erhalten, insbesondere an den Ausbildungsstätten.

Issue-Management* Issue-Management bezeichnet die systematische Auseinandersetzung einer Organisation mit Anliegen ihrer Umwelt. Dabei geht es darum, in der Öffentlichkeit aufkommende, organisationsrelevante Themen frühzeitig zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Das kann durch Beteiligung am öffentlichen Meinungsbildungsprozess geschehen oder durch Anpassung der Organisationspolitik. Darüber hinaus gehören zum Issue-Management auch Massnahmen einer Organisation, um Themen selbst aktiv in die öffentliche Diskussion einzubringen. (Quelle: http://de.wikipedia.org/ wiki/Issue_Management)

6. Christliche Think-Tanks im Sinne christlicher Avantgarde-Sprecher müssen geschaffen werden, dazu braucht es eine kritische Masse. 7. Das Sozialimage von zukunftsrelevanten Poli tik-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften muss in den christlichen Organisationen selbst gefördert werden. 8. Es braucht eine christliche Avantgarde, die auf höchstem Niveau in diesen Disziplinen mit diskutieren will und kann. 9. Think-Tanks dürfen keine unverbindlichen Adhoc-Plattformen werden, sondern sollen Grundlagen für christliche Lehr- und Forschungsstätten auf hohem Niveau begründen. 10. Das Ressourcenmanagement der christlichen Organisationen und der christlichen Spender muss grundlegend diskutiert werden.

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N E U H O F Dranbleiben lohnt sich Die Geschichte der Therapeutischen Gemeinschaft Neuhof Zu Beginn der Neunzigerjahre waren die Medien voll von Berichten über die Drogenszene. Seitdem vielerorts die offene Szene zerschlagen ist und kontrolliert Heroin abgegeben wird, ist es im Blätterwald ruhig geworden. Beinahe könnte man annehmen, das Suchtproblem sei gelöst, Therapie unnötig. Doch der Schein trügt: Therapeutische Gemeinschaften wie jene des Neuhofs in Emmenbrücke sind gefragter denn je.

Monika Blatter Alles begann 1992: Aufgeschreckt durch Meldungen in den Medien und getrieben von der Not der Drogensüchtigen fanden Mitarbeitende der Evangelischen Allianz in Luzern, es sei an der Zeit, etwas zu tun. Als Christen müsse man Zeichen setzen und fehlende Therapieplätze schaffen. Schliesslich sei es der biblische Auftrag schlechthin, Menschen aufzuhelfen und zu heilen.

Aufregung im Quartier Mit gutschweizerischer Bedächtigkeit wird zuerst der Verein Christlich-therapeutische Sozial- und Drogenarbeit (CDA) gegründet und Wert auf Professionalität und Qualität gelegt. Der Vorstand besteht aus qualifizierten Fachpersonen. Ein knappes Jahr später lässt sich der heutige Geschäftsführer Martin Schelker zu fünfzig Prozent anstellen, um ein Konzept auszuarbeiten, ein Haus und Mitarbeitende zu suchen. Abklärungen mit Behörden und Bund ziehen sich lange hin. 1994 kann das Haus Neuhof mittels Spenden und Bundessubventionen erstanden, umgebaut und später noch erweitert werden. In der 24

Nachbarschaft wird Unmut laut. Der Verein CDA wendet sich an den Vorstand des Quartiervereins, der die Ängste und Abneigungen der Nachbarinnen und Nachbarn versteht, die Notwendigkeit eines solchen Hauses jedoch einsieht. Er organisiert eine Versammlung, und die Mitglieder von CDA informieren die Anwohnenden. Dennoch ist immer noch eine Mehrheit gegen das Haus in einem Quartier, das sich zu den besseren zählt. Um die Sache zu entspannen, zieht vorerst nur Familie Schelker mit ihren drei Kindern ins Haus ein. Die ersten Klienten – dieTherapeutische Gemeinschaft Neuhof nimmt nur Männer auf – kommen erst Anfang 1995 hinzu. So knüpfen die Anwohnerinnen und Anwohner mit der Familie eine Beziehung und gewöhnen sich langsam an den Gedanken eines Hauses mit ehemals süchtigen Menschen. Heute geniesst der Neuhof bei der Bevölkerung einen sehr guten Ruf. Im Sommer sieht man diesen Nachbarn oder jene Nachbarin ab und zu im neu eröffneten Schönwetter-Bistro. Zudem unterhält der Neuhof eine Velowerkstatt, die in erster Linie dem Quartier zugutekommt. Abgesehen von einem einzigen Vorfall gab es in den

letzten zehn Jahren nie Probleme mit der Nachbarschaft.

Eine Durststrecke 1996 sind die Anfangsschwierigkeiten ausgestanden. Familie Schelker kann nach einem kräftezehrenden Einsatz mit den ersten vier Klienten endlich eine eigene, separate Wohnung beziehen. Martin Schelker ist in Ausbildung zur Fachperson für Suchtberatung. Aber nach den ersten vier Klienten treffen keine Neuanmeldungen mehr ein. Zweifel tauchen auf. Soll die Zielgruppe geändert oder das Konzept überarbeitet werden? Haben sie sich von der Not der Drogensüchtigen zu etwas hinreissen lassen? Weil doch hin und wieder Leute am Programm teilnehmen, halten sie am ursprünglichen Ziel fest. Das Therapieprogramm ist auf zwölf Teilnehmer ausgerichtet, aber erst im Jahr 2001 beträgt die Auslastung des Hauses über achtzig Prozent. Heute, zwölf Jahre nach dem Hauskauf, läuft es sehr gut. Zwischen Behörden und Beratungspersonen besteht ein ausgezeichnetes Einvernehmen. Die Modernität und Zweckmässigkeit des Hauses überrascht: Lichtdurchflutete Räume und farcz 1|07


relevant leben | dranbleiben lohnt sich

bige Wände prägen den Stil. Das allein ist schon etwas Therapie. Der Ruf des Neuhofs ist im Dorf und beim Kanton untadelig. Das erleichtert es dem Verein CDA, 2006 in der Rekordzeit von sechs Monaten in Littau bei Luzern das Haus Raphaela für Frauen und Kinder zu eröffnen.

Christliche Grundlagen Auf die Frage, welchen Unterschied das Wort «christlich» in den Therapiezielen mache, meint Martin Schelker vorsichtig: «Oft wird davon ausgegangen, dass die Rückfallquote bei den christlich geführten Therapiezentren tiefer sei. Vielleicht ist dem wirklich so, aber man muss sehen, dass grundsätzlich fast nur motivierte Therapieteilnehmende in Häuser mit christlich orientierten Grundsätzen eintreten. Die Leute wissen zum Voraus, dass sie sich mit inneren Werten auseinandersetzen müssen, und wollen sich auf diesen Prozess einlassen. Somit erhöht sich ihre Erfolgschance.» Das sei vielleicht der Unterschied zu den Klienten anderer Institutionen. Ein Arzt habe ihnen auch schon mal einen sogenannt «hoffnungslosen Fall» zugewiesen mit der Begründung, die Christen hätten einfach noch ein wenig mehr Geduld mit solchen Leuten. «Als Team aus christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben wir die gleiche weltanschauliche Grundlage und wissen um die Kraft der Vergebung.» Diese Einheit im Team wirke sich positiv auf die Teilnehmer aus. Abgesehen von zwei wöchentlichen Inputs ist das Programm nicht ausgesprochen

christlich. Man spornt die Klienten an, sich selbstständig und in Eigenverantwortung mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Gebetszeiten werden angeboten, zum Besuch eines Alphalive-Kurses wird motiviert, oder man weist auf die Möglichkeit hin, sich einer Kirche anzuschliessen. Das sei übrigens ausserordentlich wichtig: «Oft kommen die Männer aus anderen Kantonen und brechen die Kontakte zu ihrem herkömmlichen sozialen Umfeld ab. Eine christliche Gemeinde bietet hier ein fertiges Beziehungsnetz, das die meisten nach abgeschlossener Therapie nicht mehr missen möchten.»

• Martin Schelker: Langjähriger Leiter des Neuhofs, heute koordinativer Gesamtleiter beider Häuser.

Was lange währt, wird endlich gut Beim Neuhof hat sich der lange Atem bewährt. Die Fachleute im Arbeitsbereich helfen den Therapieteilnehmern, sich beruflich zu orientieren und den Anschluss an die Arbeitswelt wiederzufinden. In der Schreinerei sind die Bewohner herausgefordert, konzentriert und gewissenhaft zu arbeiten, denn die meisten Arbeiten sind Kundenaufträge. Kundinnen und Kunden aus dem Quartier bringen ihre Fahrräder für Servicearbeiten und Reparaturen in die NeuhofWerkstatt. Im Jahr 2002 erreicht der Neuhof die Qualitätszertifizierung gemäss den Qualitätsvorgaben des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG). Die Leitung des Neuhofs legt Wert darauf, klar zur christlichen Grundlage zu stehen. Martin Schelker formuliert es so: «‹Salz sein› bedeutet, sich durch Dienst und Wertevermittlung in die Gesellschaft einzumischen, denn Salz löst sich in der Suppe oder im Kuchenteig auf und macht beides geniessbar.»

• Das neue Bistro: Quartierbewohnerinnen und -bewohner sowie Handwerker können sich hier ihre Kaffeepause gönnen.

• Boutique: Die Produkte, die in den kreativen Händen der Klienten entstehen, werden hier verkauft.

Weitere Informationen • Neuhof

• Raphaela

Therapeutische Gemeinschaft, Erlenstrasse 102, 6020 Emmenbrücke Telefon: 041 280 88 30 E-Mail: info@therapie-neuhof.ch www.therapie-neuhof.ch

Haus für Frauen und Kinder, Matthöhering 1, 6014 Littau Telefon: 041 250 18 81 E-Mail: info@haus-raphaela.ch www.haus-raphaela.ch • Bike-Service: In der Velowerkstatt wird repariert, aufgefrischt

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25oder neu zusammengebaut.


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«Sie sollen uns als Menschen kennen

Edi und Agnes Wäfler leben Glauben zum Anfassen Sie wohnen und arbeiten in der Region Chur und stehen mitten im öffentlichen Leben. Ihr soziales, politisches und kirchliches Engagement findet nicht nur in der Bevölkerung wachsende Akzeptanz, sondern trägt offensichtlich Gottes Segensspuren. Vielleicht erklärt sich das Geheimnis von Edi und Agnes Wäfler wie folgt: Sie tragen ihr Christsein nicht lautstark nach aussen, sondern setzen alles daran, dass ihr Glaube praktisch wird.

Fäden laufen zusammen

Renate Blum Mitten in Churs geschäftiger Stadtmitte liegt das Büro von Edi und Agnes Wäfler. Die hellen Räume wirken frisch und einladend. Informationsbroschüren weisen auf die vielseitigen Tätigkeiten hin, die das unternehmungslustige Paar von hier aus koordiniert und leitet.

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Bei Agnes und Edi Wäfler spüre ich eine starke Verankerung in Gott und einen tiefen Frieden. Beide trauen sie Gott Grosses zu und freuen sich über alles, was dank seiner Hilfe möglich wird. Vor 24 Jahren als Mitarbeitende von Campus für Christus ins Bündnerland gesandt, haben sie dort Wurzeln geschlagen und in Chur sowie an ihrem Wohnort Domat/Ems Stück für Stück Verantwortung

übernommen. «Wir mussten bereit sein, auch Dinge zu tun, die nicht unsere Lieblingsbeschäftigungen waren.» Agnes und Edi Wäfler verstehen das Leben wachstümlich und sprechen nicht gerne von grossen Visionen. Rückblickend kommt es ihnen vor, als hätten sich Leben und Dienst, wie von langer Hand vorbereitet, Stück um Stück entwickelt. Das eine habe sich aus dem anderen ergeben. cz 1|07


relevant leben | sie sollen uns als menschen …

lernen, nicht als Fromme» Zu den Personen Edi Wäfler wuchs auf einem Bauernhof im Berner Oberland auf, lernte Schreiner, arbeitete als selbstständiger Fachmann und leitete in der Freizeit die örtliche Jugendgruppe. Er besuchte eine Kurzbibelschule sowie diverse Seelsorgekurse. Später machte er eine Ausbildung zum Erwachsenenbildner und durchlief Kurse in Coaching und Projektmanagement. Als Mitarbeiter von Campus für Christus zog er 1983 mit seiner ersten Frau Elisabeth in den Kanton Graubünden und übernahm die Organisation und Koordination des missionarischen Projektes «Aktion neues Leben» in der Ostschweiz. Neben seinen Diensten in Kirchen und Gemeinden wirkte Edi Wäfler als Vormund und als Mitglied der Evangelischen Synode, baute eine Brockenstube sowie eine geschützte Werkstatt auf und übernahm das Amt des Kirchgemeindepräsidenten in Domat/Ems.

Menschen geistlich und gesellschaftlich fit machen Seit achtzehn Jahren gehört die Leitung der berufsbegleitenden Schule für Gemeindemitarbeit (SGM) und des Arbeitszweigs Tim-Team von Campus für Christus (ein Schulungs- und Beratungsdienst für engagierte Christen in Landes- und Freikirchen) zu den Hauptaufgaben von Edi und Agnes Wäfler. Edi Wäfler: «An allen Ecken und Enden dieser Welt sind zuverlässige Menschen nötig, denen es nicht gleichgültig ist, wie es unserer Gesellschaft geht. Wir möchten, dass Menschen geistlich fit werden und ihren Glauben in Kirche und Gesellschaft einbringen. ‹Wer bin ich, was will ich? Was habe ich in Christus, und welche spezielle Bedeutung cz 1|07

Agnes Wäfler wuchs am Walensee auf, schloss eine kaufmännische Berufslehre ab und machte später eine Ausbildung in Gesundheits- und Fitnessberatung. Daneben besuchte sie verschiedene Seelsorgekurse. Heute führt sie das Sekretariat des Arbeitszweiges «Frauenfrühstück» von Campus für Christus, leitet in Chur das Frühstückstreffen für Frauen und ist als Referentin in der deutschsprachigen Schweiz unterwegs. In Domat/ Ems, wo Wäflers wohnen, leitet sie Turngruppen sowie einen Frauengesprächskreis und gestaltet mit einem Team ökumenische Frauengottesdienste. Edi und Agnes sind seit 22 Jahren verheiratet. Edi Wäflers erste Frau starb schon nach wenigen Ehejahren an Krebs. Als Freundin seiner Frau erlebte Agnes Schmerz und Leidenszeit mit.

hat mein Leben?› sind Fragen, die wir während der SGM klären helfen. Dabei wollen wir nicht geistliche Richtigkeiten, sondern geistliches Leben vermitteln, den christlichen Glauben und das natürliche Leben zusammenbringen und als Einheit thematisieren.» So ist zum Beispiel Gebet für Edi Wäfler mehr als Händefalten. Es ist integriert ins praktische Leben und geht Hand in Hand mit dem, was er konkret im Alltag tut. «Das, was ich ausspreche, ist Gebet, weil Gott es hört. Gebet im landläufigen Sinne gehört dazu, aber wir können nicht nur beten, wir haben auch einen konkreten Auftrag. Auch wenn es um Gaben wie Weisheit und prophetische Sicht geht, sind wir der Meinung, dass wir sie nicht in erster Linie für die

Gemeinde, sondern für unseren praktischen Alltag erhalten haben.»

