1 3 2 .  J a h r / A u s g a b e 2 0 1 2
C h r i s t o p h M e r i a n S t i f t u n g ( H g.) Christoph Merian Verlag
Basel und die anderen
Basler Stadt buch
Politik und Gesellschaft
Wirtschaft und Region
Stadtentwicklung u n d ÂA r c h i t e k t u r
Bildung und Umwelt
2011
Kultur und Geschichte
Alltag und Freizeit
www.baslerstadtbuch.ch www.baslerchronik.ch
Bas Stadt
201
132.   J a h r / Au s g a b e 2012 C h r i s t o p h M e r i a n S t i f t u n g ( H g .) Christoph Merian Verlag
sler tbuch
11
Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser Immer rascher verändert sich die Welt der Medien, und der Druck zur technischen und inhaltlichen Veränderung wird anhalten. Auch wir reagieren darauf: Vor einem Jahr haben wir die Ausgliederung der Basler Chronik aus dem Buch ins Internet angekündigt, und nun halten Sie das erste Stadtbuch ohne Tag-für-Tag-Chronik in den Händen. Die für alle frei und kostenlos zugängliche Website www.baslerchronik.ch ist seit dem Frühjahr 2011 online und wächst täglich als multimediales zeitgeschichtliches Portal. Und auch das Basler Stadtbuch selbst erscheint in einem neuen, frischen Gewand. Eine Veränderung ist zum Beispiel das praktische Register, welches den Zugriff zu den gewünschten Themen erleichtert. Groenlandbasel haben – wie wir meinen – ein ausgesprochen schönes Buch gestaltet, und dank der Handschrift des Redaktors Roger Ehret und dem umsichtigen Lektorat von Rosmarie Anzenberger ist es zugleich gehaltvoller geworden. Auch das Bildkonzept wurde von Grund auf überdacht. Grosse Einstiegsbilder und informative Detailbilder der Fotografin Kathrin Schulthess dokumentieren nun das L eben in unserer Stadt. Das neue Team hat eine sorgfältige, sehr ansprechende und grosse Arbeit geleistet, und wir hoffen natürlich, dass Ihnen, l iebe Leserin, lieber L eser, das neue Stadtbuch ebenso gut gefällt wie uns und dass uns Gestaltung, Redaktion und Illustration in den nächsten Jahren weitere spannende Stadtbücher bescheren werden. Zugleich haben wir entgegen dem allgemeinen Trend den Preis für Abonnenten und Einzelkunden gesenkt. Denn das Stadtbuch soll weder teuer und exklusiv sein noch gratis abgegeben werden. Das Basler Stadtbuch muss sich auf dem Buchmarkt behaupten und seine Käufer finden – nicht zuletzt deshalb wird es sich auch immer wieder verändern. Wir wünschen Ihnen viele überraschende Entdeckungen, viel Auseinandersetzung und vor allem viel Lesevergnügen! Oliver Bolanz (Christoph Merian Verlag) Dr. Beat von Wartburg (Christoph Merian Stiftung)
5
Editorial Ob Nicolas Chauvin jemals gelebt hat, ist ungewiss. Tatsache ist, dass die französischen Theaterautoren Charles-Théodore und Jean-Hippolyte Cogniard 1831 in ihrer Komödie ‹La Cocarde tricolore› einen übereifrigen und opferbereiten Soldaten der napoleonischen Zeit mit diesem Namen auftauchen liessen, der schnell zu einer der bekanntesten Spottfiguren der damaligen Zeit wurde – und den Begriff des Chauvinismus prägte. Chauvinistisch können sich Staaten verhalten, aber auch Politiker, Unternehmen, Sportreporter und Sportfans. Oder Städte, wie im Mai 2008 im ‹Tages-Anzeiger› zu lesen war, in einem Text über Basel: «Der Chauvinismus dieser Stadt bleibt das Schlimmste an ihr. Und steht im kompletten Widerspruch zu ihrem Humor, lässt sie kleinlich aussehen und provinziell.» Der Autor, der Journalist Jean-Martin Büttner, wohnte schon in Zürich, Genf und Bern, aber er kennt auch Basel. Sehr gut sogar, denn schliesslich ist er hier aufgewachsen. Basel – eine Stadt, in welcher der Geist von Nicolas Chauvin umgeht? Den Leserinnen und Lesern der Zeitung aus Zürich muss Büttners Urteil seltsam erschienen sein, denn nicht einmal drei Wochen zuvor hatte ein anderer Basler Journalist im ‹Tages-Anzeiger› exakt das Gegenteil behauptet: «Auch wenn’s die übrige Schweiz noch nicht gemerkt hat: aber Basel ist der Nabel der Welt. Und darum dreht sich alles. Ganz speziell der Basler. Das hat mit provinziellem Chauvinismus nichts zu tun – das ist ganz einfach die grosse Liebe zu einer Kleinstadt, die keine kleine Stadt, sondern ein grosser Zustand ist.» Hier könnte allerdings Ironie im Spiel gewesen sein – und ist es auch, denn als Autor zeichnet Hans peter Hammel, besser bekannt als ‹-minu›. Indes, die Frage bleibt: Welches Verhältnis hat die Stadt zum Rest der Welt? Er kommt ihr bekanntlich sehr nahe; immerhin ist Basel eng von Grenzen umgeben, von zwei Landes- und einer Kantonsgrenze. Eine Kantonsgrenze, die erst seit 1833 existiert. Welches Verhältnis hat Basel zu den anderen Baslern, die jenseits dieser Trennlinie leben? Dieser Frage geht einer der Beiträge im Schwerpunktthema des neuen Stadtbuchs nach, unter dem Titel: ‹Die Schwierigsten. Das Verhältnis zu den Baselbietern ist so heikel wie kein anderes›. Das heisst aber nicht, dass die Stadt, in der die Uhren tatsächlich jahrhundertelang anders gingen, sich mit allen anderen leichttut, besonders nicht mit Zürich und mit der Schweiz. Darum ist auch das Verhältnis zur ‹First City› ein Thema, ebenso wie jenes zur Eidgenossenschaft, zu der Basel (damals noch ungetrennt) vor 510 Jahren stiess, und jenes zur Nachbarstadt Mulhouse, die so nahe liegt und für viele doch so fern. Damit aber nicht genug. Im Schwerpunktthema ‹Basel und die anderen› geht es auch um die europäische Dimension und schliesslich sogar um die globale. Denn in Basel verschiebt sich der Migrationsschwerpunkt zunehmend Richtung Mittel- und Nordeuropa, spielt die Welt nicht nur 6
