Balkart

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Kosovo 2.0 MENSCHEN/politiK/GESELLSCHAFT/KUNST/KULTUR #6 HERBST/WINTER 2013

BALKART Wie werde ich ein BalkanK nstler? Eine Anleitung. Stimmen aus der szene Erneuerung der kunst < YU > — neu besucht der unabh ngige kunstraum CULTURESCAPES 2013 ANN HERUNG AN DIE REGION CHRISTOPH MERIAN VERLAG


Kosovo 2.0 / CULTURESCAPES balkart Chefredakteurin Besa Luci Fotoredakteur Atdhe Mulla Stellvertretende Fotoredakteurin Majlinda Hoxha Grafische Gestaltung Van Lennep, Amsterdam Lum Çeku, Prishtina Adaption für die deutsche Ausgabe Zgjim Elshani Cover Majlinda Hoxha Atdhe Mulla Leitender Herausgeber Michael S. McKenna Gastherausgeber Jurriaan Cooiman, CULTURESCAPES

Alban Muja Eriola Pira

Leitende Redakteure Joseph Madden Jesse B. Staniforth Ben Timberlake Redaktionsassistentinnen Hana Ahmeti Vesa Këpuska Lektorat/Korrektorat Nana Badenberg Petra Bischof Claus Donau Sara Winter Sayilir Alexa Tepen Maria Tranter

Autoren Cristina Marí Dardan Zhegrova Mitwirkende Jonathan Blackwood Amy Bryzgel Artrit Bytyçi Katherine Carl Haris Dedović Adela Demetja Charles Esche Nenad Georgievski Petja Grafenauer Chelsea Haines Nela Lazarević Shkëlzen Maliqi Rina Meta Bridget Nurre Žarka Radoja Lala Raščić Branimir Stojanović Danijel Šivinjski Goran Tomćić Ardian Vehbiu Jonah Westerman Claudia Zini

Milica Tomić Tzvetan Tzvetanov Drago Vejnović Srdjan Veljović Henriette Waal Nemanja Zdravković Nikola Zelmanović Nada Zgank Almin Zrno Illustrationen Driton Selmani Übersetzer Theresa Bachmann Zana Elshani Feodora Hamza Vesa Këpuska DAS Group, Prishtina Druckerei Gremper AG, Pratteln Buchbinder Grollimund AG, Reinach/BL

Fotografen Nova Art Academy Lucia Babina Thierry Bal Urška Boljkovac Petra Cvelbar Boris Cvetanjovic Peter Cox Dzenat Dreković Nina Durdević Ilgin Erarslan Blerta Kambo Gerhard Kassner Ivan Kuharić Andre Loyning Borut Petrlin Eliane Rutishauser Christian Schnurer Lorenz Seidler Andrew Testa

#6 BALKART herbst/WINTER 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage / 1000 Exemplare

Die vorliegende Publikation ist Heft Nr. 6 aus der Reihe ‹Kosovo 2.0›. Sie erscheint anlässlich des internationalen Festivals ‹CULTURESCAPES Balkan 2013› in der Schweiz.

ISBN 978-3-85616-626-7

Die Publikation spiegelt die Meinungsvielfalt in den beschriebenen Regionen wieder. Nicht alle im Buch enthaltenen Beiträge müssen sich deshalb mit den Ansichten der Redaktion, des Verlages und der Unterstützenden decken. Verantwortlich für ihre Texte zeichnen die Autorinnen und Autoren.

© 2013 Christoph Merian Verlag Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. www.merianverlag.ch CULTURESCAPES

Balkan 2013 19.10.–13.12.2013

www.culturescapes.ch

Die Ausgabe ist auch in Englisch, Albanisch und Serbisch erhältlich unter magazine@kosovotwopointzero.com

Briefe an die Redaktion bitte unter letters@kosovotwopointzero.com

Finanzielle Unterstützung


Brief der Redakteurin Besa luci

— Kunst war immer ein wichtiger Teil des Kosovo 2.0 Magazins. In allen Ausgaben haben wir Diskussionen darüber angestossen, wie zeitgenössische Kunst analysiert und provoziert und wie sie Teil komplexer gesellschaftlicher Themen ist. Image, Korruption, Religion, Sex und öffentlicher Raum waren die Themen der bisherigen Ausgaben – für ‹Balkart› gibt es drei weitere wichtige Gründe. Erstens: Wir beobachten, dass sowohl Mainstream-Medien als auch die Politik Kunst allzu häufig als Privatangelegenheit betrachten, so als ob sie ausserhalb unseres politischen und sozialen Umfelds stattfände. Kunst wird als zweitrangig bewertet, als irrelevant für das Verständnis gesellschaftlicher Umbrüche und politischer Aktionen. Mittlerweile geschieht dies in vielen europäischen Zentren und zeigt sich unter anderem in massiven Kürzungen finanzieller Kulturmittel in Folge der Finanzkrise. Die Sparmassnahmen dienen auch dazu, unabhängige Kritik an einer vorwiegend konservativ orientierten Politik zurückzudrängen. Vor allem in unserer Region folgen Ausschreibungen im Kulturbereich – Hand in Hand mit reduzierter institutioneller und fast nicht vorhandener privater Unterstützung – einer nationalistisch-ästhetischen Politik. Bemühungen um die Einrichtung und Erhaltung alternativer Kunsträume werden als Kampf für und von ‹den anderen› betrachtet, während Widerspruch und kritische Stimmen durch eine polarisierende Politik kanalisiert, stigmatisiert und verunglimpft werden. Vor diesem Hintergrund bieten die Beziehung zwischen Kunst und Demokratie, die Frage, in welchem Mass ein Raum für freie Kritik gegeben ist, sowie die Aufgabe des Künstlers, herauszufordern, Einstiegspunkte für eine fruchtbare Diskussion. Zweitens: Die Frage nach der Kritik und der Rolle des Künstlers ist ein weiterer Grund, den Schwerpunkt diesmal auf Kunst

legen. Wir haben beschlossen, die Erfahrungen in Albanien und den Ländern, die einst Teile von Jugoslawien waren, in den Mittelpunkt zu stellen. Hier, inmitten der ‹unsicheren Transformationen›, finden wir eine Generation von Künstlern, die die gängigen Narrative, wie die jüngere Geschichte zu interpretieren und die anhaltenden konfliktgeladenen Veränderungen zu verstehen seien, hinterfragt. Mittels Theater, Film, Literatur, Performance oder bildender Kunst bieten diese Künstler neue Analysen zur Entwicklung von Geschichte, lokal und global. Die Publikation ‹Balkart› versammelt individuelle Berichte und Praktiken, wie wir mit Kunst das politische Denken und Handeln in Frage stellen und formen können. Für ‹Balkart› arbeiten wir mit dem Schweizer Festival CULTURESCAPES zusammen. Wir beteiligen uns an deren Programm ‹Balkan 2013›, das dem Austausch zwischen der Schweiz und dem Balkan gewidmet ist und Raum für gemeinsames Ausstellen, Betrachten und Reflektieren bietet und so einen Beitrag für die Zusammenarbeit von Künstlern auf dem Balkan leistet (vgl. dazu den Beitrag ‹Der Balkan in einem anderen Licht› auf S. 122) Die vorlie-gende Ausgabe des Magazins ‹Kosovo 2.0› verstehen wir als ­Beitrag zu den Inhalten und Formen, die dieser Dialog hervorbringt. Drittens: Unser Engagement geht weder von der Prämisse aus, ein Offenlegen der Vergangenheit in unserer Region könne einen gemeinsamen kulturellen Raum oder eine einheitliche politische Identität zu Tage fördern, noch unterstellen wir, dass diese jemals existiert hätten. Allen kulturellen und politischen Ähnlichkeiten zum Trotz wurden Politik und Kunst durch heftige Auseinandersetzungen unterschiedlichster Form geprägt; kommunistische und sozialistische Ideologien haben ganz verschiedenen Machtverhältnisse zur Folge gehabt – und diese Entwicklung hatte Einfluss darauf, wie sich die Kunstszene

