Comics Deluxe!

Page 1

Cartoonmuseum Basel (Hg.) Christoph Merian Verlag


Comics Deluxe! Das Comicmagazin Strapazin Cartoonmuseum Basel (Hg.) Christian Gasser Anette Gehrig Christoph Merian Verlag



Einführung

5

Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel – Strapazin und die Entstehung einer deutsch­sprachigen Comicszene

Das Schweizer Comicmagazin Strapazin existiert seit bald dreissig Jahren – ein grosser Erfolg für ein erklärtermassen nicht kommerzielles Heft. Sein Name ist Programm: Strapazin ist eine Melange aus den Wörtern ‹Magazin›, ‹Fanzine›, ‹Strapaze› und ‹Aspirin›. Seine Leserinnen und Leser lieben es, weil Strapazin sie herausfordert: Seine Geschichten passen nicht in Schab­lonen und Formate, es tastet die Ränder der Gattung ab, betritt Neuland, macht ratlos, provoziert. Gleichzeitig kann es aber auch ganz klassisch erzählen, berühren und verzaubern. Ein Heft für eine treue Gefolgschaft erwachsener Leserinnen und Leser, die sich vier Mal im Jahr auf neue Abenteuer im Reich der wilden Zeichnungen einlassen. Die erste Ausgabe von Strapazin erschien 1984 zum ersten Comicsalon in Erlangen, schwarzweiss und prall gefüllt mit Ideen, Innovationen und Improvisationen. Wie RAW, das amerikanische, von 1980 bis zu Beginn der 1990er-Jahre von Art Spiegelman und Françoise Mouly herausgegebene Independent-Comicmagazin, macht sich Strapazin seither daran, die Welt der Comics aufzumischen. Der fortschrittliche Inhalt und die von Punk, Expressionismus und zeitgenössischer Kunst beeinflusste Gestaltung und Ästhetik der Hefte waren dabei von Anfang an gleich wichtig. Die Zeit war reif für ein derartiges Experiment: Der deutschspra­chige Comic war ein Medium für Kinder und Jugendliche – heikle Themen wie Sexualität, Geschlechterfragen, Kriminalität, Krieg, Krankheit, Sucht oder Tod blieben draussen. Strapazin holte solche Themen in den Comic und suchte konsequent nach adäquaten, expliziten und zeitgemässen Ausdrucksformen. Man war nicht der Vorsicht und Selbstzensur grosser Verlage unterworfen und nutzte diese Freiheiten. Auch Impulse aus gesellschaftlichen Umwälzungen wie zum Beispiel der Jugendbewegung der 1980er-Jahre oder dem Fall der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) haben in Strapazin ihren Niederschlag gefunden. Ausserdem versteht sich Strapazin seit jeher als Teil der globalen Kulturform Comic und ermöglicht der deutschsprachigen Szene als risikofreudige, mit der ganzen zeichnenden Welt vernetzte Plattform Einblicke in das Comicschaffen anderer Länder. In den vergangenen 28 Jahren haben Zeichnerinnen und Zeichner die Plattform Strapazin zum Teil über Jahrzehnte geprägt und genutzt, einige sind seit den Anfängen dabei. So haben zum Beispiel der heute international bekannte Thomas Ott sowie Anke Feuchtenberger in Strapazin ihre ersten Comics veröffentlicht. Die Gestaltung und der Stil des Hefts haben sich gewandelt und der Computer hat Einzug gehalten, aber die Neugier und die Radikalität, die Strapazin seit jeher auszeichnen, sind geblieben.

16 Die aufregenden Abenteuer von Strapazin 18 22 28 38

Peter Bäder Caprez / Schuler Thomas Ott Ursula Fürst

48 Die seltsamen Abenteuer von Strapazin 50 60 62 69 81 90

M. S. Bastian M. S. Bastian / Isabelle L. ATAK Anke Feuchtenberger Anna Sommer Martin tom Dieck

94 Die verblüffenden Abenteuer von Strapazin 96 1 03 1 09 115 1 20 1 26

Andreas Gefe Nicolas Mahler Ulli Lust Sascha Hommer / Jan-Frederik Bandel Kati Rickenbach Julia Marti / Milva Stutz

1 33

Von uns aus kann es Strapazin ewig geben, aber … Ein Blick hinter die Kulissen von Strapazin

1 39

Biografien

1 44

Impressum

3

3

Einführung

Einführung

Anette Gehrig

Inhalt


4 Einführung Anette Gehrig

Die Ausstellung und die Publikation ‹Comics Deluxe! Das Comicmagazin Strapazin› wollen über das Porträt einer ungewöhnlichen Zeitschrift hinaus die Entstehung einer eigenständigen Comicszene im deutschen Sprachraum nachzeichnen. Deren neue Talente, Themen und Ausdrucksformen tauchten meist in Strapazin auf, um später auch ausserhalb des Magazins Wirkung zu entfalten. Vom Erwachen dieser Szene in Strapazin bis zum Siegeszug von anspruchsvollen Comicformaten wie der Graphic Novel durch grosse Verlage (und in Haushalte, in denen nie ein zerlesenes Strapazin herumlag) liegen fast dreis­ sig ereignisreiche Jahre, in denen sich die Szene stark verändert und entwickelt hat. Die für das Buch und die Ausstellung ausgewählten Künstlerinnen und Künstler und deren Bildgeschichten stehen beispielhaft für Stile und Formate des jeweiligen Jahrzehnts seit 1980. Dass dabei eine Auswahl getroffen werden musste, ist der unglaublichen Menge kreativer Geister geschuldet, die an Strapazin mitgearbeitet und dem Heft so ihren Stempel aufgedrückt haben. Auch die im Hintergrund arbeitenden Herausgeberinnen und Herausgeber sowie die Gestalter, die knapp dreissig Jahre lang das Layout geprägt und unverkennbar gehalten haben, kommen zu Wort. Christian Gasser und ich möchten uns herzlich bei allen bedanken, die zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Unser besonderer Dank gilt David Basler, allen anderen Herausgebe­rinnen und Herausgebern, den Strapazin-Zeichnerinnen und -Zeichnern, allen Leihgeberinnen und Leihgebern, darunter die Bibliothèque municipale de Lausanne, den Grafikern Ronnie Fueglister und Martin Stoecklin, der Lektorin Manuela Seiler, dem Team des Cartoonmuseum Basel und dem Christoph Merian Verlag.


