Basel Short Stories

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VON ERASMUS BIS IRIS VON ROTEN

BASEL S   HORT S   TORIES

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Christoph Merian Verlag


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BASEL S   HORT S   TORIES


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BASEL S   HORT S   TORIES V   ON ERASMUS B   IS IRIS VON ROTEN Josef Helfenstein mit Patrick Düblin und Maja Wismer (Hg.)

Christoph Merian Verlag


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Dank S. 7 Autoren S. 9 Die Kühltruhen plündern. Zur Entstehung der Basel Short Stories S. 10 BASEL SHORT STORIES Erasmus von Rotterdam. Ein Europäer in Basel S. 21 Holbeins toter Christus. Eine Ikone macht Geschichte S. 47 Maria Sibylla Merian und die Entdeckung der Natur S. 65 Wunderliches aus dem Kabinett des Jacob Burckhardt S. 87

«Krieg dem Kriege!» Der Basler Friedens­­kongress von 1912 S. 139 Frick und Frack: ‹Slapstick on Ice›. Von Gundeldingen nach Hollywood S. 165 Albert Hofmann. Vom Antoniusfeuer zum LSD S. 191 Iris von Roten. Das ‹Zweite Geschlecht› und die heroische Avantgarde S. 217

Der Wanderer und sein Schatten: Nietzsche in Basel S. 109 Bildnachweis S. 236 Impressum S. 237


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D   IE KÜHLTRUHEN P   LÜNDERN Z   UR ENTSTEHUNG D   ER BASEL SHORT STORIES J  osef Helfenstein

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1969 initiierte der Kunstsammler, Industrielle und Mäzen John de Menil (1904 –1973), ein Franzose, der 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA übersiedelt war, eines der ersten Projekte, bei dem ein lebender Künstler eingeladen wurde, aus den Beständen einer Museumssammlung eine Ausstellung zu organisieren. ‹Raid the Icebox 1 with Andy Warhol. An Exhibition Selected from the Storage Vaults of the Museum of Art, Rhode Island School of Design› war der Titel dieser wegweisenden Schau, die im Herbst 1969 in einem provisorischen Gebäude auf dem Campus der Rice University in Houston eröffnet wurde und anschliessend nach New Orleans und schliesslich den Ort, woher die Sammlung stammte, Providence (Rhode Island), wanderte. Trotz ihrer historischen Bedeutung ist diese Ausstellung ausserhalb der USA wenig bekannt beziehungsweise weitgehend vergessen. Gerade weil sie museumsund ausstellungsgeschichtlich so interessant ist, schien sie mir ein nützliches Modell für unser Projekt ‹Basel Short Stories. Von Erasmus bis Iris von Roten›. Diese Ausstellung richtet das Augenmerk auf die umfangreichen Sammlungsbestände des Kunstmuseums Basel, mit der Absicht, auch weniger bekannte Aspekte dieser teilweise berühmten Bestände in neuen Zusammenhängen zu zeigen. Die Heterogenität und Fülle des Materials verlangten nach einer Ordnung, was zu thematischen Schwerpunkten, welche die Ausstellung räumlich gliedern sollten, führte. Ich beschloss deshalb (im Unterschied zu Andy Warhols ‹Raid the Icebox› [den Kühlschrank plündern]) als diskursives Gerüst Themen beziehungsweise Figuren aus der Geschichte der Stadt Basel zu wählen, die eine Gliederung erlauben, ohne die Objekte und Materialien der Ausstellung in ein falsches Gesamtnarrativ zu zwingen. Aufgrund des breiten kulturgeschichtlichen Ansatzes schien es mir naheliegend, die Perspektive über das Kunstmuseum hinaus auf weitere öffentliche und private Sammlungen in Basel auszudehnen. Die Konvolute, aus denen die Exponate ausgewählt wurden, bilden gewissermassen die imaginäre universale Sammlung von Kunst- und Kulturgegenständen in Basel, darunter Museen (Antikenmuseum, Museum für Geschichte, Museum der Kulturen, Sportmuseum und Pharmaziehistorisches Museum) wie auch

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eine Reihe bekannter und weniger bekannter Basler Privatsammlungen. Diese Vielfalt entspricht mit Absicht dem Nukleus und historischen Ausgangspunkt der Öffentlichen Kunstsammlung, dem Amerbachkabinett, zum Zeitpunkt des Ankaufs durch die Stadt Basel im 17. Jahrhundert. Bei meiner ersten, unsystematischen Beschäftigung mit der Geschichte Basels fiel mir auf, wie sich gewisse Schicksale über die Jahrhunderte zu wiederholen scheinen. Basel hat immer wieder Persönlichkeiten angezogen, die von der Randposition dieser Stadt aus europäischen Einfluss erreichten – möglicherweise, weil die nüchterne Handelsstadt am Rhein, aus welchen Gründen auch immer, die Voraussetzungen erfüllte, dass geistige Arbeit oder die Beurteilung internationaler Probleme oder Konflikte hier, auf neutralem Boden, relativ ungestört oder unbeeinflusst stattfinden konnten. Aus der Fülle des Materials und ursprünglich weit über einem Dutzend Themen kristallisierten sich Schwerpunkte, die schliesslich Ausgangspunkt für neun raumfüllende Präsentationen wurden. Die Hauptfiguren dieser ‹Short Stories› sind eine Reihe von illustren wie auch vergessenen Persönlichkeiten (Erasmus von Rotterdam, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Albert Hofmann, Iris von Roten, die Eislaufakrobaten Frick und Frack), eine Künstlerin und Naturforscherin, die trotz ihrer Herkunft als Tochter eines der berühmtesten Künstler dieser Stadt nie in Basel gelebt hat (Maria Sibylla Merian), sowie ein Ereignis, das vielsagend ist für Basels Rolle in Europa als Ort des Humanismus und friedensstiftender Diplomatie, der Internationale Friedenskongress von 1912. Im Rahmen dieser Abfolge von Ein-Raum-Ausstellungen übernimmt mit Holbeins ‹Toter Christus im Grab› ein Kunstwerk selbst die Rolle der erzählenden Hauptfigur, indem die beispiellose Wirkungsgeschichte dieses Gemäldes anhand von Texten, Kunstwerken und Dokumenten evoziert wird. Jeder dieser neun Räume ist, trotz der Heterogenität des gezeigten Materials (Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Film, Fotografie) in sich selbst eine Einheit, vergleichbar den Kurzgeschichten in einem Sammelband. Zugleich hoffen wir, dass die einzelnen Räume sich mit den übrigen zu einem überraschenden Kaleidoskop verbinden.

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Eines der Ziele dieses Projekts ist es, das ausserordentliche Potenzial der Öffentlichen Kunstsammlung Basel durch den kuratorisch inszenierten Dialog zwischen vergessenen oder selten gezeigten Werken mit Ikonen unserer Sammlung auf neue Weise ins Bewusstsein unserer Besucher zu bringen. Kunstgeschichte, die dem Kanon folgt, soll hier für einmal in den Hintergrund treten zugunsten einer freieren, assoziativen Gegenüberstellung von Kunstwerken und Dokumenten vor dem Hintergrund einer reichen, eklektischen Ideen- und Alltagsgeschichte dieser Stadt beziehungsweise von Personen, die mit ihrer Geschichte verbunden sind. Beleuchtet werden berühmte wie auch weniger bekannte Personen und Vorkommnisse aus der kulturellen, politischen und intellektuellen Geschichte Basels ebenso wie naturwissenschaftliche Erfindungen oder Ereignisse aus der Sport- und Unterhaltungsgeschichte. Ein Hauptanliegen war es, aktiv mit Künstlerinnen und Künstlern, die alle mit Werken in der Sammlung des Kunstmuseums vertreten sind, zusammenzuarbeiten beziehungsweise diese einzuladen, bestimmte Räume oder Werkgruppen in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen des Kunstmuseums zu kuratieren (Silvia Bächli, Pipilotti Rist und Not Vital). Analog zu den Verästelungen der im Verlauf vieler Jahrhunderte entstandenen Öffentlichen Kunstsammlung Basel sollen damit die zentralperspektivische Organisationshoheit des Kurators aufgefächert und geschichtliche Epochen, geografische und kulturelle Distanzen sowie die Hierarchie museal getrennter Medien aufgeweicht werden. Ausstellung und Begleitprogramm intendieren auch, institutionelle Kategorien wie die Rolle von Kuratoren, Künstlern und Sammlern (was bedeutet sammeln im Auftrag der Öffentlichkeit, und welchen Veränderun­gen sind solche Vorgaben unterworfen?) zu befragen und zur Diskussion zu stellen. Mit der Ausstellung ‹Basel Short Stories. Von Erasmus bis Iris von Roten› versuchen wir, nicht nur Bekanntes und Unbekanntes neu zu präsentieren, sondern sowohl regelmässigen Besuchern unseres Museums wie auch einem breiten Publikum Entdeckungen und neue Einsichten in den faszinierenden Reichtum unserer Bestände zu ermöglichen. Das Narrativ der Kurzgeschichten und die

