Sarah Hildebrand Zuhause
Die Hütte Ich habe eine Faszination für Hütten in Bäumen, in Wäldern, in Gärten, die mich drängt, sie zu sammeln. Wenn ich eine sehe, nehme ich meine Kamera, mache ein Foto oder ich merke mir die Stelle und komme bald zurück. Eine Freundin, die meine Liebe zu den flüchtigen Häusern kennt, schnitt mir einen Artikel aus. Er erzählte von der Möglichkeit, in Baumhütten zu übernachten. Das originelle Konzept hieß „Baumhotel“, und wie sein Name sagt, bot es Zimmer in Bäumen an. Die Idee, die vielleicht ungewöhnlich und kühn auf der Marketingebene ist, berührte mich trotzdem nicht. Das Hüttenabenteuer gehört für mich in die Welt der Fantasie. Brücken bauen zwischen der Realität und den Träumen. Sich mit drei Stofffetzen und zwei alten Stöcken einen Palast einrichten. Sich auf einem Stapel dürrem Laub zu Hause fühlen. Sich den Raum aneignen. Spuren hinterlassen. Sich eine Welt erbauen. Einen wunderbaren Ort finden.
Die Tüte Vor meinem Haus standen jeden Dienstag die Kartons und die Migros-Tüten mit dem Altpapier auf der Straße. Eines Nachts nahm ich hastig zwei der Tüten an mich und lief rasch nach oben, um meine Neuerwerbungen zu verstecken. Dann untersuchte ich ihren Inhalt. Die erste Tüte gehörte Fabrice Barrelli. Fabrice war anscheinend leidenschaftlicher Motorradfan, denn er las gern Kataloge, Zeitschriften und Artikel darüber und hielt sich über alle Neuigkeiten auf dem Laufenden. Bei Migros kaufte er häufig Energy-Milk mit Vanillegeschmack, Eistee, Chips mit Kräutern der Provence und Bananenmüsli. Er las nur den zweiten Teil des wöchentlichen Anzeigenblattes, angefangen auf Seite 30. Er liebte Rugby und war Trainer. Fabrice Barrelli plante den Kauf einer Doppelmatratze Épéda Maestria Multispire, er zögerte zwischen dem Modell 800 und 660 oder er hatte den Kauf bereits vollzogen. Vielleicht hatte er eine Tochter namens Aline, der er an jedem Monatsersten 40 Franken auf ihr Sparbuch überwies. Er nahm große Mengen an Gemüsebrühe sowie Kaffee aus Kapseln zu sich. Wenn er Umschläge wegwarf, entfernte er immer seine Adresse; deswegen war bei allen Umschlägen die rechte Ecke abgerissen. Er besaß eine Eurocard, ein Handy und eine E-MailAdresse bei Infomaniak, die er nicht mehr behalten wollte. Er hatte sich schließlich für eine Maestria-Matratze von JCM Meubles für 760 Franken entschieden. Die zweite Tüte gehörte Frank Ullmann. Wahrscheinlich deutscher oder schweizerdeutscher Abstammung. Nach den schicken Haushaltswaren-Katalogen, die ich in der Tüte fand, vermutete ich, dass er einen gewissen Lebensstil schätzte. Er hatte einen Handyvertrag bei Sunrise. Frank Ullmann telefonierte ziemlich oft mitten in der Nacht nach Granada. Er las nicht das wöchentliche Anzeigenblatt, sondern die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Häufig bekam er Post aus Deutschland. Er hatte ein Konto bei der DAB in München sowie bei der UBS. Mit großer Regelmäßigkeit ließ er sich Expertisen über Antiquitäten
schicken, Expertentreffen und Verkäufe bei Spezialauktionen. Er schien viel zu reisen, per Zug, Flugzeug, Schiff. Am 5. März befand er sich an Bord einer Fähre der Superfast Ferries zwischen Deutschland und Skandinavien. Er besaß eine EC-Karte, mit der er seine Einkäufe bei Migros bezahlte. Er trank Black Bottle Scotch Whisky. Am 4. Februar um 23 Uhr 15 hatte er Ingrid abgeholt, die, mit EasyJet aus Gatwick kommend, gelandet war. In der folgenden Woche stellte ich die Tüten diskret wieder zu den anderen.