Eigentlich hätte Strapazin dasselbe Schicksal ereilen können wie so viele andere unabhängige Comiczeitschriften: Im Juni 1984 erscheint die erste Ausgabe. Ein tolles, für den damaligen Kontext radikales, ja revolutionäres Heft, kaum jemand kauft es, der Verlag geht pleite – Ende des Abenteuers. Doch es kommt anders – und heute ist Strapazin eines der weltweit langlebigsten unabhängigen Comicmagazine. Und auch ein ausgesprochen einflussreiches: Seine Geschichte reflektiert die Entstehung und Entwicklung einer eigenständi­gen deutschsprachigen Comicszene. Die aufregenden Abenteuer von Strapazin Band 1: Die Achtzigerjahre 1984: Der ganze deutschsprachige Comickosmos ist fest in der Hand einer internationalen Heldenriege um Superman und Asterix, Blueberry, Micky Maus und Fix und Foxi. Der ganze? Nein. An einem schmuddligen WG-Tisch in Stuttgart haben zwei Kunststudenten einen Geistesblitz: Sie wollen mit einer Zeitschrift Widerstand gegen diese grelle Welt starker Recken, potenter Knarren, praller Brüste, lustiger Tiere und familienfreund­lichen Humors leisten, indem sie Comics veröffentlichen, wie sie im deutschen Cover RAW Nr. 1, 1980 Sprachraum noch nie zu sehen waren. Einer der beiden, Pierre Thomé, kontaktiert David Basler in Zürich, der seit 1981 in seinem Verlag Edition Moderne Bücher von Jacques de Loustal, Joost Swarte und Muñoz / Sampayo veröffentlicht, und schwatzt ihm Kontakte zu Zeichnern ab. Das Heft wird in München in den Räumlichkeiten der alternativen Stadtzeitung Blatt – Stadtzeitung für München produziert, Joe Zimmermann reist für die Gestaltung von Zürich in die bayrische Metropole – und die erste Nummer erscheint pünktlich zum ersten Comic­ salon in Erlangen im Juni 1984. Kurz darauf: Die Stadtzeitung Blatt geht Konkurs – doch David Basler hat Feuer gefangen. Zusammen mit anderen Zürcher Aktivisten und Comicfans wie Barbara Arpagaus, Joe Zimmermann, Christoph Schuler und Peter Bäder holt er Strapazin kurzerhand nach Zürich. Was bisher geschah Natürlich fanden die Anfänge von Strapazin nicht im luftleeren Raum statt, sondern wurden angeregt und ausgelöst von unterschiedlichen Ereignissen und Vorbildern. Um 1980 brodelte es in der internationalen Comicszene: In Frankreich machten die Ikonoklasten von Bazooka ab 1975 Punk mit Bildern und Bildcollagen, in der Zeitschrift (À suivre) wuchs seit 1978 eine neue Autorengeneration um Muñoz / Sampayo und Jacques Tardi heran, die mit ihren langen Schwarzweissgeschichten den Begriff ‹roman dessiné› (gezeichneter Roman) prägten. Zuvor hatte die Satirezeitschrift Charlie HebCover Charlie Hebdo Nr. 132, 1973 do den Comic politisiert, während Métal Hurlant ihn psychedelisiert hatte. In Italien brach die 1980 von Lorenzo Mattotti und Igort gegründete Gruppe Valvoline die Grenzen des Comics auf und vermischte diesen mit Design, Architektur, Mode und Kunst. Das grösste und direkteste Vorbild für Strapazin war zweifellos die ab 1980 einmal jährlich erschie­ne­ ne Anthologie RAW aus New York, herausgegeben von Art Spiegelman, der mit seinem Holocaustcomic Maus Weltruhm erlangen sollte, und seiner französischen Gattin Françoise Mouly. Das überformatige RAW Der Urknall

5 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel

Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel – Strapazin und die Entstehung einer deutschsprachigen Comicszene