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durch die chance encounters möglicherweise erweiterte Aura der Objekte eröffnen Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, die unzähligen Initiativen und Visionen zu verdanken ist. Die Mannigfaltigkeit der Akteure, Stimmen und Szenen weist das Museum als komplex-unberechenbaren, sich fortlaufend weiter entwickelnden Organismus aus, an dessen Gestaltung gerade in dieser Stadt Regierung und Bevölkerung immer wieder einen entscheidenden Anteil hatten.1 ZWISCHEN REFUGIUM UND EXIL: G ­ EISTESGRÖSSEN IN DER PROVINZ Schon bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte Basels wird deutlich, dass die Stadt Jahrhunderte lang immer wieder eine Sonderposition beanspruchte, und dies aus gutem Grund. Seit dem ausgehenden Mittelalter hatte Basel als Handelsstadt während der Kriege zwischen den europäischen Grossmächten immer wieder profitiert von seiner Lage und Position als relativ autonomer beziehungsweise, seit dem Beitritt zur Eid­genossenschaft 1501, neutraler Stadtstaat. Da die Basler Handelsfirmen während der zahlreichen europäischen Kriege von den Boykottmassnahmen der verfeindeten Mächte weniger betroffen waren, konnten sie Märkte besetzen, die sonst von der Konkurrenz bedient worden wären.2 Die Tatsache, dass Basel während vieler Jahrhunderte die einzige Universität der deutschsprachigen Schweiz besass, trug zur Sonderstellung der Stadt ebenfalls bei.3 Politische Entwicklungen in Europa verschafften der Stadt im Laufe der Jahrhunderte weitere Vorteile. Nach den 1 Berühmt sind einerseits der 1939 auf Antrag des Direktors Georg Schmidt durch die Regierung gewährte Sonderkredit zum Ankauf sogenannt ‹entarteter Kunst›, eine Aktion, welche die Sammlung interna­ tionaler moderner Kunst des frühen 20. Jahrhunderts mit einem Schlag entscheidend ergänzte, und andererseits der 1967 in einer Volksabstimmung beschlossene Ankauf zweier bedeutender Gemälde Picassos, was dieser mit der Schenkung von vier zusätzlichen Werken an die Stadt Basel belohnte. 2 Berner, Hans / Sieber-Lehmann, Claudius / Wichers, Hermann: Kleine Geschichte der Stadt Basel. Karlsruhe 2012, S. 128. 3 Hundert Jahre nach Basel gründete Johannes Calvin 1559 die theo­ logische und humanistische Academie de Genève, die allerdings erst im 19. Jahrhundert den Status und Namen einer Universität erhielt.

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restriktiven Karlsbader Beschlüssen von 1819 und den gescheiterten Revolutionen von 1830 und vor allem 1848 gelang es der Universität trotz chronischen Geldmangels, eine Reihe von gut qualifizierten, jungen Professoren zu berufen, die wegen ihrer liberalen Ausrichtung von den viel grösseren deutschen Universitäten ausgeschlossen waren. Basel repräsentierte jenen abgehobenen «archimedischen Punkt ausserhalb der Vorgänge», den gerade Intellektuelle wie Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche schätzten: situiert mitten im alten Europa, und doch «anachronistisch genug, um gerade deshalb als ein Aussichtspunkt dienen zu können, von dem aus sich die geschichtliche Welt betrachten und beurteilen liess».4 Im 19. Jahrhundert geriet das im europäischen Kontext zunehmend kleinstädtisch-provinzielle, aber reiche und an seinem Sonderstatus hartnäckig festhaltende Basel vor dem Hintergrund der rasanten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüche erst recht in eine ambivalente Position. Basel war zwar am Rande, Weltgeschichte war hier seit dem Westfälischen Frieden nicht mehr geschrieben worden, aber es garantierte durch seine von einer schmalen Oberschicht kontrollierte Regierung Stabilität, ermöglichte aufgrund einer baslerischen Mischung von Toleranz und Desinteresse weitgehende intellektuelle Unabhängigkeit, und war somit für junge, dem deutschen Wissenschaftsbetrieb gegenüber kritisch eingestellte Intellektuelle wie Friedrich Nietzsche oder seinen engsten Freund Franz Overbeck ein produktiver Ort geistiger Arbeit. Auch die eine Generation älteren Basler Johann Jakob Bachofen und Jacob Burckhardt (beide geb. 1818) hatten trotz erheblicher Vorbehalte schliesslich ihre Geburtsstadt als lebenslangen Ort ihres Wirkens gewählt. Burckhardt, der eine Reihe von Angeboten von renommierteren deutschen Universitäten ausschlug, sah Basel geradezu als neuhumanistische Insel in einem europäischen Umfeld, dessen politische Realität zunehmend von Materialismus, Nationalismus und Militarismus geprägt wurde. Burckhardts am Vorbild Wilhelm von Humboldts entwickelter Neu­4 Gossmann, Lionel: Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemässe Denker. Basel 2005, S. 299.

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humanismus mutet im Kontext der Industrialisierung und des europäischen Grossmachtstrebens in der Tat anachronistisch an. Seiner Überzeugung nach war die wichtigste Aufgabe des Staates nicht die Stärkung politischer Macht oder wirtschaftlicher Hegemonie, sondern die Bildung, das heisst «möglichst vollständige Entfaltung des Individuums sowie die kontinuierliche Weitergabe der Kultur».5 Dass Basel für ehrgeizige junge Intellektuelle trotz seiner Vorzüge ein bestenfalls ambivalentes Pflaster war, verdeutlicht nichts so sehr wie das Schicksal Nietzsches. Einerseits schätzte er die Stadt – «Ich preise Basel weil es mir erlaubt, ruhig wie auf einem Landgütchen, zu existieren. Dagegen ist mir schon der Klang eines Berliner Organs verhasst, wie die Dampfmaschine.»6 Gegen Ende seines Aufenthalts äusserte Nietzsche sich über Basel allerdings ganz anders und sprach von einer «Basileophobia», die er als «eine wahre Angst und Scheu vor dem schlechten Wasser, der schlechten Luft, dem ganzen gedrückten Wesen dieser unseligen Brütestätte meiner Leiden» bezeichnete.7 Aber auch im vergleichsweise beschaulichen Basel waren konservative Intellektuelle wie Bachofen oder Burckhardt mit schnellen und grundlegenden Veränderungen konfrontiert. Auch hier fand im Laufe von wenigen Jahrzehnten ein tiefgreifender Übergang von einer arbeitsamen, frommen Handelsstadt (deren Reichtum überwiegend in den Händen weniger alteingesessener Familien konzen­ triert war) zu einer modernen Industriestadt statt, mit Begleiterscheinungen wie rascher Wachstum, Billiglohnarbeit und Armut, Demokratisierung und Urbanisierung, was beide mit Sorge, Skepsis und vor allem Bachofen geradezu mit Abscheu beobachteten.8 Zählte die Stadt bei der Kantonstrennung von 1832 / 33 noch rund 22 000 Einwohner, so überschritt diese Zahl bei Burckhardts Tod (1897) schon 100 000 und erreichte 1910 132 000.9 Die mit der Modernisierung einhergehenden grossräumigen Veränderungen 5 Gossman, S. 333. 6 Nietzsche an E. Rohde, 26. August 1872. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1872,252 (31.10.2017). 7 An Overbeck, 3. April 1879, Briefwechsel Overbeck. http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1879,832 (31.10.2017). 8 Berner / Lehmann / Wichers, S. 161 ff.; Gossman, S. 165 ff., S. 291 ff. 9 Berner / Lehmann / Wichers, S. 187.

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wie die imperiale Politik der europäischen Grossmächte, der zunehmende Militarismus und die Verschärfung der Klassengegensätze intensivierten jene Konflikte, die den Ersten Weltkrieg auslösen sollten, den der Basler Friedenskongress von 1912 zu verhindern suchte. POESIE STATT PÄDAGOGIK – DAS ‹CHAOS DER ERINNERUNGEN› ‹Geschichten›, ‹Kurzgeschichten› oder eben ‹Short Stories› ist bekanntlich durchaus ein Element von Fiktion eigen, und in dieser Ausstellung möchten wir diesem Potenzial Raum geben. Was Poesie und Fiktion dem festgeschriebenen Kanon voraushaben, ist die Freiheit des Unabgeschlossenen und Unvollständigen. Ich bin der Überzeugung, dass jedes Kunstwerk sich kategorischer beziehungsweise eindeutiger Empirie entzieht: Die historische Bedeutung von Kunstwerken (seltener von Dokumenten und Artefakten) äussert sich möglicherweise gerade darin, dass sie sich nicht eindeutigen Synthesen unterordnen lassen. Kunstwerke indizieren eher die Differenz zu dem, was schon festgelegt oder gewusst ist, sie bieten die Möglichkeit an, unsere Wahrnehmung vom common sense jeglicher Art zu befreien.10 Dementsprechend geht es in dieser Ausstellung auch darum, (Kunst-) Gegenstände nicht zu illustrativen oder anekdotischen Zwecken einzusetzen und ihnen das Recht einzuräumen, gewissermassen für sich selbst zu sprechen. Grosse Bedeutung wird dem assozi­ativen Potenzial von Kunstwerken eingeräumt sowie deren Einzigartigkeit, in kultureller, historischer oder ästhetischer Hinsicht. Bedeutende Kunstwerke bergen die Möglichkeiten von Vieldeutigkeit, von metamorphotischer Aufladung, unabhängig von künstlerischen Bewegungen wie dem Surrealismus, die solche Mehrdeutigkeit und Ambivalenz bewusst beförderten.11 Wir glauben an die subtile Resonanz gerade von Objekten, die nie zuvor in unmittelbarer 10 Deleuze, Gilles: Pure Immanence. Essays on A Life, with an introduction by John Rajchman. New York 2005, S. 9. 11 Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 2012 (4. Aufl.), S. 100.