während der ‹Basel World› eine wichtige Rolle und zeigt das wiedereröffnete Museum der Kulturen einen neuen Blick auf die Kulturen der ‹Anderen›. Dagegen berichtet ‹Tell und die anderen› von interessanten multikulturellen Begegnungen zwischen den so schweizerischen ‹Polen› Tellplatz und Restaurant Bundesbahn. Was bieten wir Ihnen noch im neuen Stadtbuch? Zum Beispiel erste Reaktionen auf die neue Zeitung in Basel, die ‹TagesWoche›, oder ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir ohne Freiwilligenarbeit auskommen müssten? Des Weiteren mehrere aufschlussreiche Analysen, beispielsweise der Basler Politlandschaft vor den kantonalen Wahlen 2012 oder der Basler Verkehrspolitik, wo neuer Drive auszumachen ist. Eine Autorin nimmt Sie mit auf eine Reise zu den Grimselseen, wo aus der «tosenden Kraft der Alpen» jene Elektrizität gewonnen wird, die Basel erhellt und in Gang hält. Andere Verfasser streifen durch die Basler Wälder, sehen sich auf den Plätzen der Stadt um, besuchen eine Kirche im Dornröschenschlaf, betrachten Basel aus der Vogelperspektive oder untersuchen die zwiespältigen Gefühle der Basler gegenüber ihrer Pharmaindustrie. Den Autorinnen und Autoren der 59 Beiträge danke ich für Ideenreichtum, engagiertes Recherchieren, Formulierlust und Humor; der Fotografin Kathrin Schulthess für ihre ebenso präzisen wie tiefgründigen, oft aber auch fröhlich-leichten Bilder – zum Beispiel das wunderbare Umschlagbild, das sie beim Offiziellen Rheinschwimmen 2011 aufgenommen hat und das für einen aussergewöhnlich warmen Spätsommer steht, der sich bis weit in den Herbst hinein zog und das gesellschaftliche und kulturelle Leben beflügelt hat. Ich danke der Lektorin Rosmarie Anzenberger für Sprachkompetenz, Augenmass, Feingeist und freundschaftliche Zusammenarbeit; Dorothea Weishaupt und Lars Egert von ‹groenlandbasel› für das neue Layout des Stadtbuchs, zahlreiche kreative Lösungen unter teilweise grossem Zeitdruck und für ihren Beitrag zur entspannten Teamarbeit im Jahr 2011 . Für anregende Kritik, wertvolle Hinweise und aktive Mitarbeit dankt das Redaktionsteam – Oliver Bolanz, Beat von Wartburg und Roger Ehret – den Beraterinnen und Beratern. Ausgeschieden aus diesem Gremium ist Dr. Andreas Burckhardt, dem wir herzlich danken; willkommen heissen wir an seiner Stelle Martina Hilker (Wirtschaft, Handelskammer). Last but not least danke ich dem Christoph Merian Verlag und der Christoph Merian Stiftung für Vertrauen, Unterstützung und die gute Zusammenarbeit. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich viel Lese- und Schaulust! Roger Ehret (Redaktor)
7
Basel die an
l und nderen Ba s e l und d i e a nd e re n
B a se l und d ie a nd e r e n
Inhalt 11
Be a t von Wa rt b urg
Eine Zeitzone für 22 k m 2
Mülhausen liegt so nahe und für viele doch so fern
D a nie l Ge rny
Gekr änkt, u n v erstanden, d efensiv
Pa t rick Ma rcolli
Anne - L is e H ilt y
tell und die ander en
43
Historische und aktuelle Befindlichkeiten
Begegnungen zwischen Tellplatz und Restaurant Bundesbahn
Thoma s Bürg i
Basel und die W elt – die W elt in Basel 29
Jürg Stöc kli
Basel und Zür ich: eine einseitige R ivalität?
Ein Wetterbericht
26
40
In der Integrationsdebatte verschiebt sich der geografische und inhaltliche Fokus
Basel und die Deutschen 21
Hans-M artin Jerm ann
Basels neue E in wander er
Basel stellt sich in der Schweizer Politik oft an den Rand 16
33
«Es isch ä scheeni Stadt wor da»
Basel tickt anders 13
Christof Wamister
Dom inique Spirgi
Fasnachts later ne und Nagelfigur Das Museum der Kulturen wirft einen neuen Blick auf die Kulturen der ‹Anderen›
Mich a e l R ock e n b a ch
Die ch w ier igsten S Das Verhältnis zu den Baselbietern ist so heikel wie kein anderes
10
47
Eine Zeitzone für 22 km 2 Basel tickt anders
herrschte Uneinigkeit unter den Bürgern zwischen der Partey der neuen Uhr, und der alten Uhr. Jene nannten diese Spiessbürger, Lallebürger, und diese nannten jene Franzmänner, Neumödler.» Der Physiker Daniel Bernoulli erhielt daraufhin den Auftrag, ein Gutachten zur ‹Basler Uhr› zu verfassen. Bernoulli kam zum Schluss, man habe durch einen «irthumb» «im rohen vierzehenten jahrhundert» ganz einfach den Zeiger an der Münstersonnenuhr falsch angebracht. Diese Schlussfolgerung rief den Mathematikprofessor Daniel Huber auf den Plan, der die These zu widerlegen suchte. Peter Ochs meinte dazu: «Die Präceptoren und andere Gelehrte betrugen sich bei diesem ganzen Geschäft wie Kinder. War es blosser Eigensinn oder blinde Vorliebe für das Alte, oder Schmeicheley gegen den gemeinen Mann, oder Abneigung gegen die andere Partey oder wahre Ueberzeugung, dass die Änderung nachtheilig wäre, lassen wir dahin gestellt seyn.»