Christian Gasser


6 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

präsentierte die amerikanische und die europäische Comicavantgarde und löste eine grafische Revolution aus – die RAW-Künstler definierten das Comicbild neu, experimentell und im Geiste des Punk. Diese Aufbruchstimmung erfasste langsam auch Fix-und-Foxi-Land. Kleine Verlage wie die Edition Moderne oder Schreiber & Leser veröffentlichten ab 1980 avancierte frankobelgische Comickost für Erwachsene, der Grossverlag Carlsen begann, Comics auch in Buchhandlungen zu platzieren. 1984 trommelte der Comicsalon Erlangen die Szene zusammen, und im selben Jahr initiierte Barbara Arpagaus, Inhaberin von Klamauk, dem ersten Comicladen in der deutschen Schweiz, im Zürcher Museum Strauhof eine erste Comicausstellung, die das kreative Potenzial der lokalen Szene erstmals bündelte. Noch blieb Deutschland ein Comicentwicklungsland. Tatsächlich hielten sich hier die gängigen Vorurteile dem Comic gegenüber – Schmutz und Schund! Primitiv und verdummend! – hartnäckiger als anderswo, und eine eigenständige Szene war nicht auszumachen. Ausnahmen wie Manfred Schmidt, Seyfried oder Matthias Schultheiss Pierre Thomé (CH), Cover Strapazin Nr. 1 (Ausschnitt), 1984 bestätigten allenfalls die Regel. Dem Comic gegenüber aufgeschlossener war die deutschsprachige Schweiz, und es war wohl kein Zufall, dass Strapazin nach der überhasteten Gründung das richtige Umfeld für sein langfristiges Abenteuer bei den Helvetiern fand. Viele Deutschschweizer haben Verwandte in der französischen Schweiz und beobachteten dort einen entspannten Umgang mit der verpönten Ausdrucksform. Ausserdem ist Französisch in den Schulen der mehrsprachigen Schweiz Pflichtfach, sodass sich viele Comicfans die neusten Alben im Original besorgten und besser über die aktuellsten Tendenzen in der Grande Nation der Bandes dessinées auf dem Laufenden waren als Deutsche und Österreicher. Krawalle und Chaoten Für die Entstehung von Strapazin ebenso wichtig wie die Umbrüche im internationalen Comickosmos war der politische Kontext. 1980 brachen in Zürich die Jugendunruhen aus. Auslöser war ein Kredit über 60 Millionen Franken, den der Zürcher Stadtrat für die Renovation des Opernhauses sprach, während er gleichzeitig die Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum ablehnte. Das führte zunächst in Zürich, später auch in Bern, Basel und Lausanne zu Krawallen, mit denen der Forderung nach kulturellen Freiräumen Gewicht verliehen wurde – mit Erfolg. Diese Explosion jugendlicher Frustrationen löste einen in der Schweiz nie da gewesenen jugendkulturellen Aus- und Aufbruch aus. Ob Rockmusik oder bildende Kunst, Theater, Grafik oder Medien – überall wurden Freiräume aufgerissen. Die Do-ityourself-Haltung des Punk prägte die Szene: Angesichts der erdrückenden Vormacht der etablierten und der kommerziellen Kultur wartete man nicht länger darauf, dass etwas geschah, sondern erzwang oder schuf die Alternativen selber. Auch die alternative Presse erlebte eine Blütezeit. 1975 wurde in Aarau der anarchistische Alpenzeiger gegründet, und Cover Stilett Nr. 50, 1979 im Sog des Punk entstand ab 1977 vor allem in Zürich eine lebhafte Fanzineszene, aus der wiederum mehr oder weniger langlebige Zeitschriften wie Stilett und Shanghai hervorgingen. Sie wurden zu wichtigen Sprachrohren der Jugendbewegung, und ihr Erfolg regte die Gründung weiterer Szeneorgane wie Subito und Eisbrecher an. In dieser Zeit wurden auch die heute noch existierende Fabrikzeitung des Kulturzentrums Rote Fabrik und die linke Wochenzeitung WOZ ins Leben gerufen. Diese Zeitschriften, allen voran Stilett, legten Wert auf eine auffällige Gestaltung im Geist von Situationismus und Punk und druckten mehr und mehr Comics ab.


Alex und Daniel Varenne (FR), aus: Angst und Zorn, Strapazin Sonderheft, 1986

7 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel

Strapazin publizierte internationale Stars und Newcomer wie die Exilargentinier Muñoz /  Sampayo, die Franzosen Caro, Yves Chaland, Chantal Montellier, Loustal, Willem sowie die Brüder Varenne, den Belgier Kamagurka, den Spanier Max und andere. Strapazin scharte aber von der ersten Nummer an auch junge deutschsprachige Zeichner und Zeichnerinnen um sich, aus Deutschland etwa den noch unbekannten Ralf König, der bereits im ersten Heft auftauchte, und wenig später auch Hendrik Dorgathen. Wesentlich für das ästhetische Selbstverständnis von Strapazin wurde indes eine Riege von Zürcher Muñoz /  S ampayo (AR), aus: Moses Man: Der Boxer, Zeichnerinnen und Zeichnern, die schon bald unter der Strapazin Nr. 5, 1985 griffigen Marke ‹Zürcher Schule› zusammengefasst wurde: Thomas Ott, Ursula Fürst, Beat Zgraggen, Andrea Caprez und Peter Bäder. Die Zürcher Schule, das war: schwarzweiss, düster, expressionistisch, nicht lustig, nicht für Kinder. Die schroffen Zeichnungen und beklemmenden Atmosphären waren oft wichtiger als klare Plots und Storys. Mit ihren Moritaten aus den Schattenzonen der Gesellschaft trafen der Zeichner Andrea Caprez und der Texter Christoph Schuler den Nerv der Zeit. Schuler schrieb seine Balladen über Randständige, Verlierer und andere eigenwillige Käuze in lakonischen, an Wilhelm Busch gemahnenden Versen, und Andrea Caprez setzte diese in holzschnittartigen, am Expressionismus geschulten schwarzweissen oder aquarellierten Bildern um. Peter Bäder jagte windschiefes Gesindel durch ebenso windschiefe, düster-urbane Dekors, während Ursula Fürst, die mit ihrem flächigen Strich und einer Vorliebe für runde Formen eine unverwechselbare Bildsprache entwickelte, sich mit abgründigem Humor weiblicher Themen annahm. Eine Zürcher Schule