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Nachbarschaft gezeigt worden sind. Der Blick in die tiefen Lagerbestände, die manchmal Jahrzehnte lang unbeachtet und unberührt bleiben, kann zu erstaunlichen Entdeckungen führen. Die Qualität von Kunstwerken als source of wonder trifft erst recht auf Sammlungen zu, vor allem wenn diese zutiefst heterogen und im Lauf vieler Jahrhunderte entstanden sind, wie dies auf die Öffentliche Kunstsammlung Basel in besonderem Masse zutrifft. Die Heterogenität einer Sammlung wie jener des Kunstmuseums Basel ist in seiner Vielfalt kaum zu überblicken; als Konvolut von Gegenständen und Ergebnis vielfältigster Initiativen und Entscheidungen ist sie ein Konstrukt, das als Gesamtergebnis nur in Teilen planmässiger Logik entsprechen kann.12 In jeder grossen Sammlung finden sich aus verständlichen Gründen bunt durcheinandergewürfelt neben Bedeutendem auch zweitrangige Werke, wobei Qualitätskriterien ohnehin starken historischen Wandlungen unterworfen sind. Hinzu kommt, dass der Zufall bei der Entstehung von Sammlungen (kleinen und grossen, privaten und öffentlichen) eine entscheidende Rolle spielt, dies wird umso deutlicher, je eingehender man sich mit der Geschichte von Sammlungen befasst. Die Energie von Alogik und die Dynamik des Zufalls wollten wir in diesem Projekt keinesfalls durch zu viel museologische Ordnung zerstören. Sammlungen entstehen nie ohne Leidenschaft, und gemäss Walter Benjamin grenzt «jede Leidenschaft (…) ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen».13 Wenn Kunstwerke sich eindeutiger Festlegung widersetzen, so trifft dies umso mehr auf die Wahrnehmungen der Betrachter zu. Genauso wie Museumsbesucher beziehungsweise die Gesellschaft, der sie angehören, weniger denn je einheitlich determiniert sind, so ist auch die Art und Weise, wie wir als Betrachter Kunst wahrnehmen, nicht festgelegt – zum Glück nicht. Der Versuch, weniger 12 Die Sammlung des Kupferstichkabinetts im Kunstmuseum Basel umfasst allein ungefähr 300 000 Werke, viele davon berühmt und mehrfach publiziert, noch viel grösser aber ist die Zahl kaum oder gar nicht bekannter Objekte. 13 Benjamin, Walter: Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln. In: Gesammelte Schriften, IV. 1, hg. von Tillman Rexroth. Werkausgabe, Bd. 10. Frankfurt am Main 1980, S. 388.

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Bekanntes aus den Museumsdepots, diesen Kühltruhen der Geschichte, auszugraben, zu sichten und in den Schauräumen zu präsentieren, gründet in der Absicht, die Erfahrungen der Besucher nicht didaktisch zu überorchestrieren, ihnen eine balancierte Mischung von Information und Autonomie des Entdeckens zu ermöglichen und diese zu offenem und experimentellem Sehen zu ermutigen. EIN GENIUS LOCI  ? Erasmus verkörpert vielleicht am deutlichsten Merkmale eines genius loci, den Basel seit langer Zeit für sich beansprucht: das Lokale betonend, aber weltoffen, relativ tolerant, aber Extremen abgeneigt, modern-vorausblickend, aber ohne sich zu kompromittieren.14 Basel bot seine Dienste gerne als Ort von Friedensbestrebungen an, immer auch im Bewusstsein, damit seinen Ruf und seine Eigenständigkeit zu fördern und seinen Wohlstand zu bewahren. Dass Erasmus Basel als sein Refugium wählte, hatte bekanntlich nicht zuletzt auch handfeste praktische Gründe, und als die Stadt im 19. Jahrhundert für eine ganze Reihe von Intellektuellen wiederum die Vorzüge geistiger Unabhängigkeit anbieten konnte (Bachofen, Burckhardt, Overbeck, Nietzsche), beruhte dies wiederum auf anderen Voraussetzungen, die mit der vergleichsweise liberalen Bundesverfassung der Schweiz zusammenhingen und in ähnlicher Weise auch auf die noch junge Universitätsstadt Zürich zutrafen. 14 Was Karl Barth über den ‹Basler Theologen› schrieb, ist vielleicht eine darüber hinaus interessante Beobachtung: «Der Basler Theologe ist von Haus aus und im Grunde konservativ, ein im Grunde scheuer Mann …  Er hat aber daneben seine geheime, gleichsam sympathische Lust an den Radikalismen und Extravaganzen Anderer, z. B. allerlei aufgeregter Ortsfremder, die er darum von David Joris bis F. Nietzsche und Fr. Overbeck nicht ungern schon um der Kontrastwirkung willen in seinen Mauern sieht. Er wird sich aber, indem er sie furchtbar interessant findet, wohl hüten, sie sich zu eigen zu machen. Vor dem Katholizismus, aber auch vor einer allzu strengen Orthodoxie ist er gefeit durch eine sozusagen angeborene, mild humanistische Skepsis. Vor allzu grossen Verirrungen nach links schützt ihn eine durch immer wieder geübtes Zuschauen erworbene Lebensweisheit. Irgendwo in der Mitte dieser Extreme wird er sich also niederlassen … siegreich in der Methode, immer Anderen das erste und das letzte Wort zu überlassen und sich seine Sache dabei zu denken, ohne sich selbst in dem Handel offenkundig kompromittiert zu haben.» Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Zürich 1994, S. 124. Siehe auch Gossman, S. 553.

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Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 sollte diese Tradition in ungeahnt dramatischer Weise noch einmal ihre Aktualität entfalten. Schlagartig wurde Basel wiederum ein Ort von Dissidenten, diesmal von solchen, die vor politischer Verfolgung flohen und die nationalsozialistische Ideologie bekämpften. Und ähnlich wie fünfzig Jahre früher zur Zeit Burckhardts und Nietzsches, diesmal aber weitaus bedrohlicher als im 19. Jahrhundert, erregte Basel damit den Zorn Berlins, nun allerdings nicht nur den des gleichgeschalteten universitären Wissenschaftsbetriebs, sondern auch denjenigen der politischen Führung. Nicht nur der Nazi-Historiker Christoph Steding (der unter anderem auch in Basel studiert hatte), auch andere führende Intellektuelle Nazi-Deutschlands sahen in Basel einen Ort rückwärtsgewandten Pharisäertums und einer politisch ungesunden Skepsis. Steding konstruierte, was die zeitgenössische Geschichtsschreibung betraf, einen scharfen Antagonismus zwischen der Hauptströmung in Grossdeutschland und einer «dissidenten Nebenströmung, deren Mittelpunkt» er in Basel sah. Ganz Deutschland, so die Warnung des Nazi-Historikers, sei von einer «Baselianisierung» bedroht wie von einer gefährlichen Krankheit.15 Die Ursache für diese Stigmatisierung Basels und seines angeblich ungesunden intellektuellen Einflusses geht zumindest teilweise auf die posthume Veröffentlichung von Jacob Burckhardts ‹Weltgeschichtliche Betrachtungen› (1905) zurück, eine Schrift, die unter deutschen Historikern kontrovers und trotz mehrheitlicher Ablehnung erstaunlich nachhaltig diskutiert wurde. Die Ablehnung überrascht nicht, waren doch Burckhardts grundlegender Geschichtspessimismus und seine Skepsis gegenüber militarisierten Grossmächten dem Glauben der deutschen Historiker an den gleichgeschalteten Nationalstaat diametral ent­gegengesetzt.16 Nichts könnte aus historischer Perspektive ein grösseres Kompliment sein als diese ungewollte Nobilitierung des kleinen Basel gegenüber der mächtigen Hauptstadt des militärisch hochgerüsteten tausendjährigen Reiches, von dem aus 1939 die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ihren Lauf nahm. 15 Gossman, S. 566 f. 16 Ebd., 568 ff.