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— Wir verstehen ‹Balkart› explizit als Konzept, Diskussion und Konfrontation zu fördern und herauszufordern. Wir hinterfragen die Neigung, Kunst in der Balkan-Region vorwiegend oder sogar ausschliesslich aus ihrer jüngsten dramatischen Geschichte und ihrer ‹exotischen› Gegenwart heraus zu deuten. organisierte, was und wie sie produzierte, wie alternative Bewegungen entstanden sind und wie sie sich in den 1990er-Jahren verändert haben (vgl. dazu die Beiträge ‹Konzeptkunst und Kommunikationsvermittlung› auf S. 15 sowie ‹Die Erneuerung in der Bildenden Kunst Kosovos› auf S. 22). Wir verstehen ‹Balkart› explizit als Konzept, Diskussion und Konfrontation zu fördern und herauszufordern. Wir hinterfragen die Neigung, Kunst in der Balkan-Region vorwiegend oder sogar ausschliesslich aus ihrer jüngsten dramatischen Geschichte und ihrer ‹exotischen› Gegenwart heraus zu deuten. Ein Kunstverständnis, bei dem Vorstellungen von Identität, Krieg, ethnischer Zugehörigkeit und Konflikten im Vordergrund stehen und definieren, was Kunst vermitteln soll, liegt nicht in unserem Interesse. Stattdessen untersuchen wir die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen solchen Vorstellungen und Kunst, indem wir Lesungen abhalten und spezifische Medien, Ausdrucksformen und Sprachen von Künstlern präsentieren – Künstlern, die ihnen zugeschriebene oder in ihrem politischen Kontext entstandene Narrationen verkörpern, herausfordern, hinterfragen. Selbstverständlich finden diese Debatten an vielerlei Orten statt, vor allem in akademischen Kreisen, in Kunstgruppen und -zentren, auf Ausstellungen, in Diskussionen, Zeitschriften und Katalogen. Weil wir – vor allem in unserer Region – eine umfassende und integrative Diskussion für nötig halten, soll unser Medium eine wichtige Rolle bei den Bestrebungen der Kunst als einer engagierten und transformativen Praxis spielen. Wir hoffen, dass unser Glas mit Eingemachtem unterschiedlichster Provenienz – Hausgemachtes, Fertigprodukte, Massenware – und der White Cube, unergründlich und dennoch Grenzen setzend, die Diskussion anfeuern und bereichern werden. — K #6 BALKART herbst/WINTER 2013

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Kosovo 2.0 reloaded Never-ending scrolls www.kosovotwopointzero.com


INHALT kosovotwopointzero magazin BALKART — #6 2013

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Konzeptkunst und Kommunikationsvermittlung

09 Wie werde ich ein balkan-k nstler? eine anleitung.

Jugoslawische Konzeptkünstler und die staatliche Beschränkung der freien Meinungsäusserung. Von Katherine Carl

Von Artrit Bytyçi

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die erneuerung in der Bildenden kunst kosovos

NSK – ein staat ohne grenzen

bewegte Bilder

Der schwierige Weg zeitgenössischer Künstler, die eigene Stimme zu entdecken. Von Shkëlzen Maliqi

‹Der NSK-Staat› bietet Einblick in eine neue Art von Kollektiv. Von Jonah Westerman

Der albanische Maler Adrian Paci setzt auf Videos, um seine Geschichte(n) zu erzählen. Von Eriola Pira

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INHALT kosovotwopointzero magazin BALKART — #6 2013

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erzen shkololli ist einer, der die leiter nicht hochzieht

Milica Tomić k mpft gegen die institutionen

Die Künstlerin schafft Räume, die zu Kunstbewegungen ausserhalb der nationalistischen Institutionen einladen. Von Branimir Stojanović

Der Künstler und Kurator bleibt seinen Wurzeln treu, während er Kosovo in die Zukunft führt. Von Charles Esche

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die akademie vs. der einzelne k nstler Studenten schaffen ihre Werke wider die geltende Lehrmeinung. Von Majlinda Hoxha

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inhalt kosovotwopointzero magazin BALKART — #6 2013

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Gedanken zur Karriere einer Freundin und Lehrmeisterin. Von Lala Raščić

Die Werke des Albaners Sislej Xhafa zwingen den Betrachter, sich mit Fragen der Identität auseinanderzusetzen. Von Amy Bryzgel

Was ich ber dunja blaŽeviĆ WEISS

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WIR SIND NICHT BERLIN

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Die Kunstszene Albaniens nach der Biennale von Tirana. Von Eriola Pira

DER LANGE WEG NACH VENEDIG

Petrit Halilaj bringt Erinnerungen aus dem Kosovo ins Arsenale. Von Rina Meta

ein unsteter k nstler

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Der Balkan in einem anderen Licht <Culturescapes 2.0>

Ein Festival untersucht die ‹Kulturlandschaften› des Westbalkans und präsentiert diese in der Schweiz. Von Bridget Nurre

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inhalt kosovotwopointzero magazin BALKART — #6 2013

02 Brief der Redakteurin Besa Luci untersucht die Konflikte und Span-

nungen der Künste auf dem Balkan.

19 Die Wahrheit aus dem Archiv

Wenn Propaganda stärker ist als die Realität. Von Ardian Vehbiu

40 Den wandel kuratieren Das Kollektiv ‹What, How & for Whom› zeigt Alternativen auf zum Status quo der Kunstwelt. Von Chelsea Haines

The festivals: The Master guide to celebrating arts 134 Dokufest: the spark of film The cinema is back in Prizern,

and it is back to stay. By Cristina Mari

139 Mikser moves up One of creative group's founders lays out a vision for the future. By Daniel Sivinjski

43 wachsende hoffnung

Reflexionen über die Arbeit von Marjetica Potrč. Von Goran Tomćić

52 keine theoretischen schranken Die Kunst- und Bildwissenschaftlerin Suzana Milevska im Gespräch über die heutige Kunst- szene. Von Eriola Pira

58 Mladen miljanoviĆ: BOSNIENS UNERM DLICHER VIRTUOSE Seine Arbeiten rütteln die Kunstwelt auf. Von Claudia Zini

61 mit dem sinestezija festival bringt vanja <Linnch> vikalo die kunst- szene auf touren

142 the skopje jazz festival: celebrating diversity in music Icons of the 32-year event hold nothing back in “K2.0” interviews. By Nenad Georgievski

149 “young lions” loose on slovenian performing arts scene

153 The Ljubljana Biennial of graphic arts

64 kunstszene in unordnung in bosnien und herzegowina

78 Lang lebe der unabh ngige Kunstraum!

Überall auf dem Balkan entstehen neue Vereine und Hotspots. Von Adela Demetja

“Mladi Levi Festival” accommodates a changing political climate and an evolving arts scene. By Cristina Mari

In Herceg Novi hat er ein Festival auf die Beine gestellt, das jungen Künstlern eine Chance gibt. Von Nela Lazarević

Die von Problemen gebeutelte Kultur bedarf dringend der Finanzierung – und der Inspiration. Von Jonathan Blackwood

A comprehensive history of the Ljubljana biennial from 1995 to present day. By Petja Grafenauer

156 motovun: the small festival that doesn't want to be big “Magic” emanates through the event based in a village with 100 residents. By Zarka Radoja

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Kosovos neue Literaten

Eine junge Generation von Autoren stürmt die Bühne. Von Dardan Zhegrova

82 100M2 RAUM F R KREATIVIT T

127 artists in residence

Austauschprogramme ermöglichen künstlerische Experimente. Von Cristina Marí

Eine Galerie bricht mit der Norm, um Künstlern zu helfen, ihren Platz zu finden. Von Haris Dedović

86 selbst verlegen heisst selbst bestimmen

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Die Gruppe ‹A3.Format› hilft Schriftstellern und Gestaltern, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Von Danijel Šivinjski

160 regisseurinnen antworten Regisseurinnen beantworten Fragen über die besonderen

Herausforderungen als Frau in der Branche zu bestehen. Von Jeton Budima

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Wie werde ich ein BalkanK nstler? Eine Anleitung

Du hast dich also entschlossen, dass du wissen willst, wie es ist, ein Balkan-K nstler zu sein? Herzlichen Gl ckwunsch! v 0.05

TEXT VON ARTRIT Bytyçi

✯✯✯✯✯ » Das Beste, das es gibt!»

