Culturescapes Moskau

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CULTURE Schauplatz SCAPES der Insze足nie足 rungen Moskau Christoph Merian Verlag



CULTURE SCAPES

Schauplatz der Insze­nierungen

Moskau Herausgeber: Culturescapes Mitherausgeber: Jurriaan Cooiman Adrian Hofer Jan Miluška Christoph Merian Verlag

Aufsatz Film Aktionskunst Literatur Street Art

Theater Monument Gemälde Öffentlichkeit Musik

Underground Kirche Kunstmarkt Interview Stadtraum

Geschichte Utopie Konzeptualismus Staat Kommerz



Grigori Rewsin

Startrampen in den Kosmos

Kirche

Geschichte Utopie

Stadtraum

Staat Kommerz

Aufsatz Monument Literatur

Ă–ffentlichkeit

Seite 20


Sandra Frimmel

Seite 29

Matthias Meindl

Sylvia Sasse

Vom Konzeptua­ lismus zur neuen Aufrichtigkeit Underground Geschichte Kirche Kunstmarkt Konzeptualismus Aktionskunst Staat Literatur Ă–ffentlichkeit Stadtraum Kommerz Aufsatz


Ein Oleg Alexei Juri Grigori Sergei Gespräch Bajewski Munipow Grigorjan Rewsin Sitar mit:

Moskau neu vermessen

Geschichte Utopie Ă–ffentlichkeit Interview Stadtraum

Staat Kommerz

Seite 44


Alexandra Engelfried

Seite 58

Porträtund andere Hofkunst heute

Geschichte

Aufsatz Kirche Monument Kunstmarkt Gemälde Öffentlichkeit Stadtraum

Staat Kommerz


Michail Ryklin

interviewt von

Jan MiluĹĄka

Achtung! Zensur per Verfassung verboten

Underground Kirche Kunstmarkt Konzeptualismus Aktionskunst Staat Ă–ffentlichkeit Interview Kommerz

Seite 68


Irina Schtscherbakowa

Seite 78

Auf den Spuren der Repression und des Terrors Aufsatz

Geschichte

Ă–ffentlichkeit

Staat


Georg Genoux

interviewt von

Jan Miluška

Vergangen­ heits-Spiel und GegenwartsSchau

Theater

Geschichte

Öffentlichkeit Interview

Staat

Seite 86


Kerstin Holm

Philosophen und Randalierer Seite 96

Aufsatz Kunstmarkt Musik


Gesine Drews-Sylla

Die performative Vereinnah­ mung des Stadtraums

Aufsatz

Underground

Aktionskunst

Kunstmarkt Ă–ffentlichkeit Stadtraum

Konzeptualismus

Seite 106


Mischa Most

interviewt von

Anastassija Gorochowa

Wozu Graffiti im Stadtbild Moskaus? Seite 114

Underground

Street Art

Gemälde Kunstmarkt Ă–ffentlichkeit Interview Stadtraum

Staat Kommerz


Eva Binder

Gesteigertes Tempo – trßgerische Bilder Seite 124

Geschichte Utopie

Aufsatz Film

Stadtraum

Kommerz


Barbara Wurm

Und auch Moskau gibt es hier nicht Seite 134

Aufsatz Film

Geschichte Konzeptualismus

Literatur Stadtraum

Kommerz


Andrea Zink

Nina Gruber

Mord – Moskau – Marinina

Seite 141

Aufsatz

Geschichte

Literatur Stadtraum

Staat Kommerz


Karlheinz Kasper

Seite 151

Literatur zwischen phallischen Neubauten und den alten Schwengeln des Kremls Monument