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STORY EINS E   RASMUS V   ON ROTTERDAM. E   IN EUROPÄER I  N BASEL

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1 Hans Holbein d. J., Bildnis des schreibenden Erasmus von Rotterdam, 1523, Mischtechnik auf Papier, auf Tannenholz aufgezogen, 37,1 × 30,8 cm, Kunstmuseum Basel, Amerbach-Kabinett 1662


Ab 1514 hielt sich der grosse Humanist Erasmus von Rotterdam vermehrt in Basel auf. Seine Zeitgenossen bewunderten und ächteten ihn für seine Friedensideen, sein Plädoyer für Toleranz und seine Kritik am Missbrauch und Dogma­tismus der päpstlichen Kirche. Ausschlag­ gebend dafür, dass sich Erasmus insgesamt über zehn Jahre – länger als überall sonst – in Basel aufhielt, waren hauptsächlich die guten Publikationsbedingungen in der Werkstatt des Druckers und Verlegers Johann Froben. Hier waren bisweilen drei Druckerpressen gleichzeitig mit den Werken von Erasmus ausgelastet; die wohl einflussreichste seiner in Basel gedruckten Schriften war das 1516 erschienene ‹Novum Instrumentum›, eine lateinische Neuübersetzung des Neuen Testaments. Neben seiner Verbundenheit mit Froben pflegte Erasmus freundschaftliche Beziehungen zu humanistisch gesinnten Gelehrten wie dem Reformator Johannes Oekolampad oder zum Professor der Jurisprudenz Bonifacius Amerbach. Das Wirken und der Umkreis Erasmus von Rotterdams in Basel bilden den Ausgangspunkt dieser Story: Holbeins berühmtes Erasmus-Porträt (1523) sowie das Bildnis von Froben (Kopie nach Holbein, Anfang 17. Jh.) stehen sinnbildlich für die Blütezeit des Renaissance-Humanismus am Rheinknie. Abgesehen von Froben war es insbesondere das weltoffene und tolerante Klima, das den Freidenker Erasmus hierhin zog. Seine Identifikation mit Basel hielt sich dennoch in Grenzen; die Ablehnung der Staatsbürgerschaft, seine nomadische Lebensweise sowie sein auf­geklärtes, modernes Denken machen ihn gleichsam zu einem Europäer der ersten Stunde. Marcel Broodthaersʼ instal­latives Werk ‹Erasmus› und die Weltkarten von Holbein und Alighiero Boetti versinnbildlichen diese Überwindung von geografischen, kulturellen und intellektuellen Grenzen. Die geistige Renaissance, zu welcher Erasmus massgeblich beigetragen hat, geht Hand in Hand mit einer künstlerischen. Neu erlangte Freiheiten erlauben eine nie dagewesene Unmittelbarkeit und Individualität in der Darstellung von Menschen. Als herausragendes Beispiel dafür kann Holbeins Bildnis seiner Frau und Kinder gelten: Die Dreiergruppe ist bar jeder Stilisierung; ihre ungeschönte Erscheinung – die Gesichtszüge der Mutter zeugen

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von Erschöpfung – schaffen eine Intimität und Bildwirkung, die den Anbruch einer neuen Epoche markieren. Ausgehend von diesem Meisterwerk werden weitere Bildnisse von Frauen und Kindern der oberrheinischen Renaissance gezeigt, darunter Zeichnungen von Hans Holbein dem Älteren, Ambrosius Holbein sowie von Hans Baldung, Hans Hug Kluber und Urs Graf. Zeitgleich mit der Etablierung autonomer Frauen- und Kinderdarstellungen, die sich unabhängig von ikonografischen Zuschreibungen präsentieren, äusserte sich Erasmus vorsichtig progressiv zur Stellung der Frau. Er vertrat eine emanzipierte Haltung in Bezug auf die Ehescheidung und widmete sich gesundheitlichen Fragen hinsichtlich der Schwangerschaft und Stillzeit. Zwar wäre es vermessen, ihn als Feministen zu bezeichnen, doch sprach er sich – ganz im Gegensatz zu Martin Luther, der die Frau als zweitrangiges Wesen betrachtete – für eine Annäherung der Geschlechter aus. So forderte er beispielsweise eine Bildung für Mädchen, die jener der Knaben ebenbürtig sein sollte. LITERATUR –   Erasmus von Rotterdam: Vorkämpfer für ­Frieden und Toleranz: Ausstellung zum ­450. Todestag des Erasmus von Rotterdam, veranstaltet vom Historischen Museum Basel. Basel 1986. – Rummel,   Erika (Hg.): Erasmus on Women. Toronto 1996. –   Christ-von Wedel, Christine: Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt. Basel 2016.

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2 Jeff Wall, Citizen, 1996, Schwarz-Weiss-Fotografie, auf Aluminium aufgezogen, 192 x 244 cm, Kunstmuseum Basel, Ankauf mit Mitteln des Arnold Rüdlinger-Fonds der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, Basel 1997, courtesy Jeff Wall


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ERASMUS UND SEIN VERLEGER IM BILD Zu gern wüsste man, was Hans Holbein der Jüngere, 1515 von Augsburg nach Basel gekommen, und Erasmus von Rotterdam, seit 1521 dauerhaft in der Stadt, besprochen haben mögen, als der Humanist bei dem Maler sein Porträt am Schreibtisch bestellte (➞ Abb. 1). Das scheinbar so schlichte Bild, dessen wenige Gegenstände rasch aufgezählt sind, ist das Ergebnis eines gründlichen und beziehungs­ reichen Kalküls. Es beschwört zum einen die ehrwürdige Tradition des sakralen Autoren­ porträts herauf; schreibend im Profil wurden von alters her etwa die Evangelisten oder der Kirchenvater und Bibelübersetzer Hieronymus – für Erasmus eine wichtige Identifi­kationsfigur – dargestellt. Zum anderen unterbindet die absolute Konzentration des Dargestellten auf den Schreibakt jegliche Kommunikation mit dem Betrachter. Dieser kann sich das äussere Erscheinungsbild des Gelehrten aneignen, ohne dass jener davon auch nur Notiz nehmen würde, getreu seinem Motto, dass seine Schriften ein besseres Bild von ihm lieferten als jedes Bildnis. Dieses Motto, der Name des Dargestellten und das Entstehungsdatum sind auf Albrecht Dürers im Prinzip ähnlich komponiertem Kupferstichporträt von 1526 auf einer grossen Inschrifttafel links neben dem Oberkörper des Gelehrten an der Rückwand angebracht. Auf Holbeins Bild wäre an der gleichen Stelle reichlich Platz für derlei auf vielen zeitgenössischen Bildnissen vorhandene Angaben. Die Nüchternheit des neutralen grünen Fonds führt dazu, dass ihr Fehlen geradezu ins Auge sticht. Und dennoch enthält das Gemälde die Informationen, wer hier dargestellt ist und zu welchem Zeitpunkt. Denn mit den drei lesbaren Zeilen, die Erasmus gerade zu Papier gebracht hat, beginnt sein 1523 verfasster Kommentar zum MarkusEvangelium. Holbein überliefert also mit der Tafel nicht nur das Aussehen des Humanisten, sondern visualisiert darin geradezu dessen oben erwähntes Motto: Wesentliche Fakten ergeben sich nicht aus dem Bild an sich, sondern aus dem Text im Bild. Das geschriebene Wort war zu Erasmusʼ Lebzeiten freilich längst zur Vorlage des gedruckten geworden. Basel hatte sich bald nach der Gründung seiner Universität im Jahr 1460 zum Zentrum des schweizerischen Druck- und Verlagswesens entwickelt, und just dieser Umstand hatte Erasmus angezogen. ‹Seinen› Basler Verleger sollte er in Johann Froben finden, mit dem ihn über das Geschäftliche hinaus ein enges freundschaftliches Verhältnis verband. Das Original des Porträts, das Hans Holbein von Froben schuf, hat sich eventuell in Windsor Castle (Royal Collection Trust, RCIN

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403035) erhalten. Da es von dem Amsterdamer Kunsthändler Michel le Blon (1587– 1656) erworben wurde, könnte dieser die heute in Basel befindliche Kopie bestellt haben, bei der es sich ihrem Malstil und dem Bildträger aus Eichenholz nach anscheinend um eine niederländische Arbeit handelt. Man hat gelegentlich über die Zusammengehörigkeit der im Original beziehungsweise in Kopie im Kunstmuseum überlieferten Bildnisse von Erasmus und Froben als Ausdruck ihrer Freundschaft spekuliert und sich dabei auf Remigius Fäsch berufen, der in seinen 1628 – 1676 abgefassten ‹Humanae Industriae Monumenta› ein Diptychon erwähnt, das die mit Scharnieren verbundenen Porträts beider Dargestellter vereinte.1 Doch muss diese Nachricht sich auf zwei andere, anscheinend verschollene Bildlösungen beziehen. Denn Fäsch zufolge befand sich der Drucker auf der rechten und der Humanist auf der linken Seite; die Dargestellten auf unseren Porträts würden bei einer solchen Kombination einander also den Rücken zukehren. [BB] 1

Major, Emil: Das Fäschische Museum und die Fäschischen Inventare. In: Öffentliche Kunstsammlung Basel. Jahresbericht 60, N. F. 4, 1907. Basel 1908, S. 1 – 69, hier S. 42.