Mut für die Menschen am Rand Den Blick über die Kirchenmauern hinaus hat Edi von klein auf gelernt. Bereits Edi Wäflers Vater hatte ein Herz für randständige Menschen. Als Junge erlebte Edi, wie sein Vater Vormundschaften übernahm. So war es ihm nicht fremd, als sein Freund, Amtsvormund in Chur, Personen suchte, die eine Vormundschaft für jemanden übernehmen konnten – Edi Wäfler stellte sich zur Verfügung. Der Einstieg war steil, er wurde mit einem der schwierigsten Fälle beauftragt. «Ich lernte ganz neue Lebensbereiche kennen und hatte plötzlich mit Psychiatern oder Anwälten zu tun und 27


Zuerst Qualität bieten «Wir sind kein christliches Werk, sondern ein Unternehmen», erklärt Edi Wäfler. «Die Kirchenzugehörigkeit spielt keine Rolle. In unserem Leitbild steht lediglich der Satz: ‹Die Führung der Betriebe richtet sich nach christlichen Werten.› Was wir glauben, versuchen wir vor allem zu leben, ohne viele Worte zu machen. Unsere Mitarbeitenden sollen sich bei uns geschätzt und angenommen fühlen, sie sollen uns als Menschen kennenlernen und nicht als Fromme, die sie bekehren wollen. Für mich heisst das zum Beispiel, dass ich mir Zeit nehme und jede Person persönlich grüsse, wenn ich durch den Betrieb gehe. Von den Betreuenden erwarten wir, dass sie ihre Arbeit gut machen, nach dem Motto: Wir bieten Qualität, erst in zweiter Linie treten wir als Christen in Erscheinung. Nicht umgekehrt.»

• Edi und Agnes Wäfler (erste Reihe links) mit der Belegschaft der geschützten Werkstatt Eco Grischun und der Brockenhäuser Grischun in Chur und Ilanz: «Nur gemeinsam ist die Aufgabe zu schaffen.»

musste auch vor Gericht meinen Mann stehen», erzählt er. «Ich wurde mit völlig weltlichen Angelegenheiten konfrontiert und lernte mit den unterschiedlichsten Leuten umgehen. Nach dem biblischen Motto ‹dem Jude ein Jude› musste ich mich auf ihre Sprache und Umgangsformen einstellen. Es war eine sehr lehrreiche Zeit und eine enorme Horizonterweiterung für mich.» Was er in diesen besonderen Herausforderungen an praktischen Erfahrungen sammelte, kommt ihm heute als Geschäftsführer des Vereins Brocki Grischun zugute. Die im Herbst 1992 eröffnete Brocki Grischun wurde rasch ein geschäftlicher 28

Erfolg. Die erwirtschafteten Mittel flossen 1994 in den Aufbau der geschützten Werkstätte Eco Grischun. Der Verein Brocki Grischun als Trägerschaft bietet 24 Beschäftigungs- und Arbeitsplätze für psychisch behinderte und am Rande der Gesellschaft stehende Menschen. In der Eco Grischun werden unter anderem Radios, Computer und andere Elektronikgeräte zerlegt sowie die Bauteile sortiert. Damit wird eine umweltgerechte Entsorgung oder eine geeignete Wiederverwertung möglich. Heute unterstützen Bund und Kanton die Werkstätte, und sie sind es auch, die einen Neubau wünschen, in dem fünfzig bis sechzig Personen arbeiten werden. Geplanter Baubeginn ist Frühling 2007.

Edi Wäfler findet, falscher Eifer nütze niemandem und schade mehr. Er hat schon miterlebt, wie Christen von grossen Visionen sprachen und sich viel zu früh, noch bevor etwas konkret geworden war, an die öffentliche Hand wandten. Nachher waren sie enttäuscht, wenn sie auf taube Ohren stiessen. «Nach unserer Erfahrung ist es besser, in der Stille etwas aufzubauen, das zu gegebener Zeit sichtbar wird und Interesse weckt. Das ist zwar ein längerer Weg und braucht viel Geduld, aber es lohnt sich.»

Allein geht es nicht «Agnes und ich erfahren, dass es sich lohnt, Zeit fürs Miteinander zu investieren, ob im privaten oder im Arbeitsbereich. ‹Alleine schaffen wir es nicht, nur miteinander sind wir stark› - das ist unser Lebensmotto. Dabei wollen wir uns selber sein, einander nichts vorspielen. Wir wollen offen mit unseren Stärken und Schwächen umgehen und das geben, was wir können, ohne dass es perfekt ist.» cz 1|07


relevant leben | sie sollen uns als menschen …

Und Edi Wäfler fährt fort: «Als positiv erlebe ich, wenn ich mich mit anderen Geschäftsführern geschützter Werkstätten auf dem Platz Chur regelmässig zum Mittagessen treffe; beim gemeinsamen Essen und Reden lernen wir einander besser kennen. Es entstehen wertvolle Beziehungen, die in die Tiefe gehen. Sich dann gegenseitig zu helfen, wird wie selbstverständlich.»

Am Wohnort zur Kirche gehen Agnes und Edi Wäfler engagieren sich aktiv in der refomierten Landeskirche Domat/Ems und sind so mit den Menschen ihres Dorfes unterwegs. Das bedeutet, sich auf unterschiedliche Frömmigkeitsstile einzulassen. «Wir sind froh, dass wir uns nicht in einem frommen Getto bewegen», sagt Edi Wäfler. «Die Menschen, mit denen wir verkehren, haben grundverschiedene Lebenseinstellungen. Wir schätzen, dass sie ehrlich ihre Auffassungen vertreten, mit beiden Füssen auf dem Boden stehen und natürliche Lebensthemen nicht vergeistlichen.» Agnes Wäfler ergänzt: «Weil wir im Dorf zur Kirche gehen, haben wir Zugang zu den Menschen hier. Domat/Ems ist mehrheitlich katholisch. Mir kommt dabei zugute, dass ich in der katholischen Kirche aufgewachsen bin.» Vor Jahren wirkte Edi Wäfler in der Gemeindeleitung der Evangelisch-methodistischen Kirche mit, und es wurde Zeit, das Ruder abzugeben. Eine neue Aufgabe bahnte sich in der evangelischen Landeskirche in Domat/Ems an. Im Kirchenvorstand waren Neuwahlen angesagt, und Edi Wäfler stellte sich zur Verfügung. Er wurde nicht nur in den Kirchenvorstand gewählt, sondern auch gleich dessen Präsident. «Wie über Nacht wurde ich eine öffentliche Person im Dorf und zu gesellschaftlichen Anlässen offiziell eingeladen. Das war am Anfang schon sehr ungewohnt», erinnert sich Edi Wäfler. «Agnes und ich stehen nicht so gercz 1|07

«Ohne Gott wäre es uns schlicht langweilig.» ne im Vordergrund. An einem Dorffest marschierte ich zum Beispiel neben dem Fahnenträger und anderen Ehrengästen durchs Dorf. Gott öffnete mit dem Kirchenvorstand eine Türe, und ich sprang über den eigenen Schatten.» Der zeitliche Aufwand für das Amt sei hoch, die Einflussmöglichkeiten dafür beachtlich. Weil Wäflers keine Kinder haben, kann Edi flexibel und unabhängig auf dieses gesellschaftliche Bedürfnis eingehen. Am Anfang versuchten einige, Edi Wäfler in eine Schablone zu drücken und ihm das Etikett «Fundamentalist» anzuhängen, weil sie die Arbeit von Campus für Christus nicht kannten. Er fragte dann zurück, was sie sich denn unter einem «Fundamentalisten» vorstellten. Die Gespräche, die daraus entstanden, seien für beide Seiten höchst interessant und aufschlussreich gewesen. «Die sieben Mitglieder des Kirchenvorstands vertreten ganz unterschiedliche Ansichten, aber wir ergänzen und schätzen uns und haben eine gute Streitkultur entwickelt.»

«Fit mit Agnes» Just zu dem Zeitpunkt, als Agnes ihre Ausbildung beendet, sucht der Turnverein Domat/Ems eine neue Leiterin. «Für mich die Chance, noch mehr in Kontakt mit den Frauen aus dem Dorf zu kommen», sagt Agnes Wäfler. «Anfangs versuchte ich, den Frauen am Ende der Turnstunde ein Wort zum Tag mitzugeben, aber es passte nicht und wirkte erzwungen. Es war mir selber nicht wohl. So versuche ich lieber, gute Turnstunden zu geben. Ich merkte, dass es wichtiger ist, wie ich beispielsweise mit Kritik umgehe oder wie ich mich bei Konflikten verhalte.»

Ganzheitlich leben Sport spielt im Leben von Agnes und Edi Wäfler eine wichtige Rolle. Er bietet einen

guten Ausgleich zu ihren Engagements. Am liebsten bewegen sie sich draussen in der Natur, segeln oder gehen im Winter auf Skitouren. Am meisten sind sie mit den Mountainbikes unterwegs. Im Jahr legen sie zwischen 4000 und 5000 Kilometer zurück, mehrheitlich in den Bergen. Höhepunkt ihrer Fahrradsaison ist die «Hot Bike Tour» durch Israel. Bereits elfmal führte sie das Bikeabenteuer von der nördlichen Grenze Israels über Jerusalem durch die Wüste nach Eilat ans Rote Meer. «Meist sind wir eine bunt gemischte Gruppe», sagt Edi. Neben dem Biken und der Kameradschaft setzen sie sich auch mit der Kultur und der Geschichte Israels auseinander. Dabei liegt es nahe, die Bibel als Grundlage zu nehmen. Ohne gross zu predigen, erleben sie jeweils Gott auf ganz besondere Art und Weise.

Das grösste Abenteuer «Mit Gott zu leben», sagen Agnes und Edi Wäfler, «ist für uns ein unwahrscheinliches Vorrecht und das grösste Abenteuer, das wir uns vorstellen können. Ohne Gott wäre es uns schlicht langweilig.» Wäflers sind überzeugt, dass Gott für jeden Menschen viel bereithat. Dabei sprechen sie nicht von einem Leben ohne Probleme. Aber Probleme und Hindernisse seien Gottes Chancen, durch die er uns vorwärtsbringen wolle. «Je näher wir mit dem göttlichen Vater zusammenleben», sagen sie, «desto mehr leben wir in unserer Bestimmung. Gott weiss, was er in uns hineingelegt hat und was für uns optimal ist. So ist es möglich, ein Leben zu führen, das erfüllt ist, nicht nur ausgefüllt.» Agnes und Edi Wäfler blicken hoffnungsvoll in die Zukunft, und sie haben beide das starke Gefühl: Da kommt noch einiges, wofür es sich lohnt, etwas zu wagen und sich einzusetzen. 29


P O S I T I O N Freikirchen wollen relevanter werden VFG veröffentlicht Positionspapier zur eidgenössischen Politik Der Verband der evangelischen Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz (VFG) stellte in Zürich sein Positionspapier «Suchet das Wohl des Landes» vor. Damit wollen die Freikirchen einen Beitrag zur Wertediskussion in der Schweiz leisten. Neben der katholischen und der reformierten Landeskirche versteht sich der VFG als dritte Kraft unter den christlichen Kirchen in der Schweiz.

Manfred Kiener Das 44-seitige Grundsatzpapier «Suchet das Wohl des Landes» des VFG will zweierlei: Einerseits formulieren die Freikirchen darin ihre Erwartungen an die Politik und wollen damit einen Beitrag zur Wertediskussion in unserem Land leisten. Hervorgehoben werden soll die Bedeutung der biblischen Gebote für ein freiheitliches und geordnetes Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Dies im Sinne der Worte aus Jeremia 29,7 «Suchet das Wohl des Landes». Andererseits soll die Broschüre die politische Diskussion in den eigenen Reihen fördern.

menhängt, geht auf die biblische Botschaft zurück.» Die Leitungskonferenz des VFG «setzt sich dafür ein, dass Bürger und Politiker christliche Werte proklamieren, ihr Gewissen an Gottes Geboten orientieren und ihr Denken und Leben nach ihnen ausrichten». Im demokratischen Prozess müssten «auf der politischen Ebene Mehrheiten gebildet werden, um christlichen Werten, die das Wohl der Menschen im Blick haben, zum Durchbruch zu verhelfen». Demokratisch gefasste Erlasse sollen, «gestützt auf solche Werte, nach entsprechenden Mehrheitsbeschlüssen effektiv und effizient vollzogen werden».

Primär spirituelles Anliegen

Barmherzigkeit zeigen

«Das primäre Anliegen der Freikirchen ist spiritueller Art», betonte Daniel Moser aus Bern, Vorstandsmitglied des VFG, vor den Medien. «Es geht darum, Menschen in der persönlichen Gottesbeziehung zu begleiten.» Diese Gottesbeziehung habe jedoch Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik. Daniel Moser zitierte den Sozialphilosophen Max Horkheimer: «Politik ohne Theologie ist absurd. Alles, was mit Moral und Menschlichkeit zusam-

Ines Adler, Vertreterin der Heilsarmee in der VFG-Leitungskonferenz, beleuchtete vor den Medien das soziale und gesellschaftliche Engagement der Freikirchen: «Die christliche Botschaft ist eine Botschaft der Liebe, der Versöhnung und der Barmherzigkeit.» Am Anfang stehe immer die Verkündigung der göttlichen Botschaft. Diese führe zu barmherzigem Handeln zum Wohl der Mitmenschen. «Jedes Kind, das schon früh mit der Bot-

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schaft von Jesus Christus vertraut gemacht wurde, kann sich zu einem Friedensstifter entwickeln und besitzt eine solide Grundlage für sein späteres Leben in Familie und Beruf.» Viele freikirchliche Programme beugten der Einsamkeit vor, sagte die Heilsarmee-Chefsekretärin. Weiter erwähnte Ines Adler zahlreiche christliche Initiativen wie Krankenhäuser, Heime für Kinder, Frauen und Obdachlose, Drogentherapiewerke, Ausbildungs- und Beratungsstellen. «Die Motivation zu all diesen Diensten stammt aus der Liebe von Christus zu uns und unserer Liebe zu ihm.» VFG-Präsident Max Schläpfer, Bolligen, schilderte die Geschichte des Papiers: Seit mehreren Jahren führe der VFG Gespräche mit eidgenössischen Parlamentariern und Parlamentarierinnen christlicher Prägung einerseits sowie mit der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) andererseits. Aufgrund dieser Erfahrungen habe die VFG-Leitungskonferenz vor zwei Jahren beschlossen, ein Diskussionspapier zur eidgenössischen Politik zu schreiben. Der ehemalige VFG-Präsident Samuel Moser erarbeitete cz 1|07


relevant leben | freikirchen wollen …

daraufhin zusammen mit Dr. Daniel Moser das Grundlagenpapier. Der Detailarbeit folgten kontroverse Diskussionen, an denen sich auch dem VFG nahestehende Nationalräte aus fünf Parteien beteiligten.

nicht von oben her gegeben wäre.» Der Erhaltungs- und Ordnungswille Gottes soll erfüllt werden. Dieser findet seinen stärksten Ausdruck im 13. Kapitel des Römerbriefes.

Zehn Gebote als Grundlage Leitgedanken der Broschüre Die Bibel kennt weder eine für alle Zeiten gültige Wirtschaftsordnung noch eine allgemeingültige Staatstheorie. Sie weiss aber um die Sache und zeigt wirtschaftliche, soziale und geistliche Prinzipien auf (siehe Kasten).