Christian Gasser

In dieser alternativen Presse waren so gut wie alle Leute aus der Zürcher Gründergeneration von Strapazin engagiert. Sie kannten sich, sie interessierten sich für Comics und Grafik, sie hatten Erfahrungen im Zeitschriftenmachen; als David Basler Strapazin rettete, existierte bereits ein Klüngel von Aktivisten, der dieses Heft realisieren konnte. 1984 waren die Jugendunruhen Vergangenheit, und Strapazin verstand sich denn auch nie als politisches Comicmagazin. In der Haltung von Strapazin jedoch schwang die Aufbruchstimmung der frühen Achtzigerjahre mit: Selbermachen statt Konsumieren, der Wille zur Unabhängigkeit, die hierarchiefreie Redaktionsstruktur – und vor allem die Leidenschaft für ungewöhnliche Comicsprachen, die zwischen Stuhl und Bank fielen. Genau diese Marginalität gewährte den Comics und einer Zeitschrift wie Strapazin so viele Freiheiten: Da sie unter dem Radar der etablierten Kultur wucherten, war alles erlaubt.


8 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

Zum Star der jungen Szene wurde Thomas Ott, der seinen ersten Comic als erst 17-jähriges Talent in der zweiten Nummer von Strapazin veröffentlichte. Mit seinen wortlosen, aus schwarzem Schabkarton gekratzten und von kühlem Sarkasmus getränkten Horror- und Krimistorys, in denen er so gut wie alle Genreklischees sowohl abfeiert als auch unterläuft, prägte er die Ästhetik und die Wahrnehmung von Strapazin und wurde bald weit über den deutschen Sprachraum hinaus berühmt. Die Ästhetik der Zürcher Schule war vielerorts verwurzelt: In Dadaismus und Expressionismus ebenso wie in Postpunk und Rock ’n ’ Roll, in den stummen politischen Holzschnittzyklen von Frans Masereel ebenso wie in den neusten Comicinnovationen aus Frankreich und den USA. Nur etwas fand man kaum: Einflüsse von klassischen Mainstreamcomics. Die Comics in Strapazin widersprachen allen damals gängigen VorstelKamagurka (BE), Strapazin Nr. 17, 1990 lungen von Comics. In den Achtzigerjahren begleitete Strapazin den Aufbruch einer neuen Generation von Comicautoren, die am äussersten Rand der populären Kultur heranwuchsen. Sie standen noch am Anfang, suchten ihre Sprache, alles war offen und chaotisch. So wirkte auch die Zeitschrift: chaotisch und unfertig. Traditionelle Comicaficionados verab­ scheuten das, andere kulturelle Kreise interessierten sich wegen des pauschal miesen Rufs der Comics (noch) nicht dafür. Und doch fiel Strapazin sofort auf und stillte innerhalb einer gewissen Szene ein grosses Bedürfnis. Nicht ohne Erfolg: Bereits am zweiten Comicsalon in Erlangen 1986 wurde Strapazin mit dem Spezialpreis der Jury ausHendrik Dorgathen (DE), aus: Fragen zur Zeit, gezeichnet. Strapazin Nr. 3, 1985 Die seltsamen Abenteuer von Strapazin Band 2: Die Neunzigerjahre 1994 feierte Strapazin seinen zehnten Geburtstag und lud 24 deutschsprachige Zeichnerinnen und Zeichner ein, für die Nummer 35 eine Geschichte über die Zahl 10 zu zeichnen. Darunter waren Thomas Ott, Ursula Fürst, Peter Bäder, Caprez / Schuler, Christoph Abbrederis, Anke Feuchtenberger, Martin tom Dieck, Markus Huber, Christian Huth, ATAK und Andreas Gefe. Der Kreis der Strapazin-Hausautoren hatte sich erweitert – zur Handvoll Zürcherinnen und Zürcher hatten sich zahlreiche andere Zeichner, vor allem aus Deutschland, gesellt. Eine Szene war entstanden, und Strapazin war ihre Plattform. Auch am Anfang dieser Etappe auf dem Weg zu einer eigenständigen deutschsprachigen Comickultur stand ein politisches Ereignis: Der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989. Obschon die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Markus Huber (DE), Siebdruckedition der DDR-Jugend nur erzieherisch wertvolle und politisch korrekte Fun- Nr. 20 von Roli Fischbacher, 2002 nys wie die Digedags oder die Abrafaxe vorgesetzt und westliche Comics pauschal als Schmutz und Schund verurteilt und verboten hatte, entwickelte sich ausgerechnet der Osten Berlins zur Hochburg der deutschen Comicavantgarde. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt das Centre Culturel Français Ostberlins, dessen Bibliothek und Ausstellungen vielen Comicinteressierten einen Einblick in die Welt der Bandes dessinées für Erwachsene gewährten. So wuchsen die Zeichnerinnen und Zeichner an der Peripherie der Comiczivilisation auf und mussten nur wenige, dafür umso bessere west­ liche Einflüsse verarbeiten. Als sie – geschult an osteuropäischen Kinderbuchillustrationen, an Plakatkunst und Bühnenbildern – nach der Wende ohne Umwege über den Mainstream auf RAW und Strapazin stiessen, wandelten sie dieses Amalgam aussergewöhnlicher Anregungen zu sowohl visuell als auch narrativ eigenwilligen Bildgeschichten um. Die gebürtige Berlinerin Anke Feuchtenberger setzte sich in ihren frühen Arbeiten wie This Is Not A Love Story angriffslustig und humorvoll mit der Beziehung zwischen Mann und Frau auseinander. Den Themenkomplex Frau und weiblicher Körper umkreist sie bis heute mit insistierender Hartnäckigkeit, hat aber Von Trash zu Kunst