Am 17. Oktober 1774 wurde im Basler Grossen Rat ein Anzug eingereicht mit der Frage, «ob nicht die hiesigen Uhren mit den Uhren der Benachbarten in Gleichförmigkeit gesetzt werden könnten». Denn seit dem frühen Mittelalter unterschied sich die Uhrzeit in Basel von jener der umliegenden Dörfer, Städte und Länder, indem sie eine Stunde vorging. Der Grund für die Basler Zeitbesonderheit war, dass die Sonnenuhr am Münster den Mittag wie in der mittelalterlichen, den Gebetsstunden (Horen) folgenden Tageseinteilung nicht mit 12 Uhr, sondern mit 1 Uhr angibt. Die ersten Schlaguhren (ab 1380) übernahmen diese Uhrzeit, und so kam es zur ‹Basler Zeit›. Vierhundert Jahre lebte Basel mit und in seiner eigenen Zeit. «Kaum war» der Anzug «ausgesprochen worden», schreibt Peter Ochs in seiner Basler Geschichte, «als von vielen ein Gemurmel von Unzufriedenheit sich hören liess. Er wurde doch der Haushaltung zur Berathung überwiesen. Von dieser Zeit an 11
B a se l und d ie a nd e r e n
Be a t von Wa rt b urg
B a se l und d ie a nd e r e n
Die Haushaltung, das oberste Organ der Finanz-, Zoll- und Steuerverwaltung, schob den Entscheid hinaus und führte eine Vernehmlassung bei den Zünften durch. Erst drei Jahre später, am 7. April 1777, lieferte sie ihre Denkschrift ab und empfahl einen Kompromiss: Die Uhr solle zwar eine Stunde zurückgestellt, die Tagesordnung aber nicht verändert werden. Wer also bis anhin sonntags um 8 Uhr in die Kirche ging, sollte dies neu um 7 Uhr tun. Der Grosse Rat folgte diesem Vorschlag, und die neue Regelung trat am 1. Januar 1778 in Kraft.
ieder vorgestellt. Der deutsche Reisende w Christian C.L. Hirschfeld diagnostizierte fünf Jahre später: «(…) in einer Handelsstadt, die so sehr an dem Herkommen hängt, (…) sind Verbesserungen des Alten nicht so leicht zu erwarten». In der Tat brauchte es eine veritable Revolution, bis sich Basel entschloss, so zu ticken wie seine Nachbarn. Im Januar 1798, nach der revolutionären Erhebung der Landschaft gegen die Stadt, beschloss der Grosse Rat nicht nur die Gleichstellung von Stadt und Land, sondern schaffte auch die Basler Uhrzeit ab. Ab jetzt schlugen «die Stadtuhren, wie aufm Lande und in den benachbarten Staaten». Ist die Geschichte der Basler Zeit nur eine historische Anekdote oder ein Symptom dafür, dass sich Basel schwertut, wenn es um Veränderungen geht, dass sich Basel gerne vom Rest der Welt unterscheiden möchte? In jedem Fall erscheint die Basler Seele immer wieder zerrissen. Sie will Internationales, Innovatives und Grosses und entscheidet sich dann doch für das Kleinere, Bewährte, Lokale, besinnt sich auf das Museale, erschrickt vor dem eigenen Mut. Basel ist konservativ-fortschrittlich, offen und in sich gekehrt, weltläufig und auf heute 37 Quadratkilometern genügsam: Man wäre gerne der übrigen Welt eine Stunde voraus und merkt nicht, dass man mehr als eine Stunde hinterherhinkt. Pflegt Basel Basels Uhren gehen anders das Ungleichzeitige und verschläft immer «Allein, was geschah? Alle Geschäfte ge wieder, von der Zukunft träumend, die Geriethen in Unordnung; die grossen Bandfa- genwart? briken standen still; es war nahe dabei, dass man einen völligen Aufstand zu besorgen Alle Zitate sind belegt in: Beat von Wartburg: Musen & Menschenhatte. (…) wenn die Einen sich, laut dem Gerechte. Peter Ochs und seine literarischen setz, nach der Sonne richteten, so richteten Werke. Basel 1997 sich die andern, aus Gewohnheit oder Muthwillen, nach der Stundenzahl.» Schon nach vier Tagen wurde im Grossen Rat der Anzug eingebracht, die alte Zeit wieder einzuführen, und am 18. Januar 1778 wurde das Experiment abgeblasen und die Uhren 12
Gekränkt, u nverstanden, defensiv Basel stellt sich in der Schweizer Politik oft an den Rand
Hoher Besuch aus Bern im Theater Basel: Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey nach der Basler Sitzung des Gesamtbundesrats vom 19 . Oktober 2011
Reflexartig schoss es aus Stadtpräsident Guy Morin hervor, als der Nationalrat im Sommer 2011 nüchtern und kühl rechnend beschloss, die Städte im Rahmen des Finanzausgleiches nicht mit zusätzlichen Millionen für ihre Sonderlasten abzugelten: Basel, verkündete Morin am Tag nach dem Berner Verdikt, über das bezeichnender weise nicht einmal abgestimmt wurde, brauche in Bern endlich einen eigenen Lobbyisten, nur so erhalte man Gehör. Es war
die alte Forderung, die stets wiederkehrt, wenn sich Basel in Bern zu kurz gekommen fühlt. Freilich: Überraschend kam der finanzpolitische Entscheid aus Bern keineswegs, denn seit jeher haben die ländlichen Regionen im Bundeshaus gegenüber den Städten Oberwasser, wenn es um die Verteilung von Subventionen und Ausgleichszahlungen geht. Ein durch die Wandelhalle schleichender Lobbyist mit Basler Dialekt hätte daran 13
B a se l und d ie a nd e r e n
D a nie l Ge rny
B a se l und d ie a nd e r e n