ETHIK Klassische Bibeltexte zur politischen Ethik: • 1. Mose 1,28; 2,15 • Jeremia 29 • Matthäus 20,25; 22,21 • Lukas 14,3 ff. • Johannes 18,36 • Römer 13,1-7 • Epheser 1,21 • Kolosser 2,10 • 1. Timotheus 2,1-4 • Titus 3,1 • 1. Petrus 2,11-17

Zwei Regimente Im Grundsatzpapier wird Martin Luthers Lehre von den zwei «Regimenten» erwähnt: Auf der einen Seite (geistliches Regiment) regiert Gott die Christengemeinde. Diese weiss um das Wort ihres Herrn: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.» Sie lebt wie «Schafe unter den Wölfen» und weiss um ihr «Bürgertum im Himmel». Der Heilswille Gottes soll erfüllt werden. Auf der anderen Seite (weltliches Regiment) lenkt Gott die Völkerwelt durch politische Weichenstellungen und Machtsetzungen. Dem römischen Statthalter Pilatus sagte Jesus: «Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir cz 1|07

Die Autoren schreiben: «Die Zehn Gebote gehören nicht nur auf die Kanzel; sie gehören zu den Fundamenten der gesetzgeberischen Arbeit in den Ratssälen.» Die Demokratie sei keine christliche Staatsform, dennoch komme sie christlichen Wertvorstellungen am nächsten. Die Nähe zum biblischen Menschen- und Weltbild sei unübersehbar. Politik hat sich, gemäss dem VFG-Papier, um das Gemeinwohl aller Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. So gibt es keine christliche Politik, sondern nur Christen, die aktiv und passiv Politik in einer unerlösten Welt betreiben. Damit wird der äussere Rahmen zur Erhaltung der Welt und zur Verkündigung des Evangeliums geschaffen. Denn Gott will, «dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen».

Vier Mandate Bonhoeffers Dietrich Bonhoeffer hat die von Luther angesprochenen drei «Ordnungen» unter Berücksichtigung der Zwei-Regimenten-Lehre mit den vier «Mandaten» präzisiert: Ehe, Arbeit, Obrigkeit und Kirche. Unter «Mandat» versteht Bonhoeffer den durch die Bibel bezeugten Auftrag, ein göttliches Gebot umzusetzen. Die Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau bzw. als Grundlage der Familie ist ein fundamentales Mandat. Daraus folgen das Ja zum Kind und das Nein zu jeder Form der Abtreibung. Nahezu alle gravierenden sozialpolitischen Probleme der Gegenwart hängen mit der Verletzung dieses Mandats zusammen. Dem Mandat der Arbeit begegnen wir bereits in der Schöpfungsgeschichte: Der Mensch solle die Erde «bebauen und

bewahren». Beim Abwägen der Güter ist die Vollbeschäftigung wichtiger als die Kapitalinteressen. Zum Mandat Obrigkeit gehören Staat, Politik und Rechtsordnung. Es geht um die Obrigkeit als «Dienerin Gottes». Das Privileg der Kirche ist es, um diese Mandate zu wissen, nicht aber, über die anderen Mandate zu herrschen. Die Kirche kann und soll nicht unmittelbar politisch handeln. Sie soll der Gewissensbildung dienen und hat eine Verkündigungs- und Wächteraufgabe. Sie soll eine Kirche sein, die mutig bekennt, treu betet, fröhlich glaubt und brennend liebt.

M A N DAT Bundesverfassung und kirchliches Mandat Der VFG steht zur Bundesverfassung und zu den in ihr verankerten Grundrechten, Bügerrechten und Sozialzielen. Er beruft sich im Rahmen seines kirchlichen Mandats insbesondere auf die folgenden Grundrechte: • Rechtsgleichheit und Diskriminierungsverbot (BV Art. 8) • Recht auf Leben und persönliche Freiheit (BV Art. 10) • Glaubens- und Gewissensfreiheit (BV Art. 15) • Meinungs- und Informationsfreiheit (BV Art. 16) • Medienfreiheit (BV Art. 17) • Versammlungsfreiheit (BV Art. 22) • Vereinigungsfreiheit (BV Art. 23)

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P R I O R I TÄT Politische Prioritäten für Christen Der VFG erkennt Bereiche, die in der parlamentarischen Arbeit besondere Aufmerksamkeit verlangen: • Menschliches Leben, auch vor der Geburt und am Lebensende (2. Mose 20,13) • Ehe und Familie (2. Mose 20,14) • Ernährung und Landwirtschaft (1. Mose 1,29; Psalm 145,16) • Gesundheitswesen (3. Johannes 2) • Kosmos und Umwelt (1. Mose 1,14; 5. Mose 4,19; Psalm 74,16; Jesaja 47,13) • Bildung und Forschung (1. Mose 1,28; 5. Mose 29,28) • Sozialpolitik (Matthäus 25,14.46) • Wirtschaftspolitik Matthäus 25,14-46) • Rechtswesen (Hiob 34,12; Psalm 72,4; 94,15; Jesaja 1,17; 42,1; 51,4; Matthäus 23,23; Lukas 11,42) • Privates und öffentliches Eigentum (2. Mose 20,15; Epheser 4,28) • Aussenpolitik (Galater 6,2) • Sicherheitspolitik (Jesaja 32,17-18; Römer 13,1-7) • Staatsfinanzen (Lukas 12,42)

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Der VFG betreibt als Verband keine Parteipolitik. Er unterstützt eine Politik der Menschenliebe und der Menschlichkeit. Politisch aktive Christen sollen nicht spezifische Interessenvertreter sein, sondern müssen die ganze Zivilgesellschaft im Blick haben, Christen und Nichtchristen. In Sachfragen können Christen unterschiedliche politische Standpunkte einnehmen, ohne sich deswegen persönlich bekämpfen zu müssen.

Analysen, Ziele und Massnahmen In seinem Positionspapier beleuchtet der VFG die wichtigsten Bereiche der sieben eidgenössischen Departemente. Stichwortartig werden Probleme analysiert, politische Ziele formuliert und Vorschläge genannt, um die heutige Situation zu verbessern. Politisches Klima: Der VFG schlägt vor zu prüfen, ob politische Lügen nicht strafrechtlich geahndet werden könnten. Aussenpolitik: Die Schweiz soll den bilateralen Weg mit der EU fortsetzen. Sie soll sich für Rechte und Möglichkeiten christlicher Minderheiten in muslimischen Ländern nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit einsetzen. Nahostpolitik: Der VFG wehrt sich gegen eine überzogene und einseitige Kritik an Israel. Die Schweiz soll alle Staaten und Interessengruppen im Nahen Osten fair und gerecht beurteilen. Einsetzen soll sich die Schweiz für die Menschenrechte, insbesondere für die Glaubensfreiheit (beispielsweise von messianischen Juden oder palästinensischen Christen). Sozialpolitik: Firmen, die IV-Bezügerinnen und -Bezüger sowie Langzeitarbeitslose wieder eingliedern, sollen steuerlich begünstigt werden. Gesundheit und Krankheit: Komplementärmedizin und Abtreibung sollen aus der Grundversicherung gestrichen

werden. Mit einem Bonus-MalusSystem soll eine gesunde Lebensweise gefördert werden. Altersvorsorge: Der VFG betrachtet neben einer Erhöhung des Pensionierungsalters eine Flexibilisierung des Rentenalters sowie eine bessere Integration älterer Arbeitnehmender als erstrebenswert. Familienpolitik: Der VFG wünscht höhere Kinderzulagen, Steuererleichterungen für Familien und Verbilligungen der Krankenkassenprämien für Familien. Volkszählung: Der VFG wünscht sich vom Bundesamt für Statistik zuverlässige Daten über die Religionslandschaft Schweiz. Er will deshalb in die Vorbereitungen für die Volkszählung 2010 einbezogen werden. Die Einteilungen im Bereich der Freikirchen müssten überarbeitet werden. Bildung: Lehrkräfte sollen aufgebaut und motiviert statt demontiert werden. Private Bildungsinstitutionen müssten durch Anreizsysteme gefördert werden. Ausländer: An der christlichen Leitkultur soll die Schweiz festhalten. Asylbewerberinnen und -bewerbern müsse der christliche Hintergrund erläutert werden. Straffällige ausländische Menschen soll die Schweiz rasch abschieben. Religionspolitik: Medien wie «Fenster zum Sonntag» und «Life Channel» sollten Konzessionsgelder erhalten. Freikirchen sollten in Sendegefässen der SRG mehr zu Wort kommen. Wirtschaft und Arbeit: Zweckmässige EU-Normen sollen übernommen werden. Für KMUs wünscht sich der VFG günstigere Rahmenbedingungen mit weniger Bürokratie. Kommunikation: Der VFG fordert unter anderem Werbeverbote für schädliche Esoterik, Kleinkredite, Sexdienste und pornografische Angebote, Nikotin, Alkohol und Drogen sowie für Werbung, die religiöse Gefühle verletzt. cz 1|07


relevant leben | freikirchen wollen …

Die Schweizer Freikirchen und ihre Identität Die Schweizer Freikirchen und ihre Identität VFG-Präsident Max Schläpfer blendete bei der Vorstellung des Grundlagenpapiers zurück auf die Geschichte: Der VFG existiert seit 1919. Anlass für die Gründung war damals das während einer Grippe-Epidemie verhängte Versammlungsverbot, das freikirchliche Kreise einseitig traf, während die Landeskirchen ihre Gottesdienste abhalten und Restaurants offen bleiben durften. Im Lauf der Jahrzehnte integrierte der Verband sukzessive die meisten freikirchlichen Gemeindeverbände in der Schweiz. Heute gehören ihm 14 Mitgliedsverbände mit insgesamt rund 600 Ortsgemeinden und mit über 200 000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an. Der VFG ist rechtlich als Verein konstituiert, in welchem die Leitungskonferenz zugleich die Generalversammlung bildet. Ein vierköpfiger Vorstand leitet den Verein und betreibt in Aarau sein Sekretariat.

Plattform und Sprachrohr Der VFG verfolgt vor allem drei Ziele: Zuerst will er den Leitungspersonen der 14 Mitgliedsverbände Begegnungen ermöglichen. Gemeinsam sollen sie theologische und gesellschaftliche Themen und Fragen diskutieren. Dazu dienen die dreimal jährlich stattfindenden Leitungskonferenzen. Als Zweites will der VFG die Stellung der Freikirchen in der Öffentlichkeit fördern. Dies geschieht einerseits durch Grossanlässe wie die seit 1980 sechsmal organisierten Christustage, der letzte 2004 in Basel. Andererseits beteiligt sich der VFG an Vernehmlassungen des Bundes und an Diskussionen um die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften.

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Ausserdem ist der VFG Ansprechpartner für Landeskirchen, Organisationen und Behörden. Als Drittes setzt sich der VFG für christlich-ethische Werte in der Gesellschaft ein. Das Positionspapier «Suchet das Wohl des Landes» entspringt diesen Bemühungen.

Unterschiedliche Geschichten – eine Basis VFG-Präsident Max Schläpfer betonte das Selbstverständnis des VFG, der sich als dritte Kraft der christlichen Kirchen in der Schweiz versteht, neben der Schweizer Bischofskonferenz und dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund. Dabei sind die Unterschiede zwischen den unter einem Dach vereinten Freikirchen sowohl historisch wie auch theologisch beträchtlich: Die Wurzeln der täuferischen Gemeinden reichen in die Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert zurück. Die Methodisten entstanden im Rahmen der wesleyschen Erweckung im England des 18. Jahrhunderts. Heilsarmee, Chrischona und Freie Evangelische Gemeinden entstanden im 19. Jahrhundert, pfingstliche und charismatische Freikirchen im 20. Jahrhundert. Aufgrund dieser Wurzeln pflegen die einzelnen Freikirchen innerhalb des VFG unterschiedliche theologische Schwerpunkte. Eine gemeinsame Basis gibt es rund um die Person von Jesus Christus, im Schriftverständnis, im persönlichen Glauben wie auch in der Bedeutung von Gemeinde und Mission. Der VFG anerkennt zudem die biblisch-theologische Basis der Lausanner Verpflichtung von 1974. Aufgrund dieser Verpflichtung formulierte der VFG für die Schweiz den Satz: «Der ganzen Schweiz das ganze Evangelium durch die ganze Gemeinde.»

Gesuch um staatliche Anerkennung «Die Volkszählung 2000 hat ergeben, dass die Bedeutung der Freikirchen in einem Umfeld, das zunehmend areligiös geprägt ist, zugenommen hat», betonte Peter Deutsch, Bern, Vizepräsident des VFG. Angesichts des teilweisen Ausscherens der reformierten Landeskirche aus dem christlichen Konsens bei ethischen Fragen erhalte die Stimme der Freikirchen zunehmend Gewicht. Diese wachsende Bedeutung will der VFG öffentlich-rechtlich anerkennen lassen. Seit 2005 ist im Kanton Bern ein Gesuch des VFG für die öffentlich-rechtliche Anerkennung der im Verband zusammengeschlossenen Mitgliedskirchen hängig. Dieses Gesuch hat Modellcharakter für das weitere Vorgehen des VFG in anderen Kantonen. Die Freikirchen wollen kein Geld vom Staat. Aber sie wollen staatliche Räume für ihren Religionsunterricht mitbenutzen und die Anerkennung ihrer Seelsorger in Spitälern und Anstalten erreichen. Die Kantone Bern und Zürich haben bereits jüdische Gemeinden öffentlich-rechtlich anerkannt.

BEZUGSADRESSE Bezugsadresse des Positionspapiers: Sekretariat VFG Postfach 3841 5001 Aarau Tel. 062 832 20 18 info@freikirchen.ch www.freikirchen.ch.

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PERSONLICH Lettland: Christen prägen die Gesellschaft Das persönliche Wort des Missionsleiters

Lettland ist wirtschaftlich eines der ärmsten Länder Europas, vom geistlichen Standpunkt aus gesehen aber eines der reichsten. Letzten Herbst hatte ich die Gelegenheit, in Riga mehrere Persönlichkeiten zu treffen, die als bewusste Christen in Schlüsselstellen von Politik, Kultur, Erziehungs– oder Sozialwesen tätig sind. Hanspeter Nüesch Schon am Flughafen in Riga waren wir überrascht, auf der Rückseite des offiziellen Stadtführers zu lesen: «You shall not commit adultery! (Exodus 20,14)», übersetzt: «Du sollst die Ehe nicht brechen!», und das auf einem Werbeinserat der nationalen Fluggesellschaft. Auf Rückfrage erklärte man uns, man wolle damit etwas gegen den grassierenden Sextourismus tun. Die Regierung hat sämtliche sexistische Werbung verboten, sowohl im Fernsehen als auch auf Plakaten und Zeitungsaushängen. In einem Zusatz zur Verfassung sei kürzlich festgeschrieben worden, dass nur ein Mann und eine Frau miteinander eine Ehe eingehen könnten. Umso trauriger stimmte es uns, in der Ankunftshalle des Flughafens mit der Reklame einer Schweizer Bank begrüsst zu werden, die offen mit dem Schweizer Bankgeheimnis warb. Die sogenannt christliche Schweiz wirbt für den Materialismus, und das über Jahrzehnte einem dialektischen 34

(Kommunismus) ins andere Gefängnis (Konsumismus) zu geraten, insbesondere nachdem Lettland nun Mitglied der Europäischen Union sei.

• Dr. Ainars Bastiks, Lettischer Minister für Kinder und Familien, hier in seinem Büro.