Stolperstein Vor meinem Haus sind in den Gehweg zwei goldene Steine eingelassen. Auf jedem Stein stehen ein Name, ein Vorname, ein Geburtsdatum, das Datum der Deportation, der Ort und das Datum der Ermordung. Die Steine bezeugen jeden Tag das Verschwinden eines Paares, das während der Nazi-Zeit im Haus lebte. Oft, wenn die Sonne untergeht und einen letzten Strahl über die Straße wirft, sehe ich es da und dort auf dem Gehweg golden schimmern { 1.
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„Es kommt ja vor, daß Die Kurzlebigen in den Augen von Hinterbliebenen schimmern.“, Göran Tunström, Der Mondtrinker, Carl Hanser Verlag, 1998, S.17.
Die Hausverwaltung Als Studentin finanzierte ich mein Studium mit diversen Jobs im administrativen Bereich. Ich habe etwa ein Jahr lang als Buchhaltungsgehilfin in einer kleinen Hausverwaltung gearbeitet. Meine Aufgabe war es zu prüfen, ob die Mieter ihre Miete bezahlt hatten, das Geld für Reparaturrechnungen zu überweisen und die Abrechnungen der Eigentümer aufzustellen. Ich fand diese Arbeit interessant. Ich hatte eine gute Beziehung zu meinen Kollegen. Ich wurde gut bezahlt und hatte das Glück, nur von Montag bis Mittwochmittag zu arbeiten. So konnte ich weiter studieren und meinen künstlerischen Projekten nachgehen. Eines Tages, als ich aus dem Urlaub kam, erfuhr ich, dass ich entlassen worden war. Im Kündigungsschreiben hieß es: „Personalumstrukturierung“. Mit dem Chef zusammen waren wir vier Leute. Ich fragte mich, was sie genau umstrukturieren wollten. Die wirklichen Gründe waren finanzielle Probleme. Mehrmals hatten die Buchhalterin und ich bemerkt, dass Geld verschwand und auf wunderbarerweise zurückkam. Kurze Zeit nach meiner Entlassung ging die Hausverwaltung Bankrott. Mein ehemaliger Chef war mit der Kasse nach Argentinien geflohen. Dort baute er sich ein neues Haus.
Das Gebäude Am Ende ihres Studiums erwarb eine Freundin ein altes Gebäude. Sie verliebte sich in die Ruine während eines Aufenthalts in der Haute-Savoie in Frankreich. Sie bekam Hilfe von ihren Freunden. Designer, Architekten und Dekorateure bauten das Haus innerhalb kurzer Zeit um. Es wurde zu einer Insel des Friedens. Ein paar Tage nach ihrem Einzug sprach sie mit einem alten Mann aus dem Dorf. Er erzählte vom Zweiten Weltkrieg. Sie erfuhr, dass ihr neues Zuhause als Gefängnis und Folterort gedient hatte.
Der Farbkasten Wenn ein Wohnhaus abgerissen wird, bleibt an der Seitenwand des Nebengeb채udes seine Spur erhalten. Die alten Tapeten sehen wie ein riesiger Farbkasten aus. Die Mauerreste trennen die Farbtiegel. Die Farben sind nach Ton und Motiv geordnet. Das blumige Rosa befindet sich neben dem gepunkteten Blau, das geriffelte Beige neben dem getigerten Gelb. Ich mag diese einzigartigen Blicke auf farbige Fragmente des verj채hrten Lebens.