Nur 10 Schritte vom Erfolg entfernt.

PRÄMIERT

Nr.1 2013

ZUERST möchten wir dir gerne dafür danken, dass

du den Archetyp des Balkan-Künstlers als Inspirationsquelle für dein nächstes Kunstprojekt gewählt hast. Vielleicht planst du eine Performance, oder vielleicht denkst du über eine Multimedia-Installation nach; wie dem auch sei, wenn du willst, dass dein Projekt erfolgreich wird, musst du mit einer genauen Version des Typs vertraut sein. Um dich für deine Performance vorzubereiten, wirst du Methoden des ‹Method Acting› anwenden. Du wirst dich in die Haut eines Balkan-Künstlers versetzen müssen, du wirst auf die gleiche Weise leben müssen wie dein Subjekt, handeln, essen, atmen, gehen, reden und erschaffen. An dieser Stelle rät unsere Rechtsabteilung, dass wir dir eine kleine Warnung geben: Ein Balkan-Künstler zu sein, ist nicht immer einfach. Eine der Herausforderungen ist, dass es unter den Experten keinen Konsens darüber gibt, was es heisst, ein Künstler aus der Balkanregion zu sein. Ausserdem neigen Kritiker dazu, eine Reihe von Themen und Charakteristiken zusammenzuwürfeln und über einen Kamm zu scheren, die sie dann gerne Balkankunst oder ‹Balkart› nennen. Wegen diesen Schwierigkeiten wird sich unser Handbuch auf die Aufgabenumschreibung 375-D des

#6 BALKART herbst/WINTER 2013

Du Bist schon fast Da, und wie jede lange Reise mit einem einzigen Schritt beginnt, beginnt deine mit dem Lesen dieser Zeilen. Artrit Bytyçi ist in Prishtina geboren und verbrachte (die besten) Jahre seines Lebens in Prizren und Tirana. Zur Zeit wohnt er in New York.

Instituts für Unkontrollierte Kreativität (Instituti për Kreativitet të Shfrenuar) stützen – eine imaginäre, Non-Profit-, pseudo-wissenschaftliche und fehlerkulturelle Organisation, die wir nur für diesen Zweck erfunden haben … Währenddessen verspürst du vielleicht Lust, einen inneren Dialog darüber zu führen, in welchem Mass ein Künstler das Produkt seines Umfelds ist; wie dieses Umfeld seine Arbeit beeinflusst; und ob ein Mensch vom Balkan sich jemals von den lokalen Einflüssen wird befreien können, um Kunst zu produzieren, die Raum und Zeit überschreitet und in ihrer Darstellung des Menschseins universal ist. Was dies betrifft, raten wir von solchen Grübeleien ab – sie werden dich nur behindern. Wenn du von westlichen Kritikern als Balkan-Künstler betrachtet werden willst, wird von dir erwartet, auf eine gewisse Weise zu handeln, auf eine gewisse Art auszusehen, dich auf eine gewisse Weise zu fühlen und gewissen Themen nachzugehen. Dieses Handbuch soll dir zeigen, wie auch du deinen gewählten Archetyp vollständig in deinem Projekt verkörpern kannst.

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1. Zerreisse deinen Reisepass

2. Kehre zur Norm zur ck 10

DU

kannst nicht als echter Balkan-Künstler gelten, solange du frei in der Welt umherreisen kannst. Du musst die Isolation, verbunden mit der Verweigerung eines grundlegenden Menschenrechts – der Reisefreiheit – erlebt haben. Alle Balkanländer haben zu irgendeinem Zeitpunkt in Isolation gelebt, einige haben sich freiwillig isoliert, andere wurden mit Sanktionen bestraft, dritte haben es einfach versäumt, die erforderlichen Standards zu erfüllen. Und dann ist da natürlich der Kosovo, ein neuer Staat, dessen Bewohnern Reisefreiheit immer noch wie ein ferner Traum erscheint. Du musst das grausame Warten in endlosen Schlangen vor der Botschaft deiner Wahl miterleben. Du musst Lügner und Betrüger genannt werden und musst dir jede Menge andere erniedrigende Namen anhören. Du musst Ablehnung ertragen. Du musst dich minderwertig, wert- und hilflos fühlen. Wenn du beginnst, ein Gefühl des Erstickens wahrzunehmen, bist du auf dem richtigen Weg. Glückwunsch, du hast erfolgreich den ersten Schritt zu deiner Metamorphose zu einem Balkan-Künstler getan ...

UM

deine Arbeit entsprechend den stereotypen Definitionen von ‹Kunst aus dem Balkan› ausführen zu können, musst du die Idee des ‹Thinking outside the box›, des ‹Denkens ausserhalb der Konventionen›, vergessen. Du bist drinnen und machst das Beste daraus. Inzwischen hast du dich wahrscheinlich auf das Leben in der Isolation und auf die beschränkte Reisefreiheit eingestellt. Bei diesem Schritt wirst du dich darauf konzentrieren, Wege zu erforschen, welchen Einfluss die Isolation auf die Entwicklung von Kunst in der von dir gewählten ‹Box› bzw. in deinem Balkan-Land hat. Du wirst versuchen, originelle Kunst zu produzieren, und erleben, wie die Reisebeschränkungen deine Ideen färben. Bei dem Bemühen, originell zu sein, wirst das nachzuahmen versuchen, was deiner Meinung nach aktuelle Trends sind, nur um in der Herstellung billiger Reproduktionen zu scheitern. Du erkennst, dass sich bei deinen Versuchen mehrere Themen ständig wiederholen: Krieg, Nationalismus, ethnische Zugehörigkeit, Identität, Versöhnung, Staatenbildung, sozialer Zusammenbruch, Überleben und mehr. Du wirst beginnen, dich auf alle (oder eines davon) zu konzentrieren.

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3. Die PulverfassMethode

4. Schwenke deine LandesfarbeN #6 BALKART herbst/WINTER 2013

EINES

der wichtigsten Themen für einen BalkanKünstler ist das Thema Krieg. Man sagt, die Balkanregion sei ein Pulverfass. Was also könnte besser sein, als dieses Wort durch Verwendung eines tatsächlichen Pulverfasses zu begreifen? Nächster Schritt? Finde ein Pulverfass (oder zumindest irgendeine Art von Feuerwerkskörper). Platziere es fein säuberlich in deinem Zimmer und umgib es mit deinen wertvollsten Besitztümern. Entzünde die Zündschnur. Bring dich schnell in Sicherheit und warte auf die Explosion. Geh dann zurück in dein Zimmer und betrachte in aller Ruhe den Schaden. Konzentriere dich auf den Zustand deiner wertvollsten Besitztümer: Deinem Lieblingsbuch fehlt die abgebrannte obere Hälfte, das Foto aus deiner Kindheit ist zusammengeschrumpft zu einem zerknüllten Rest aus schwarzem Kunststoff, dein iPhone ist so beschädigt, dass du deine Liebsten nicht mehr kontaktieren kannst.