nichts geändert. Nirgendwo aber löste die Zurückweisung der Forderung stärkere Irritationen aus als in Basel. Zutage trat nicht bloss der Frust über eine Niederlage, wie sie im Parlament täglich dutzendfach vorkommt, sondern die Stadt schien gekränkt über den Affront aus Bern. Man nahm am Rheinknie wieder einmal einen Ausdruck der Geringschätzung wahr. Denn ob Finanzausgleich, Wisenberg-Tunnel oder Bundesratswahlen: Stets sieht sich Basel im Nachteil – und neigt als Folge dazu, in eine Mischung aus verzweifeltem Selbstmitleid und trotziger Verunsicherung zu verfallen. Dabei ist das Gefühl nicht falsch, dass Basel – immerhin drittgrösste Stadt und zweitstärkste Wirtschaftsregion – im Rest der Schweiz oft ungenügend beachtet wird. Stadt und Region kommen zu schlecht weg, denn sie liegen am Rande des Landes, jenseits des Hauensteins, abgeschottet durch die Hügel des Juras, weitab der Zentren, die den Takt der Nation bestimmen. Die innenpolitischen Nachteile dieser geografisch ungünstigen Lage zeigten sich früh: Das Bundeshaus steht in Bern, das Bundesgericht in Lausanne, der nationale Flughafen in Kloten, das Landesmuseum in Zürich. Und auch als 1959 um den Standort für die zukunfts- und prestigeträchtigen Fernsehstudios gefeilscht wurde, entschied sich das zuständige Departement gegen Basel – wobei Bern in dieser Sache sogar den ausdrücklichen Willen der SRG -Generalversammlung überging. Die Nachteile sind offensichtlich: Allein schon die Folgen der Abwesenheit der nationalen Medien wirken sich für die Region zum Nachteil aus. Von den klassischen überregionalen Tageszeitungen hält einzig die ‹Neue Zürcher Zeitung› an einem festen Korrespondenten in Basel fest. Auch anderswo ist mangelndes Interesse statistisch nachweisbar. Ereignissen in Zürich werde auf DRS 1 fast sechsmal so viel Sendezeit
eingeräumt wie solchen in Basel, stellte eine BAKOM-Studie im letzten Jahr fest. Beim Schweizer Fernsehen sind die Zahlen ähnlich, hinzu kommen handwerkliche Fehler als Folge der fehlenden Kenntnisse über die Region. Mitunter sieht sich die Basler Regierung gar zur Intervention in Leutschenbach gezwun gen, um die schlimmsten Auswüchse zu korrigieren – wie im Fall jener ‹Schweiz aktuell›-Serie, in der die Redaktion nach der letzten Finanzkrise aus dem ‹Krisengürtel› berichtete. Mitten im Krisengebiet, tiefrot eingefärbt, platzierten die Macher BaselStadt. Dabei verzeichnete der Kanton dank der Pharmabranche unterdurchschnittliche Arbeitslosenquoten und Steuerausfälle, präsentierte gerade eine Reihe neuer architektonischer Highlights zur Belebung des Wirtschafts- und Kulturbetriebs und meldete wachsende Einwohnerzahlen. Doch nicht nur die geografische und mediale Randlage tragen dazu bei, dass Basel nicht in den schweizerischen Raster passt. Basel ist seit jeher urban, während die Schweiz auf eine vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Tradition zurückblickt: Zu einem Zeitpunkt, als Bern und Zürich noch bessere Dörfer waren, positionierte sich Basel als europäische Grossstadt. Man handelte mit Freiburg und Strassburg, beherbergte das Konzil, gründete die erste Universität auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft, investierte in Kunst und Kultur und trieb die industrielle Entwicklung voran. Bis heute prägt die städtische Geschichte den Kanton, während das Bewusstsein für die ländliche Schweiz unterent wickelt ist. Basel sieht die Welt anders als die ländliche Schweiz – das zeigt sich selbst im therapiebedürftigen Verhältnis zum Basler Landkanton. Die Zersplitterung der Kräfte in der Region führt dazu, dass die zahlenmässig dünn gesäten Abgeordneten beider Basel im Bundeshaus offen gegenein ander antreten und ohnehin spärlich vor14
selbst als die heikle Frage die halbe Schweiz umtrieb, griff der zuständige Departe mentschef Christoph Brutschin nicht aktiv in die Debatte ein. Basels Selbstzweifel und die rot-grüne Angst davor, als unsozial missverstanden zu werden, führten so dazu, dass seine Vorreiterfunktion auf diesem Gebiet kaum wahrgenommen wurde. Gekränkt, unverstanden, defensiv: Es ist ein komplexes Verhältnis von Wechselwirkungen, das zu Misserfolgen in der Politik, zur unterdurchschnittlichen Präsenz in den Medien und zum verkrampften Umgang der Stadt mit dieser Misere führt. Dabei ginge es auch anders: Als der Ständerat im Frühjahr 2010 per Notrecht verlangen wollte, dass die Kostenfolgen der neuen Spitalfinanzierung auf die Kantone abgewälzt werden, agierten Basler Politiker an vorderster Front gegen das Ansinnen. Es zahlte sich aus, dass Basler Exponenten nicht nur in der zuständigen Parlamentskommission vertreten waren, sondern überdies auch in den Vorständen der beiden Konferenzen der kantonalen Finanz- und der Gesundheitsdirektoren. In früheren Jahren waren die Basler Regierungsmitglieder in diesen G remien kaum anzutreffen gewesen – wahrzunehmen schon gar nicht. Nun aber trugen die Basler Connections massgeblich dazu bei, dass der Ständerat von seinem Vorhaben abrückte und die Kantone nicht zusätzlich zur Kasse gebeten wurden. Es war unspektakuläre Politik, eingefädelt ohne Lobbyisten vom Rheinknie und ohne laute Töne, aber vorangetrieben von schweizweit vernetzten Basler Politikern. Den Baselstädter Steuerzahlern ersparte die klandestine Aktion fünfzig Millionen Franken.