Sie fallen vom Himmel In der ehemaligen DDR hieß es, das Baumaterial sei selten wie Bananen. Backstein und Zement waren oft schwierig zu finden. Die Stadt Berlin kümmerte sich ausschließlich um die Fassaden der großen Alleen, um ihr Bild aufzupolieren. Deshalb waren in Ostberlin viele Häuser in einem jämmerlichen Zustand. Eine Freundin wohnte in einem vor kurzem sanierten Haus in Friedrichshain. Sie konnte sich an einer Heizung, einem Bad und vor allem einem Balkon erfreuen. Eines Abends kam eine Bekannte zu Besuch. Sie lief direkt auf den Balkon und sagte: „Ah! Was für ein Glück, ich hatte zwei Balkone, beide sind abgefallen!“
Das Einfamilienhaus I Ich war ein paar Jahre mit einem Künstler zusammen, dessen Hauptthema die Fotografie von Einfamilienhäusern in Vororten war. In jeder Stadt, die wir besuchten, ging er in die Vororte, um Fotos von Häusern zu machen, die alle ähnlich aussahen. Ludovic wollte durch diese Bilder die Absurdität des Mythos vom Einfamilienhaus zeigen. Wie der Traum des Städters von einem Häuschen auf dem Land in der Realität zu einem grauen Fertigbau an der Autobahn wird, trostloser Fertigbau, umgeben von trostlosen Fertigbauten. Und wie manchmal das leidenschaftliche Ausschmücken durch die Bewohner die Lächerlichkeit des Ganzen betont. Auf diese Weise hatte er Jahr um Jahr eine Sammlung langweiliger Häuser zusammengetragen, mit der er, Ironie des Schicksals, nichts anzufangen wusste. Ich stellte mir manchmal vor, wie Ludovic hinter seiner Kamera sich ebenfalls langweilte. Hatte das Sujet einen Einfluss auf den Künstler? Eines Tages, als er von seiner Jagd nach Einfamilienhäusern zurückkam, fand ich in dem Stapel seiner Fotos ein Haus, das mir gefiel. Das perfekte Haus für eine Großmutter. Ein verwitwetes Mütterchen, das seine Zeit damit verbrachte, Kuchen zu backen, den Garten zu pflegen und Socken für den Winter zu stricken. Dieses Haus wirkte gar nicht langweilig auf mich, im Gegenteil: vielmehr unscheinbar, aber mit versteckten Schätzen. Sicher erzählten die alten Blumentapeten von den Geschichten der Zimmer. Ich bekam Lust, das Haus behutsam zu erforschen, einzutreten, ihm einen Besuch abzustatten und vielleicht sogar, dort zu wohnen.
Das Einfamilienhaus II Später verließ ich den Künstler und Sammler von Einfamilienhäusern für einen ordentlichen Mann: stattliche Erscheinung, dunkle Augen und Haare, kräftiger Händedruck, lautes Lachen, jemand, den man ernst nahm und der Geld verdiente. Schluss mit den Künstlern, es war vorbei mit den Sammlern, auf Sentimentalitäten hatte ich keine Lust mehr, ich nahm mein Leben in die Hand und suchte mir dafür einen starken Mann. Glück, ein Jahr lang, während ich die Schutzbedürftige und die kapriziöse Künstlerin spielte. Zu Anfang kümmerte es mich einfach nicht, doch mehr und mehr bereitete mir eine Sache Sorge: Der starke Mann mochte Einfamilienhäuser. Tief im Inneren träumte er von einem Auto, einer Familie und einem Haus. Er glaubte an seine Träume und daran, dass er sie mit der Zeit verwirklichen würde. Die Zeit verging, er verdiente mehr Geld, er wurde dicker. Schließlich kaufte er sich ein Auto. Dann merkte ich, welche Gefahr mir drohte. Ich stellte mir vor, wie ich als Mutter von zwei ordentlichen Kindern in einem Kombi zu einem schönen Einfamilienhaus fuhr. Der Hund rundete das Bild ab. Donnerstagnachmittags hätte ich Zeit für meine Kunst. Dieses Familienfoto gefiel mir gar nicht, und ich entschloss mich, meinen Platz darin zu verlassen.
Das Roma-Dorf Wenn ich über Wohnorte nachdenke, habe ich einen festen Ort im Kopf. Dennoch gibt es Leute, die durch ihre Kultur oder aus professionellen, ökonomischen oder politischen Gründen Nomaden sind. Ein großer Parkplatz in der Nähe meiner Wohnung wird oft von Roma-Familien bewohnt. Von einem Tag zum anderen besetzen große Wohnmobile den Platz. Tagsüber kümmern sich die Frauen um die Hausarbeit, während die Kinder zwischen den Wohnmobilen spielen. Ich beobachte ihren Alltag gern, ihr Leben ist gleichzeitig weit weg von meinem und ihm in manchen Aspekten ganz nah. Als ich Genf verließ, um nach Köln zu ziehen – ich tauschte ein sesshaftes Leben gegen ein anderes ein – hieß das, meine Familie, meine Wohnung, meinen Job, meine Freunde und mein soziales Netzwerk zu verlassen. Ich war allein in einer anderen Stadt, eine individuelle Aktion. Die Reise, stelle ich mir vor, hat für die Roma eine gemeinschaftliche Bedeutung. Es ist nicht ein Einzelmensch, der den Ort wechselt, sondern eine ganze Gruppe. Das Individuum ist nicht von seinem sozialen Netz getrennt, es lebt, weil es einer der Fäden im Gewebe ist.