Wenn

die Explosion vorbei ist, versuche, den dichten Qualm im Raum zu durchqueren. Wenn du hustest, finde heraus, was dies alles ausgelöst hat. Warum ist das Pulverfass explodiert? Was war die Ursache? Hättest Du es verhindern können? Das Wichtigste ist, dass du die Explosion überlebt hast. Euphorisiert durch dieses Aha-Erlebnis, könntest du dich geneigt fühlen, eine Nationalflagge hervorzuholen und sie zu schwenken, in der Hoffnung, mit deinen Bewegungen etwas Rauch zu vertreiben. Diese Bewegung wird ein Flashback in dir auslösen: Alles hat mit dem Kampf ‹wir› gegen ‹sie› begonnen. Erinnere dich, dass du anthropologische/soziologische Studien gelesen hast, die belegen, dass ein Stamm sich verbrüdert, indem er Hass gegenüber Aussenstehenden zeigt. Fange an, dich zu fragen, was einen Stamm ausmacht. Was macht eine ethnische Gruppe aus? Was eine Nation? Sind wir von Natur aus durch denselben Mechanismus, der uns in unseren Bemühungen unterstützt zu lieben, uns zu verbinden und zusammenzukommen, darauf programmiert, einander zu hassen? Entscheide dich dafür, dass du die HassLiebe, die vom Nationalismus genährt wird, ein wenig mehr entdecken willst.

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5. Auss hnung

6. Staatenbildung

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DU

hasst deine Nachbarn. Aber du hast gerade einen grösseren Zuschuss für ein Kunstprojekt erhalten, das verlangt, dass du dich mit deinen Nachbarn verträgst. Du wärst dumm, dir eine solche Chance entgehen zu lassen, also musst du an ihrer Türe klingeln. Sie antworten nicht, aber du kannst ihnen eine Notiz hinterlassen. Dann hinterlassen sie dir eine Notiz (ihr müsst noch nichts diskutieren – das ist nur ein technischer Zettel-Austausch, um herauszufinden, wer sich zuerst bei wem entschuldigt). Plötzlich verwandelt sich die ganze Zettel-Austausch-Geschichte in ein eigenes Kunstprojekt. Du und dein Nachbar werdet euch zu einem einmaligen, unverbindlichen und exklusiven Fototermin verabreden. Nachdem das Foto gemacht worden ist, wird jeder wieder seines eigenen Weges gehen, so wie es zuvor besprochen worden ist. Aber ihr tauscht weiterhin diese Liebesnotizen aus. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen, oder nicht?

TROTZ

allem glaubst du wahrscheinlich immer noch, dass Kunst die Welt verändern kann. Du meinst vielleicht, du könntest durch Kunst Menschen dazu ermutigen, ihre staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen. Vielleicht glaubst Du sogar, dass man sie durch Kunst zu irgendetwas verpflichten kann. Dein Idealismus ist ungebrochen und frisst dich fast auf, noch bevor dein Projekt Früchte tragen kann. Aber etwas scheint falsch zu laufen: Du erntest nicht den Applaus, den du erwartet hast, sondern erlebst das genaue Gegenteil. Die Menschen sind angewidert, empört und irritiert. Sie werden behaupten, deine Kunst verderbe die Jugend, und öffentlich erklären, sie seien bereit, dich zu kreuzigen. Man wird dich vor ein Gericht stellen, und die Menge wird dich für schuldig befinden. Du wirst dich fragen, ob du dich mit einer Entschuldigung abmühen oder dir diese Mühe ersparen und gleich das Gift trinken sollst, so wie es Sokrates getan hat. Doch dann hast du ein Aha-Erlebnis: Ein Scheitern in dieser Grössenordnung ist eigentlich auch eine Art von Erfolg.

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7. Leiden und Sinn

8. Eine Frage des Geldes

#6 BALKART herbst/WINTER 2013

Inzwischen

bist du umgeben von Armut, Elend, Krankheit, Hunger und Klassenunterschieden. Du musst dich unter den gefallenen ‹Aristokraten› der alteingesessenen ‹Intelligenzija› ebenso behaupten wie unter den aufgehenden Sternen, die die rauen Gewässer des freien Marktes durchkreuzen. Genau so, wie Kunst versucht, das Leben zu imitieren, absorbieren deine Projekte die sozialen Realitäten. Deine Themen werden die Armen und die Entrechteten sein, aber du wirst gleichzeitig die oberen Gesellschaftsschichten, die Neureichen erkunden. Du wirst Schönheit und Sinn in den Anstrengungen und Leiden der Menschen finden, bis du dich eines Tages selbst als Gegenstand deiner eigenen Werke wiederfindest: verarmt und randständig. Jetzt brauchst du dringend Geld. Wie überlebt ein Künstler an einem solchen Ort? Durch Wohltätigkeiten eines Kulturministeriums? Oder mittels Spenden aus dem Ausland?

IN

der nächsten Phase deiner Verwandlung in einen archetypischen Balkan-Künstler wirst du dich als Bettler wiederfinden. Es erscheint dir wie gestern, als du noch die Strassen entlanggingst und dich fragtest, wie all diese in sich zusammengesackten, müden Menschen, die ihre Hände in einer Geste endlosen Bittens ausstrecken, sich so tief fallen lassen konnten. Jetzt verstehst du es. Du wartest darauf, dass das Kulturministerium an deine Tür klopft, doch plötzlich erinnerst du dich daran, dass Balkanländer klein, arm und voller Probleme sind. Deshalb tendieren deren Kulturministerien dazu, stets das kleinste Stück vom Kuchen abzubekommen, wenn die Regierung den Etat festlegt. Du denkst, dass es vielleicht irgendeine Hoffnung gibt, von einer internationalen Organisation unterstützt zu werden. Du liest die Zeitungsanzeigen, und die Regeln sind einfach. Du hast genug Erfahrung darin gesammelt, Kunst zu schaffen, die ihre Lieblingsthemen abhandelt: Krieg, Aussöhnung, Bürgerpflichten. Vielleicht klappt es. Wie auch immer du es betrachtest (Kulturministerium vs. irgendeine internationale NGO) – es könnte auf einen faustischen Vertrag hinauslaufen: Was würdest du für Geld hergeben? Deine Seele? Deinen Namen? Deine Identität? Oder deine künstlerische Freiheit? Du überdenkst deine Methode zu überleben, d.h.: das Geldverdienen. Du entscheidest dich, dass du dich wohl darauf konzentrieren musst, das Geldverdienen selbst in die Hand zu nehmen, anstatt auf Almosen anderer zu warten.

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9.

Kitsch: Eine Studie zu Angebot und Nachfrage

10. Die Sprache deiner Tr ume 14

DAS

Überleben der Angepasstesten ist das Grundprinzip der Evolution. Und wenn du vorhast, in einer hermetisch abgeschlossenen Umgebung zu überleben, in der die Chancen von Minute zu Minute schwinden, empfehlen wir dir, dass du als erstes deinen Magen füllst. Um das zu tun, brauchst du Geld. Und um Geld zu bekommen, musst du lediglich eine Dienstleistung anbieten, die gefragt ist. Die Leute, die über Nachfragen entscheiden, neigen unglücklicherweise dazu, Leute zu sein, deren künstlerischer Geschmack – oder dessen Fehlen – etwas eigenartig ist. Andererseits waren die Meisterwerke der Hochrenaissance das Produkt der Kräfte des freien Marktes – wie schlimm kann es also werden? Alles, was du tun musst, ist eine unsichtbare Hand über den Erfolg deiner Kunst entscheiden zu lassen. Bei diesem Prozess könntest du am Ende mit einer Sammlung von KitschSkulpturen aus deiner Hand dastehen. Dann wirst du versuchen, dich zu trösten. Du wirst dies alles als eine Art Gedankenexperiment betrachten, bei dem du herauszufinden versuchst, ob die Kunst der Natur folgt oder die Natur der Kunst. Während du noch mit der Idee der ‹Kunst um der Kunst willen› kämpfst, hast du eine Erleuchtung: ‹ars denariis gratia› – Kunst um des Geldes willen.