15
B a se l und d ie a nd e r e n
handene Wirkungskraft in Eigenregie neutralisieren. Gleichzeitig fehlt der Stadt – abgesehen von Basels Haus- und Stararchitekten Herzog & de Meuron – das genügend grosse Potenzial an kreativen Querdenkern und Störenfrieden, die auch auf der gesell schaftlichen und politischen Bühne das unkonventionelle Denken befeuern. Werber, Designer, Medien, Künstler oder InternetPioniere zieht es etwa nach Zürich oder ins Ausland, weshalb Basel trotz dichtem Kulturangebot etwas Verschlafenes anhaftet. Das schlägt sich auf sein städtisches Selbstbewusstsein und auf die mediale Ausstrahlung nieder. Denn über Uninspiriertes berichtet man nicht. Während Zürich für sich frech den Slogan ‹Downtown Switzerland› in Anspruch nimmt und sich selbst der Aargau zur gewichtigen Grossregion verklärt, wiederholt man in Basel Mal um Mal die Klage über fehlende Allianzen in der Region und mangelndes Gewicht in Bern. Hilflos sucht Basel die Ursachen über die eigenen Misserfolge wahlweise im Baselbiet oder im Rest der Schweiz. Statt selbst den Takt anzugeben und Anerkennung für eigene Projekte einzufordern, wird das lieb gewonnene ‹Basel tickt anders›-Understatement gepflegt. So sind es vor allem Basler Schrulligkeiten wie der bizarre Kampf um Raucherlokale, die zum nationalen Thema werden. Dabei wäre mit etwas weniger Bescheidenheit mitunter einiges zu erreichen. Nicht nur die grossen Würfe wie die weitherum bewunderte Basler ‹Hafencity›-Vision sind dabei gefragt, sondern mehr Präsenz in der unspektakulären Alltagspolitik. Als sich die Politik im Kanton Zürich 2010 eine heftige Debatte darüber lieferte, ob es Sozialhilfeempfängern erlaubt sein solle, ein Auto zu besitzen, waren Basels Behörden längst einen Schritt weiter. Still und leise hatten sie das Auto für Sozialhilfeempfänger bereits Anfang Jahr gestrichen. Doch
B a se l und d ie a nd e r e n
Pa t rick M arc olli
Basel und die Deutschen Ein Wetterbericht
Jeweils am Sonntagabend um 20.13 Uhr, vor dem ‹Tatort›, wird es mir sonnenklar: Basel ist untrennbar mit Deutschland verbunden. Die Verkündigungen der Wetterfeen vom Dach des Schweizer Fernsehens haben für Basel nichts zu bedeuten. Wer wissen will, wie das Wetter hier wirklich wird, muss die deutsche Wetterprognose nach der ‹Tagesschau› – und vor dem Krimi – im Ersten berücksichtigen. Was der Sprecher für das «südliche Breisgau» oder die Region «am Oberrhein» prognostiziert, trifft exakt auf unsere Stadt am Rheinknie zu. Basel und Deutschland sind also eins, meteorologisch zumindest. Und auch sonst ist die Beziehung sehr eng. Besonders eng war sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als der Anteil der Deutschen an den Immigranten durchschnittlich fast achtzig Prozent betrug und zwei in Deutschland Geborene, n ämlich Rudolf Philippi und Heinrich Reese, es sogar zu regierungsrätlichen Weihen brachten. Das war um die Jahrhundertwende, als
über 33 000 Deutsche in Basel wohnten – und damit fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachten. Damals kursierte der Witz, das Rathaus würde nur deshalb mit einem neuen Turm ausgestattet, um den Deutschen einen besseren Blick in ihre alte Heimat zu ermöglichen. Die beiden Weltkriege als gravierendste historische Zäsuren im 20. Jahrhundert liessen – wir können es an dieser Stelle nur vermuten, nicht wissenschaftlich belegen – das Verhältnis der Basler zu den Deutschen und zu Deutschland merklich abkühlen. Basel als Grenzstadt war ungemein verletzlich: Im Ersten Weltkrieg zitterten die Scheiben in der Stadt, wenn Franzosen und Deutsche in den nahen Vogesen die grossen Kanonen einsetzten. Und im Zweiten Weltkrieg wurde Basel von amerikanischen Bombern fälschlicherweise für eine deutsche Stadt gehalten. Die Zahl der in Basel lebenden Deutschen ging drastisch zurück: 1950 besassen von den knapp 200 000 Einwohnern 16
zum Anlass für eine Anti-Deutschen-Kampagne wurde. Warum ist es in Basel vergleichsweise ruhig? Wohl weil es historisch keine neue Erfahrung ist und man weiss, dass es ohne Deutsche – seien es die Grenzgänger oder die Zuwanderer – allein schon ökonomisch nicht so gut laufen würde. Hinzu kommt, dass die sogenannten Expats, zu denen die Deutschen in den Diskussionen erstaunlicherweise kaum je gezählt werden, den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskurs prägen. Wie soll man diese meist englischsprachigen ‹nettozahlenden Migranten› in die Basler Gesellschaft integrieren, lautet die Frage. Wie die Deutschen zu integrieren sind, wird kaum je gefragt. Nicht, dass es heute keine Ressentiments gegenüber Deutschen mehr gäbe. Die Skepsis oder Abwehr wird, so die These, in dieser Stadt nicht mehr mit Humor verarbeitet oder in der Satire kanalisiert. Sie existiert subkutan und bricht immer wieder einmal hervor. Eine