Eier oder Zucker Meine Schwester lebt in einem Wohnhaus in Genf im CarougeViertel, wo die Menschen einander auf der Treppe selten grüßen. Als ich einen Sommer bei ihr verbrachte, erinnerte ich mich an meine verschiedenen Wohnungen. Ich habe oft in Häusern gewohnt, wo ich alle meine Nachbarn kannte. Ich konnte an ihre Tür klopfen, um nach Eiern oder Zucker zu fragen. Ich konnte in ihren Armen weinen oder bei ihnen schlafen. Und wenn ich etwas zu feiern hatte, waren natürlich alle Nachbarn eingeladen. Könnte es sein, dass Wohnen und Bindungen aufzubauen zusammengehören?
Der Nachbar I Mein Vater und meine Stiefmutter beschäftigten mehrere Jahre lang eine Haushaltshilfe. Felicia kümmerte sich um meine kleine Schwester und den Haushalt. Sie war verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter. Mehrere Jahre später fanden Felicia und ihr Mann eine Stelle als Hausmeisterehepaar in einem großen Wohnkomplex am Stadtrand. Felicia meldete sich regelmäßig bei meinem Vater und meiner Stiefmutter. Eines Tages rief sie an, um nach einem Rat zu fragen. Sie klang besorgt. Sie erzählte, dass in dem Gebäude, für dessen Instandhaltung sie und ihr Mann verantwortlich waren, ein älterer Herr lebte. Ein Junggeselle, der keine Verwandten hatte und bei schlechter Gesundheit war. Felicia und ihr Mann übernahmen oft kleine Erledigungen für ihn: Einkaufen, Putzen und Essen kochen. Der Nachbar hatte sich mit ihrer Tochter Olivia angefreundet und wurde ein Ersatz-Opa. Einige Zeit verging, und die gesundheitlichen Probleme des Nachbarn verschlimmerten sich. Die Eheleute fuhren ihn ins Krankenhaus, sie besuchten ihn häufig und erfuhren schließlich voller Trauer von seinem Ableben. Kurz nach seinem Tod nahm ein Notar Kontakt zu Felicia und ihrem Mann auf. Die beiden gingen ganz selbstverständlich zu ihm. Sie nahmen an, dass sie als Hausmeisterehepaar vielleicht bei der Wohnungsauflösung mithelfen sollten. Der Notar empfing sie höflich und teilte ihnen mit, ihr verstorbener Nachbar sei im Besitz eines kleinen Vermögens gewesen: Aktien, ein Ferienhaus in den Bergen, eine wertvoll eingerichtete Wohnung und ein Mercedes neuesten Baujahrs. In seinem Testament hatte er alles Olivia hinterlassen.
Der Nachbar II Ich hörte von Felicias Geschichte und beschloss, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Zu dieser Zeit war ich auf der Suche nach Orten, die ich „verlassene Orte“ nannte. Orte, die von ihren Bewohnern aufgrund von Tod, Krankheit oder in einem überstürzten Aufbruch „verlassen“ worden waren. Ich fragte, ob ich die Wohnung des kürzlich verstorbenen Nachbarn fotografieren dürfe. In Begleitung von Felicias Mann kam ich mit meiner Fotoausrüstung. Ich erinnere mich noch an die aufstörende Empfindung, wie eine Diebin in die Intimsphäre eines Unbekannten einzudringen, der obendrein noch verstorben war. Kann man einen Verstorbenen bestehlen? Und war das wirklich Diebstahl? Konnte er mich sehen, wie ich sein altes Zuhause aus allen Blickwinkeln ablichtete? Welcher Teil von ihm konnte mich wahrnehmen? War diese Wohnung immer noch sein Heim? Wo wohnte er jetzt? In der Wohnung herrschte eine Stimmung von Krankheit, Traurigkeit und Einsamkeit. Die zum großen Teil antiken und ein wenig kitschigen Möbel verrieten mir nur wenig über die Geschichte ihres Besitzers. Am Fuß des Betts standen Pantoffeln, und Papiertaschentücher waren auf den Boden geworfen. Ein Gegensatz, der so gar nicht zu dieser sauberen und aufgeräumten Umgebung passen wollte. Habe ich auf dem Film die Abwesenheit sichtbar gemacht? Ist es mir gelungen, das Gefühl des Aufbruchs einzufangen?