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3 Alte Kopie nach Hans Holbein d. J., Bildnis des Johann Froben, Anfang 17. Jh., Öl auf Eichenholz, 39,5 × 33,5 cm, Kunst­ museum Basel, aus dem Universitätsgut erworben 1811


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«Nach einer längeren Reiseperiode blieb Boetti in Afghanistan hängen. Mit Gleichgesinnten gründete er in Kabul das ‹One Hotel›. Fasziniert von der orientalischen Begegnung sollte Alighiero Boetti von 1971 bis zum Beginn der Invasion durch die Sowjettruppen im Jahre 1979 zweimal jährlich dorthin zurückkehren. In seiner archaischen Ausstrahlung und einer schier unbegrenzten Gastfreundschaft und dem leichten Zugang zu Opiaten zog das ferne Land am Hindukusch in den 1970er-Jahren Massen von zivilisationsmüden Blumenkindern aus dem Westen an. Boetti selbst wollte hingegen weder als Tourist noch als Hippie wahrgenommen werden und näherte sich mit höchstem Respekt seinem Gastland an. Er hatte die dortige jahrhundertelange Sticktradition kennen- und schätzen gelernt und war ob der Gewandtheit, mit der Frauen wie Männer dieses Handwerk beherrschten, tief beeindruckt. Während seiner zweiten Afghanistanreise liess Boetti eine Weltkarte, die er auf einem Stück Stoff vorgezeichnet mitgebracht hatte, durch eine Gruppe von Frauen nachsticken. Er traute den Afghaninnen zu, mittels ihrer geschickten ‹Nadelmalerei› nicht nur ihre gewohnten geometrischen Ornamente und Blumenmotive, sondern auch die Weltkarte nachbilden zu können. Nur das Kolorit der Nationalflaggen war genau festgelegt; für die

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übrige Farbgebung fehlten entsprechende Instruktionen auf der Vorlage. So soll Boetti, als er zum ersten Mal eine ‹mappa› abgeliefert bekam, auf der die Ozeane in Pink statt in Hellblau koloriert waren, nach anfänglicher Verwunderung grossen Gefallen an diesem kühn-absurden Eingriff gefunden haben. Die Erklärung war nämlich, dass das blaue Stickgarn vorübergehend ausgegangen war. Zwischen 1971 und 1994 sind an die hundertsechzig Weltkarten entstanden, auf denen sich alle geopolitischen Veränderungen dieser Jahre widerspiegeln.» Monica Stucky, Auszug aus einem Vortrag im Rahmen der Veran­staltungsreihe ‹Persönlichkeiten reden› der Freunde des Kunstmuseums Basel, 24. Juni 2016.

4 Alighiero Boetti, Mappa, 1988, Stickerei auf ge­ webter Baumwolle auf Keil­rahmen, 120 × 214,6 cm, Kunstmuseum Basel, Geschenk von Katia und Hans Guth-Dreyfus 2014


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5 Hans Holbein d. J., Typus cosmographicus univer­ salis. Weltkarte mit Ame­ rika, Europa, Afrika und Asien, 1537, aus: Johannes Grynaeus: Novus orbis regionum ac insularum

veteribus incognitarum, ­Basel, Johann Herwagen, 1537, Holzschnitt von zwei Stöcken, 37,2 x 55,7 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Ankauf 1933


DAS NEUE BILD DER WELT Infolge der Entdeckungsreisen des späten 15. und 16. Jahrhunderts vollzogen sich in der Kosmografie, der Wissenschaft von der Beschreibung der Welt, wie in der Kartografie revolutionäre Umwälzungen: Aus europäischer Sicht bislang unbekannte Landmassen und ein ganzer Kontinent wurden ‹entdeckt›, und auch das Wissen über bisher unerforschte Gebiete wuchs innerhalb weniger Jahrzehnte deutlich an; der moderne Buchdruck sorgte dafür, dass neueste Erkenntnisse schnelle Verbreitung finden konnten. Eine wichtige Rolle in diesem Wissenstransfer spielten Gesamtdarstellungen der Welt in Form gedruckter Karten. In diesen Kontext ist auch diese ‹Typus cosmographicus universalis› übertitelte ‹Weltkarte Sebastian Münsters› einzuordnen, deren Entstehung in Basel die Stellung der Stadt am Rheinknie als bedeutendes Zentrum sowohl des Humanismus als auch des Buchdrucks widerspiegelt: Sie entstammt einem vom an der hiesigen Universität lehrenden Gräzisten Simon Grynaeus herausgegebenen und erstmals 1532 bei Johann Herwagen dem Älteren gedruckten Sammelband mit insgesamt siebzehn Reiseberichten aus der alten und neuen Welt, darunter von Christoph Kolumbus, Amerigo Vespucci, Marco Polo und anderen Autoren. Als Schöpfer der Karte gilt der seit 1529 ebenfalls in Basel tätige Kosmograf Sebastian Münster. Während die Karte selbst in mancher Hinsicht hinter dem damals aktuellen Wissensstand zurückbleibt,1 liegt ihr Reiz nicht zuletzt in den Hans Holbein dem Jüngeren zugeschriebenen, phantasievollen Randdarstellungen.2 Indem sie ausgewählte Szenen einzelner Texte illustrieren, dienen sie zugleich als Repräsentationen für ‹Aphrica›, ‹America›, ‹Arabia› und ‹India›, wobei sie zeittypische Stereotype und Exotismen aufgreifen. Nach der Reihenfolge der Texte beginnt die Leserichtung oben links, wo mit einer Elefantenjagd, Bewohnern mit tellerförmiger Unterlippe und geflügelten Riesenschlangen verschiedene Motive aus Alvise Cadamostos Berichten über seine Afrikareise dargestellt sind. Links unten sind neben einer Laubhütte mehrere Kannibalen, die Kolumbus und Vespucci in Südamerika beheimatet sahen, dabei, ihre Opfer zu zerteilen und über dem Feuer zuzubereiten, wobei in Form von Gefangenen schon Nachschub her-

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beigeschafft wird. Rechts unten erscheint der italienische Reisende Lodovico de Varthema als Wanderer vor einer Hafenstadt; daneben erschlägt er in einer kuriosen Anekdote seiner Erzählungen einen Widder, wobei die in ihn verliebte Frau des Sultans ihn von ihrem Palast aus beobachtet. Die letzte Szene rechts oben zeigt exotisch kostümierte Bewohner mit Turbanen bei der Jagd sowie Pfeffer-, Muskatnuss- und Gewürznelkengewächse, die Varthemas Bericht über Indien entstammen. Zu beachten sind schliesslich auch die beiden mit Spindeln die Erdachse drehenden Engel, wobei es sich um eine frühe Darstellung der Erdrotation handelt, die der in Ferrara tätige Gelehrte Celio Calcagnini kurz zuvor in der Abhandlung ‹Quod caelum stet, terra moveatur› erstmals beschrieben hatte. [GD] 1

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Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Meurer, Peter H.: Die Basler Weltkarte Typus cosmographicus universalis von Sebastian Münster, 1532. In: Cartographia Helvetica, Fachzeitschrift für Kartengeschichte. 50, 2014, S. 41 – 50. Müller, Christian: Hans Holbein d. J. Die Druckgraphik im Kupferstichkabinett Basel. Basel 1997, S. 303, Kat. 114 a.


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EIN KOFFER FÜR DIE MENSCHHEIT Das Werk ‹Erasmus› entstand 1974 in London, wo Marcel Broodthaers zu der Zeit mit seiner Familie lebte. Im selben Jahr hatte er eine bedeutende Einzelausstellung im Kunstmuseum Basel realisiert; ein Erlebnis, das seine Faszination an dem Religionsgelehrten und Humanisten Erasmus von Rotterdam angeregt hatte, der von 1514 bis zu seinem Tod 1536 die meiste Zeit in Basel gewirkt und in der Werkstatt Johann Frobens zahlreiche seiner Schriften gedruckt hatte. In ‹Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam› beschrieb Stefan Zweig 1934 den Vielschreiber (tausend Wörter Tagesdurchschnitt) als Mensch, dessen Zugang zur Welt durch Dichtung, Philosophie, Bücher, Kunstwerke und Sprache geprägt war. Und es liegt nahe anzunehmen, dass sich Broodthaers’ Erasmus-Interesse aus seiner eigenen lebenslangen Beschäftigung mit eben diesen Formen speiste.