Das Fehlen einer deutschsprachigen Tradition, das die Entwicklung der Comics gebremst hatte, entpuppte sich als Chance, eine eigene Sprache zu entwickeln. Denn die meisten Künstler wurden nicht – wie das auf die Charles Burns (US), aus: Kranke Brut, Strapazin Nr. 31, 1993 Mehrzahl der amerikanischen, französischen oder japanischen Zeichner zutrifft – Comiczeichner aus Fantum. Solche Zeichner neigen dazu, als Erwachsene Comics zu zeichnen, wie sie sie als Jugendliche geliebt haben. Die deutschen Zeichner der Neunzigerjahre indes haben die Comics erst als Erwachsene (wieder-)entdeckt, weil sie in ihnen das adäquate Medium für ihre künstlerischen Bedürfnisse erkannt haben. Das gilt auch für Anna Sommer, die ohne Comickenntnisse zum Comic stiess und sich dessen Bildsprache auf eine dementsprechend unbelastete Weise aneignete. Ob sie mit Federzeichnungen arbeitet, mit Kaltnadelradierungen oder Papierschnitten – ihre Geschichten sehen nie aus wie klassische Comics. Anna Sommer packt die einzelnen Bilder nicht in Rahmen, sondern stellt sie offen neben- und übereinander. Mit ihrer lockeren Seitengestaltung schafft sie fliessende Übergänge von einer Szene zur anderen, was ihren Bildgeschichten, gepaart mit ihrem eleganten Strich, eine betörende Leichtigkeit verleiht. Nicht nur die Inhalte – die Zürcherin ist vor allem für ihre bittersüssen, frivol-hinterhältigen Beziehungsdramolette bekannt –, sondern auch die untypische Bildsprache haben ihr eine Leserschaft eingebracht, die sich gewöhnlich nicht für Comics interessiert. M. S. Bastian entdeckte die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics erst, als er in einem Strapazin auf Thomas Ott und José Muñoz stiess. Seither beackert der begnadete Grenzgänger die brachliegenden Räume

Amokläufe und Beziehungsdramolette

Christoph Abbrederis (AT), aus: Catastrophe, Strapazin Nr. 78, 2004

9 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

das Plakative ersetzt durch eine vielschichtigere Form der Auseinandersetzung. Sie schuf ambivalente Figuren wie Die Hure H oder adaptierte Märchen wie Die kleine Meerjungfrau – und bettet ihre zuweilen verstörenden, immer poetischen Visionen in die bedrohlichen Stimmungen archaischer Märchen ein. Die Bildgeschichten von Anke Feuchtenberger und anderen wandten sich bewusst vom klassischen Comicstorytelling ab; der Comic wurde um andere, experimentelle Formen visuellen Ausdrucks erweitert. Da die gebräuchlichen Erzählschemata gebrochen und statt einer linearen Handlung eher Stimmungen und assoziative Gedankengänge bebildert wurden, war oft die Rede von visueller Poesie. Das traf insbesondere auf ATAK zu: Er beschwor Schlager-, Gangster- und andere Klischees und setzte sie Art Spiegelman (US), aus: A Furshlugginer Genius!, in Zeichnungen um, in denen, wie in einer TätowieStrapazin Nr. 40, 1995 rung, jeder Strich zu atmen, gären, schwitzen und spriessen schien. So liess er die Leser zwischen Wirklichkeit und Alptraum wandeln, immer hart am Absturz in den Schrecken, auf dem Grat, wo die Poesie am intensivsten ist. Die ostdeutschen Comics polarisierten. Die Freunde traditioneller Comickost verwarfen diese «Kunstkacke», doch auf viele westdeutsche Zeichner, die sich auf der Suche nach einem eigenen Stil zuvor nur zaghaft von Vorbildern und Konventionen zu lösen gewagt hatten, wirkten die Bildgeschichten aus dem Osten schlicht befreiend. Auch Strapazin war begeistert, und spätestens nach dem 30. Heft, das sich ganz der Berliner Szene widmete, gehörten die Ostdeutschen zur wachsenden Strapazin -Familie.