NACH

all diesen langwierigen Verfahren schaffst du es endlich, aus deiner langanhaltenden Isolation auszubrechen. Du flüchtest dich an einen Ort, der dir verspricht, dort auf eine Weise deiner Kunst nachgehen zu können, die du dir nie vorstellen konntest. Du arbeitest hart und wirst mit Erfolgen belohnt. Jetzt hast du es geschafft: Du giltst als renommierter Balkan-Künstler. Ein letzter Schritt bleibt, bevor deine Metamorphose wirklich abgeschlossen ist. Und dieser Schritt beginnt damit, dass du anfängst, über deine Identität nachzugrübeln. Du stellst eine Reihe von Fragen an dich selbst: «Wer bin ich? Was ist mein Erbe? Was ist meine Identität? Warum fühle ich mich immer noch als unerwünschter Bastard Europas?» «Welches ist meine Zielgruppe? Bin ich originär? Oder passe ich mich nur Erwartungen an, wie ein Künstler aus diesem Teil der Welt sein sollte? Bin ich ein Hochstapler?» Plötzlich wachst du auf. Der ganze Monolog und die Fragen waren bloss ein Traum. Aber du kannst dich an die Sprache des Traums nicht mehr erinnern. Du hast das Gefühl, als wäre deine Identität gespalten. Du tröstest dich, indem du dir sagst, dass dies alles normal sei, voraussehbar – und vollkommen natürlich. Herzlichen Glückwunsch! Du hast den letzten Schritt, ein Balkan-Künstler zu werden, getan. — K

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Konzeptkunst und Kommunikationsvermittlung

Jugoslawische Konzeptk nstler und die staatliche Beschr nkung der freien Meinungs usserung text von Katherine Carl

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— Die Konzeptkunst im ehemaligen Jugoslawien vereinte eine Vielzahl von Ansätzen, die der zeitgenössischen Kunst dort, wo einmal Jugoslawien war, einen unverwechselbaren Charakter verliehen haben. Der Schwerpunkt auf Kommunikation in der Konzeptkunst der 1960erund 1970er-Jahre wurde von der partizipatorischen Kunst und den dokumentarischen Praktiken der 1990er- und 2000er-Jahre wieder aufgegriffen. Diese besonderen Stärken der zeitgenössischen Kunst in Ex-Jugoslawien haben ihre Wurzeln in den Visionen der 1960er- und 1970er-Jahre. Die damaligen Verbindungen zwischen den Kunstszenen der regionalen Hauptstädte spiegeln sich heute in den Beziehungen zwischen den Künstlern in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens wider. Ich schlage vor, dies als ‹relay› (‹Informationsweitergabe›) zu bezeichnen. Der Begriff kommt aus der Selbstverwaltung, dem Freiwilligendienst und der Kooperation – und bezeichnet dieselben Methoden, mit denen die Neo-Avantgarde in der Region arbeitet. Eine Untersuchung der Kunst in der Region von den frühen 1960er-Jahren bis heute offenbart über Generationen hinweg synchrone Praktiken sowie ein Netzwerk von kooperierenden, künstlergeführten Organisationen, welche die Themen Kunst, Urbanität, Technologie und soziale Gerechtigkeit bearbeiten. Das ‹relay› funktioniert auf unterschiedliche und komplizierte Weise. Der Kritiker Miško Šuvaković stellte schon früh fest, dass die Behörden sich manchmal um die Verbreitung von Kunst bemühten, um eine freie Meinungsäusserung zu neutralisieren. Denn sobald der Staat die Ausstellung subversiver Kunst in anderen Regionen unterstützte, ging deren lokale politische und ästhetische Bedeutung verloren. So konnte zwar eine Untergrundszene existieren, diese war jedoch fast wirkungslos. Im Gegensatz zu den nationalistischen Dissidenten wurden die Neo-Avantgardisten zudem mit dem Internationalismus in Verbindung gebracht. Trotz seiner Bedeutung ist das ‹relay› nicht in der Geschichtsschreibung der Jugoslawischen Kunst wiederzufinden. Damalige Experimentalkünstler wie Slavko Bogdanović, der Filmemacher Lazar Stojanović, Želimir Žilnik und die KOD Gruppe haben nicht nur die Kommunistische Union provoziert, sie standen auch der moderaten Moderne entgegen. Bis heute sind sie nicht in der Kunstgeschichte zu finden, nicht einmal in Serbien, obwohl dort internationale Konzeptkunst, Körperkunst, Performance und Neue Medien gelehrt werden. Šuvaković führt dies darauf zurück, dass die Arbeiten für einige zu verstörend gewesen seien. «Manche möchten auf den Modernismus zurückblicken und einzig Helden ‹unserer› Vergangenheit sehen», schreibt er. Jedenfalls pflegte das ‹relay› die Verbindungen zwischen den Städten. «Ein gesundes Netzwerk wurde geschaffen, das neue, originelle und vor allem experimentelle Events verband», schreibt der Kunsthistoriker Zvonko Matković. Das Netzwerk überlebte die Kriege der 1990erJahre und operiert heute mit noch weit grösserem Impetus. Der Filmemacher Žilnik erklärte hierzu in den 1990er-Jahren: «Die Kommunikation in Ex-Jugoslawien wurde auf brutalste Weise durch Krieg und Blutvergiessen zerrissen. Dann wurden durch die etablierten Institutionen ihre neuen Narrative verhindert … als hätte es diese Kommunikation niemals gegeben und selbst wenn es sie gab, war sie nicht normal.» Heute wird das Netzwerk von jungen Künstlern der Region wieder-

aufgebaut und erneuert. Sie arbeiten sogar an gemeinsamen Projekten, schreibt Žilnik. «Sogar die stringenteste Welle des Provinzialismus mit Messern und Waffen konnte die Kommunikation nicht stören», sagt er. «Es ist ein kollektives Bemühungen, Offenheit, Dialog und ‹relay› zu fördern, das die Toleranz fördert», schreibt Milo Petrović, ein Zagreber Kunstveranstalter. «Offen zu sein für die Welt und für neue Erfahrungen sowie eine auf universellem Humanismus basierende Sensibilität an den Tag zu legen, ist eines unserer Hauptanliegen.»

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Galerie des Studentenzentrums in Zagreb Von 1968 an und die gesamten 1970er-Jahre hindurch präsentierten studentische Kulturzentren experimentelles Kunstschaffen. Sie stellten junge Menschen ein, Filmemacher kämpften für das Recht auf freie Meinungsäusserung in Zeiten staatlicher Restriktionen. Die Zentren verhandelten mit den lokalen Regierungen, um Kunst an unkonventionellen Orten in der Stadt und in der Umgebung präsentieren zu können. Ab 1969 bewegte sich die Regierungsgewalt weg von der Spitze. Diese Dezentralisierung (oder ‹Entstaatlichung›) lief jedoch Titos Mission entgegen, ‹Brüderlichkeit und Einheit› unter den Republiken zu fördern. Dies führte zu Streit und einer sturen, personenbezogenen Politik, welche wiederum zu Razzien in Kulturräumlichkeiten und Universitäten führte. Viele verloren ihre Arbeit, einigen Künstlern wurde verboten, im Inland zu arbeiten. Doch dies war kein einheitlicher Prozess. Ein Witz aus dieser Zeit besagt, dass ein Kunstverbrechen in Ljubljana mit einer Verbannung des Künstlers nach Amerika geahndet würde, in Zagreb würde für das gleiche Verbrechen der Reisepass des Künstlers beschlagnahmt, in Belgrad würde er zu einem Verhör geholt, in Novi Sad inhaftiert und in Sarajevo einfach verschwinden. Einige sahen die Studentenzentren als Ghettos: künstliche Blasen, Orte, an denen der Staat die Kunst zur einfachen Überwachung eingepfercht hatte. Die Zentren in Belgrad und Zagreb überstanden diese Zeit, die ‹Youth Tribune› in Novi Sad nicht. Der visuellen Kunst schenkte die Regierung kaum Aufmerksamkeit. Zwar waren die Künstler nicht in der Lage, sich ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit zu verdienen, die Museen waren jedoch offen für junge Künstler, die ausstellen wollten. Stellte allerdings ein Künstler die politische Situation in Frage, gingen die Behörden gegen ihn vor. Während des Wechsels von der Moderne zur Postmoderne, war die

— Eine Untersuchung der Kunst in der Region von den frühen 1960er-Jahren bis heute offenbart über Generationen hinweg synchrone Praktiken sowie ein Netzwerk von kooperierenden, künstlergeführten Organisationen, welche die Themen Kunst, Urbanität, Technologie und sozialer Gerechtigkeit bearbeiten.