Der Nachbar III Die Darstellung von Abwesenheit ist ein Thema, das mich beim Fotografieren oft beschäftigt. Wie soll ich Abwesenheit darstellen, wie ohne Worte ein Fehlen ausdrücken oder etwas andeuten, ohne es direkt zu zeigen? Oft benutze ich Gegenstände, Stoffe, Licht und versuche, das Warten atmosphärisch einzufangen. Ob das gelingt? Manchmal ja, manchmal nein. Bis ich die Fotos aus der Wohnung des Nachbarn entwickelt hatte, blieb die Spannung. Ist es mir gelungen, mein Gefühl, die Stimmung des Ortes, die Spuren der Einsamkeit festzuhalten? Ich habe diese Fotografien nie gezeigt, denn ich konnte mein Unwohlsein nicht abschütteln. Jetzt, mit zeitlichem Abstand, berührt mich ein einziges Bild, das mit Respekt von diesem Ort und diesem Unbekannten erzählt. Es ist die Aufnahme von einem Stuhl, der mit einem geblümten Stoff bezogen ist; die Ecke eines Tisches mit einer alten Rosen-Tischdecke und einem grünen Platzdeckchen, auf dem eine Zeitung mit der Schlagzeile „Wer besiegt die Gefahr?“ liegt. Die Sonne wirft ein schwaches Licht über die Szene. Ob es dort, wo er jetzt ist, auch Blumenmotive gibt?
Der Supermarkt Ein Abend bei Freunden: Ich saß neben einem Mann, den ich nicht kannte. Nach dem üblichen höflichen Austausch sprachen wir ziemlich schnell über unser privates Leben. Augustino redete gern. Er erzählte mir mit großer Kunstfertigkeit und funkelnden Augen von seiner Kindheit. Geboren in einer Adelsfamilie, wurde er in einer riesigen Villa in einer kleinen Stadt in Spanien groß. Er sagte, wenn er an seine Kindheit denke, finde er sich automatisch in diesem Haus wieder, und selbst der Begriff von Zuhause sei für ihn mit diesem Ort verbunden. Irgendwie lebte er immer in Sehnsucht. Er ergänzte, dass er nicht mehr in Spanien wohne und dass vor ein paar Jahren das Grundstück verkauft worden sei. Wo die alte Villa gestanden habe, sei jetzt ein Supermarkt. Manchmal, wenn seine Sehnsucht zu groß wurde, unerträglich, nahm er das Flugzeug und ging in die kleine Stadt. Vor dem Supermarkt beobachtete er die Menschen, die eilig durch die automatische Tür strömten, in seinen Augen wie in sein eigenes Haus. Nach einer Weile nahm er einen Einkaufwagen und ging ebenfalls hinein. Er schlenderte zwischen den Regalen umher und hatte das Gefühl, durch den Flur seines Hauses zu gehen und nacheinander jedes Zimmer zu betreten. Er füllte seinen Einkaufwagen. Womit, war ihm egal. Wichtig waren ihm die Erinnerungen an die Gegenstände, den Geruch und die Geräusche seiner Kindheit. Durch die Milchtüte, das verpackte Gemüse und den Käse in Folie erwachten sie wieder zum Leben: die Fotos seiner Großeltern, die Spitzendeckchen, die gestrickten Kissen, die Golduhr seines Onkels, die Stimme seiner Mutter, der Geschmack des Mandarinensirups, die Musik der alten Schallplatten und die Party am Freitagabend. Er spürte das Bedürfnis, sich einen Vorrat von seinem früheren Ich anzulegen und dem, was es erlebt hatte. Wenn der Einkaufwagen voll war, ließ seine Sehnsucht nach. Er konnte in Richtung Kasse gehen.