Materialismus huldigende Lettland fördert christliche Werte. Der kürzlich wiedergewählte Minister für Kinder und Familien Dr. Ainars Bastiks, der an der EXPLO 04 in Basel gesprochen hatte, meinte im persönlichen Gespräch, nur der christliche Glaube mit seinen lebensfördernden Werten könne sein Land davor bewahren, von einem Gefängnis

Wir hatten die Gelegenheit, am erstmals durchgeführten «National Prayer Breakfast» teilzunehmen. Es war keine ausgewogene, politisch korrekte Veranstaltung. Die Beiträge und Lebenszeugnisse kamen von Herzen. Ex-Präsident Guntis Ulmanis bat alle Anwesenden aufzustehen und zitierte während Minuten Texte aus dem Alten und Neuen Testament. Es war eine tiefe Ernsthaftigkeit zu spüren. Eindrücklich auch, wie die höchsten Vertreter der drei Hauptkirchen Lettlands, der Lutheraner, der Baptisten und der Katholiken, in grosser Einmütigkeit Gott die Ehre gaben und um seinen Segen baten. In den folgenden Tagen trafen wir noch weitere Christen in gesellschaftlich verantwortungsvoller Position, so die Ausbildnerin der Ethik- und Religionslehrpersonen, Laima Geikina. Das für die Schulen Lettlands obligatorische cz 1|07


relevant leben | lettland: christen prägen …

Unterrichtsmaterial hält sich an die zentralen Aussagen des christlichen Glaubens, wie sie uns die Bibel überliefert. In der Unterstufe wird in allen Klassen der Jesus-Film für Kinder gezeigt, auf der Oberstufe der gängige Jesus-Film. Laima Geikina will nun auch unseren Film über die Versöhnung in Ruanda in den obligatorischen Unterrichtsstoff aufnehmen: «Wir mussten entscheiden, ob wir ein christliches Land sein wollen. Dann müssen wir an den Schulen auch die christlichen Werte wie Vergebung und Versöhnung vermitteln.» Im Gegenzug dürfen wir ihr Unterrichtsmaterial verwenden, falls es für die Schweiz einsetzbar ist. Im Moment ist es in Übersetzung. Wir wollen es gegebenenfalls den Lehrerinnen und Lehrern in unserem Land zur Verfügung stellen. Der trotz einer jährlichen Wachstumsrate von zehn Prozent immer noch schlechte wirtschaftliche Zustand Lettlands zeitigt jedoch manche negativen gesellschaftlichen Folgen. Viele Kinder wachsen nicht bei ihren Eltern, sondern in Heimen auf, da ihre Eltern in Westeuropa ihr Auskommen verdienen. Der Lohn ist dort etwa zehnmal so hoch wie in Lettland. Deshalb hat Minister Bastiks alles unternommen, dass diese allein gelassenen Kinder in Pflegefamilien aufwachsen können. Durch ein staatlich unterstütztes Adoptionsprogramm konnte zudem die Abtreibungsrate signifikant gesenkt werden. Nach dem Verbot der Gay-Parade ist der junge Erzbischof der evangelisch-lutherischen Kirche, der Hauptkirche Lettlands, zur Zielscheibe der Medien geworden, weil er mit seiner «extrem konservativen Haltung» bezüglich Sexualmoral eine «gesunde Öffnung» der lettischen Gesellschaft in Richtung EU behindere. In vielen anderen Bereichen der lettischen Gesellschaft hat Gott in letzter Zeit seine Leute platziert. So hat der Crescendo-Mitarbeiter Guntars Pranis als cz 1|07

• Hanspeter Nüesch bedankt sich beim Erzbischof der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands, Jänis Vanags und seiner Frau Baiba Vanaga, für Ihr klares Christus-Zeugnis und Ihren Einsatz für christtliche Werte in der Lettischen Gesellschaft.

künstlerischer Direktor des Doms von Riga eine Schlüsselstelle im lettischen Kulturleben inne. Als künstlerischer Leiter der jährlichen Unabhängigkeitsfeier, die jeweils vom nationalen Fernsehen übertragen wird, bittet er christliche Kunstschaffende auch um ein kurzes persönliches Wort zu ihrem Glauben. Schliesslich haben wir noch eine Schweizerin getroffen: Christina Bardill. Sie ist in Lettland als Seelsorgerin und Erziehungsberaterin tätig und unterrichtet an der Lettischen Christlichen Akademie. Sie bestätigte uns, dass die Zeit unter kommunistischer Herrschaft tiefe Spuren hinterlassen habe. Vor allem die Männer hätten nicht gelernt, Eigeninitiative zu ergreifen. Sie flüchteten oft in den Alkohol. Immer wieder passierten schreckliche Gewaltexzesse. Auch Campus Lettland wurde davon direkt betroffen: Drew Rush, Verantwortlicher der Militärarbeit, wurde von einem Armeeangehörigen, den er betreute, ermordet, und das wegen ein paar lumpiger Geldscheine. Der Kaplan des lettischen Militärs, Laimnasis Polis, will nun alles daransetzen, dass die so gesegnete christliche Militärmission auch nach dem Tod des Verantwortlichen weitergeführt, ja noch vertieft wird, und jeder

Armeeangehörige das Evangelium Jesu Christi kennenlernt. Die Christen in Lettland haben mich tief beeindruckt. Sie stehen ungeniert zu ihrem Glauben und setzen sich mit all ihren Kräften dafür ein, dass dieser die lettische Gesellschaft mehr und mehr prägt. Sie bezahlen zum Teil einen sehr hohen Preis. Sie sind sich bewusst, dass der Wind schnell drehen kann, denn sie passen so gar nicht in die generelle Tendenz Europas, das einem beinahe grenzenlosen Liberalismus huldigt: Alles ist erlaubt, solange es nicht die eigene Freiheit beschneidet. Aus Erfahrung wissen wir jedoch, dass es diese grenzenlose persönliche Freiheit nicht gibt, dass sie im Gegenteil letztlich zu Unfreiheit und zu Zwängen aller Art führt. Die lettischen Christen machen uns vor, was es heisst, mutig und opferbereit für ein Land vor Gott in die Bresche zu treten (vgl. Hesekiel 22,30). Nehmen wir Schweizer Christen uns die lettischen Geschwister zum Vorbild und kämpfen wir mutig gegen die Erosion der christlichen Grundlagen in unserem Land, indem wir nach unserem Vermögen positive Zeichen setzen! 35


STURMISCH Betroffenheit statt schlechtes Gewissen Lernen von David Wilkerson Es war ein Bild, das Geschichte machte: Der junge, bibelschwingende Prediger, der am 28. Februar 1958 in New York City mitten in den brisanten Mordprozess um eine Jugendgang hineinplatzte - und gleich im hohen Bogen wieder aus dem Gerichtssaal flog. Dabei hatte ihm Gott doch deutlich aufgetragen, er solle nach New York fahren, um den angeklagten Jungs von der einzigen Hoffnung zu erzählen, die es für sie gab.

Peter Höhn David Wilkersons peinlicher Auftritt kam postwendend auf die Titelblätter der Zeitungen. Der «fanatische Pfingstprediger» schien alles vermasselt zu haben. Doch Gott sorgte – gerade dank dieses Bildes – dafür, dass «Preacher Davie» auf den Strassen Brooklyns wiedererkannt wurde und so die atemberaubende Geschichte vom «Kreuz und den Messerhelden» eine Fortsetzung fand. David Wilkersons Gehorsam legte den Grundstein für seinen revolutionären Pionierdienst unter den Banden und Drogenabhängigen New Yorks. «Teen Challenge» hat heute weltweit mehr als 550 Einrichtungen für Drogenabhängige, Alkoholiker und Prostituierte. Was mich seit je fasziniert, ist, wie alles anfing: Vor dem Fernseher. – Wilkerson war damals 27-jährig, Pastor der Pfingstgemeinde in Philipsburg, Pennsylvania, und konnte mit sich und dem Leben zufrieden sein: Eine Frau, Kinder, ein neues 36

Kirchengebäude in Sicht, eine zufriedene Gemeinde. Alles verlief in festgelegten Bahnen. Seinen Feierabend pflegte er vor dem Fernseher zu verbringen. Von Mitternacht bis morgens um zwei entspannte er sich bei Infotainment, Varietés und Ballettgirls, bis ihm eines Tages der Gedanke kam, wie geistlos das alles sei. Was, wenn er stattdessen diese Zeit im Gebet verbringen würde? Der Gedanke schlug wie ein Blitz ein und liess ihn nicht mehr los. Eigentlich wollte Wilkerson nicht wirklich mit dem Fernsehen aufhören, aber er beschloss, mit Gott eine Abmachung zu treffen. Er würde die bisherige TV-Zeit zum Beten einsetzen unter folgender Bedingung: Er würde ein Inserat aufgeben, aber spätestens um halb neun Uhr morgens, eine halbe Stunde nach Erscheinen der Zeitung, müsste der Fernseher verkauft sein. Am besagten Morgen um 8.29 Uhr klingelte das Telefon: ein Mann wollte den TV-Apparat kaufen. David Wilkerson blieb nichts anderes übrig, als sein Versprechen zu halten. Er begann, die zwei nächtlichen

Stunden dem Gebet, dem Danken und dem Lesen des Wortes Gottes zu widmen. Eines Abends verspürte er eine seltsame Unruhe. Die Zeitschrift «Life», die auf seinem Schreibtisch lag, schien ihn fast magisch anzuziehen. Wollte ihm Gott wohl etwas zeigen? Schliesslich nahm er das Magazin zur Hand und las von dem aufsehenerregenden Mordprozess, in den eine New Yorker Gang verwickelt war. Seine Augen blieben an einer Federzeichnung hängen, die sieben Jungs darstellte – und plötzlich liefen ihm Tränen über das Gesicht. Irgendetwas rührte die Tiefe seines Herzens an. Und der Eindruck liess ihn nicht mehr los: Geh nach New York und hilf diesen Jungen! Wilkerson fuhr schliesslich nach New York und konnte einen der wenigen für Besucher reservierte Plätze im Gerichtssaal ergattern. Nach Verhandlungsschluss stürmte er nach vorne und bat den Richter, mit den Jungen reden zu dürfen. Doch weil der Richter cz 1|07


relevant leben | betroffenheit …

Relevanz ist letztlich ein Geschenk Gottes. Nicht unsere Versuche, für Gott bedeutungsvoll zu werden, zählen, sondern unser Loslassen: Damit er zuerst für uns und anschliessend durch uns relevant werden möge, so wie es seinen Absichten für unser Leben entspricht.

• «Bibelschwingender Pastor unterbricht Strafprozess» – Die Schlagzeile (rechts) mit David Wilkersons Bild (links) in New Yorks Zeitungen

«Visionen wachsen aus der Unzufriedenheit über den jetzigen Zustand und der Sicht, was mit Gottes Hilfe daraus entstehen kann.» Bischof Sandy Miller, Erfinder der Alphalive-Kurse.

brachte im März 1958 alles ins Rollen.

Morddrohungen erhalten hatte, wurde Wilkerson zuerst für einen Attentäter gehalten und beinahe verhaftet. Seine Bitte, zu den Jungen sprechen zu dürfen, wurde abgelehnt. Doch Wilkerson liess sich nicht entmutigen. Während vier Monaten fuhr er jeden Mittwoch an seinem freien Tag die acht Stunden nach New York, ging mit offenen Augen und betend durch die trostlosen Strassenschluchten Brooklyns und flehte zu Gott, dass er ihm eine Türe zu diesen jungen Menschen öffne. Und Gott zeigte ihm Schritt für Schritt, was er tun sollte und wie er die Herzen der Gettokinder schliesslich erreichen konnte. Was lernen wir daraus? Dass wir den Fernseher verkaufen müssen, um relevant zu werden? Dass wir zwei Stunden pro Tag beten müssen, damit Gott reden kann? Dass uns Gott, wenn wir ernsthaft beten, aus dem gewohnten Umfeld herausreisst und in die Slums der Grossstädte schickt? Ich glaube, dass solche Schlussfolgerungen zu kurz greifen. Sie sind durchsäuert von pharisäischem Sauerteig, einer Lebenshaltung, die glaubt, mit eigenem Einsatz Gott genügen zu köncz 1|07

nen, und die letztlich in sich selbst gefangen bleibt. Schlechtes Gewissen und religiöser Eifer sind keine guten Ratgeber, wenn es um Relevanz im Reich Gottes geht. Wilkerson begann nicht mit der Absicht zu beten, etwas «Grosses oder Relevantes für Gott zu tun», sondern zunächst aus reiner Neugier: «Was würde geschehen, wenn ich die Zeit, die ich bis jetzt vor dem TV verbracht habe, fürs Gebet investierte?» – Und selbst dieser Gedanke war ein Geschenk Gottes. David Wilkerson, Mutter Teresa, Franz von Assisi, Florence Nightingale und unzählige Beispiele aus der Kirchengeschichte zeigen: Relevanz hat immer wieder mit Betroffenheit begonnen. Zunächst mit der Betroffenheit über die eigene Sattheit, Langeweile, Ernüchterung und Leere. Dann in der Bereitschaft, sich von Gott selbst (und nicht in erster Linie von einer allgemeinen Not) betreffen zu lassen, und drittens im substanziellen Antworten auf seine unmittelbaren, überraschenden Fügungen, in der Hingabe des eigenen leiblichen Lebens als lebendiges Opfer (Römer 12,1-2).

Manchmal ist dazu tatsächlich ein radikaler Bruch nötig, sei es mit den ausgetretenen Glaubenspfaden, mit der eigenen Geschäftigkeit oder mit den alltäglichen Belanglosigkeiten. Im Fall von Wilkerson drückt es Pater Jean van den Eynde in seinen Betrachtungen über das Gebet so aus: «Nachdem einmal kein Fernseher mehr da war, war der Bruch vollzogen, und Wilkerson konnte in das echte Gebet eintreten, das kein Gebet der Bequemlichkeit war, sondern zuerst eine Selbstaufgabe vor Gott, ein Ausstrecken leerer Hände nach ihm.»

• David Wilkerson ist heute 76 Jahre alt. 1987 gründete er im Herzen New Yorks die Times Square Church. Seit 1999 dient er Pastoren und Gemeindeverantwortlichen weltweit, wie sie für Jesus «on fire» bleiben können.

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grosse Verantwortung «U2»-Sänger Bono sucht Verbündete im Kampf gegen Armut und Aids

Es gibt Strassen, in denen nur Reiche wohnen. Es gibt Strassen, die mit Läden gesäumt sind, in denen wir viel Geld für teure Sachen lassen. Und es gibt Strassen, die keinen Namen haben. Wie in Afrika, in irgendeinem Dorf. Strassen, in denen Menschen wohnen, die gegen den Hunger kämpfen. Oder die HIV-infiziert sind, aidskrank. Die Strassen kennt niemand, die Menschen schon gar nicht. «Where the Streets Have No Name» - das ist der Titel eines der bekanntesten Lieder der irischen Band «U2». Ihr Frontsänger Bono Vox sieht auch die Christen in der Pflicht im gemeinsamen Kampf gegen Armut und Aids.

Andreas Dippel Bill Hybels, Gründer und leitender Pastor der Willow Creek Community Church in South Barrington bei Chicago, steht seit mehreren Jahren in Kontakt mit «U2»-Sänger Bono. «Als ich während einer Konferenz in Holland mit meiner Frau abends ins Hotelzimmer kam, war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ein gewisser Bono wolle uns sprechen. Doch um ehrlich zu sein: Ich wusste damals nicht, wer Bono war», erzählt Hybels auf dem Willow Creek Leadership Summit. Mit seiner Frau Lynn habe er erst einmal Google nach Bono befragt, dann ihre Kinder. Die waren ganz begeistert und erzählten, wer dieser Bono Vox eigentlich ist: einer der grössten Rockstars der Welt. «Plötzlich galt ich als cooler Vater ...», sagt Hybels lächelnd. Für den Leitungskongress, an dem im August 2006 in South Barrington mehr als 7000 Christen teilnahmen, hatte sich der Willow-Creek-Gründer zu einem 38

Interview mit dem «U2»-Sänger getroffen. Es ging um die Themen Aids, um Hilfe für HIV-Infizierte und Arme. Themen, die Bono Vox schon viele Jahre umtreiben. Und die für ihn zu den wichtigsten und ernsthaftesten Themen überhaupt gehören.

Das Elend gesehen Seit Bono 1985 mit seiner Frau Alison Hewson Einrichtungen des Hilfswerks «World Vision» in Äthiopien besucht hat, dort dem Elend begegnet ist, lässt ihn der Gedanke an Gerechtigkeit und Hilfe für die Armen und Kranken nicht mehr los. Auch darüber spricht Bono im Interview mit Hybels. Bono: «Auf dem Rückflug sagte meine Frau zu mir: ‹Was machen wir jetzt mit dem, was wir gesehen haben? Wir werden es vergessen, weil wir nicht jeden Tag an die Armen denken können.›» Doch beide haben die Bilder des Leids nicht vergessen. Im Gegenteil. Bono schreibt ein Lied über seine Eindrücke: «Where the Streets Have No Name», 1987 veröffentlicht.