Fotos mit freundlicher Genehmigung des Avantgarde Museums, Kroatien.

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— Ein Witz aus dieser Zeit besagt, dass ein Kunstverbrechen in Ljubljana mit einer Verbannung des Künstlers nach Amerika geahndet würde, in Zagreb würde für das gleiche Verbrechen der Reisepass des Künstlers beschlagnahmt, in Belgrad würde er zu einem Verhör geholt, in Novi Sad inhaftiert und in Sarajevo einfach verschwinden. Subjektivität des Künstlers eine zentrale Problemstellung in der jugoslawischen Kunst, meint der Kunstkritiker Ješa Denegri. Dennoch war es eher eine ‹Kunstbürokratie›, nicht viele Künstler dieser Generation wurden Professoren. Der Staat erlaubte zwar den An- und Verkauf von Kunst, es gab jedoch keinen etablierten Markt, und die Museen kauften keine neuen Werke für ihre Sammlungen. Želimir Koščević förderte in der Galerie des Studentenzentrums in Zagreb innovative Ideen. Dort experimentierten die Künstler mit Publikumsbeteiligung, spirituellem und physischem Spiel, mit Designs für spezielle Ausstellungsräume, mit Materialien, die nicht in Museen platziert werden konnten, mit Vergänglichkeit und Verfall, der Idee als Medium und mit Aktionen und Situationen, in denen die Dokumentation das Original ersetzte. Koščević entdeckte eine neue Generation von Künstlern: Dalibor Martinis, Boris Bućan, Slobodan Dimitrijević, Davor Tomičić, Sanja Iveković, Jagoda Kaloper, Goran Trbuljak, Gorki Žuvela, Dejan Jokanović, Janez Segolin und Petar Dabac, Enes Midžić und Marija Braut. Ihre Arbeiten, sagt er, schufen ganze Lebenswelten, Interventionen im Aussenraum und Kommunikation. ‹The Exhibition of Women and Men› von 1969 in der Galerie des Studentenzentrums bestand aus einer leeren Galerie, die das Publikum dazu anregen sollte, sich selbst und sich gegenseitig zu betrachten. Das Projekt gebot: «Sei selber die Ausstellung! Hier bist du selbst die Kreation und die Gestaltung; du bist der sozialistische Realismus. Halte Ausschau, deine Augen sind auf dich gerichtet! Kunst ist nicht neben dir! Entweder sie existiert nicht, oder du bist die Kunst.» Das Studentenkulturzentrum Belgrad und das internationale Belgrader theaterfestival «Das Studentenkulturzentrum in Belgrad wurde 1971 eröffnet, um nach den Demonstrationen von 1968 die ‹Studenten zu beruhigen›, politische Unzufriedenheit zu kanalisieren und auf ein begrenztes Kulturexperiment zu komprimieren», schrieb Kurator Branislav Dimitrijević einmal. Die Kuratorin Irina Subotić sah in der Regierungsstrategie eine Usurpation der Avantgarde: Indem man sie in offiziellen Strukturen willkommen hiess, konnten Studenten und

Künstler keine ‹Outsiderposition› mehr einnehmen. So würden die jungen Künstler neue Positionen einnehmen. 1972 kam es zu Massenentlassungen von Journalisten und Filmverbote. Künstler und Filmemacher wurden inhaftiert. Man befand sich in einem Dilemma, sagt Künstler Zoran Popović. «Auf der einen Seite sollte Kunst aus ‹Revolutionsgesellschaften› gesellschaftlich wertvoll sein, um den Sozialismus aufzubauen. Andererseits war man der Überzeugung, Kunst sollte lediglich formelle Problemstellungen behandeln», sagt Popović. «Die jungen Künster … entschieden sich jedoch, Kunst und Politik auf eine ‹dritte Art› zu betrachten.» Von 1971 bis 1973 versammelten sich die Künstler Raša Todosijević, Marina Abramović, Era Milivojević, Neša Paripović, Zoran Popović und Gergelj Urkom im Belgrader Zentrum. Zu der Zeit war dies eine radikale Handlung, ganz am äussersten Rande der Kulturszene, ohne offiziellen kulturellen Wert. Sie warben dafür, eine kritische Distanz zwischen Kunst und Gesellschaft zu wahren. Dejan Sretenović nannte dies «eine emanzipatorische und gesellschaftlich fundierte Funktion künstlerischer Produktion». Experimentelle Kunst in Novi Sad und der Vojvodina Der oben genannte ‹dritte Weg› hatte die grössten Auswirkungen in der Vojvodina, der progressiven Nordregion Serbiens, da es dort bereits Anfang der 1970er-Jahre eine kulturelle Gegenbewegung gab und die Regierung dort schon aktiver künstlerische Bewegungen bewachte. Die ‹Youth Tribune› war den studentischen Kulturzentren in Zagreb und Belgrad sehr ähnlich, jedoch war sie seit 1950 eine staatliche Institution und verfügte nicht über den Schutz einer Universität. Doch die Direktoren, lokalen Kuratoren und Künstler – einschliesslich des Experimentalkünstlers Želimir Žilnik und der Journalisten Dejan und Bogdanka Poznanović – waren offen für neue künstlerische Aktivitäten. Der Künstler Balint Szombathy nannte die ‹Tribune› «komplette Freiheit, eine großartige Möglichkeit». Zu grossen Events wurde die Öffentlichkeit eingeladen, dies schloss sogar Regierungsgenossen mit ein, die kamen und den Inhalt zur Kenntnis nahmen. Von 1969 an wurde der Zugang zu Neuigkeiten und Informationen über die ausländische Kunstszene leichter, besonders in der Kunstrubrik des Studentenblattes ‹Index›. Die Redakteure des Blattes Slobodan Tišma, Janez Kocijančič und Mirko Radojičič waren auch redaktionelle Mitarbeiter der ‹Youth Tribune›. Hier konnten Künstler ihre Arbeit präsentieren und ihre Meinung ausdrücken, was die Bedeutung der Publikation im Vergleich zu heutigen Kunstmagazinen deutlich hebt. Die Chefredaktion des ‹Index› wurde in Folge des Regierungswechsels 1971 ersetzt. Manche Quellen berichten sogar, dass die ‹Youth Tribune› zu bestimmten Zeiten vom Arbeiten abgehalten wurde. Bogdanka Poznanović sagt jedoch, die Arbeit sei niemals eingestellt worden, obwohl die Möglichkeit, Aktivitäten in der Öffentlichkeit zu organisieren, eingeschränkt war. OHO Ljubljanas Künstlergruppe OHO beschäftigte sich mit Fragen der Wahrnehmung und Ontologie, mit übergreifenden Fragen des Konzeptualismus und Debatten über Form. Die Kunstwerke der Mitglieder untersuchten gegenseitige Beziehungen und förderten das ‹relay› zwischen den einzelnen Einheiten als Weg, die Natur des Seins zu verstehen. OHO «funktionierte als Netzwerk von Ideen und

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Die Wahrheit aus dem Archiv TEXT von ARDIAN VEHBIU / illustrationen von driton selmani