Normalerweise verflog seine Sehnsucht endgültig bei dem Gedanken an die nächste Mahlzeit: Er würde sich aus seiner Vergangenheit einen Festschmaus machen, damit sie nicht für immer verschwand.
Das Zimmer I Das Zimmer war groß und besaß einen kleinen Alkoven; gegenüber führte eine Glastür auf den Balkon, der auf die Straße hinausging. Holzfußboden, Stuck an der Decke, in einer Ecke des Raums ein offener Kamin, mehr zur Dekoration als zum tatsächlichen Gebrauch. Das war mein Zimmer. Diese 30 Quadratmeter bewohnte ich sechs Jahre lang, rückte Möbel hin und her, änderte die Einrichtung und hätte gerne von Zeit zu Zeit die Mauern eingerissen. Jeden Sommer veränderte sich das Wesen meines Zimmers. Ich spreche nicht vom milden Klima, das es erlaubte, die Fenster zu öffnen und das Leben auf den Balkon zu verlagern. Auch nicht vom warmen und kräftigen Licht, das ins Zimmer drang. Mein Zimmer selbst veränderte sich, es leerte sich. Ich leerte es. Nur die Möbel blieben. Aus finanziellen Gründen vermietete ich es jeden Sommer, ließ es von anderen Menschen bewohnen, es beleben. In einem Sommer kam Agnes, während ich zu meinem Freund in ein anderes Stadtviertel zog, bevor wir in den Norden der Türkei aufbrachen. Mein Zimmer verwandelte sich in ein Bücherzimmer. Agnes brachte wenige Kleider mit und fast keine anderen Gegenstände, aber ihre gesamte Bibliothek. Die Bücher verliehen dem Raum eine Atmosphäre der Ruhe, einen Geruch nach Arbeit und vergilbtem Papier. Ich traf Agnes nie, wenn ich vorbeikam, um meine Post zu holen oder den Anrufbeantworter abzuhören. Nur ihre Bücher erzählten von ihrer Anwesenheit.
Das Zimmer II Im nächsten Sommer hatte ich einen Tag vor meiner Abreise immer noch keinen Untermieter gefunden. Ein Mann hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Eine Stunde später kam er vorbei. Nach einer Viertelstunde nahm er das Zimmer ohne Bedingungen. „Ich liebe es, Platz zu haben beim Schlafen“, sagte er zu mir. Eklas kam aus dem Irak. Einen großen Teil des Jahres lebte er im Tessin, arbeitete in Zürich und verbrachte den Sommer in Genf. Am nächsten Morgen kam er mit einem Lieferwagen, der bis an die Decke mit seinen Sachen vollgestopft war: Segeltuchtaschen, Plastiktüten, Koffer, Kartons, Kochtöpfe und Lebensmittel. Am selben Abend befand ich mich in einem Schlafwagen auf dem Weg nach Berlin, zu einem neuen und ruhigeren Ort. Mein Zimmer hingegen reiste in den Nahen Osten. Die Wohnung füllte sich mit orientalischen Düften und wurde bunter und kitschig-schön. In der deutschen Hauptstadt mietete ich für einen Monat die Wohnung einer jungen Schmuckdesignerin namens Nina Paris: ein großer, friedlicher Hafen auf dem Prenzlauer Berg, ein Viertel im ehemaligen Ostberlin. Für eine vergleichsweise niedrige Summe konnte ich in Ruhe schreiben, mich ausruhen, mir neue Projekte ausdenken und auf Ninas Pflanzen achtgeben. Wir hatten gerade genug Zeit für eine Tasse Tee, die Schlüssel und ein paar Tipps für die nähere Umgebung. Die hübsche Schmuckdesignerin mit dem Namen der französischen Hauptstadt nahm einen Flug auf die andere Seite des Atlantiks nach Montreal. Einige Zeit später verließ ich Berlin und zog weiter gen Osten. Polen interessierte mich als ein Land, das es so in Zukunft nicht mehr geben wird, ein wunderschönes Königreich, das sich unumkehrbar verändern wird, sobald es aus seinem Schlaf erwacht. Mein Zimmer seinerseits änderte sich aufs Neue. Ein asiatisches Klima breitete sich dort aus. Zu meiner Überraschung begrüßten mich bei meiner Rückkehr aus Polen drei junge Frauen aus der Mongolei.