deutsche Freundin muss im Alltag nicht selten feststellen, dass sie von ‹Einheimischen› argwöhnisch betrachtet oder aufgrund ihrer Sprache und Herkunft gar beleidigt wird, wenn es zum Beispiel im Verkehr oder an der Kasse eines Supermarkts zu kleinen Rencontres kommt. In der Basler Politik gibt es immer wieder heikle Situationen vor dem Hintergrund der Beziehung zu Deutschland. Es sei hier an die Zollfreistrasse erinnert, dieses Relikt der Verkehrsplanung aus den Siebzigerjahren. Ganz Basel wurde in dieser Auseinandersetzung bewusst gemacht, wer das Sagen hat und wie ohnmächtig ein kleiner Kanton gegenüber dem ‹grossen› ist. Deutschland pochte auf den damals ausgehandelten Staatsvertrag, kein Weg führte daran vorbei. Doch die Debatte in Basel wurde kaum gegen Deutschland oder die Deutschen selbst geführt. Man stellte einfach murrend fest, wie es um die Machtverhältnisse steht. Bei der Verlängerung des 17
B a se l und d ie a nd e r e n
des Kantons Basel-Stadt gerade noch rund siebentausend den deutschen Pass – inwiefern die Einbürgerung diese Zahl beeinflusste, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Ich kann mich noch gut erinnern, dass man sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch oft über ‹d Schwoobe› lustig machte und von Deutschland als dem ‹grossen Kanton› sprach. Ein Schnitzelbank aus dieser Zeit zählte auf, dass es alle Arten von Deutschen gebe – ausser scheuen. Ironie und Witz sollten darüber hinweghelfen, dass man gerade in Basel vor diesem Land im Norden eigentlich gehörigen Respekt hatte. Und heute? Die Witze über die Deutschen sind selten geworden, neue gibt es schon gar nicht. Die Sage, dass unsere ‹Schwööbli› so heissen, weil sie einem Hintern nachgeformt sind, ist der jüngeren Generation kaum mehr geläufig. Der Kollege, der vor nicht allzu langer Zeit die Unterhaltung zwischen einem Schweizer und einem Deutschen mit dem Aufeinandertreffen eines D-Zugs und eines ICE verglich, bleibt die Ausnahme. In den vergangenen Jahren hat die Einwanderung von deutschen Staatsbürgern nach Basel wieder stark zugenommen, es gibt in diesem Sinn durchaus Parallelen zum 19. Jahrhundert. Zwischen 2002 und 2010 hat sich die Zahl der Bewohner Basels mit deutschem Pass von siebentausend auf vierzehntausend verdoppelt. Ohne diese meist hoch qualifizierten Zuwanderer kämen die hiesige Pharmaindustrie, aber auch das Gesundheits- oder Bildungswesen in grosse Nöte. Oder wo stünde der FC Basel ohne seine deutschen Trainer? Das 21. Jahrhundert könnte also für Basel zu einem neuerlichen ‹deutschen Jahrhundert› werden. Ein öffentliches Thema aber ist das nicht. Hierin unterscheidet sich Basel von Zürich, wo die starke deutsche Einwanderung in den vergangenen Jahren besonders in rechtspopulistischen Kreisen
B a se l und d ie a nd e r e n
Wechselnde Wetterlagen an der Grenze: Fotos der Webcam der Christoph Merian Stiftung vom 17. Februar bis zum 13 . September 2011
18
19
B a se l und d ie a nd e r e n
B a se l und d ie a nd e r e n
schen Intellektuellen war, hochgebildet und eloquent, gleichzeitig aber auch kühl und distanziert. Schindhelms Theater war anspruchsvoll und erfolgreich und wurde in den deutschen Feuilletons in den höchsten Tönen gepriesen. Die Basler erfüllte dies durchaus mit Stolz – aber sie liebten dieses Theater wohl nie wirklich. Der jetzige Direktor Georges Delnon verströmt eher die Aura des bauernschlauen Mittelland-Intellektuellen. Für die Basler ist es einfacher, ihn zu mögen als Schindhelm, denn man kann sich ihm ein Stück weit überlegen fühlen. Auch Delnon macht durchaus erfolgreiche Oper, aber er gerät bei den Baslern gar nicht erst in den Verdacht, nur fürs deutsche Feuilleton zu inszenieren. In den kommenden Jahren wird sich Basel wieder verstärkt mit seinem Verhältnis zu den Deutschen in der Stadt und dem grossen Nachbarn im Norden auseinandersetzen müssen. Damit das kommende ‹deutsche Jahrhundert› auch zu einem gegenseitig befruchtenden wird, müsste wohl offener über das Verhältnis zwischen Baslern und Deutschen gesprochen werden. Und vor allem wieder mit mehr Humor. Denn auf der Wetterkarte am Sonntagabend ist durchaus auf gesellschaftspolitisch heik- genau zu sehen, dass die Hochs und Tiefs lem Terrain: Natürlich geht es bei Begehren über dem südlichen Breisgau und am Hochwie der Dialektinitiative primär um die För- rhein keine Grenzen kennen. derung und das Bewahren einer baslerischen Identität, des sprachlichen und somit kulturellen Erbes. Aber letztlich sind diese Bemühungen auch der Versuch einer Abgrenzung gegen die Hochsprache und somit gegen die deutsche Kultur. Doch wer von den Baseldeutsch-Propagandisten würde dies öffentlich sagen? Besonders gut festmachen lässt sich die subkutane Skepsis der Basler gegenüber den Deutschen – man könnte es auch