Wenn Propaganda st rker ist als die Realit t

— Am Abend des 29. März 2013 wurden im ‹New York Theater› der ‹Directors Guild of America› nacheinander zwei Filme vorgeführt. Der eine war ‹Der Zweite November›, ein Film des Kinostudios ‹Shqiperia e Re› (‹Neues Albanien›) aus dem Jahr 1982, wundervoll restauriert vom ‹Albanian Cinema Project›. Der andere war ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2007: ‹Land of the Eagles› (‹Land der Adler›) des Regisseurs Fatmir Koçi, produziert von Donika Bardha. Beide, Spielfilm und Dokumentarfilm, versetzten das Publikum zurück in die Jahre des kommunistischen Regimes, als dessen Propaganda bereits zu einer Art nationalistischem Diskurs geworden war. Der Dokumentarfilm bedient sich ausschliesslich seltener Archivmaterialien des ‹Kinostudio› (dem heutigen ‹Zentralen Nationalen Filmarchiv›), von denen das meiste sich direkt auf die Jahre der Diktatur bezieht. Welche Wirkung hat solches Material auf ein Publikum, das nicht berührt vom originalen Kontext des Materials ist und auf diese Weise erstmals damit in Kontakt kommt? Diese Frage gilt insbesondere im Hinblick auf den Dokumentarfilm ‹Land of the Eagles›, der auf relativ unbekannten, doch aussergewöhnlichen Aufnahmen zentraler Protagonisten der albanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts basiert – von Prinz Wied über König Zogu bis hin zu Enver Hoxha und anderen bekannten Persönlichkeiten. Koçi hat den Film als eine Collage von Archivmaterialien und Aufnahmen der Ära konstruiert, geordnet nach der zeitlichen Reihenfolge der historischen Ereignisse: beginnend mit den Aufständen gegen die Osmanen und endend mit dem Sturz der #6 BALKART herbst/WINTER 2013

Hoxha-Statue und dem Exodus in Richtung italienische Küste in den frühen 1990er-Jahren. Bei einem solchen Projekt beschränkt sich die Rolle des Regisseurs vor allem auf die Auswahl der Materialien und die Bearbeitung der Bilder, ähnlich der Rolle des artikulierenden Subjekts im klassischen Kommunikationsmodell, während der Film selbst mit dem ‹Faden› verschiedener gefundener Aufnahmen ‹gewebt› wurde. So wird Chruschtschows Besuch in Albanien mittels Filmchroniken der Zeit erzählt (bekannt als ‹kinoditare› oder Wochenschauen), welche damals regelmässig vor dem Hauptfilm in den Kinos gezeigt wurden, da das Fernsehen noch nicht weit verbreitet war. Ähnlich wird Hoxhas Tod über Filmmaterial des ‹Kinostudio› dokumen-tiert, das der Öffentlichkeit damals gezeigt wurde. Das gesamte Material des Films ist eine Collage aus vorgefundenen Aufnahmen, darunter auch Artefakte, die ihrem Kontext entnommen und als Ready-mades präsentiert werden. Es wäre nicht überraschend, wenn Koçis Produktion morgen als banale Darstellung historischer Ereignisse diente; das wäre – ceteris paribus – ähnlich, wie Duchamps ‹Fountain› installiert und voll funktionsfähig im Badezimmer eines angesagten Restaurants in Paris zu finden. Die Methode der ‹Plünderung› der Archive ist nicht neu, aber die Materialien, die Koçi präsentiert, sind es. Andere albanische Filmemacher, darunter auch solche von RAI und Italiens ‹Instituto Luce› haben in einer ähnlichen Art und Weise agiert und einem an albanischer Geschichte interessierten Publikum Archivaufnahmen dargeboten. Ein aktuelles Beispiel dieser Technik ist in ‹La Nave› (‹Das Schiff›) von Roland Sejko zu finden, dem David di Donatello-Preisträger ➳ 19


des Jahres 2013 in der Kategorie Dokumentarfilm. Dieser Film verbindet bekannte Archivmaterialien mit authentischer Investigativarbeit des Autors, der die zufälligen Protagonisten (Opfer) bestimmter Archivbilder in Zeit und Raum aufspürt und sie dem Betrachter live vorstellt, ebenso wie er die Archivbilder aus der Vergangenheit selbst live präsentiert. In Bezug auf den albanischen posttotalitären künstlerischen Diskurs bleibt die klassischste Ausgestaltung ‹Das Interview› von Anri Sala, in dem sich die Protagonistin einer alten PropagandaWochenschau (Salas Mutter in einem mädchenhaften Gespräch mit Hoxha) die stummen Aufnahmen wieder ansieht und dabei nicht mehr in der Lage ist, herauszufinden oder zu verstehen, was genau sie zum kommunistischen Führer gesagt hat. Was gestern als rationaler Diskurs innerhalb des öffentlichen Kontextes der Zeit funktionierte, kann heute nur als Müll fortbestehen. Abgesehen von Salas Arbeit ist das gemeinsame Merkmal solcher Archivmaterialien, dass sie nicht etwa die ‹Wirklichkeit› (immer ein umstrittenes Konzept) verkörpern, sondern das wahrnehmende Auge und Gehirn der Person, die sie geschaffen hat. Im Falle des Archivs des ‹Kinostudio› sind die Materialien propagandistischer Natur und waren zur Zeit ihrer Aufnahme und Veröffentlichung dazu bestimmt, den üblichen Zielen totalitärer Propaganda zu dienen. Sie können nicht losgelöst von dem betrachtet werden, was man als typischen Blick jener Jahre bezeichnen könnte. Das einzig ‹Wahre› in den Aufnahmen ist wohl der Versuch der Kamera, einem ins Gesicht zu lügen. Dennoch weckt das ‹gefundene› Filmmaterial aus der totalitären Ära das Interesse der uneingeweihten Öffentlichkeit, weil es Licht auf die versunkenen Schichten der Geschichte wirft sowie auf die Seiten, die das Regime versucht hatte zu tilgen. Das Regime hüllte sich nicht nur in Geheimnisse, sondern reproduzierte die Geheimniskrämerei, indem es die Vergangenheit immer dann umgestal-tete, wenn etwas Wesentliches in der Gegenwart passierte. (Zum Beispiel sollten nach der Trennung von den Sowjets keine Filmaufnahmen von Chruschtschows Besuch in Albanien und seinen Treffen mit der albanischen Führung mehr in der Öffentlichkeit kursieren.) Diese Umgestaltung beeinflusste die Geschichte, indem sie ein Teil von ihr wurde. Gestrige Geheimnisse rehabilitierten sogar Routine-Filmmaterial aus der Zeit von König Zog: Aufnahmen von lächerlichen Paraden, von einem Tirana, das Ulaanbaatar ähnelt, von Eseln und Dorfbewohnern, die Feze, Feze und noch mehr Feze tragen, von Königin Geraldine ‹Europas Schönste› sowie anderen Bildern aus der Mottenkiste. Das Vergnügen, das diese Bilder heute bereiten, hängt