‹Erasmus› setzt zwei teilweise modifizierte Gegenstände zueinander in Beziehung: eine Weltkarte, die die politische Ordnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt, und einen englischen Reisekoffer, auf dessen Deckel der Künstler mit weisser Farbe die Aufschrift ‹Erasmus› hinzugefügt hatte. Karte und Koffer sind so zueinander positioniert, dass ein Gegensatz zwischen ihnen entsteht: während die Karte wie in einem Klassenzimmer oder einer Amtsstube auf der Wand fixiert ist, wurde der Koffer auf dem Boden davor einfach abgestellt. Es scheint, als könnte er jeden Moment aufgenommen und weitergetragen werden. Freigeistig und unstet, wie ein zu imaginierender Weltbürger, steht er in Kontrast zu der in Nationalstaaten unterteilten Ordnung der Karte, die den damals aktuellen Stand des weltweiten Strebens nach politischen Machtund Einflusssphären repräsentiert – und wie alle Karten rasch gealtert ist. Diese aus Kriegen konstruierte Realität einer in Besitzrechte unterteilten Welt wollte schon Erasmus als früher überzeugter Europäer und Aktivist für den Frieden, der an die Gleichheit der Menschen glaubte, mit seinem Denken überwinden. Der Koffer mit der Aufschrift kann als Aufruf für das immer noch abrufbare Potenzial der Gedanken des Erasmus von Rotterdam interpretiert werden; intellektuelles Reisegepäck nicht nur für Broodthaers allein, sondern für alle Künstler, Dichter, Freigeister – möglicherweise für die ganze Welt. Bitte Weitertragen! [SG]

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6 Marcel Broodthaers, Erasmus, 1974, 50 x 76 x 25 cm (Koffer), 114 x 182 cm (Karte), The Estate of Marcel Broodthaers


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7 UV-Fluoreszenzaufnahme von Hans Baldung Grien, Bildnis des toten Erasmus von Rotterdam, 12. Juli 1536 (➞ Abb. 26, S. 63) 8 Quentin Massys (Quentin Metsys), Medaille auf Erasmus von Rotterdam, 1519, Glockenbronze, gegossen,  10,67 cm, Historisches Museum Basel

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9 Anonym, Deckelbecher aus dem Besitz des Erasmus, um 1490, H 14 cm, Historisches Museum Basel


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10 Anonym, Rockärmel des Erasmus, 16. Jh., karmesinroter Satin mit Goldborten, L 62 cm, Historisches Museum Basel


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11 Hans Hug Kluber, Frau, ein kleines Kind in der Wanne badend, Feder in Grau, 18,4 x 15,3 / ­14,8 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Amerbach-Kabinett 1662


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‹PRIVATANSICHTEN› Es ist nicht bekannt, wo der in Basel geborene Hans Hug Kluber (1535 / 36 –1578) seine Ausbildung erhalten hat.1 Als Künstler wird er erstmals 1555 mit seinem Eintritt in die Basler Zunft Zum Himmel greifbar und entfaltete in den folgenden Jahren in Basel und Umgebung eine vielseitige Tätigkeit als Wand- und Tafelmaler. Bedeutende Aufträge waren unter anderem 1568 die Restaurierung des bekannten Totentanzes an der Predigerkirche und 1575 die Ausführung des neuen Reiterbildes am Grossbasler Rheintor. Ein anderes wichtiges Werk ist das Gruppenbildnis mit der Familie des Basler Goldschmieds Hans Rudolf Faesch aus dem Jahr 1559. Kluber stand einer grös­ seren Werkstatt vor, in der 1571 auch Hans Bock der Ältere arbeitete, dessen Ruhm den seines Meisters bald übertraf. Für das Kupferstichkabinett im Kunstmuseum Basel ist Kluber vor allem als Kunstsammler von Bedeutung. Wie viele seiner Malerkollegen sammelte er in seiner Werkstatt

nicht nur eigene Zeichnungen, sondern auch solche anderer, oft älterer Künstler. Offenbar befanden sich Blätter Hans Holbeins des Älteren und Hans Holbeins des Jüngeren in Klubers Besitz. Er sammelte sie zu Studienzwecken, als direkte Vorlagen für eigene Werke und wohl auch als Ausdruck seiner Verehrung für die vorbildhaft und erfolgreich vor seiner Zeit tätigen Künstler. Nach Klubers frühem Tod durch die Pest 1578 gelangte sein Nachlass in den Besitz des Kunstmäzens und Sammlers Basilius Amerbach, der wiederum seinen Kunstbesitz der Stadt Basel stiftete, sodass sowohl Klubers Zeichnungen als auch seine Zeichnungssammlung mit den Werken der beiden Holbein zum Nukleus der Bestände des Kunstmuseum Basel zählen. Das Kupferstichkabinett im Kunstmuseum besitzt heute rund sechzig eigenhändige Zeichnungen Klubers, von denen der Grossteil auf dem erwähnten Weg in die Sammlung gelangte. Dieser Bestand ist sehr heterogen und umfasst neben einer Vorzeichnung für Glasgemälde zahlreiche Kopien nach Druckgrafiken und Zeichnungen älterer Meister, aber auch Tierstudien, Porträtzeichnungen und Motivstudien des alltäglichen Lebens. Die ‹Frau, ihr Kind badend› und die ‹Studien einer stillenden Mutter› scheinen im direkten persönlichen Umfeld des Malers entstanden zu sein. Sie bestechen nicht so sehr durch ihre Technik, die ein bisschen ungelenk und tastend anmutet. In der unmittelbaren und beobachtenden Darstellung geben sie jedoch seltene Einblicke in häusliche Tätigkeiten und entwickeln in ihrer Intimität einen besonderen Reiz. [AMe]

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1 Zum Künstler vgl. Landolt, Elisabeth: Hans Hug Kluber (Klauber). In: Tobias Stimmer 1539 – 1584. Spätrenaissance am Oberrhein. Kunst­museum Basel 1984, S. 314. Müller, Christian (Hg.): Von Dürer bis Gober. 101 Meisterzeichnungen. Kunstmuseum Basel, Kupferstich­kabinett. München 2009, Nr. 36. Becker, Maria: Kluber, Hans Hug. In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, http://www.sikart.ch.


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12 Hans Hug Kluber, Studien einer stillenden Mutter, 1558, Feder in Braun, 32,3 x 19,7 / 20,2 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Amerbach-Kabinett 1662 13 Anonym, Augsburg, 1. Hälfte 16. Jh. (Umkreis Hans Schäufelein?), Brustbild eines jungen Mannes, um 1510, Kohle, teilweise gewischt, 27,4 x 19,7 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett Geschenk der Erben von Frl. Gertrud Riggenbach 1961

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14 Ambrosius Holbein, Bildnis eines Knaben mit blondem Haar, um 1516, Gegenstück zu ➞ Abb. 21, S. 41, Mischtechnik auf Tannenholz, 33,5 x 27 cm, Kunstmuseum Basel, Amerbach-Kabinett 1662


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DER MALER THEMATISIERT SICH UND DIE SEINEN Wir wissen, dass der Zürcher Maler Hans Asper Holbeins Familienbildnis besessen hat, bevor es über die Familie seines Kollegen Jacob Clauser an Basilius Amerbach gelangte. Asper beschreibt das Werk 1542 als ein «kunststuck», das zeige, «wie der Holbein inn Engelland sin wib vnd beide kind ab connterfeet [= porträtiert]». Im Kunstmuseum begegnet der Betrachter heute zwar zweifellos dem Bildnis der Elsbeth Binzenstock, Holbeins Ehefrau, mit ihren beiden Kindern Philipp und Katharina – es kann indes keine Rede davon sein, dass zu sehen sei, wie der Maler diese Personen schildert. Asper muss also etwas anderes vor Augen gestanden haben als uns Heutigen. Nun fällt auf, dass sich die Figurengruppe auf dem Werk nach rechts hin stark öffnet; insbesondere die Kinder blicken wie gebannt in diese Richtung. Als Bildträger verwandte Holbein mehrere zusammengeklebte Bogen Papier; von dem der rechten Seite ist nur ein schmaler Streifen geblieben. Von dem ursprünglich erheblich breiteren Bild sehen wir also heute nur noch die linke Hälfte vor uns.

Der Schnitt an deren rechter Seite hat die Jahreszahl auf der Bank unten rechts ihrer letzten Ziffer und Katharinas Händchen mehrerer Finger beraubt. Ein Selbstbildnis Holbeins beim Zeichnen oder Malen der Seinen, wahrscheinlich also an der Staffelei, muss Aspers Bericht zufolge die verlorene rechte Hälfte des Gemäldes eingenommen haben. Hatte Hans Holbein der Ältere sich selbst und seine beiden Söhne Hans und Ambrosius um 1504 als namenlose Zeugen der Taufe des Apostels Paulus vorsichtig eingeschleust in sein Augsburger Basilikenbild von San Paolo fuori le mura, so erschliesst der Sohn dem Malerfamilienbildnis eine neue Dimension, indem er es autonom, also zum eigenständigen Thema werden lässt. Doch bietet die sakrale Bildkunst dabei weiterhin Hilfestellung: Formal muss die Komposition an die Bildtradition der legendarischen Szene angeknüpft haben, in welcher der Evangelist Lukas die Madonna malt. Nach dem Vorbild von Darstellungen der Muttergottes mit dem Christusund dem Johannesknaben etwa bei Raffael, aber auch bei Lucas Cranach dem Älteren sind nämlich Frau und Kinder Holbeins in einer Dreiecksfiguration angeordnet, bei welcher der Kontur des mütter­ lichen Körpers die Kinder umfängt. [BB]