eine versteckte Hassliebe nennen – im Kulturbereich. Mit Michael Schindhelm hatte das Theater Basel über viele Jahre einen Direktor, der sozusagen der Inbegriff des deut8er-Trams nach Weil, einem Vorzeigeprojekt der regionalen Zusammenarbeit – das im Übrigen lediglich eine Rückkehr zur lange gepflegten Praxis der internationalen Tramlinien im Dreiland ist (zum Beispiel dem Tram nach Lörrach bis 1967) –, gab es ebenfalls einen kurzen Moment der Irritation: Als es um die Finanzierung ging, strapazierten die deutschen Nachbarn die Geduld der Basler und den Geldbeutel der Stadt und holten für sich das Maximum heraus. Doch hat man dieses Projekt deshalb infrage gestellt oder Ressentiments geschürt? Nein, Basel hat Grösse gezeigt und seine Rolle als Zentrum dieser Region souverän ausgefüllt. Auch die Debatte um Hochdeutsch oder Baseldeutsch im Kindergarten bewegt sich
20
Tell und die a nderen Begegnungen zwischen Tellplatz und Restaurant Bundesbahn
Mittelpunkt des Gundeli: der Tellplatz
Auf dem Tellplatz steht kein Schweizer Armbrustschütze mit Söhnchen und Apfel, die Früchte und das Gemüse am Samstagsmarkt kommen aus dem Badischen, der Schneider am Platz stammt ursprünglich aus der Türkei und der Inhaber des Cafés aus Mazedonien. An diesem Treff-, Orientierungs- und Verkehrsknotenpunkt im Herzen des Gundeli herrscht ein fröhliches Sprachengewirr. Neben Hoch- und Schweizerdeutsch sind slawische und romanische Zungen zu hören, afrikanische und asiati-
sche, Türkisch und immer mehr auch Englisch. Fragt man Passanten nach der Bedeutung von Tell im Gundeli, reagieren selbst Schweizer verständnislos: «Tell im Gundeli?» Ein Platz ist doch nach ihm benannt. Ah ja, der Tellplatz. Aber hier nimmt man einfach ein Tram, geht zum Einkaufen oder in ein Restaurant, setzt sich bei schönem Wetter auf eine Bank. Am Anfang der Bruderholzstrasse, bei den Bahngeleisen und der kleinen Passerelle zur Nauenstrasse hinüber, gibt es ein Restau21
B a se l und d ie a nd e r e n
Anne - L is e H ilt y
B a se l und d ie a nd e r e n
Beliebte Quartierbeiz: das Restaurant Bundesbahn
rant, das ebenfalls nach einem bedeutenden Symbol schweizerischer Identität benannt ist: das Bundesbahn. Dem Namen seiner Inhaber dagegen ist die ‹andere› Herkunft anzusehen beziehungsweise anzuhören, selbst wenn man ihn deutsch ausspricht, wie das seine Besitzer tun. Die Familie Kirmizitas hat das Restaurant Bundesbahn 1996 übernommen. «Wir waren zuerst skeptisch», erinnert sich Stammgast Walter Salvisberg. «Wir befürchteten, aus unserem Lokal würde eine Kebabbude.» Doch die neuen Besitzer haben die Tradition des Restaurants erhalten und ergänzt, die Speisekarte auf das bestehende Publikum ausgerichtet und das Lokal sanft renoviert. Und die Vorgängerin stellte die Brüder Kirmizitas den Stammgästen und Vereinen vor. Das Restaurant, von dessen Terrasse aus gerne ein- und ausfahrende Züge beobachtet werden, hiess von Anfang an, also seit 1918, Bundesbahn – nicht nur wegen seiner
Nähe zum Bahnhof, sondern vor allem wegen seiner Gäste, von denen viele bei der Bahn arbeiteten, sei es im Centralbahnhof oder im Güterbahnhof an der Nauenstrasse. Die Brüder Kirmizitas haben die Tradition fortgeführt und das bestehende Bahndekor – Signale, Taschen und Mützen – um Bahnfotos aus dem SBB-Archiv und eine Modelleisenbahn erweitert, die über den Köpfen der Gäste ihre Runden dreht. Immer noch versammeln sich hier regelmässig pensionierte Bähnler, ebenso aber auch Vereine, Chöre und Cliquen. Salvisberg trifft sich weiterhin jeden Sonntag mit seinen Kolleginnen und Kollegen im ‹Bundesbähnli› – seit 1972. Rund ein Dutzend Leute sitzen an diesem Abend am Stammtisch auf der Terrasse zusammen, trinken ein Bier, plaudern und freuen sich aufs Essen. Das sei hervorragend. Die Speisekarte enthält sowohl bewährte Gerichte wie Schnitzel und Pommes frites als auch asiatische Nudelsuppe, italienische Pesto-
22
Spaghetti oder indische Teigtaschen. Ebenso international ist inzwischen das Publikum. Seit Firmen aus aller Welt in das neu erstellte Peter-Merian-Haus auf dem ehemaligen Eilgut- und Depotareal gezogen sind, dem später das Jacob-BurckhardtHaus zur Seite gestellt wurde, hört man – vor allem mittags – vermehrt auch Englisch im Bundesbahn. Abends verkehren hier eher Leute aus dem Quartier. Einer von ihnen ist der Coiffeur Tonino Liscio, der seit fünfundvierzig Jahren seinen Salon wenige Meter vom Restaurant entfernt betreibt. Als er 1959 aus Apulien in die Schweiz kam, wusste er nach einem Jahr, dass er nie mehr zurückkehren würde. Schon damals habe es Berlusconi gegeben, nicht als Person, aber klimatisch. «Wenn in einem Dorf sechs Coiffeure waren und einer in den Gemeinderat gewählt wurde, konnten die andern fünf schliessen.» In der Schweiz werde man an der Arbeit gemessen, allerdings sei die Qualität inzwi-