10 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel

zwischen Comicheft und Kunstgalerie, macht Comics mit dem Selbstverständnis des Künstlers und Kunst mit der Haltung des Comiczeichners. In Samstagabend in Paris verstümmelt er Gedichte von Charles Bukowski und illustriert sie, sich nur am Rand um einen offensichtlichen Bezug zwischen Text und Bild scherend, mit wild collagierten Zeichnungen zu einem wütenden und haarsträubend komischen Amoklauf. Im Gegensatz dazu wirken die Comics von Martin tom Dieck klassischer. Panels, Sprechblasen, wiedererkennbare Figuren – alles ist da. Doch Martin tom Dieck erzählt seine Geschichten in Form assoziativer und oft improvisierter Bilderreigen und durchdringt sie – im zweibändigen Salut, Deleuze!, geschrieben von Jens Balzer, ist dies besonders offensichtlich – mit einem wachen Bewusstsein für Philosophie und Geschichte. Gleichzeitig schafft es tom Dieck wie kaum ein anderer, das Unsichtbare zu zeichnen und auch Geräusche, Gerüche, atmosphärische Bewegungen und Elemente wie Wasser oder Luft sichtbar zu machen. In den Neunzigerjahren entstand erstmals eine eigenständige deutschsprachige Comicszene, die auch international wahrgenommen wurde – in ganz Europa, aber auch in den USA und in Asien. Ihre Radikalität wurde bewundert, ihre Visionen waren stilprägend – sie hatte eine Sprache entwickelt, die sich klar von anderen Traditionen unterschied, und etwas Originäres und Aufregendes in die Ausdrucksform gebracht. Dieser internationale Austausch wurde begünstigt durch einen Strukturwandel in der europäischen Comicszene, der in den Neunzigerjahren begonnen hatte und sich am besten am Beispiel von Frankreich, dem wichtigsten europäischen Comicmarkt, nachvollziehen lässt. In den späten Achtzigerjahren geriet die Comicindus­ trie in eine Krise. Dies führte dazu, dass die Comicverlage Helge Reumann (CH), aus: Jimbo’s Turkey Day, die meisten Zeitschriften einstellten und auch in ihren Alben- Strapazin Nr. 72, 2003 programmen auf Nummer sicher gingen und ganz auf Klassisches setzten; auf Abenteuer, Fantasy, Humor. Um überhaupt publizieren zu können, mussten die Autoren, die sich nicht dem Diktat des Mainstreams unterwerfen wollten, ihre eigenen Verlage und Zeitschriften gründen. Genau das taten sechs französische Autoren und Zeichner, darunter Lewis Trondheim, JeanChris­tophe Menu und David B., als sie 1990 ihren Verlag L'Association gründeten. Mit dem Bekenntnis zu einem zeitgemässen Autorencomic schlug L'Associa­tion eine Bresche, in die bald andere unabhängige Verlage wie Amok, Fréon, Cornélius, Ego comme X und Le Dernier Cri folgten. Ob unprätentiöse Kritzeleien oder kühne grafische Eruptionen, ob autobiografische Geschichten oder metaphysische Traumpfade – alles war erlaubt; entscheidend war, ausserhalb der verbrauchten Bilderwelten den persönlichen Ausdruck zu finden. Damit definierten L'Association und andere unabhängige Verlage den Autorencomic für die Gegenwart neu. Sie holten viele erwachsene und gebildete Leser zurück, die sich, ermüdet von den ewiggleichen Stereotypen, vom Comic abgewendet hatten. Ihre Comics sprachen auch Frauen an, die in dieser Männerdomäne zuvor nie heimisch geworden waren und ihrerseits vermehrt Comics zu zeichnen begannen. Nicht zuletzt wurde L'Association dank des künstlerischen und kommerziellen Erfolgs zum Vorbild für neue Verlage, die überall in Europa aus dem

Christian Gasser

Krise als Chance

Lorenzo Mattotti /  J erry Kramsky (IT), aus: Lehrling der Träume, Strapazin Nr. 34, 1994


Die verblüffenden Abenteuer von Strapazin Band 3: Das 21. Jahrhundert

2000 war ein wichtiges Jahr für den Comic: Chris Ware veröffentlichte mit Jimmy Corrigan das Meisterwerk des literarischen Comics schlechthin, Joe Sacco landete mit seiner Reportage Bosnien einen überraschenden Erfolg, und L'Association warf Comix 2000 auf den Markt, eine 2000 Seiten schwere Anthologie, die wort­ lose Geschichten von 324 Autorinnen und Autoren aus 29 Ländern versammelt – darunter zahlreiche StrapazinAutoren. Comix 2000 war der ultimative Beweis für die Vitalität und die Vielfalt, die Internationalität und die Vernetzung des unabhängigen Comicschaffens. Im selben Jahr veröffentlichte L'Association ausserdem, in einer Auflage von nur 1500 Exemplaren, den ersten Band von Persepolis, in welchem die in Frankreich lebende Iranerin Marjane Satrapi ihr Heranwachsen im Iran der Ajatollahs beschreibt. Damit traf sie den Nerv der Zeit – im Kontext der Spannungen zwischen der christlichen Joe Sacco (US), aus: Šoba, Strapazin Nr. 52, 1998 und der islamischen Welt mauserte sich Persepolis spätestens nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu einem internationalen Longseller. Das war der Durchbruch des zeitgenössischen Autorencomics bei einem breiten Publikum. Diese Fülle an inhaltlich relevanten und künstlerisch wie erzählerisch vorzüglichen Comics konnte selbst das comicresistente deutsche Feuilleton nicht länger ignorieren. In den folgenden Jahren schüttelte der Comic sein Schmuddelimage auch hierzulande ab und fand unter der Bezeichnung ‹Graphic Novel› neue Leserinnen und Leser. Comics global