damit zusammen, dass König Zog in den Jahren des kommunistischen Regimes ein Tabu war. Für öffentliche Vorführungen, war man bis vor Kurzem sowohl bei altem als auch neuem Filmmaterial auf eine Filmprojektionstechnologie angewiesen, die im Besitz des Staates war. Daraus folgte, dass – im Gegensatz zu Literatur, Musik oder subversiver Malerei und sogar Fernsehen – beim Film Verteilung und Nutzung vollständig vom Staat kontrolliert wurden, dem Eigentümer der jeweiligen Technologie. Alle Aufnahmen, die aus ideologischen Gründen entfernt wurden, hinterliessen ein Loch und konnten nicht wie ein verbotenes Buch von Hand zu Hand weitergegeben werden oder zur Gitarre gesungen werden wie ein zensiertes Lied. Doch keines dieser Probleme hilft uns, die einfache Frage zu beantworten, ob ein Produkt als ‹historisch› angesehen werden kann, das sich vollständig aus Dokumentarfilmen zusammensetzt, die in einer anderen Epoche und für reine Propagandazwecke gedreht wurden. In der Debatte nach der Vorführung im März in New York deutete Koçi an, dass er den metadokumentarischen Charakter seines Films wohl bedacht habe und dass der Film ohne die Grundannahme, dass das Material, auf dem er basiert, Märchen oder Legenden mit Helden und Antihelden, dem Guten, dem Bösen und dem ewigen Konflikt zwischen ihnen enthält, keine eigene Aussage hat. Wäre ‹Land of the Eagles› lediglich auf die Vorführung des Rohmaterials beschränkt, hätte es ein Experiment der Vervielfältigung von Wirklichkeit sein können, doch auf natürliche Art und Weise wird der Film davor bewahrt: durch die Erzählung aus dem Off beziehungsweise durch den Begleittext, den Ismail Kadare geschrieben hat und der den jüngeren Generationen die Meta-Geschichte einer Ära erzählt, die der Autor aus erster Hand erfahren und sogar zu einem gewissen Grad geprägt hat – mit seiner enormen literarischen Arbeit, durch die Schaffung ihrer Symbole, Lesarten und Meta-Lesarten. Der Text ist in Englisch und wird vom Schauspieler Michael York gelesen, doch hinter dem englischen O-Ton tritt Kadares starke Meinung hervor. Und in der Tat: Was das Propagandafilmmaterial des Archivs verhüllt, deckt Kadares Stimme wieder auf, was die Kinostudio-Kameras von gestern bildlich darstellen, sucht Kadares Stimme zu durchdringen. Mit dem gesprochenen Text, der als Kontrapunkt zu den Bildern im Film dient, soll der Mythos dekonstruiert werden, den die Bilder unterfüttern, und die Geschichte Albaniens im 20. Jahrhundert umgeschrieben werden, indem der Betrug offenbart wird. Die Voiceover-Erzählung spielt eine gewichtige Rolle bei der Rezeption und der Wirkung des präsentierten Materials, obwohl wir sie

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oft als ihm eigen empfinden, angrenzend an etwas Unsichtbares. Wenn die erzählende Stimme nicht als Teil der Erzählung wahrgenommen wird, oder als zu einem Protagonisten des Filmmaterials gehörig, wird sie zu einer Autorität. Und in einem Dokumentarfilm ist die einzige Autorität diejenige, die den Schlüssel zur Wahrheit hat. Die Stärke totalitärer Propaganda ist, dass sie auf vielen Ebenen – zeitlichen und semiotischen – arbeitet, so wie sie auch dann wirkt, wenn wir sie zu dekonstruieren versuchen, vielleicht in dem sie die Dekonstruktion schluckt und zu einem Teil von sich selbst macht. So ist Filmmaterial wie das vom Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai in Tirana im Jahr 1960 oder das von einer Routine-Rede des Premiers Mehmet Shehu auf einer Kundgebung nicht deshalb von besonderen Wert, weil es als Dokumentation der Ereignisse dient, sondern weil es vom Regime mit seiner offiziellen Version der Geschichte zensiert wurde. Personen wurden aus Fotografien wegretouchiert, ihre Namen aus Büchern und von Gedenktafeln gestrichen, und mit Leere ersetzt oder mit einer Art negativer Information, die die darunterliegende Wahrheit überdeckte. Aus historiografischer Sicht oder auch nur aus der dokumentarischen Perspektive geschahen Chruschtschows und Zhous Besuche ‹wirklich› genauso wie ihre spätere Zensur ‹wirklich› geschah – die kommunistische Zensur änderte die Geschichte so sehr, dass sie ein Teil von ihr wurde. Der Dokumentarfilm stoppt hier, weil er nicht weitergehen kann, obwohl er wahrer ist als die Besuche und ihr anschliessendes erzwungenes Vergessen. Die Fanfare und ihr plötzliches Verstummen sind die Handlungen der Zensur oder der totalitären Gewalt, die das Regime in der Regel abseits der Kameras ausübte. Idealerweise sollte das Publikum auch mit dieser Gewalt konfrontiert werden, der tief verwurzelten und allgegenwärtigen Gewalt, knapp unter der Oberfläche eines jeden Filmbildes – ob gefunden oder rekonstruiert, authentisch oder retuschiert. Die Gewalt, die der Staat den Menschen zufügte, stärker genau an den Stellen, an denen sie dafür taub geworden waren, während sie sich damit beschäftigten, den Sozialismus aufzubauen oder unter der sengenden Sonne zu bohren in der Vorbereitung auf die bevorstehende Schlacht mit den Weltmächten. Es ist nicht nötig, die Arbeitslager und Hochsicherheitsgefängnisse gross zu zeigen oder gar die wenigen filmischen Aufnahmen von Hinrichtungen, die in den Archiven bewahrt wurden, manchmal genügt der glitzernde Goldzahn im Mund eines grinsenden Führers. In der Tat bestätigt ‹Land of the Eagles›, dass wir Überlebenden des #6 BALKART herbst/WINTER Herbst/WINTER 2013

Totalitarismus noch keine geeignete oder gar grundsätzliche Form gefunden haben, um die Trümmer jener Zeit anzusprechen – in uns und ausserhalb von uns. Vielleicht, weil wir die Vergangenheit als zu weit weg und exotischer sehen, als sie wirklich ist? Dieses Manko, diese Unfähigkeit mit der jüngsten Vergangenheit umzugehen, ist in erster Linie unser eigenes Versagen, die Dokumente zu lesen, die wir meist so behandeln, als seien sie Relikte, deren historischen Wert wir in einen hieratischen Wert der Dokumente selbst umwandeln. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Aufnahmen von Hoxha – etwa wie er den Imperialismus und Sozialimperialismus von der Tribüne des Kongresses der PPA (Partei der Arbeit Albaniens) angreift – immer wieder auch mit Sehnsucht, Anbetung und Nostalgie angeschaut werden, als Echo einer einfacheren Zeit, einer durchgeistigteren und gefährlicheren. Dieses Phänomen hat es bereits anderswo gegeben – mit Mussolini in Italien und Stalin in der Sowjetunion – und es ist wahrscheinlich, dass Filmmaterial wie jenes in ‹Land of the Eagles› aus Archiven ausgegraben, wiederhergestellt und mit einem kritischen Kommentar der höchsten kulturellen Behörden des Landes versehen wird, und so dazu beiträgt, den Totalitarismus von gestern zu rehabilitieren, ihn rosa zu färben, sodass er den jüngeren Generationen akzeptabel und schmackhaft erscheint. Deren grösstes Problem ist es heute, mit dem Kapitalismus und seinen Auswirkungen umzugehen, nicht mit den ehemaligen Führern in den schweren Wintermänteln, die sich gegenseitig auf die Lippen küssten und den jeweils anderen Statuen auf den Garnisonsplätzen ihrer Hauptstädte errichteten. Eine Propaganda, die ihr Ziel erreicht und ins Schwarze trifft – auch lange nach ihrem Tod, wie ein Fluch in einer Legende. —K Als Linguist und Schriftsteller in New York forscht Ardian Vehbiu seit Jahren zum öffentlichen Diskurs in Albanien, zur Neugestaltung der albanischen Sprache unter dem Totalitarismus und zur Beziehung zwischen den Bürgern und den Medien nach dem Fall des Kommunismus. Er ist Autor einer Reihe von Büchern, Aufsätzen und Artikeln, die in Tirana und Prishtina erschienen sind.

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<Nada> (<Hoffnung>) von Dren Maliqi wurde zum ersten Mal im Nationalmuseum im Jahr 2004 ausgestellt. Maliqi war ein Aush€ngeschild der alternativen Kunstszene, sein Werk, das in Prishtina entstanden ist, befasst sich mit Fragen des gesellschaftlichen und k†nstlerischen Wandels und mit Fragen institutioneller Repression.

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DIE ERNEUERUNG in der bildenden Kunst Kosovos TEXT von ShkËlzen Maliqi

Der schwierige Weg zeitgen ssischer K nstler, die eigene Stimme zu entdecken und ffentlich zu machen

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