Wie kaum ein anderer Weltstar reist er unermüdlich zu den Einfluss- oder Geldreichen: Bono fordert Unterstützung für Afrika, gründet mit Freunden Organisationen und Netzwerke, wie beispielsweise im Jahr 2002 DATA (Debt, Aids, Trade, Africa), setzt sich etwa in der ONE Campaign dafür ein, dass ein zusätzliches Prozent des Staatshaushaltes von westlichen Ländern für die Armen bereitgestellt wird. Hinzu kommen seine Auftritte bei «Band Aid» oder «Live 8», den Rockkonzerten internationaler Gruppen und Sänger, die zur Bekämpfung von Armut und Krankheit auftreten.

Kritik an Kirche Schon seit seiner Kindheit beschäftigt sich der Sänger mit dem christlichen Glauben. Jedoch mehr zwangsläufig. Wer, wie Bono, in der irischen Hauptstadt Dublin geboren und aufgewachsen ist, erlebt in den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken im NordirlandKonflikt nicht gerade ein Abbild des auf cz 1|07


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Der Konflikt, der Bono heute umtreibt, ist der zwischen Dritter Welt und reichen Industrienationen. «Dass es Arme und Reiche auf der Welt gibt, müssen wir wohl hinnehmen. Die Frage ist aber, ob das so bleiben muss», sagt Bill Hybels. Den Willow-Creek-Gründer hat Bono damals im Hotel denn auch nicht aus reinem Zeitvertreib angerufen. Er wollte sich mit Hybels über eine brisante Frage unterhalten: «Was unternimmt eigentlich Ihre Kirche, Herr Hybels, zur Bekämpfung der Armut und gegen die Ausbreitung der Aidsepidemie?»

Nächstenliebe ist ein Befehl Es ist eine Frage, über die Bill Hybels bis dahin noch nicht konkret nachgedacht hat. Das gibt er offen zu. Ihm waren die Dimensionen von Aids und Armut bis dato auch nicht allzu gegenwärtig – wie wohl den wenigsten Christen bis heute. «Alle 24 Stunden sterben heute 8000 Menschen an Aids, 11 000 infizieren sich neu, im Jahr 2010 wird es weltweit 150 Millionen HIVInfizierte geben», sagt Hybels.

Nicht allein diese Zahlen, sondern auch das Gebot der Nächstenliebe und die Verpflichtung der Christen für die Armen und Benachteiligten hätten ihn dazu gebracht, sich mit seiner Gemeinde für Aidskranke und Hungernde in Afrika zu engagieren. Mittlerweile hat Bill Hybels das weltweite Engagement gegen Armut und Krankheit zu einem wichtigen Bereich in seiner Gemeinde gemacht. Die Teilnehmenden des Leitungskongresses sollen es ihm gleichtun. «‹Liebe deinen Nächsten› ist kein Ratschlag, sondern ein Befehl.» Vor und nach dem Interview werden Konzertmitschnitte gezeigt, ein Auftritt von «U2». Bono singt «Where the Streets Have No Name», seine Fans singen mit, jubeln. Er singt von den Strassen, in denen die vielen Unbekannten wohnen, die niemanden interessieren. Zwischen den Strophen sagt er: «Was kann ich Gott für den Segen zurückgeben, den er mir hat zukommen lassen? Ich erhebe den Kelch des Heils – und trinke auf Gott!» Wer die Worte nachlesen will, muss die Bibel aufschlagen: Psalm 116.

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«Ich hatte nie ein Problem mit Christus, aber die Christen sind oft das Problem», sagt Bono denn auch bis heute. Und wohl auch weil seine Mutter Protestantin und sein Vater Katholik war, wollte er sich nie auf eine Konfession festlegen. Aber zu Jesus Christus bekennt er sich: «Jesus war entweder ein Niemand oder der, als den er sich bezeichnet hat. Ich glaube an Letzteren.» Zu den Kirchen hat Bono bis heute ein eher distanziertes Verhältnis. Das liegt auch daran, dass «die Kirche» nach Ansicht des Musikers Aidskranke eher verurteilt, als ihnen hilft. Dieses Verhalten kritisiert der Musikstar massiv, es schreckt ihn geradezu ab. «Christen, ihr habt eine grosse Verantwortung in dieser Welt. Christus würde es nicht wollen, dass sich die

Kirche von der Aidskrise abwendet», meint Bono.

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Liebe und Gnade gebauten Christentums. Obschon sich in diesem Konflikt zwei Konfessionen gegenüberstehen, haben die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen doch keinen religiösen Hintergrund. Im Nordirland-Konflikt kämpfen Teile der irischen Bevölkerung (Katholiken) gegen Anhänger Grossbritanniens (Protestanten) um politische Macht.

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«Du musst raus! In die Welt hinaus!» Mit Gott auf dem Weg nach Kuba

REPORTAGE

Eine Schweizerin verlässt ihr warmes Nest und lernt in Kuba ihren Ehemann kennen. Sie leben in Havanna und sind für Agape international im Land unterwegs, um den Menschen zu dienen.

Nicole Metzler Domínguez Ich sitze an meinem kleinen Pult und versuche mich auf die Abrechnung unserer letzten Reise in den Osten zu konzentrieren. Wir besuchten mehrere Pastoren. Das war nicht immer ganz einfach. Die Leute wirken müde. Auf dem Land kämpfen während der Regentage alle mit lecken Dächern. In einem Stadtviertel von Holguín hatten die Bewohner sogar keinen Zugang mehr zum Trinkwasser. Kübelweise mussten sie es herbeischleppen. Vom anderen Ende der Wohnung höre ich temperamentvolle Diskussionen und Gelächter. Die Familie meines Mannes hat Besuch bekommen. Von draussen höre ich ärgerliches Hundegebell, und karibischer Rap dröhnt in mein Zimmer hinein. Ich blicke zum geöffneten Fenster hinaus und sehe zwischen verwitterten Hauswänden ein Stück blauen kubanischen Himmels. In der Enge unseres Schlaf- und Arbeitszimmers scheinen die Wände noch näher zu rücken. «Mensch, wo um alles in der Welt bist du gelandet?! Was machst du hier?!» Meine Gedanken wandern zu den Pastoren, die wir gerade kennengelernt haben. Nach der jahrelangen 40

Trockenheit beklagt sich aber niemand. Man nimmt aufgeweichte Böden und feuchte Betten in Kauf. Das lang ersehnte Nass bewässert die trockene Erde und lässt überall endlich wieder Grün spriessen. Ein Gast aus Brasilien drängt sich in meine Gedanken. Als Pastor und Spezialist für die Arbeit mit gehörlosen Menschen ist er nach Kuba gekommen und

unterrichtet angehende Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Gehörlose, sodass noch viel mehr Taube und Hörbehinderte in Kuba «angesprochen» werden können. 177 Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Gehörlose aus verschiedenen Denominationen nahmen an seinem Workshop teil. Seine unkonventionelle Art hat die kubanischen Menschen ein bisschen

• Die Projektleiterin Nicole Metzler Dominguez in ihrem einzigen Raum in Havanna: Er diente als Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer.

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reportage | kuba …

aufgeschreckt. Das gefällt mir! Doch die Stimme in meinem Inneren lässt sich nicht so leicht beschwichtigen: «Lohnt es sich wirklich, die besten Jahre deines Lebens hier zu verbringen?!»

Meine Gedanken gehen zurück, immer weiter, dorthin, wo alles irgendwie begann. Es war immer etwas Besonderes, wenn ich bei meinem Patenonkel die Ferien verbringen durfte. Wir gingen ins Kino, und in seiner grossen Wohnung fühlte ich mich ganz zu Hause. Ein Zimmer gefiel mir besonders: das Büro. Schreibpapier und Kugelschreiber in Hülle und Fülle, Taschenrechner und Bostitch; die elektrische Schreibmaschine liess meine Finger jucken. Alles durfte ich benutzen, unter einer Bedingung: es wieder an seinen Ort versorgen und Meldung erstatten, falls irgendwelche Materialien aufgebraucht waren. Hingegeben spielte ich «Büro», brachte Ordnung ins Durcheinander, organisierte in meiner Phantasie Projekte. Eines war klar: Ich werde einmal in einem Büro arbeiten! Mit fünfzehn war es beschlossene Sache: Ich mache das KV. Doch fand ich lange cz 1|07

keine Lehrstelle. Mehrmals kam ich in die engere Auswahl, aber irgendwie klappte es nicht, bis ich endlich als Letzte der Klasse, vier Wochen vor Schulabschluss, meine ersehnte KV-Lehrstelle in der Tasche hatte. Nach drei Jahren Ausbildung in einer kleinen Unterhaltungselektronikfirma kannte ich fast alles, was es in dem kleinen Betrieb zu tun gab: Bestellungen verarbeiten, Päckli packen und auch die selbstständige Bearbeitung der Debitorenverwaltung. In der Schule gefiel mir vor allem die Buchhaltung. Die Logik dahinter faszinierte mich! Mit siebzehn erwachte mein Interesse an Gott. Die Teilnahme in einem Winterlager eröffnete mir den Zugang zur Jugendgruppe der reformierten Kirche in Bauma. Ein halbes Jahr nach dem KV-Abschluss begann ich in der Buchhaltung von Campus für Christus (CfC) in Zürich zu arbeiten. Kurz darauf entschied ich mich, mit zwei Freunden von Wetzikon nach Bauma zu ziehen. Selbst der lange Arbeitsweg von über einer Stunde hielt mich

nicht davon ab. Ich genoss das Leben auf dem Land. Ich hatte in diesem hintersten Winkel des Zürcher Oberlandes eine Familie gefunden. Dennoch waren es die Freundschaften in Bauma, die meine geistliche Entwicklung entscheidend prägten. Meine Arbeit als Buchhalterin und die Jugendarbeit nahmen mich voll und ganz in Anspruch. Der Spagat zwischen Stadt und Land, zwischen Landeskirche und CfC war nicht immer einfach, aber spannend und bereichernd. Schliesslich kam es aber doch zu einem Bruch: eine langjährige Beziehung zu einem jungen «waschechten» Baumer zerbrach. Wir lösten unsere Verlobung auf. Dieser Bruch schubste mich aus dem warmen Nest. Tief in meinem Innersten hörte ich dazu den Ruf: «Du musst raus! In die weite Welt hinaus!»

Der Schritt nach Zürich Obwohl ich bereits ein paar Jahre in Zürich arbeitete, war mir der Gedanke unheimlich, alleine dorthin zu ziehen. In Bauma fühlte ich mich wohl und sicher. Ich kam mir vor wie das Anneli aus dem Tösstal aus einem Buch von Olga Meyer. 41


• Das auffälligste Merkmal im Westen Kubas sind die Kegelkarstberge, die Mogotes, die als einzelne Felsen auftreten oder sich kilometerlang in gewundenen Ketten durch die Landschaft ziehen. Es sind Überreste eines riesigen Kalksteinplateaus. Unterirdische Fliessgewässer gruben sich in das weiche Kalkgestein und bildeten gewaltige Höhlen. Teilweise brachen die Decken der grössten Grotten ein und bildeten breite Täler. Diese sind besonders fruchtbar und ideal für den Tabakanbau.

Bei seiner Reise in die Stadt wurde es Anneli schon in Winterthur Angst und Bang. Es wollte den Mut verlieren und dachte, es habe schon genügend gesehen und wolle wieder zurück. Doch so wie die Räder von Annelis Zug nicht anhielten, gingen auch meine nicht rückwärts.

schen liegt es, ob Gold und Silber als Segen oder Fluch eingesetzt werden. Es war eine Genugtuung, mitzuerleben, wie in Form der uns anvertrauen Spenden Monat für Monat, Jahr für Jahr finanzielle Mittel «aus Teufels Klauen» gerissen werden konnten.

Kaum in Zürich angekommen, wurde ich bei Campus für Christus in eine neue Aufgabe hineinkatapultiert. Mein direkter Vorgesetzter verliess Campus, und ich musste von einem Tag auf den andern die Verantwortung für den finanziellen Bereich von CfC übernehmen. Mir war, als würde ich in zu grosse Kleider gesteckt. Dennoch nahm ich Abschied vom täglichen Buchhaltungskleinkram und bearbeite neu Bilanzen und Budgets und legte der Werkleitung Zahlenberichte vor. Zahlen und Fakten auf der einen Seite, Projekte und Visionen auf der anderen - dazwischen eine ungenügend gefüllte Kasse. Oft wussten wir am Zwanzigsten des Monats nicht, womit die Löhne zahlen. Doch irgendwie ging es immer auf. Der Herr ist treu. Ich verstand immer mehr, dass alle finanziellen Mittel Gott gehören. Am Men-

Der Flug übers Meer

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Schon als Teenager hatte ich die langhaarigen Peruaner bewundert, die in ihren Ponchos in den Bahnhofunterführungen Panflöte spielten. So oft war ich selber noch nicht im Ausland gewesen. Ich hatte etwas Erfahrung mit Kurzzeitprojekten in der GUS und Kasachstan gesammelt. Bei drei weiteren Gelegenheiten hatte ich Südamerika kennengelernt. Ich war fasziniert. Ich lernte Spanisch. Gibt es hier etwas, was mir und meinen Gaben entsprechen würde? Meine Vorgesetzten und ich hatten ehrlich gesagt keine Ahnung und sowieso, die EXPLO 2000 stand vor der Tür. Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, dass Hanspeter Nüesch und Penny Roberts eine erste Reise nach Kuba unternahmen. Nach der EXPLO nahm das Leben auch bei mir seinen gewohnten Lauf. Bis zu

dem Tag, als Roland Kurth mich im Büro anrief und sagte, er habe geträumt. Ob ich mir vorstellen könne, in Kuba zu arbeiten ... Warum nicht?! Im darauffolgenden Herbst betrat ich zum ersten Mal kubanischen Boden. Zusammen mit Hanspeter Nüesch und dem ehemaligen Südeuropaleiter Josep Monells besuchten wir die Insel, trafen uns mit Pastoren und schmiedeten Pläne. Ich wurde eingeladen, an einem internationalen Jugendlager teilzunehmen. So reiste ich mehrmals nach Kuba, lernte Land und Leute kennen und realisierte schnell, dass jemand vor Ort sein sollte, um die beginnenden Projekte zu betreuen. Wieder einmal stand ich vor der Entscheidung, meine Zelte abzubrechen. Wollte ich das wirklich? Wollte ich in Kuba Agape international vertreten? Einmal mehr sprachen die Umstände zu mir. Umstrukturierungen bei Campus machten mir bewusst, dass meine Zeit in Zürich abgelaufen war. Ich kündigte trotzdem etwas schwermütig meine kleine Wohnung. Es sah aus, als ob ich länger in Kuba bleiben würde. cz 1|07


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• Eines der Wahrzeichen von Havanna ist das Castillo del Morro am Eingang zur Bucht von • Nicole Metzler mit einer Freundin und deren Kind

Havanna. Die Burg wurde ab 1589 in mehreren Etappen gebaut und sollte die in Havanna liegenden spanischen Schiffe vor Piraten schützen.

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• Zu wenig Wohnraum für die Menschen ist eine grosse Herausforderung in Kuba. Die meisten jungen Paare heiraten oder ziehen zusammen und müssen dabei bei einem der (Gross-)Elternteile unterkommen. Erst letzten Dezember konnten Nicole und ihr Mann Gilberto Dominguez in das Haus eines Freundes umziehen, der für etwa zwei Jahre im Ausland arbeiten wird. Vorher lebten sie zwanzig Monate in einem kleinen Zimmer in der Wohnung von Gilbertos Mutter.