11 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

Boden schossen und sich zu einer sich rege austauschenden Gemeinschaft vernetzten. Mit anderen Worten: Die Krise hat die Kreati­ vität im Comic gerettet und diesen so interessant gemacht wie nie zuvor. Dieser Prozess führte zum Durchbruch des Comics als respektierte Ausdrucksform unter dem Begriff ‹Graphic Novel›. Diesen Umbruch hatte Strapazin vorweggenommen. Jean-Christophe Menu von L'Association und Yvan Alagbé von Amok betonten schon früh die Vorbildfunktion von Strapazin. Vor allem die internationale Offenheit der Schweizer Zeitschrift beeindruckte sie – erst ab 1990 begann sich die zuvor sehr auf sich selbst bezogene frankofone Comicszene für das Geschehen jenseits der Sprachgrenze zu inte­ressieren. Auch anderswo wurde Strapazin wahr­ genommen, und es entstanden in vielen Ländern Zeitschriften, die sich auf Strapazin beriefen – von Nosotros Somos Los Muertos in Spanien über Bitterkomix in Südafrika bis hin zu Special Comix in China. Die internationale Wertschätzung führte auch dazu, dass kaum je ein Zeichner, selbst Stars wie Art David B. (FR), aus: Siwa, Strapazin Nr. 52, 1998 Spiegelman, Baru, Lorenzo Mattotti oder Jiro Taniguchi, Strapazin eine Absage erteilte. Die Liste der in Strapazin publizierten Autoren liest sich wie ein Who’s who des modernen Autorencomics – und für die meisten war die erste Strapazin-Publikation der erste Auftritt im deutschen Sprachraum überhaupt. Trotz seiner internationalen Akzeptanz bekannte sich Strapazin in seiner 50. Ausgabe (1998) einmal mehr zur deutschsprachigen Szene. Den nächsten Höhepunkt markierte im darauffolgenden Jahr die im Strapazin-Umfeld entwickelte Ausstellung ‹Mutanten. Die deutschsprachige Comic Avantgarde› im Museum NRW-Forum in Düsseldorf.


Matti Hagelberg (FI), aus: Elvis, Strapazin Nr. 72, 2003

Christian Gasser

Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel

12


Die Abgrenzung zur deutschsprachigen Comicavantgarde der Neunzigerjahre bedeutet indes keinen Bruch, ganz im Gegenteil – es gibt bei allen Unterschieden wohl keine schönere Kontinuität als diese: Die meisten Debütanten der letzten Jahre haben bei ihren Vorgängern studiert. Tatsächlich hat Strapazin die Kunsthochschulen im deutschen Sprachraum ‹unterwandert›: StrapazinDiplomierte Comiczeichner

Julie Doucet (CA), aus: Die Madame Paul-Affäre, Strapazin Nr. 61, 2000

13 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

Auch die deutschsprachige Szene ist heute so vielfältig und lebendig wie nie zuvor. Die neue Generation deutschsprachiger Comicautorinnen und -autoren wuchs in einem Umfeld heran, in welchem der Comic sehr viel selbstverständlicher geworden ist. Der Trend geht klar zu Storys, die im eigenen Leben verankert sind, oder im Gesellschaftlichen, Historischen und Politischen. Damit grenzen sie sich von den Experimenten ihrer Vorgänger ab und suchen ihre Inspiration in Frankreich und den USA. Ohnehin gleichen sich die Szenen dank der dichten internationalen Vernetzung mehr und mehr an. Nationale Eigenheiten – die spezifisch ‹deutsche› Bildsprache der Neunzigerjahre etwa – werden abgeschliffen, es hat sich eine Art globaler Mainstream für Graphic Novels etabliert. Wenn deutsche Autoren heute im Ausland veröffentlicht werden, liegt das weniger an ihrer künstlerischen Einzigartigkeit als an ihren Geschichten, die auch anderswo interessieren. So wurde Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von Ulli Lust in mehrere Sprachen übersetzt. In ihrem fulminanten autobiografischen Debüt schildert die gebürtige Wienerin auf 464 Seiten die Irrfahrt zweier Punkmädchen durch Italien, ohne Geld und Pass – von ihrer anfänglichen schwärmerischen Freiheitstrunkenheit bis hin zum Absturz in Drogen, Vergewaltigung und Kriminalität. Auch Kati Rickenbachs Geschichten wurzeln im eigenen Leben. Mit ihrem lebendigen Strich, der schnell und flüchtig wirkt, in Wahrheit aber verblüffend sicher ist, fängt sie Alltagssituationen ein, deren Banalität sie mit freundlicher Ironie zuspitzt – und dann erzählt und plaudert sie munter drauflos und steckt den Leser mit ihrem Witz und ihrem Charme an. Sascha Hommer zeichnet sich durch eine grosse inhaltliche und grafische VielDaniel Clowes (US), aus: Gynecology, Strapazin Nr. 57, 1999 sei­tigkeit aus: Sein Debüt Insekt ist eine fantastisch überhöhte Parabel um Anderssein, Aussenseitertum und Ausgrenzung in der Kinderwelt, und in Vier Augen verarbeitet er seine pubertären Drogenerfahrungen in einer Provinzstadtclique. Im Comicstrip Im Museum erforscht er mit dem Autor Jan-Frederik Bandel ein imaginäres Universalmuseum – und legt Streifen vor, die auch als Reflexion der Beziehungen zwischen Kunst und Leben, Wissen und Comic zu lesen sind. In diesem Kontext wirkt Andreas Gefe wie eine Anomalie – oder wie ein Bindeglied zwischen den Szenen und Haltungen. 1997 erschien Gefes Erstling Madame Lambert, dessen Szenario der amerikanische Krimiautor und Comicszenarist Jerome Charyn verfasst hatte. Gefe setzte dieses in stilistisch durchaus der Zürcher Schule verpflichteten Zeichnungen um: schwarzweiss, düster und schmutzig. In den folgenden Alben mit Jean-Louis Bocquet und Charles Lewinsky umkreist er gesellschaftliche und politische Themen – und entschlackt seinen Stil in Richtung einer klareren Gestaltung. Daneben zeichnet Gefe regelmässig eigenwillige, mehrheitlich wortlose und visuell überwältigende Kurzgeschichten für Strapazin. Vom richtigen Leben gezeichnet