Die Stadt Im Juli und August wechsle ich gern den Ort, koste den Sommer in einer anderen Stadt: den Geruch des heißen Asphalts, die Ruhe der leeren Straßen, den Besuch der Parks und die netten Konzerte. Ich ziehe mit meinen Ideen und meinen künstlerischen Projekten um. Ich richte mir eine Sommerresidenz für meine Arbeit ein. In jenem Sommer wollten mein Freund und ich den Genfer Hundstagen entgehen. Wir entschieden uns für Berlin. Im Internet fanden wir für einen Monat eine Wohnung. Ein sehr schönes Zuhause, elegant, mit einer guten Arbeitsstimmung und meditativer Ausstrahlung in Prenzlauer Berg. Ich mochte diese Wohnung. Ich erinnere mich noch heute an ein kleines Paradies. Dort war ich ruhig und kreativ. Ich mochte die Wohnung umso mehr, weil die junge Vermieterin Paris hieß.
Mein Wandnachbar Früher, in Genf, hatte ich zwei Nachbarn: Raoul, meinen Türnachbarn und einen unbekannten Wandnachbarn. Wenn er abends nach Hause kam, hörte er die Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter ab. Von meinem Bett aus hörte ich die kurzen Pieptöne zwischen jeder Nachricht. Ein längerer, schriller Piepton ertönte, gefolgt von der schnellen, weit entfernten und kaum erkennbaren Stimme des Anrufers. Die Stimme war niemals so laut, dass ich die Nachricht verstehen konnte. Mein Nachbar hieß Sébastien Baud. Aus dem Telefonbuch hatte ich seinen Beruf – Jurist – und seine Telefonnummer herausgesucht. Ich hinterließ ihm meinerseits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: „Hallo, ich bin Ihre Wandnachbarin. Immer wenn Sie abends heimkommen, habe ich das Vergnügen, der Musik auf Ihrem Anrufbeantworter, den Pieptönen und unverständlichen Stimmen zu lauschen, und ich hatte Lust, auch einmal diese Stimme zu sein. Danke, auf Wiederhören.“ Seit diesem Tag hörte ich die kleinen Pieptöne nicht mehr.
Der Garten Als mein Großvater starb, hinterließ er ein großes Haus voller Gegenstände, Möbel und Papiere, die er über Jahre hinweg angehäuft hatte. Bevor alles verschenkt, verkauft oder weggeworfen wurde, durften wir, die Enkelkinder, uns ein Möbelstück oder ein Objekt aussuchen. Damals lebte ich in einer Wohngemeinschaft und wollte mein Zimmer nicht mit den Möbeln meines Großvaters zustellen. Ich wollte sie lieber fotografieren. Mit meiner Kamera bemühte ich mich, meine Kindheitserinnerungen festzuhalten: der lange Flur, die Kronleuchter im Wohnzimmer, die Gemälde, die schon von den Wänden abgehängt waren, die beklemmenden Muster der Tapeten. Dann der Garten, Symbol meiner Kindheit, verrückt geworden aus Mangel an Pflege und dadurch noch schöner: die grüne Schaukel, die Magnolie, in der ich kletterte, das Wäldchen aus Haselnussbäumen, die Nester in der Forsythie, das Loch im Zaun. Überraschend, wie das Gedächtnis Orte festhält, Details, Eindrücke, Düfte und Farben, die es manchmal nicht mehr gibt. Als ich Teenager war, kam ich meist zu Fuß von der Schule zurück. Manchmal traf meine Mutter mich auf halben Weg. Sie sagte: „Warte vor dem Pferdehof auf mich.“ „Der Pferdehof? Welcher Pferdehof?“, fragte ich. „Ach nein, die Gesamtschule!“, verbesserte sie sich. Ich fand es immer sehr lustig: Wir trafen uns vor der Schule. Ich sah junge Leute, während meine Mutter, so stellte ich mir vor, Pferde sah. Als ich das Haus und den Garten meines Großvaters fotografierte, wünschte ich mir, mein eigenes Bild des Ortes zu erschaffen, den Geist des Pferdehofs heraufzubeschwören. Am Computer schnitt ich in die Bilder vom Inneren des Hauses Löcher als Raum zum Atmen und Platz für Stille. An diese Stellen setzte ich halb durchlässige Fragmente des Gartens ein: die Rosen meiner Großmutter, den wohlriechenden Flieder, die blühende Magnolie. In meiner Erinnerung schwitzt das Haus süß von den Düften des Gartens.