schen weniger wichtig als auch schon. Tonino, wie ihn hier alle nennen, erwarb ein eidgenössisches Diplom, gewann zahlreiche Preise – sein kleines Geschäft ist voller Pokale –, heiratete eine Schweizerin und wurde selbst Schweizer. «Aber ein schwarzes Schaf», lacht er. Von einem Kunden um eine Unterschrift für die Ausschaffungsinitiative gebeten, erklärte ihm Tonino, das SVP-Plakat vor Augen, als schwarzes Schaf könne er nicht unterschreiben. Der ursprünglichen Heimat ist Tonino trotz Berlusconi verbunden geblieben. Sein Salon ist ein Treffpunkt, ein bisschen Piazza längst nicht mehr nur für Heimweh-Italiener. Leute kommen, um zu schwatzen, einen Kaffee zu trinken, den ‹Corriere della Sera› zu lesen und manchmal, um sich in Abstimmungsfragen beraten zu lassen. Eine schweizerisch-italienische Doppelbürgerin möchte wissen, was es mit der Wasserprivatisierung in Italien auf sich hat. Tonino erklärt den Inhalt der komplizierten
23
B a se l und d ie a nd e r e n
Herr Kirmizitas, seit 1996 Wirt des ‹Bundesbähnli›
B a se l und d ie a nd e r e n
Tonino Liscio, alteingesessener Coiffeur an der Hochstrasse
Vorlage und die Positionen der verschie denen Parteien, ohne eine Stimmempfehlung abzugeben. Das müsse jeder selber wissen. Aber niemand verlässt sein Geschäft, ohne über mindestens einen Witz gelacht zu haben. Mit sehr konkreten Bedürfnissen gehen die unterschiedlichsten Leute aus dem Quartier zum Schneider am Tellplatz. Kleider oder Vorhänge wollen genäht, Hosen gekürzt, Röcke angepasst werden. Und das alles möglichst zu einem Preis, der nicht gleich die Neuanschaffungskosten übertrifft. Ein Muskelmann betritt den Laden, der geliebte Kittel ist zu eng geworden. Ob er ihn nun weggeben müsse? «Sicher nicht», meint Hüseyin Torun, und man hört den Berufsstolz in seiner Stimme. Er misst die mächtigen Schultern, steckt Nadeln in die Jacke. In ein paar Tagen werden Muskelmann und Kittel wieder zusammenpassen. Eine elegante Dame holt ihr abgeändertes Kleid, ein schlaksiger junger Mann
seine gekürzten Hosen. Beide sind zufrieden. Eine andere Frau jedoch muss unverrichteter Dinge wieder abziehen. Torun weigert sich, eine Bluse aus dem Stoff zu nähen, den sie in Indien gekauft hat und für Seide hält. «Das lohnt sich nicht für diesen Kunststoff. Sie bekommen zum halben Preis in einem Warenhaus eine Bluse aus reiner Seide.» Seit elf Jahren betreibt Torun, der das Handwerk in seinem Herkunftsland Türkei gelernt hat, eine Schneiderei im Gundeli, zuerst einen kleinen Laden an der Bruderholzstrasse, seit 2005 das Geschäft am Tellplatz. Das dicht besiedelte Quartier von der Grösse einer kleinen Stadt mit knapp zwanzigtausend Einwohnern war schon immer sehr gemischt. Seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert ist der Anteil der Ausländer relativ hoch geblieben, ausser während der Kriegsjahre. Heute beträgt er knapp vierzig Prozent. Nur die Zusammensetzung hat sich verändert. Während die Einwanderung
24
aus Italien und der Türkei derzeit abnimmt, kommen mehr Menschen aus Deutschland, aus Ex-Jugoslawien und aus den statistisch ‹übrigen› Ländern. Gemäss Michael Degen, der seit 1995 in der Kinderkrippe Gundeldingen arbeitet, stammen heute mehr Kinder aus Afrika als aus der Türkei. Tatsächlich ist vor wenigen Jahren nur ein paar Meter von der Kinderkrippe entfernt das Africa House mit afrikanisch-karibischen Spezialitäten – von gefrorenem Stockfisch bis zu bunten Boubous und Haarteilen – eröffnet worden. Generell sei die Zusammensetzung bunter geworden, so Degen. An einem ihrer letzten Feste, welche die inzwischen über hundertjährige Krippe regelmässig veranstaltet, nahmen rund vierzig Nationalitäten teil. Eine Schar Kinder strömt aus einem der Zimmer und illustriert Degens Aussage: zwei Mädchen vermutlich tamilischer Herkunft, zwei Blondschöpfe, drei Kinder dunkler Hautfarbe. Das sind wohl die Afrikaner.
«Oder die Schweizer», lacht Degen, «viele ‹unserer› Kinder haben gemischte Elternpaare.» Eine weitere Veränderung seit 1995: Immer mehr Akademiker aus dem Quartier schicken ihre Kinder in die Krippe. Das Gundeli ist eines der Stadtentwicklungsgebiete des Kantons. Was mit dem Boulevard Güterstrasse, dem Gundeldinger Feld und dem ‹Südpark› begonnen hat, soll mit den noch zu realisierenden Projekten auf dem Dreispitz- sowie auf dem Rietschiareal und den Verkehrsentlastungsplänen fortgeführt werden. Neue Geschäfte werden entstehen, andere verschwinden. Zweifellos werden die ‹Anderen› eine Rolle dabei spielen. Aber kaum jemand wird daran denken, wenn er ihre Dienstleistungen in Anspruch nimmt. So wenig wie die Leute an Tell denken, wenn sie am Tellplatz das Tram nehmen.
25
B a se l und d ie a nd e r e n
Hüseyin Torun schneidert seit elf Jahren im Gundeli, seit 2005 am Tellplatz