Nach einem Jahr war ich noch immer in Kuba. Das grenzte an ein Wunder. Bis heute kennen wir niemanden, der unter ähnlichen Umständen hier lebt und arbeitet. Die kubanische Regierung verlängerte laufend meine Aufenthaltserlaubnis, bis hin zu einer temporären Residenz mit entsprechender religiöser Arbeitsbewilligung.

Kuba Nach vier Jahren vor Ort bin ich nach wie vor in einer Pioniersituation. Beim Spagatmachen habe ich mittlerweile Übung: Nicht mehr die Spannung zwischen Stadt und Land, Missionswerk und Landeskirche sind die Herausforderungen, sondern die Unterschiede zwischen der Schweiz und Südamerika. Was als kommunistisches Projekt der UdSSR aussah, hat die russische Revolution überdauert. Kuba steht seit 47 Jahren im Kampf um seine wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit. Kleinigkeiten, die in der Schweiz einfach umzusetzen sind, gebärden sich hier als kompliziertes Unterfangen. Zum Beispiel eine eigene Wohnung. Mein kubanischer Ehemann und ich haben weder ein eigenes Büro noch eine eigene Wohnung oder ein Haus! Andere Dinge hingegen 44

funktionieren ganz selbstverständlich: Die Kinder gehen zur Schule und müssen nicht wie in anderen Ländern auf den Strassen Süssigkeiten verkaufen oder für ein paar Centavos kleine Kunststückchen vor roten Ampeln vorführen! Aber sie ist noch allgegenwärtig: die kubanische Revolution. Irgendwie gewöhnt man sich an die Aufrufe der Politiker, und wenn es in der halben Stadt keine Eier gibt, esse auch ich keine. Wenn auf dem Schwarzmarkt Pouletbeine verkauft werden, greife auch ich zu. Apropos zugreifen: Als mir ein junger, phlegmatischer Kubaner eine Liebeserklärung und einen Heiratsantrag machte, stiegen alte Ängste hoch. Ohne es richtig zu merken, wurde ich einmal mehr aus meinem Schlupfwinkel hervorgelockt - und ich sagte nach gut zwölf Monaten Bedenkzeit Ja.

Nicht immer ist es einfach «Back einfach jeden Tag deine kleinen Brötchen. Vielleicht macht Gott eines Tages einen Zopf daraus!», munterte mich Hanspeter Nüesch während eines Telefonanrufes etwas auf. Ich war über das Leben in Kuba, die Arbeit und mich selber ziemlich frustriert. Er wusste nicht, dass diese

Metapher meine Einstellung zum Leben verändert hat! Verantwortung übernehmen, Herausforderungen anpacken, Ordnung in ein Durcheinander bringen, Dinge verbessern und Menschen zusehen, wie sie mit Gott neuen Lebensmut bekommen. Das liebe ich, aber war ich auch bereit, das Resultat Gott zu überlassen? Das Leben in Kuba hat seine Schattenseiten. Während viele Kubaner von einem anderen Leben, fern von der Insel, träumen, reise ich durch das Land und besuche die von Agape international unterstützten Pastoren. Zwar ist es ein Vorrecht, diese Männer und Frauen kennenzulernen, mit ihnen Glauben und Leben zu teilen, sie zu ermutigen, mit ihnen zu beten. «Dass ihr bis hierher kommt!», hören wir oft von ihnen. Manchmal schütten sie uns ihr Herz aus. Gleichzeitig sehen wir, wie sich die finanzielle Hilfe aus der Schweiz durch sie zigfach in anderen Menschen multipliziert. Mit oder ohne tropfendes Dach, die Arbeit wird mit Herz getan! Ich erinnere mich, wie der Pastor der Gehörlosen uns mitteilte, dass die Workshops eine neue, lang ersehnte Etappe in ihrem Dienst markiert hätten. Mir kommt die Gewissheit, und ich höre eine andere Stimme: «Ich glaube, es lohnt sich, hier zu sein!» cz 1|07


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AGAPE INTERNATIONAL KUBA

• Pastoren in Kuba

Agape international in Kuba

Bilder unten: Der Betrag von Agape international deckt etwa die Hälfte der Lebens-

Seit 1991 haben die christlichen Gemeinden in Kuba ein explosionsartiges Wachstum zu verzeichnen. Durch die anspruchsvolle innen- und aussenpolitische sowie wirtschaftliche Lage stehen die Christen Kubas vor der grossen Herausforderung, ihren Glauben persönlich wie auch in der Gesellschaft transparent und echt zu leben.

kosten der Pastoren. Die meisten sind verheiratet, haben Kinder, leben in äusserst bescheidenen Verhältnissen und arbeiten unter schwierigen Bedingungen.

Agape international steht im Dienste der kubanischen Kirchen. Alle Projekte haben zum Ziel, die Akzeptanz der kubanischen Christen und den Auftrag der christlichen Gemeinden zu stärken und zu fördern. Wir versuchen dabei, die Bedürfnisse der Bevölkerung inner- wie ausserhalb der Kirchenmauern wahrzunehmen und körperliche, seelische und geistliche Nöte zu lindern. Als einzige vom Staat geduldete christliche Organisation im Land geniesst Agape international das Vertrauen verschiedener Kirchenvertreter und politischer Autoritäten. Das ist die von uns gewählte Voraussetzung, um dem Land und seinen Menschen langfristig Visionen und Hoffnung zu vermitteln. Fünfhundert einheimische Pastoren und Missionare aus zurzeit gut zwanzig Denominationen erhalten Hilfe durch Partnerschaft, Weiterbildung und einen finanziellen Zuschuss an ihren persönlichen Unterhalt. Der monatliche Betrag von zurzeit 25 Franken pro Pastor entspricht etwa der Hälfte der Lebenskosten. Die Gemeinden werden für die Herstellung unterschiedlicher Print- oder Videomaterialien zur Evangelisation, Jünger- und Leiterschaft unterstützt. Bis zu zweitausend Kinder erhalten ein- bis viermal monatlich ein kräftiges Mittag- oder Abendessen. Neben dem leiblichen Wohl wird auch für geistliche Nahrung gesorgt. In der Sonntagsschule, bei kollektiven Geburtstagsfeiern oder während Ausflügen werden das Evangelium und christliche Grundwerte auf kreative Art vermittelt. Auf überkonfessioneller Ebene bieten wir Leiterschaftskurse für junge Menschen bis 35 an. Programme von New Life Network, das familienfreundliche TV-Programme vermittelt, werden für die 325 Kulturhäuser im Land zur Verfügung gestellt. Das Kulturministerium erlaubte damit eine qualitativ hochstehende Materialergänzung – christliche Wertevermittlung inbegriffen! Bei all diesen Aktivitäten werden Wertevorstellungen geprägt, Gaben und Fähigkeiten entdeckt, Träume und Wünsche wahrgenommen und formuliert sowie auf ein Ziel hin gebündelt.

• Kinder Bild unten: 1500 Kinder bekommen täglich ein Frühstück oder ein- bis viermal pro Woche ein kräftiges Mittag- bzw. Abendessen.

Weitere Informationen unter www.agape.ch

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Ganzheitliche Hilfe … … für ein Land im Kampf um seine Eigenständigkeit

• Die Gabe, mit Vorstellungskraft und Kreativität aus Altem wieder Brauchbares zu machen, hat in Kuba uralte Autos aus den Fünfzigerjahren weiterleben lassen.

Gilberto Domínguez Sosa Übersetzt von Nicole Metzler Domínguez Es ist November, die Tage sind etwas kühler geworden, und die Leute holen Pullis oder Windjacken aus Schränken und Koffern hervor. Vielen gefällt diese Jahreszeit. Sie fühlen sich viel besser als in den kräfteraubenden, heissen Sommermonaten. Im Sommer brennt die Sonne unbarmherzig. Die hohe Luftfeuchtigkeit lässt einen die Hitze noch intensiver spüren. Der kubanische «Winter» hingegen scheint die Gemüter zu beruhigen. Beim Schlangestehen vor den Bodegas (Läden, in denen Kubanerinnen und Kubaner ihre Rationen Reis, Bohnen, Kaffee und Zigaretten kaufen können), wo normalerweise alle möglichen Gesprächsthemen durchgenommen werden, will niemand länger als nötig verweilen. Nachts hören die spontan angerissenen Tanz- und Trinkpartys früher auf als üblich. Die meisten

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kubanischen Menschen sind am liebsten in der eher windgeschützten Wohnung und – falls es ihn zu kaufen gibt – schlürfen die tägliche Tasse heissen Kakao, den der Comandante so rühmt.

Kuba uralte Autos aus den Fünfzigerjahren weiterleben lassen. Für ausländische Menschen sind sie schön und romantisch, für uns jedoch bleiben sie alte, aber notwendige Fahrzeuge.

Kreativität besiegt Pessimismus Egal ob Sommer oder Winter, wir bemühen uns, dem wenigen, auch wenn es alt ist, Sorge zu tragen. Was man noch brauchen kann, wird kreativ umgebaut, repariert, angepasst und abermals benutzt. Wenn bei einem alten Auto, Jahrgang 1953, ein Teil kaputt geht, haben wir Kubaner zwei Möglichkeiten: Wir lassen das Gefährt stehen oder vertrauen es der Kreativität eines guten Mechanikers an. Wenn das gesuchte Stück nicht aufzutreiben ist, sucht man sich eines von einem anderen Modell und feilt daran herum, bis es passt. Die Gabe, mit Vorstellungskraft und Kreativität aus Altem wieder Brauchbares zu machen, hat in

In wessen Händen ist Kuba? In der vergangenen Woche feierten wir mit Gästen aus der ganzen Welt den achtzigsten Geburtstag des Comandante Fidel Castro und das fünfzigjährige Jubiläum der Landung der Revolutionäre in Santiago de Cuba. Die Bevölkerung hoffte, den Comandante zu sehen. Doch leider vergebens. Wir interessieren uns für seinen Gesundheitszustand, sind besorgt. Aber wir wissen nichts Konkretes. Ausser, dass sich früher gemachte Prognosen nicht erfüllt haben. Fidel wird geachtet. Er hat zahlreiche auf der Weltbühne ausgetragene

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• Die Kubaner haben neben den alltäglichen Problemen und zu wenig Wohnraum noch eine weitere Herausforderung zu bewältigen: das Transportwesen.

Situationen nicht nur überlebt, sondern ist seinen Idealen treu geblieben. Nach dem Fall der ehemaligen Sowjetunion argwöhnten viele, dass dies das Ende der kubanischen Revolution sei. Doch sie währt fort. Auch heute gibt es Leute, die überzeugt sind, dass sich die Revolution nach dem Tod des Comandante einfach so nach 47 Jahren in Luft auflösen wird. Wir kennen aber mindestens so viele Menschen, die erwarten, dass alles mehr oder weniger seinen gewohnten Lauf nehmen wird. Natürlich in der Hoffnung, dass das US-Embargo endlich ein Ende hat. Wir sind es gewohnt, zu hoffen, dass der morgige Tag Besseres bringt.

• Jesus für Kuba

• Etwa 60 Prozent der benötigten Grundnahrungsmittel werden vom Staat subventioniert. Was

Warum also den Blick auf das von Menschen Gemachte richten? Kuba liegt nicht in Fidels Händen. Noch weniger in jenen, die die aktuelle Situation für ihre eigenen Zwecke missbrauchen wollen. Kuba gehört Jesus Christus!

die übrigen 40 Prozent betrifft, ist es für viele Mütter schwierig, ihre Kinder ausgewogen und vitaminreich zu ernähren. Oft ist der allseits beliebte Zucker der einzige Ersatz.

• Autowäsche im Fluss

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Unser Auftrag Vor wenigen Wochen besuchten meine Frau Nicole und ich die Mitgliederversammlung der Denomination «Iglesia de Dios en Cuba». Agape international unterstützt 25 ihrer Pastoren und Missionare. Als man uns die Gelegenheit gab, die Arbeit von Agape vorzustellen, benutzte ich das Bild aus 1. Samuel 16, wo David zum König gesalbt wird. Hier sehe ich unseren Auftrag: Das Gute, das bereits

existiert, weiter fördern und die Mission der Kirchen in Kuba unterstützen. Das ist unsere Berufung. Als kleines Werk können wir uns nicht mit grossen Hilfsorganisationen vergleichen. So wie bei David dürfen wir uns nicht auf das Grosse, das Hohe und das Schöne, das sein könnte, konzentrieren. Wir möchten Herzen bewegen, indem wir die Menschen in Kuba in ihren täglichen Kämpfen begleiten und ihnen dienen. Ich bin überzeugt,

dass wir vor Gott gross sind. Nicht wegen des materiellen Überflusses, den wir ja gar nicht haben, sondern wegen des Reichtums an Liebe und Hingabe und wegen der Verpflichtung für diejenigen, die unter schwierigen Umständen das Evangelium predigen. Das Wissen, dass Schweizer Christen für einen Teil ihres Lebensunterhaltes aufkommen, erfüllt die Pastoren mit Dankbarkeit. Wir möchten diesen Menschen dienen.

• Viele jungen Menschen arbeiten begeistert in der wachsenden Kirche mit. In der Leiterschaftsschulung werden Jung und Alt notwendige Werte und Prinzipien für eine charakterstarke Leiterschaft vermittelt: 20 Prozent traditionell «ex cathedra» und 80 Prozent in Gruppenarbeiten sowie mit Gesellschaftsspielen.

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Meine Geschichte Sie fragen sich, wie ich dazu komme, das zu sagen? Eines Dienstagabends während des Gebetsgottesdienstes hiess mein Pastor eine «Schwester Nicole» willkommen. Es war noch nicht klar, unter welchen Umständen und für wie lange sie im Land bleiben würde. So sagte er einfach, dass sie für etwa drei Monate in Kuba sein und Spanisch studieren werde. Alle waren ganz Ohr und freuten sich, eine Hermanita suiza (eine kleine Schwester aus der Schweiz) in der Gemeinde zu haben. Ich war gerade als Ujier (Platzanweiser) im Dienst und war es gewohnt, dass immer wieder Ausländerinnen und Ausländer zu Besuch kamen. Ich war nicht darauf gefasst, was in meinem Innern aufbrach. Denn als ich sie so auf der Plattform stehen sah, hörte ich eine einfache und klare Stimme, die sagte: «Gilberto, sie ist es, die ich für dich als Frau möchte.» Äusserlich blieb ich ruhig. Ich stand auf meinem Posten, aufmerksam, gelassen und zufrieden. Doch innerlich war ich daran, mit mir selbst einen Strauss auszufechten: «Potztausend, wer erlaubt es sich, mir solches zu sagen?!» Ich begann den Widersacher, mein Fleisch und was weiss ich noch wegzuweisen. «Eine Ausländerin! Nie und nimmer, mir gefallen die Kubanerinnen!» Der Gedanke war Produkt meiner Fantasie, ein schlechter Scherz meines Unterbewusstseins. Zu guter Letzt strich ich zwar die Segel und räumte widerwillig ein: «Also, wenn sie wirklich meine zukünftige Frau sein soll, dann soll sie auf mich zukommen. Ich werde nichts Entsprechendes unternehmen!»

in den Saal zu bringen und die Stühle aufzustapeln. Plötzlich hörte ich den damaligen Jugendpräsidenten der Kirche nach mir rufen. «Oh weh!», sagte ich mir, während ich mich zu ihm gesellte, «la Hermanita suiza steht neben ihm!» Der Präsident stellte mir Nicole vor und sagte, dass sie einen Hauskreis in ihrer Nähe suche. Der Hauskreis, den ich dazumal leitete, schien offensichtlich der nächstgelegene zu sein. So gab ich ihr die nötigen Angaben. Während des Gottesdienstes und auf dem Heimweg kamen abermals die Worte: «Erinnere dich, was ich dir an jenem Dienstag gesagt habe!» Ich sagte mir, dass ich mich wohl erinnerte, doch dass sie Ausländerin sei. Sie bleibt drei Monate und wird danach wieder in ihre Heimat reisen. Ich wollte mich nicht quälen. Am nächsten Montag kam Nicole, und ich stellte sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor. Immer, wenn sie in der Stadt war, besuchte sie unseren Hauskreis. Mann, was sie für Fragen stellte! Als wir jeweils fertig waren, nötigten mich die drei ältesten Damen vom Hauskreis, die kleine Schwester nach Hause zu begleiten. Eigentlich wollte ich so

wenig Zeit wie möglich mit ihr verbringen, und auch sie schien nicht daran interessiert zu sein, nach Hause eskortiert zu werden. Doch die Abuelitas (Grossmütterchen) gaben keine Ruhe. Sie können sich vorstellen, wie die Geschichte ausging? Ja, wir tauschten Meinungen aus, stritten, wurden Freude. Im Herbst 2004 haben wir geheiratet. Ich war weder auf ihren Pass aus noch auf ihr Geld noch auf sonst etwas. Ich bin überzeugt, dass der Herr uns zusammengebracht hat. Viele Kubaner würden ihre Hand – oder noch mehr – dafür geben, ins Ausland gehen zu können. Ich wollte das nie. Wer hätte das gedacht, dass ausgerechnet ich eines Tages ausländische Schwiegereltern haben würde? Wer hätte gedacht, dass ich mit dreissig Jahren zum ersten Mal fliegen würde? In vieler Hinsicht bin ich heute meinen Nachbarn und Freunden gegenüber privilegiert. Das ist offensichtlich. Doch ich bin und bleibe Kubaner und teile das Leben mit ihnen, in guten, wie in schlechten Zeiten. Im Wissen, dass alles von dem kommt, der mir einmal gesagt hat: «Erinnere dich an das, was ich gesagt habe. Erinnere dich an mein Wort.»