15 Hans Holbein d. J., Bildnis der Frau des Künstlers mit den beiden ältesten Kindern, um 1528 / 29, Mischtechnik auf Papier, an den Figurenkonturen ausgeschnitten und auf Lindenholz aufgezogen, 79,4 x 64,7 cm, Kunst­ museum Basel, AmerbachKabinett 1662

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16 Hans Holbein d. J., Bildnis der Anna Meyer, um 1525 / 26, schwarze und farbige Kreiden, an den Konturen im Gesicht Bleigriffel, Grund hellgrün getönt, 39,1 x 27,5 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Museum Faesch 1823


VON INDIVIDUALITÄT UND SACHLICHKEIT GEZEICHNET Mit schwarzer Kreide umriss Hans Holbein der Jüngere zunächst das Profil der sitzenden Anna Meyer, um anschliessend mit farbiger Kreide ihre Gesichtszüge herauszuarbeiten. Das Kleid der Jugendlichen sollte durch die anfänglich auf das ungrundierte Papier gesetzten freien Linien und groben Schraffierungen flüchtig skizziert bleiben. Ihr Gesicht hingegen würde Holbein in all seinen Feinheiten wiedergeben: Die zarte blassrosa Hautfarbe erzeugte er durch sorgfältiges Verreiben der farbigen Kreide. So gelang es ihm auch, Stirn, Wange und Nase Volumen zu verleihen. Durch feine schwarze Linien wiederum präzisierte er Brauen, Augen, Mund und Kinn. Sogar einzelne Wimpern sind zu erkennen. Annas goldblonde Haare, die offen über ihre Schultern herabfallen, verbinden die unterschiedlich herausgearbeiteten Partien der Zeichnung fliessend miteinander. Holbein zeigt Anna in Gedanken versunken mit herabhängenden Schultern und leicht gebeugtem Rücken. Der Künstler wird von seinem Modell kaum beachtet, dennoch entsteht durch seinen aufmerksamen Blick eine grosse Unmittelbarkeit. Das rundliche Kinn, die

lange Nase und der hohe Haaransatz kennzeichnen die Zeichnung zudem als ungeschöntes individuelles Bildnis. Im Auftrag von Annas Vater, dem ehemaligen Basler Bürgermeister Jacob Meyer zum Hasen, schuf Holbein von 1525 bis 1528 ein Marienbild, das heute unter dem Namen ‹Darmstädter Madonna› bekannt ist. Der Auftraggeber und seine Familie sind darauf in Anbetung der gekrönten Muttergottes verewigt. Holbein nutzte Bildniszeichnungen wie die vorliegende als Vorbereitung für das Gemälde. Davon zeugen Einritzungen im Papier, die beim Durchpausen von Annas Gesichtszügen und den Konturen ihres Gewandes vom Papier auf das Gemälde entstanden. Offenbar stellte es für den Maler eine grössere Herausforderung dar, ein individuelles Porträt als ein Gewand zu malen. Deshalb arbeitete er in der Zeichnung Annas Gesicht deutlicher heraus und legte sich bei ihrer Haarpracht und dem Festkleid weniger fest. Im Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel haben sich neben dem Bildnis Anna Meyers auch die vorbereitenden Studien für die Porträts ihres Vaters und seiner zweiten Frau erhalten, die ebenfalls 1525 / 26 entstanden sind.1 Auch die Gesichter dieser Erwachsenen bestechen durch Sachlichkeit. Ebenso ist ihre Kleidung nur grob skizziert. Für das Gemälde wird Holbein die individuellen Züge schwächen und Kleidung wie auch Frisur dem sozialen Stand anpassen. Zum Beispiel erscheint Anna in der endgültigen Ausführung von 1528 nicht als junges Mädchen, sondern ist durch hochgesteckte Zöpfe und einen Schappel aus Ornamentbändern und einem Blumenkranz als Frau im heiratsfähigen Alter gekennzeichnet.2 [KS] 1 Müller, Christian: Die Zeichnungen von Hans Holbein dem Jünge­ren und Ambrosius Holbein. Katalog der Zeichnungen des 15. und 16. Jahr­hunderts im Kupferstichkabinett Basel. Basel 1996, Nr. 153 und 154. 2 Zander-Seidel, Jutta: Des Bürger­ meisters neue Kleider. In: Brinkmann, Bodo (Hg.): Hans Holbeins Madonna im Städel. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Städelschen Kunst­institut, Frankfurt am Main vom 29. Febr. bis 23. Mai 2004. Petersberg 2004, S. 57– 59.

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17 Hans Holbein d. Ä., Bildnis eines jungen Mädchens, ‹Anne›, 1518, Silberstift und etwas Rötel, auf weiss grundiertem Papier, im Gesicht teilweise mit Feder in Schwarz überarbeitet, 21,8 x 15,9 cm, Kunstmuseum Basel, Amerbach-Kabinett 1662 18 Hans Holbein d. Ä., Bildnis eines jungen Mädchens mit Kopftuch, um 1518, Silberstift und etwas Rötel, auf grau-weiss grundiertem Papier, 21 x 15,4 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Amerbach-Kabinett 1662 19 Ambrosius Holbein, Bildnis eines Jünglings mit verschnittenem Barett, um 1517, Silberstift, Rötel und etwas Pinsel, an Stirn und Nase Höhungen in Weiss zum Teil oxidiert, auf weiss grundiertem Papier, mit Feder in Braun von anderer Hand überarbeitet, 13,8 x 10,8 cm, Kunst­ museum Basel, Kupferstichkabinett, Geschenk der Firma CIBA-GEIGY Basel 1984

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20 Ambrosius Holbein, Bildnis eines Knaben, um 1516, Silberstift, etwas Rötel und Höhungen in Weiss (Nase, Auge, Haar), auf weiss grundiertem Papier, Randlinie mit Feder in Braun von späterer Hand, 14,4 x 10 cm (Blatt), Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Ankauf 1921

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21 Ambrosius Holbein, Bildnis eines Knaben mit braunem Haar, um 1516, Gegenstück zu ➞ Abb. 14, S. 37, Mischtechnik auf Tannenholz, 33,5 x 28 cm, Kunstmuseum Basel, AmerbachKabinett 1662


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SELBSTBEWUSSTER AUFTRITT DES ‹GRÜNHANSS› Die Zeichnung des etwa 18-jährigen Künstlers ist in mehrfacher Hinsicht aussergewöhnlich. Sie gehört zu den frühesten autonomen Selbstbildniszeichnungen, die sich nördlich der Alpen erhalten haben. Hans Baldung Grien (wohl Schwäbisch Gmünd um 1484 / 85 – 1545 Strassburg) schuf dieses Selbstporträt vermutlich um 1503 zu Beginn seiner Gesellenzeit in der Nürnberger Werkstatt Albrecht Dürers. So könnte er von Dürer, der sich intensiv mit der Darstellung seiner eigenen Person befasste, zu dieser Selbstaufnahme angeregt worden sein. Dabei entwickelte Baldung sowohl von der Bildauffassung als auch von der Zeichentechnik her etwas Eigenständiges. Durch die fast frontale Nahansicht, den eng gefassten Bildausschnitt und den direkten Blick aus dem Bild erhält seine Erscheinung einen unmittelbaren Charakter. Von einem besonderen Gestaltungswillen zeugt die Wahl der für ein Selbstbildnis ungewöhnlichen Technik der Helldunkelzeichnung mit der seltenen Kombination von blaugrüner Grundierung mit rosafarbenen Höhungen.1 Diese sparsam und effektvoll gesetzten Schraffuren modellieren die Einzelformen des Gesichts und verleihen ihm eine lebendige Wirkung. Einen besonderen Akzent bildet die Kopfbedeckung, deren Zottel stofflich wiedergegeben sind. Baldung wählte mit diesem eleganten ‹Zottelhut› in Kombination mit der Netzhaube, die das Haar zusammenfasst, eine extravagante Aufmachung. Es handelt sich um einen Filzhut mit aufgenähtem Faserflor aus Wolle, Leinen oder Seide, der die kostspieligen, in Kleiderordnungen reglementierten Pelzhauben imitierte.2 Der Künstler brachte somit seinen Anspruch, als Persönlichkeit gehobenen Standes betrachtet zu werden, zum Ausdruck. Das starke Selbstbewusstsein, das aus dieser Darstellung spricht, liegt auch in der Herkunft Baldungs begründet. Denn er stammte nicht wie die meisten Künstler seiner Zeit aus einer Handwerkerfamilie, sondern aus einem humanistisch geprägten Gelehrtenmilieu. Die Mitglieder seiner Familie waren vorwiegend Juristen, Ärzte und Professoren. Es ist gut denkbar, dass Baldung diese qualitätvolle und technisch anspruchsvolle Zeichnung als eine Art ‹Vorzeigeblatt› verwendete, das im direkten Vergleich mit den realen Gesichtszügen seine Kunstfertigkeit eindrucksvoll vor Augen führen sollte. Die Löcher in den Ecken des Blattes deuten darauf hin, dass die Zeichnung an die Wand gehängt wurde. Bei dem Selbstbildnis, das das jugendliche Aussehen mit grosser Könnerschaft verbindet, könnte der Topos künstlerischer Frühbegabung eine Rolle gespielt haben. Möglicherweise hat Baldung sich mit diesem Blatt dem Meister