14 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel Christian Gasser

Chihoi (HK), aus: Stars, Strapazin Nr. 95, 2009

Herausgeber und -Autoren wirken als Professoren etwa in Hamburg, Berlin, Luzern, Kassel, Bern, Kiel, Zürich oder Essen – und natürlich geben sie dem Comic mehr Raum in den Lehrplänen und fördern gezielt junge Talente, deren Diplomarbeiten in Verlagen wie Reprodukt, Avant oder der Edition Moderne erscheinen. Der Comic ist nicht länger die klassische Kunstform für Autodidakten und Einzelgänger. Auch Austausch und Zusammenarbeit sind für Studierende selbstverständlich. Jahr für Jahr erscheinen neue Zeitschriften – die meisten im Hochschulumfeld und kurzlebig. Andere aber, wie das von Sascha Hommer he­ rausgegebene Orang (seit 2003) oder das ausschliesslich von Frauen herausgegebene Spring (seit 2004) beeindrucken durch eine längere Lebensdauer. Kati Rickenbach, Milva Stutz und Julia Marti, einst Herausgeberinnen von Plusplus, engagieren sich in dieser Funktion nun bei Strapazin. Einen anderen Weg beschreitet Ulli Lust mit dem Onlineverlag Electrocomics.com (seit 2005). Diese Kombination aus Autorschaft, Kollektivsinn und Engagement für die Szene ist ein für die zukünftige Entwicklung vielversprechendes Charakteristikum dieser Generation. Allerdings ist in den letzten Jahren nicht nur im Bereich des Narrativen einiges passiert. Parallel zum erzählerischen Aufbruch in einem eher klassischen, internationalen Format entwickeln sich auch andere Formen des Erzählens in Bildern. Die Renaissance des Figurativen, der Aufstieg der Zeichnung zur eigenständigen Ausdrucksform, die neuerdings auch vom Kunstmarkt ernst genommen wird, sind Phänomene, die zwar ausserhalb der Comicszene stattfinden, aber durchaus in diese hineinwirken. Die Grenzen zwischen Comic, Illustration und Kunst lösen sich auf, an den Kunsthochschulen kommen Zeichnerinnen und Zeichner mit einer grösseren Vielfalt an Ausdrucksformen in Berührung und haben weniger Hemmungen, diese zu vermischen. In diesem Spannungsfeld wird der Comic zum Einzelbild und die Zeichnung beginnt zu erzählen. Dabei knüpfen viele Zeichnerinnen und Zeichner bewusst oder unbewusst auch an die Bildgeschichten der Neunzigerjahre an. Diese Ansätze und die anregenden Widersprüche zwischen Comic und Illustration, Narration und Einzelbild reflektiert auch Strapazin – das Interesse an ungewöhnlichen Formen des Erzählens in Bildern ist ungebrochen, und dank der Nähe zum Geschehen an den Hochschulen bleibt Strapazin auch hier am Puls der Zeit. Erzählende Bilder

David Sandlin (US), aus: House of Debt, Strapazin Nr. 102, 2011


15 Von grafischen Feuerwerken zur Graphic Novel

Fortsetzung folgt … Die Welt der Comics hat sich in den letzten dreissig Jahren grundlegend verändert, sowohl international als auch im deutschen Sprachraum. Vor dreissig Jahren gab es hierzulande nur wenige Autoren mit professionellem Anspruch, und der Comic galt in weiten Kreisen als wertloser Kinderkram mit analphabetisierenden Nebenwirkungen. Heute gibt es unüberschaubar viele Comicautoren sowie zahlreiche Verlage und Zeitschriften, die ihre Comics veröffentlichen. Heute werden Comics im Feuilleton besprochen, sie finden Eingang in Literaturhäuser und Museen, und in den meisten Buchhandlungen steht mindestens ein Regal mit Comics. Gleichzeitig hat sich der Comic inhaltlich und ästhetisch von den überkommenen Stereotypen befreit und ist zu einer vollstän­ digen Ausdrucksform gereift, in der jede Art von Geschichte und visueller Umsetzung möglich ist. Kurz: Comics werden auch bei uns als eine zeitgenössische Kunstform respektiert. Inmitten dieses bunten Treibens steht seit knapp dreissig Jahren Strapazin, als Bindeglied zwischen internationaler Szene und einheimischem Schaffen. Seit 1984 begleitet, beobachtet, ermutigt und reflektiert Strapazin die Entwicklungen in der deutschsprachigen Comicszene. Natürlich schafft und erfindet eine Zeitschrift selber nichts. Aber sie kann Neuem eine Plattform bieten, durch ihre Haltung und ihre redaktionellen Entscheidungen Impulse geben sowie gewisse Trends fördern und beeinflussen. So betrachtet, hat Strapazin zweifellos Entscheidendes zur Entwicklung einer deutschsprachigen Comicszene und deren eigenständigen Bildsprachen und Erzählhaltungen beigetragen.

Christian Gasser

Caroline Sury (FR), aus: Let’s have a Bun Nem!, Strapazin Nr. 106, 2012




Strapazin Nr. 14, 1988

Peter Bäder New York 1951

18


Strapazin Nr. 14, 1988

Peter Bäder

New York 1951

19


Strapazin Nr. 14, 1988

Peter Bäder New York 1951

20


Strapazin Nr. 14, 1988

Peter Bäder

New York 1951

21


Strapazin Nr. 13, 1988

Caprez /  S chuler Otto Wampe

22


Strapazin Nr. 13, 1988

Caprez /  S chuler

Otto Wampe

23


Strapazin Nr. 13, 1988

Caprez /  S chuler Otto Wampe

24


Strapazin Nr. 16, 1988

Caprez /  S chuler

Bar des morts

25


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.