Der Gottesdienst ging vorüber, alle gingen nach Hause und der Tag war zu Ende. Nach ein paar Wochen sah ich sie am Sonntagnachmittag wieder in der Kirche. Ich musste immer mal wieder hinüberblicken und gucken, was sie so tat. Nach dem Gottesdienst begann ich, Ordnung cz 1|07

• Nach dem zweijährigen Militärdienst studierte Gilberto Domínguez Sosa ElektroingenieurWissenschaften und arbeitete während fünf Jahren in den Elektrizitätswerken der Stadt Havanna. Seit November 2006 ist er vollzeitlicher Mitarbeiter von Agape international.

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Das Kino zurückerobern Die Sehnsucht von Narnia wecken Vor gut einem Jahr kam die Neuverfilmung von «Der König von Narnia» in die Kinos. Damit trat auch Douglas Gresham, der Stiefsohn und Nachlassverwalter von C. S. Lewis, als Co-Produzent des Films ins Rampenlicht. Campus pour Christ in Lausanne lud ihn im Oktober 2006 zu einer Veranstaltung an die ETH Lausanne ein. Der Mann mit dem grossen Kreuz um den Hals verblüffte.

Tom Sommer Christliches Zeugnis: In einem TVInterview haben Sie erklärt, Ihr früheres Lebensmotto sei gewesen: berühmt werden, viel Geld verdienen und ein gutes Image haben. Weshalb hat sich ihr Leben geändert? Douglas Gresham: Mit meiner Fernseharbeit war ich ziemlich erfolgreich, aber tief in mir spürte ich eine Unruhe. Was mir meine Mutter in der Kindheit vom christlichen Glauben erzählt hatte, vermochte mich nicht zu faszinieren. C. S. Lewis‘ Narnia-Geschichten hingegen hatten für mich schon immer eine magische Anziehungskraft gehabt. Damals ahnte ich noch nicht, dass kurze Zeit später der berühmte Autor und Professor mein Stiefvater werden sollte. Es brauchte allerdings noch Jahre, bis ich die wertvollen Eindrücke dieser zehn Jahre im Haus von C. S. Lewis wirklich umsetzen konnte. Mein späteres Leben war geprägt von Stolz, Arroganz und immer wiederkehrenden Phasen tiefer Depression. Ich glaubte zwar an Gott und auch an Jesus, aber ich wollte mich nicht seiner Autorität unterordnen. Erst viel später, nach50

dem meine Frau mit dem christlichen Glauben ernst gemacht hatte, wurde auch ich selbst richtiggehend überführt. Wir fingen dann an, unseren Glauben anhand der Erzählungen von C. S. Lewis für andere Menschen zu veranschaulichen. Inwieweit ist C. S. Lewis für Sie und Ihre Arbeit ein Vorbild? C. S. Lewis war ein aussergewöhnlicher Mensch. In einer neuen Biografie1 über ihn habe ich das beschrieben. Er war viel mehr als der geniale Denker und Gelehrte. Er war ein Mensch, der sich Zeit nahm und Mitgefühl, Wärme und Fürsorge ausstrahlte - in unserem Haus wurde sehr viel erzählt und gelacht. Das alles ist umso erstaunlicher, als er die Grausamkeit des Ersten Weltkrieges erlebt hatte. Später formulierte er, dass man Gott erlauben solle, auch aus dem Dunkelsten und Schlimmsten etwas Gutes zu machen. Seine ausserordentliche Denkund Merkfähigkeit, auch geschärft im Austausch mit anderen Literaten wie zum Beispiel J. R. R. Tolkien, dem Autor von «Der Herr der Ringe», liess ihn schliesslich seine atheistische Grundhaltung überwinden. So akzeptierte er, dass

es einen Gott gibt, der dem Menschen persönlich begegnen und ihm etwas geben will. Er verstand es meisterhaft, die Botschaft der Bibel, die durch die Kirche und ihre Traditionen verkompliziert und religiös vernebelt worden war, logisch durchdacht zu formulieren und in Einfachheit und Klarheit herauszuschälen. Das ist die Bedeutung von C. S. Lewis für das Evangelium heute. Was bedeuten Ihnen die Geschichten von Narnia? Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, den Löwen Aslan und seine Geschichte eines Tages auf der Leinwand zu sehen. 1988 brachte BBC vier NarniaTitel heraus, aber ich empfand immer, dass die Bilder den herrlichen NarniaLandschaften, wie sie im Buch beschrieben sind, nicht gerecht würden. Mit einer neuen Filmproduktion wollten wir dem für eine weltweite Verbreitung Rechnung tragen. Es war immer mein Anliegen, so nah wie möglich an der Buchvorlage zu sein. So wurde und werde ich auch immer wieder gefragt, ob C. S. Lewis mit diesen Geschichten die biblische Wahrheit habe beschreiben cz 1|07


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kunst | das kino zurückerobern

wollen. – Nein, das war ursprünglich nicht seine Absicht gewesen. Aber beim Schreiben merkte er, dass sich sein Gottesverständnis darin niederschlug. Gleichermassen wollten auch wir nicht einen Film produzieren, um das Evangelium zu predigen. Es ging einfach um eine filmisch glaubwürdige Umsetzung des Buches. Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer erkennen das biblische Weltbild im Film, aber ich schlage vor, sich auch ganz persönlich zu fragen, in welcher Rolle man sich selbst in dieser Narnia-Geschichte wiederfindet. Wie würde man selber handeln? Wer könnte ein Vorbild sein? Was will der Film vermitteln? Grundsätzlich geht es in dieser märchenhaften Darstellung um das Geheimnis, welchem auch C. S. Lewis selbst auf der Spur war, dass es nämlich eine «Welt hinter der Welt» gibt, die entdeckt werden will. Zudem werden grundlegende moralisch-ethische Standards des menschlichen Zusammenlebens präsentiert, die heute oft verloren zu gehen scheinen. Es geht um Aspekte wie Mut, Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, Hingabe, Wertschätzung, Hoffnung – Werte, die vorgelebt und demonstriert werden müssen. Welch breiten Raum nehmen heute Filme ein, die die Niederträchtigkeit und Korruption des Menschen darstellen! Was aber nottut ist zu zeigen, was aufbauend ist und wie Menschen gut zusammenleben können. Wir müssen wieder neu ler-

• Der berühmte Schrank im Film «Der König von Narnia»: Wie neugierig sind wir, die «Welt hinter der Welt» kennenzulernen?

nen, das in einer guten Art und Weise in Filmen darzustellen. Nehmen wir das Beispiel Familie: Wir sollten herausschälen, welche Vorteile es hat, wenn die Gesellschaft nach ethischen Standards lebt und nicht dauernd kurzfristige Verlockungen zelebriert. Aber ich frage mich, ob die Leute das überhaupt sehen wollen. Letztlich ginge es ja darum, die Zuschauerinnen und Zuschauer mit eigenen Fehlentscheidungen zu konfrontieren. Wer will wirklich die Wahrheit über seine Lebensgrundlagen hören? Es ist so viel leichter, sich über die Emotionen lenken zu lassen, statt ehrlich nachzudenken und Konsequenzen zu ziehen. Welche Chance haben christliche Kulturschaffende? Zunächst ist es wichtig, dass man die Zuschauenden nicht dazu drängt, genau so und genau das zu glauben, was einem selbst wichtig ist. Zudem braucht es ein spannendes Drehbuch, das die moralisch-ethischen Werte beinhaltet – gut sichtbar und selbstredend. Meine Erfahrung ist, dass hingegebene Christen tat-

sächlich gute TV-Programme produzieren, die sowohl lehrreich und praktisch als auch spannend und unterhaltsam sind. Da müssen wir ganz einfach auf den Heiligen Geist vertrauen. Es ist seine Aufgabe, das alles für die Zuschauerinnen und Zuschauer zu übersetzen. Wenn wir ihn missachten, stehen wir in Gefahr, uns selbst und das Projekt als zu bedeutsam zu erachten. Ja, es ist möglich, sich von Glanz und Gloria blenden zu lassen und die Botschaft dahinter zu vernachlässigen. Behalten wir also unseren Grundauftrag im Auge, wie es Jesus getan hat! Zusammen mit einem spannenden Script und einem Produktionspartner, dem wir vertrauen, können wir biblisch-christliche Wertvorstellungen auf die Bildschirme und Leinwände bringen. Wie die Kinder der Narnia-Chroniken den Frieden und die Freiheit zu schützen suchen, wird in «Prinz Kaspian von Narnia» erzählt. Die Verfilmung soll 2008 in die Kinos kommen. Gresham, D.: Jack‘s Life. Nashville: Broadman & Holman Publishers 2005. 1

Weitere Infos Links zu Narnia: www.narnia-chroniken.de www.narniaweb.com www.narnia-welt.ch

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• Douglas Gresham im Oktober 2006 an der ETH in Lausanne

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Gottkennen.com – Gott finden im Internet Privater Internetzugang in der Schweiz: Drei Viertel der Bevölkerung sind online «Dieser Liebesbrief von Gott auf Ihrer Site – einfach genial! Mir sind die Tränen gekommen. Ich hab in diesem Moment verstanden, dass Gott mich total liebt. Das geht über meinen Verstand. Danke.» «Ich habe eine Scheidung hinter mir und deshalb auch schon einen Selbstmordversuch begangen. Ich leide sehr unter dieser Trennung von Frau und Kindern. Ich bete viel, aber vielleicht bin ich doch kein guter Mensch. Schon wieder Weihnachten, und ich bin zum zweiten Mal allein. Ich habe manchmal mehr Angst vor dem Leben als vor dem Tod.» Zwei Reaktionen auf Gottkennen.com, der neuen evangelistischen Internetseite von Campus für Christus. Sie stehen

stellvertretend für die vielen Menschen, die um Hilfe rufen mit ihren Fragen, Problemen und Ängsten. Im Internet suchen sie nach Hilfe oder Antworten. Jeden Tag landen Hunderte von Menschen auf Gottkennen.com. Das Evangelium wird in fünf kurzen Schritten erklärt, und die Besucherinnen und Besucher werden schliesslich zu einer persönlichen Entscheidung für Jesus herausgefordert.

Facts nach einem Jahr Gottkennen.com: • 145 000 Personen haben diese Internetseite besucht. • 1564 haben ihre Kontaktangaben mitgeteilt und bekräftigt, das Über-

gabegebet gesprochen zu haben. • 176 Besucherinnen und Besucher stellten uns ihre Fragen. Nach dem ersten Schritt im geistlichen Leben des Besuchers, der Besucherin braucht es eine Begleitung und Vertiefung. Gemeinsam mit Kirchen bzw. Gemeinden wollen wir Angebote schaffen, damit Menschen in ihrer neu gefundenen Beziehung mit Gott weiterwachsen können. Ein sogenannter «E-Coach» (Christ aus der Umgebung des Besuchers, der Besucherin) ist dabei eine wichtige Vermittlungsperson.

Weitere Informationen unter 044 274 84 84 (www.gottkennen.com)

familylife.ch – Eine Vision für Ehe und Familie Neue Schulungsangebote - erfrischend, romantisch, praktisch «Das Wochenende war die Rettung für unsere Ehe. Die Liebe zu meinem Mann konnte neu entflammt werden. Zuerst war ich skeptisch, ob ich überhaupt noch hoffen sollte. Aber ich war überwältigt von dem, was in unserer Ehe aufbrach. Wir konnten uns Vergebung zusprechen.» «Das Schönste war für mich, dass mein Ehepartner sein Herz geöffnet und Jesus eingeladen hat.» «Uns wurde Mut gemacht, das Wagnis der Ehe einzugehen. Eine glückliche Ehe zu führen ist heute noch möglich. Danke euch als Team für eure Offenheit.» Rückmeldungen auf FamilyLife-Angebote bestätigen es: Ehen sind einem wachsenden Druck ausgesetzt. Aber umso mehr 52

fangen Menschen an, bewusst in die Beziehung zu investieren, die ein Leben lang halten soll. Das gilt für Christen und Nichtchristen. FamilyLife will mit erfrischenden und gleichzeitig romantischen Kursen Paare vor und in der Ehe sowie ganze Familien stärken. Auch für besonders herausfordernde Phasen einer Beziehung bietet das breite Schulungsangebot eine handfeste Hilfe. Geht es doch darum, Zeiten der Ernüchterung als Chance zu sehen und sich zum Beispiel von alten Mustern zu lösen. Gott selber gibt die Kraft zur Veränderung.

Facts nach zwei Jahren FamilyLife: • Ehe mit Vision: 6 Konferenzen, 350 Paare, viele Paare erneuern ihren Ehebund, einzelne Partnerinnen und Partner tre-

ten neu in eine Gottesbeziehung ein. • Paar mit Vision: Start mit einer Konferenz 2006, 40 Paare. • Prepare-Enrich-Lizenzseminare: ca. 70 Beratende weitergebildet. • Ehe-Kurse: 50 Kurse in einem Jahr. • 2 DVD-Produktionen: «Der Ehe-Kurs», «Der Ehe-Vorbereitungskurs» Unser Aufruf an Männer und Frauen: Eure Beziehung braucht ständige Investition! Viele Paare haben mindestens 250 Stunden für die Planung ihres Hochzeitsfestes eingesetzt. Noch zu wenige treiben einen ähnlichen Aufwand, um glücklich verheiratet zu bleiben.