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empfohlen. Dass Dürer seinen Gesellen ‹Hans Grun› oder ‹Grünhanss› nannte, geht zweifelsohne auf die Vorliebe Baldungs für diese Farbe zurück, die er auch in späteren Selbstbildnissen zur Anschauung brachte.3 Noch im 16. Jahrhundert fand das Blatt Eingang in die bedeutendste Kunstsammlung am Oberrhein: das Amerbach-Kabinett. Der Basler Jurist Basilius Amerbach (1533 –  1591), der als Pionier für das gezielte Sammeln von Arbeiten auf Papier im nordalpinen Raum gelten kann, erwarb zwischen 1562 und 1591 zwölf eigenhändige Zeichnungen Baldungs, einige Werkstattarbeiten sowie achtzehn Holzschnitte vermutlich aus dem Nachlass des Künstlers. Der Sammler bewahrte die grafi­schen Blätter in zwei grossen Schubladenschänken nach Künstlern geordnet auf.4 [SST] 1

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Falk, Tilman: Hans Baldung Grien. Jugendliches Selbstbildnis. In: Müller, Christian (Hg.): Von Dürer bis Gober. 101 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel. Basel 2009, Kat.-Nr. 16; Brahms, Iris: Zwischen Licht und Schatten. Zur Tradition der Farbgrundzeichnung bis Albrecht Dürer (= Berliner Schriften zur Kunst). Paderborn 2016, S. 216 – 219. Zander-Seidel, Jutta: «Item ein Zottechter Huet …»: Kopfbedeckungen des 15. – 17. Jahrhunderts mit nähtechnisch aufgebrachtem Flor. In: Matius, Sabine (Hg.): Historische Texti­lien, ihre Erforschung und ihr Erhalt. Nürnberg 2002, S. 223 – 236, speziell zu Baldungs Kopfbedeckung vgl. S. 228 – 229. Zu sämtlichen Selbstbildnissen des Künstlers vgl. Söll-Tauchert, Sabine: Hans Baldung Grien (1484 / 85 – 1545). Selbstbildnis und Selbst­ inszenierung (ATLAS. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. 8). Köln / Weimar / Wien 2010; zur frühen Selbstbildniszeichnung, vgl. S. 30 – 56, zur möglichen Verwendung des Blattes, S. 53 – 56. Vgl. ferner Pfisterer, Ulrich: Erste Werke und Autopoiesis. Der Topos künstlerischer Frühbegabung im 16. Jahrhundert. In: Pfisterer, Ulrich / Seidel, Max: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München / Berlin 2003, S. 263 – 302, hierzu S. 263 – 264. Das Amerbach-Kabinett. Zeichnungen alter Meister. Ausgewählt und kommentiert von Christian Müller. Kupferstichkabinett der Öffentlichen Kunstsammlung Basel (= Sammeln in der Renaissance. Das Amerbach-Kabinett. Ausstellung im Kunstmuseum Basel, 21.4. – 21.7.1991). Basel 1991, S. 8 – 10, zur Zeichnung Baldungs vgl. ebenda Kat.-Nr. 54; Söll-Tauchert, Sabine: «ein ansehenlicher Schatz von allerley alten Můntzen, Kunst vnd Rariteten». Das Amerbach-Kabinett. In: Die grosse Kunstkammer. Bürgerliche Sammler und Sammlungen in Basel. Hg. vom His­to­ rischen Museum Basel. Basel 2011, S. 41 – 58.


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22 Hans Baldung gen. Grien, Jugendliches Selbstbildnis, um 1503, Feder und Pinsel in Schwarz, mit Feder rosa und mit Pinsel weiss gehöht, auf blaugrün grundiertem Papier, 22 x 16 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Amerbach-Kabinett 1662


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CHARITAS Der 1598 datierte, gestickte Wandbehang 1 zeigt sechzehn Personen, drei Erwachsene und dreizehn Kinder, vor einem roten, mit Ranken gefüllten Hintergrund. Im Zentrum steht die Mutter, zu der es auf dem Schriftband über ihrem Kopf heisst: «IN ZWO EHEN MIR GOTT GEBEN HAT / 13 KINDER DURCH SIN GNAD». Die Inschrift oberhalb des linken Mannes weist diesen als den verstorbenen ersten Gatten aus und benennt die zurückgebliebene Ehefrau namentlich: «MIN CHARITAS VND KINDER KLEIN / BEFIL ICH GOTT UND FAR DAHIN». Der rechts stehende zweite Ehemann, im gleichen Typus dargestellt wie der erste Gatte, demonstriert durch das Schriftband mit dem Text «GOTT VERLICH UND WEL GEBEN / FREYD ER DAS EWIG LEBEN» Dankbarkeit und Gottvertrauen. Bevor der Wandbehang 1910 für das Historische Museum Basel erworben wurde, befand er sich der Überlieferung nach seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Basler Privatbesitz. Man darf daher wohl vermuten, dass der Behang in Basel hergestellt wurde und eine Basler Familie darstellt. Hinsichtlich einer Identifizierung bleibt man auf Mutmassungen angewiesen. Mit dem sehr seltenen Vornamen Charitas ist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Basel nur eine Person nachweisbar, Charitas Müller, die 1554 als Patin einer Tochter von Johannes Petri erwähnt ist 2 und 1558 bis 1579 mit dem Pfarrer Johannes Füglin (1533 –1579) verheiratet war.3 Wenn diese Identifizierung zuträfe, wäre sie 1598 eine reife Dame von etwa sechzig Jahren. Damit nicht zu verbinden ist das Alter einiger der abgebildeten Kinder. Doch ist die Darstellung nicht als die tatsächliche Familienkonstellation des Jahres 1598 anzusehen. Der Totenschädel unterhalb der Wiege ist so zu deuten, dass zumindest dieses Kind früh verstarb; vielleicht galt das auch für weitere oder sogar alle Kinder auf dieser Seite, die auch die Seite des verstorbenen ersten Ehemannes ist. Jedenfalls wäre eine solche hohe Sterblichkeit im 16. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Die Mutter, ein nacktes Kleinkind auf dem Arm, wendet sich dem noch lebenden Ehemann und der Reihe der zwischen ihnen stehen­den Töchter zu, die mit Körben, Spinnrocken und Spindeln als kleine Hausfrauen gekennzeichnet sind. Die Darstellung als Mutter eines noch so kleinen Kindes ist kaum mit der vor­ geschlagenen Identifizierung als Charitas Müller zu vereinbaren. Daher handelt es sich wohl um die durch ihren Vornamen nahegelegte Angleichung an den Typus der Caritas, die als Personifikation der christlichen Nächstenliebe

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stets eng von mehreren Kleinkindern umgeben gezeigt wird. Die gleichzeitige Abbildung von verstorbenen und lebenden Kindern und Gatten findet in zeitgleichen Stifterdarstellungen und Stammbüchern Parallelen. Es ging darum, den reichen, von Gott verliehenen Kindersegen darzustellen und den Fortbestand der Familie zu betonen. Während Stammbücher aber immer die Generationenfolge der männlichen Linie abbilden, steht hier unbestritten die Mutter im Zentrum, die beiden Ehemänner sind marginalisiert. Diese Darstellungsweise wurde möglich durch die starke Stellung der Frau innerhalb der frühzeitlichen Familie. Hier wird der reiche Kindersegen als Geschenk Gottes angesehen – die damit verbundenen Sorgen, an die heutige Betrachter sogleich denken, standen zurück hinter dem Aspekt der besonderen Ausgewähltheit. [MR] 1

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ie Renaissance im deutschen Südwesten D zwischen Reformation und Dreissigjährigem Krieg. Ausstellungskatalog Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Heidelberg 1986, Bd. 2, Kat. Q 12. Kinderleben in Basel. Eine Kultur­geschichte der frühen Jahre. Ausstellungs­katalog Historisches Museum Basel. Basel 2005, Kat.-Nr. 4. Jenny, Beat Rudolf (Hg. und Bearbeiter): Die Amerbachkorrespondenz. Bd. X. Die Briefe aus den Jahren 1556 – 1558. Erster Halbband: 1556 –  30. Juni 1557, S. XLVI (Berichtigungen und Nachträge), Nr. 3525. Basilea Reformata 2002. Die Gemeinden und Spezialpfarrämter der Evangelischreformierten Kirchen Basel-Stadt und BaselLandschaft, ihre Pfarrerinnen und Pfarrer von der Reformation bis zur Gegenwart. Basel /  Liestal 2002, S. 173.

23 Unbekannt, 16. Jh., Wandbehang, 1598, flächen­ deckende, abgezählte Stickerei mit Wolle und Metallfäden auf Leinengrund, 75 x 230 cm, Historisches Museum Basel


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24 Urs Graf, Acht durch Reifen steigende Kinder, um 1514, Feder in Schwarz, 14,7 x 20,8 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, AmerbachKabinett 1662


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