Eine schöne Sammlung Meine Mitbewohnerin Isabella und ich besaßen eine schöne Tassensammlung, Bechersammlung, um genau zu sein. Das große Drama des Bechers ist es, dass er als Reiseerinnerung, als Kinderkunstwerk oder als Träger für ganz verschiedene Botschaften verschenkt wird. Und dies meistens als Unikat. Auf diese Weise passten die Becher nur dadurch zusammen, dass sie alle Trinkgefäße waren. Im Schrank stapelten sich ein „Neo-Gaudí“ mit knalligem Mosaik; eine „kleine Ente“ als Relief, die den Vorteil hatte, einem beim Trinken die Hand zu massieren; ein „Souvenir de Provence“, dessen Glasur in den Kaffee abblätterte; ein „gekritzeltes Weihnachtsbild“, das wir uns nicht trauten wegzuwerfen; ein „Hast du deine Fresse gesehen?“-Slogan, der uns sofort gute Laune machte; ein „Fotohochzeit“-Becher von Freunden, die sich schon getrennt hatten, und perfekte weiße Becher, der Rest des abgebrochenen Versuchs einer Vereinheitlichung. Das Ganze war ein bisschen angeschlagen und vom Spülen in der Maschine mit einer weißen, transparenten Schicht überzogen. Natürlich hatten wir unsere Lieblingsbecher. Wichtig war uns, wie sie sich in der Hand oder am Mund anfühlten, wie viel hineinpasste oder wie sie aussahen. Wir lachten selbst darüber, dass wir unsere schöne Sammlung trotz ihres beklagenswerten Zustands so ernst nahmen. Als Isabella die Wohnung verließ und nach Abu Dhabi zog, kämpfte sie nicht darum, ihren Becher mitzunehmen. Und als ich aus Genf wegging, schenkte ich die Sammlung meiner Schwester, die gerade ihre erste eigene Wohnung bezogen hatte. Bei ihr vergrößerte sich die Sammlung weiter. Wenn ich sie besuche, staune ich immer wieder gerührt über diese wunderbar groteske Komposition.
Der Wohnungstausch Im Rahmen eines künstlerischen Projekts machte ich einigen Personen den Vorschlag, eine Nacht in meinem Bett zu verbringen, während ich gleichzeitig in ihrem schlief. Bevor wir unsere Wohnungsschlüssel und Adressen austauschten, schlossen wir ein kleines Vertraulichkeitsabkommen. Darin verpflichteten wir uns, das Privatleben des jeweils Anderen zu respektieren. Der Vertrag erlaubte es, über das Erlebnis zu berichten. Ich erinnere mich noch ganz genau an meine Freude, ein Viertel auf eine neue Art zu sehen, und meine Aufregung darüber, eine neue Wohnung zu erkunden. Ich drehte den Schlüssel im Schloss, und wenn ich die Tür öffnete, schlug mir die vertraute Umgebung des Anderen entgegen. Zuerst durch den Geruch, dann durch den Anblick. Oft war der Kühlschrank leer, das Bett war gemacht, im Spülbecken stand eine Tasse kalter Kaffee und auf dem Tisch wartete eine kleine Begrüßungsnotiz. Manchmal grüßte mich das Chaos, die Stühle waren unter Kleidungsstücken begraben, das Sofa voll mit Büchern und CDs, im Kühlschrank standen ein paar Reste. Ich verbrachte scheußlich-schöne Nächte, in denen ich auf fremde Geräusche lauschte: auf das Brummen alter Kühlschränke, den Streit der Nachbarn und die Motoren vorbeifahrender Autos. Stundenlang skizzierte ich Ohrensessel, Bauhausstühle und Ikealampen. Ich las ihre Bücher, aß ihre Kekse, langweilte mich in ihren Wohnzimmern, sprach mit ihren Katzen und schlief erst früh am Morgen ein. An nächsten Tag erfuhr ich mit müden Augen, dass meine Gäste wunderbar geschlafen, sich wie im Urlaub gefühlt hatten. Mit meinen Keksen und der guten Flasche Wein hatten sie sich einen schönen Abend gemacht.