Weitere Informationen unter 044 274 84 65 (www.familylife.ch) cz 1|07


A T I O N A L cfc schweiz

Erfolgreich studieren

Mit Lern- und Arbeitstechniken Hilfe fürs Studium anbieten «Ich hatte echt das Gefühl, dass ihr ehrlich und voll und ganz daran interessiert seid, den Studierenden das Leben zu erleichtern. Danke, danke, danke!» «Die zwei Tage waren so ganzheitlich, breit gestaltet. Sehr lebensnah. Sehr unterstützend und motivierend.» «Überhaupt war ich sehr positiv überrascht, dass dieses Seminar so humorund liebevoll gestaltet wurde.» So wie Jesus den ganzen Menschen ernst nimmt und ihn bei seinen Bedürfnissen abholt, soll den Studierenden mit diesem Seminar einerseits Hilfe fürs Studium und andererseits Hoffnung fürs Leben vermittelt werden.

Die Idee, Studierenden durch Vermitteln von Arbeitsstrategien und Lernmethoden zu helfen, stammt von Steve Douglas, seit 2003 Gesamtleiter von Campus für Christus. In Zusammenarbeit mit dem damaligen Team – Daniel und Ursula Schönenberger, Werner Kübler, Martin und Cornelia Imhof, Andreas und Heidrun Werder – entwickelten Urs und Heidi Wolf ab 1991 ein zweitägiges Seminar, das seither in der Schweiz von über 7000 Teilnehmenden besucht wurde. Entsprechende Seminare sind bereits in Deutschland, Holland, Dänemark, Spanien, Nepal, Indien, Bolivien, Kamerun, Lettland und der Mongolei durchgeführt worden.

Mit ein bis zwei Multiplikationsseminaren pro Jahr will Urs Wolf in weiteren Ländern Mitarbeitende von Campus für Christus sowie Professorinnen und Professoren der jeweiligen Universitäten schulen, damit sie das Seminar selber durchführen können. Unterdessen sind weitere bedürfnisorientierte Seminare entstanden: «Emotionale Intelligenz» sowie «Erfolgreich Beziehungen aufbauen», die am 14. und 15. April 2007 durchgeführt werden und auch für Nichtstudierende offen sind.

Weitere Informationen unter 044 942 03 26 (www.campuslive.ch)

Der Mammon baut Tempel und Kathedralen Earl Pitts zum siebten Mal in der Schweiz «Mammon ist der direkte Gegenspieler Gottes. Er baut Tempel (Einkaufszentren) und Kathedralen (Casinos), wo ihn die Menschen mit ihrem Geld anbeten und ihm ihre Opfer bringen.» « Im Kurs war ich überrascht, wie viel die Bibel über Finanzen zu sagen hat.» «Heute kann ich bezeugen, dass die biblischen Finanzprinzipien in die Freiheit führen. Ich ermutige jeden, diese anzuwenden.» Wieso leben so viele Menschen bezüglich ihrer Finanzen in Unfreiheit? Weshalb reicht das Geld nicht, warum haben sie Schulden? Earl Pitts, Bibellehrer, Evangelist und Leiter von Jugend mit einer Mission in Kanada, wies vergangecz 1|07

nen November einmal mehr auf die Bibel und ihre Lösungen im Umgang mit Geld und Besitz hin. Mammon, der Fürst über Besitz und Finanzen nach weltlichen Prinzipien, führe in die Unfreiheit, mache süchtig und abhängig (Kaufrausch, Schulden, Masslosigkeit usw.). Wir müssten erkennen, was Gebundenheiten im Leben eines Menschen bewirkten. «Und warum haben bekehrte Menschen mit Finanzen weiterhin Probleme?» Es genüge eben nicht, dem Unkraut den Kopf abzuschlagen, sondern wir müssten es wirklich mit der Wurzel ausreissen, samt Gebundenheiten und Anrechten aus früheren Generationen! Geld ist kein Tabuthema mehr. Erwin Richter, Organisator und Leiter der

Earl-Pitts-Tour, berichtet von eindrücklichen Zeugnissen von Menschen, die Befreiung erlebt haben, aber auch von vielen Fragen, wie man das Leben nachhaltig verändern könne. Noch nie waren die Seminare und Gottesdienste so gut besucht und das Interesse so gross. Noch nie haben sich so viele Menschen für den Crown-Kleingruppenkurs angemeldet. Das neue Buch von Howard Dayton «Finanzielle Freiheit erleben – Was die Bibel zum Thema Geld sagt» (Campus für Christus, CHF 18.50) gibt mehr Auskunft über den Kursinhalt.

Weitere Informationen unter 044 274 84 35 (www.historyshandful.ch) 53


C F C- I N T E R Campus für Christus Mongolei Jesus erobert das Herz eines verlorenen Volkes • Links: Ulaanbaatar; In den rasant ge wachsenen Städten gibt es längst nicht genügend Wohnungen. Rund sechzig Prozent aller Mongolen leben in den traditionellen Jurten. • Rechts: Buddhistischer Tempel

Rahel Hesse In Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei, wo vor gut siebzig Jahren erst einige Jurten und kleine Holzhäuser standen, erheben sich nun Plattenbauten, und Autos quälen sich durch die verstopften Strassen. Die Schaf- und Ziegenherden, vor zehn Jahren noch Teil des Stadtbildes, sind verschwunden. Das Land hat eine bewegte Zeit hinter sich. Nach über fünfzig Jahren kommunistischer Herrschaft nimmt die Mongolei 1990 in einer stillen Revolution eine demokratischere Regierungsform an. Trotzdem wirft der doch rasche Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus das Land wirtschaftlich noch ganz aus der Bahn. Lebensmittel und Arbeitsplätze werden knapp, viele Mongolen kämpften und kämpfen ums Überleben. Doch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus kommt auch die Religion zurück. Der Buddhismus, die Hauptreligion der Mongolei, bricht wieder auf, aber auch der christliche Glaube bringt Perspektiven und Hoffnung ins geistliche Vakuum. 1992 wird die Religionsfreiheit gesetzlich verankert. Im

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gleichen Jahr beginnt Warren Willis, Amerikaner und bis zum Jahr 2000 Nationalleiter von Campus für Christus Mongolei (CCCM), den Jesus-Film zu zeigen. Die Menschen sind offen, und viele kommen zum Glauben. «Es war Gottes Kairos für die Mongolei. Die Mongolen suchten nach Wahrheit und glaubten an den Gott des blauen Himmels – sie wussten nur nicht, wer der Schöpfer war», meint Warren Willis. Die Zahl der Christen wächst von weniger als fünf Menschen auf rund 28 000 Personen an. Ab 1995 beginnen Andrew Douglass, ebenfalls ein amerikanischer Mitarbeiter, und Batdorj, ein junger Mongole, die Arbeit unter Studierenden. Sie wollen diese jungen Menschen für Jesus gewinnen, im Glauben festigen und zu dienenden Leitern ausbilden, die ihrerseits wieder andere zum Glauben führen. Aus diesen Anfängen gingen mongolische Leiter hervor, die neue Arbeitszweige gründeten. Heute arbeiten bei Campus für Christus Mongolei rund fünfzig Mitarbeitende, die sich in acht verschiedenen Arbeitszweigen engagieren und mit Teenagern, Lehrpersonen, Studie-

renden, Soldaten, Offizieren und medizinischem Personal arbeiten. Eine grosse Herausforderung bleibt es, die Landbevölkerung mit dem Evangelium zu erreichen. Die Mongolei gilt als das dünnstbesiedelte Land der Welt. Etwa 38-mal grösser als die Schweiz, wohnen nur 2,8 Millionen Menschen in diesem von kargen Steppen geprägten Land. Die Nomaden leben weit verstreut und ziehen mit ihren Herden rund sechsmal jährlich auf neue Weiden um. Der Weg zur nächsten Kirche würde oft einen mehrstündigen Ritt bedeuten. Teams aus allen Arbeitszweigen von Campus für Christus fahren jedes Jahr hinaus, um den Jesus-Film in den Jurten zu zeigen. Mittlerweile haben schätzungsweise sechzig Prozent der mongolischen Bevölkerung den Film gesehen. Die Arbeit ist schwierig, das Christentum den Leuten fremd. Ihr Denken ist von Buddhismus, Schamanismus und im westlichen Teil des Landes vom Islam geprägt. Es braucht Zeit, bis sie die Bedeutung von Jesu Tod am Kreuz verstehen. «Wir sind noch immer am Anfang», erklärt Floyd Sebald, der im Jahr 2000 die Leitung von Campus für Christus Mongolei übernommen hat.

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N AT I O N A L cfc international

• Rahel Hesse, ehemalige Mitarbeiterin der Studierendenbewegung Campus für Christus Schweiz, verstärkt seit Sommer 2006 das mongolische Campus-Team an der Uni in Ulaanbaatar. Sie liebt dieses Land und lernt im Moment die Sprache und Kultur kennen.

Armen Kindern den Start ins Leben erleichtern In der Kupferminenstadt Erdenet, der drittgrössten Stadt in der Mongolei, arbeiten der russische Arzt Roman Korobow und seine Familie auf Gottes Erntefeld. Die Korobows sind von unserem Zentrum Agape in Nischni Nowgorod ausgesandte Missionare und leisten seit sieben Jahren eine eindrückliche Aufbauarbeit unter den ärmsten Einwohnerinnen und Einwohnern. Im Rahmen ihrer Gemeinde betreiben sie – unterstützt von Agape international – einen Kindergarten für minderbemittelte Kinder. Das Schulsystem in der Mongolei

verlangt, dass Kinder vor Schuleintritt das Alphabet kennen sowie lesen und rechnen können. Die Teilnahme am Kindergarten, wo die Kinder auf die Schule vorbereitet werden, kostet jedoch so viel, dass sich arme Familien das nicht leisten können. Und damit ist den Kindern der Schulbesuch und später die Aussicht auf eine Arbeitsstelle verbaut. Zurzeit besuchen nun 25 Kinder den Kindergarten, der von einer mongolischen Pädagogin geleitet wird. Sie unterrichtet die Kinder nach einem staatlich anerkannten Lehrplan und vermittelt ihnen christliche Werte. Durch diese Arbeit

kommen unsere Mitarbeitenden auch mit den Eltern in Kontakt. Viele besuchen nun den Gottesdienst und den gemeindeinternen Alphalive-Kurs; über zwanzig Männer und Frauen haben sich schon taufen lassen und befinden sich auf dem Weg des Glaubens.

Infos Roland Kurth hat einen eindrücklichen Zeugnisfilm über diese Arbeit gedreht. Den DVD «Bolro» (zehn Franken) sowie weitere Informationen über das Engagement von Agape international in der Mongolei können Sie gerne anfordern unter www.agape.ch oder info@agape.ch.

• Die Kinder spielen vor dem Jurte-Kindergarten. Das Gebäude im Hintergrund dient als Kirche, Essraum und Gemeindezentrum. In der Mitte «unser» Missionar Roman Korobow.

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PRAKTISCH relevant leben | einsatz auf der brücke …

Einsatz auf der Brücke der Verzweifelten Sie wachen Tag und Nacht auf der Pont Bessière in Lausanne Auf der Bessière-Brücke in Lausanne harren einige Freunde jeweils über die Festtage rund um die Uhr aus. Einsame und verzweifelte Menschen, die sich in die Tiefe stürzen wollen, finden bei ihnen ein offenes Ohr.

Manfred Kiener «Wir sind eine Gruppe von Freunden, die das Anliegen auf dem Herzen trägt, leidenden Menschen zu helfen», erzählt Stéphane, Campus-Mitarbeiter in Lausanne. «Von den Teammitgliedern nennen wir bewusst nur die Vornamen auch gegenüber den Hilfesuchenden. Das ist eine unserer wenigen Regeln. Wir wollen den Benutzern unseres Gesprächsangebots nichts verkaufen oder einreden. Wir nehmen uns einfach Zeit für sie und hören ihnen zu.» Seit mehreren Jahren wacht Stéphane selber ehrenamtlich auf der Bessière-Brücke. cz 1|07

«Esthi ist die Leiterin unseres Teams. Sie koordiniert die Aktionen», erzählt Stéphane. «Sie teilt die Teams in jeweils drei Achtstundenschichten für eine Präsenz rund um die Uhr ein. In jeder Gruppe sollte mindestens ein Mann und eine Frau vertreten sein.» Während der letzten Einsatzperiode über die Festtage weilte Stéphane drei Mal von Mitternacht bis morgens um 8 Uhr auf der Brücke der Verzweifelten. In warme Kleider und dicke Jacken gehüllt sitzen oder stehen die Freiwilligen zwischen zwei kleinen Holzhütten auf 59

dem Trottoir der Pont Bessière. Sie wärmen sich am offenen Holzfeuer. Autos fahren vorbei und Passanten erwidern den Gruss der Freunde. Vor 26 Jahren hat Joël Albert als erster in Lausanne begonnen, Menschen auf der Brücke zu helfen, die ihr Leben mit einem Sprung in den Abgrund beenden wollten. Joël ist zwar schon vor einiger Zeit verstorben, doch andere Freunde, Christen und Nichtchristen, junge und ältere Menschen, sind seinem Beispiel gefolgt und wachen seither jedes Jahr über die Festtage auf der Pont Bessière.


Wie relevant war Jesus? Was können wir von ihm lernen? Jesus wurde Mensch. Seine Zeugung verlief ungewöhnlich. Er kam in einem Stall zur Welt. Hirten und Astrologen aus dem Osten besuchten ihn zuerst. Nach der Geburt musste seine Familie fliehen. Bis zu seinem 30. Lebensjahr arbeitete Jesus als Schreiner. Jesus überwand soziale Schranken, wirkte multikulturell und verbindend. Seine Zeit widmete er Benachteiligten. Sie fühlten sich von Jesus verstanden, ernst genommen und geliebt. Er heilte Lahme, Blinde und Aussätzige und befreite andere von dämonischen Belastungen. Sie konnten wieder arbeiten und sich eingliedern, statt auf Almosen angewiesen zu sein. Zudem galten sie als von Gott wieder angenommen und nicht mehr als «unrein». Jesus verbrachte Zeit mit Frauen, die als minderwertig betrachtet wurden. Er setzte gesellschaftlich neue Massstäbe. Jesus lebte bescheiden und forderte seine Jünger auf, nur wenige Güter mitzunehmen. Jesus heilte sogar Menschen am Sabbat, ungeachtet möglicher Konflikte. Barmherzigkeit war ihm wichtiger als Regeln. Es heisst: «Er wurde innerlich bewegt.» Jesus evangelisierte und engagierte sich sozial. Jesus bezeichnete sich und seine Jünger als «Licht der Welt». Er motivierte sie, grosszügig und barmherzig zu sein. Jesus segnete alle Menschen und half ihnen: «Denn der Sohn des Menschen ist gekommen,

zu suchen und zu retten, was verloren ist.» Er lehrte, nicht über andere zu herrschen, sondern ihnen zu dienen: «Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen ...», und: «Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer. Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder», oder: «Der Sohn des Menschen ist gekommen ... ein Freund von Zöllnern und Sündern.» «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben ... und deinen Nächsten wie dich selbst», bringt Jesus das Gesetz auf den Punkt. Jesus redete mehr über Armut und Reichtum, Geldgier oder die Aufopferung für andere als über Vergebung, Gebet und Auferstehung. Er forderte seine Jünger auf, Almosen zu geben. Darunter ist weniger Geld zu verstehen als vielmehr barmherzige, aufopfernde, humanitäre Hilfe. Jesus berief seine Jünger zu einem Team, das einer Hilfsorganisation für andere glich. Die Gemeinde entstand nicht durch Absonderung von der Welt, sondern durch das gesellschaftliche Engagement von Jesus. Er wie auch die ersten Christen lebten relevant. Sie hatten «Gunst beim ganzen Volk». Auszug mit freundlicher Genehmigung aus der Diplomarbeit von Hertig, Tom: «Wie gesellschaftlich relevant sind unsere Freikirchen heute?» IGW Zürich 1999 (Download unter: www.igw.edu/new_web/ index.html?downloads_diplom-arbeiten_downloads.htm~haupt)

Bellevue, Zürich


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