Underground Geschichte Kirche Konzeptualismus

Musik

Stadtraum

Aufsatz

Literatur


Jurriaan Cooiman

Adrian Hofer

Jan Miluška

Zu diesem Buch

Seite 163


Grigori Rewsin

Startrampen in den Kosmos

Die städtebauliche Entwicklung Moskaus nach 1991 Ein italienischer Wissenschaftler nannte Moskau – mit einem Verweis auf ein beliebtes Stilmittel des Filmemachers Sergei Eisenstein – die «Stadt der Montage». Während die russische Kunst immer nach einem Ganzen strebte – zumindest im Denken jener, die sich nationalen Ideen verpflichteten –, entstand die Stadt in Wirklichkeit aus Fragmenten vollkommen verschiedener Milieus. Walter Benjamin schrieb in seinem ‹Moskauer Tagebuch› (1927), dass sich hinter den Moskauer Strassen das Dorf verberge. Es genüge, in einen Torbogen einzubiegen und schon eröffne sich einem das durchaus dörfliche Bild eines Moskauer Gutshofs. Wenn man sich nun das gleiche Abenteuer nicht aus der Sicht des Fremden, sondern aus dem Innern des städtischen Lebens heraus vorstellt, dann sieht das so aus: Man tritt aus seinem schmutzigen Torweg hinaus und wird vom Glanz der grossen Welt erfasst. Moskau, die Utopienfabrik Im utopischen Roman ‹Das Jahr 4338› (unvollendet) von Wladimir Odojewski aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fliegt der Held über die nächtliche Erde, als er plötzlich ein fast endloses Lichtermeer erblickt. Es sind die zusammengewachsenen Städte Moskau und Sankt Petersburg, die aus gänzlich durchsichtigen Hochhäusern bestehen. In der Erzählung ‹Tarantas› (1843) von Wladimir Sollogub kommt der Held aus dem Ausland zurück und trifft überall auf Schmutz, Zerfall und Mutlosigkeit. Später erscheint ihm im Traum das Moskau der Zukunft: «Zu beiden Seiten des Twerskoi-Boulevards prunkten Häuser von solch leichter und wunderbarer Architektur, dass ein Blick genügte, um die Seele mit Harmonie zu erfüllen.» Moskau ist die Stadt der Trugbilder. Tritt auf die Strasse und sie kommen dir entgegen – dies ist das Leitmotiv der Moskauer Architektur. Juri Awwakumow hat vor einigen Jahren im Moskauer Architekturmuseum die Ausstellung ‹Die Utopienfabrik› gemacht. Genau das ist Moskau – eine Utopienfabrik, die seit zweihundert Jahren ohne Unterbruch in Betrieb ist. Alles beginnt mit der Utopie des grossen Kremlpalasts von Wassili Baschenow in den 1770er-Jahren. Seine Idee bestand darin, den Kreml abzureissen und an seiner Stelle eine russische Akropolis zu errichten, um Russland symbolisch zu europäisieren, sozusagen ein europäisches Propfreis ins Herz des Landes zu stecken. Katharina II. liess zwar die Grundsteine legen, dachte aber nie wirklich an eine tatsächliche Realisierung des Projektes. Weiter folgte die Christi-Erlöser-Kathedrale von Alexander


Witberg auf den Sperlingsbergen, der mystische Traum Alexander des Grossen. Die Kathedrale mit ihrer reichen freimaurerischen Symbolik hätte die Harmonie des Kosmos unmittelbar in die Stadt übertragen und diese dergestalt allmählich in eine himmlische Stadt verwandeln sollen. Aber auch die reale Christi-Erlöser-Kathedrale, die dann schliesslich von Alexander Ton bereits unter Alexander III. 1882 eingeweiht wurde, war mehr als utopisch. Auf ihrem gigantischen Postament erhob sie sich über die Stadt, umso mehr, als sie damals nicht von achtstöckigen Häuserzeilen, sondern von zweistöckigen Einzelhäusern umgeben war – von einem ‹grossen Dorf› eben. Ebenfalls in Moskau beabsichtigte Wladimir Tatlin zwei Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 den vierhundert Meter hohen Turm der Dritten Internationalen zu errichten – und das war bereits ein Schritt weiter: Nun ging es nicht mehr darum, Harmonie nach Moskau zu bringen, sondern die Russische Revolution in die ganze Welt zu tragen. Der Turm, dessen Abschnitte sich in verschiedenen Geschwindigkeiten drehen sollten, stellte im Grunde genommen eine gigantische mystische Antenne dar, die ein neues Zeitmass vorgab. Das Nachfolgeprojekt war der Palast der Sowjets, eine nicht minder grossartige ‹Antenne des Kommunismus› von 420 Metern Höhe für den die Christi-Erlöser-Kathedrale 1931 unter Stalin gesprengt wurde. «In tausend Jahren wird überall Kommunismus sein und der Rätepalast wird immer noch so da stehen, wie er erbaut worden ist», hiess es zu Baubeginn. Es sollte sich erweisen, dass der Palast, obwohl nie erbaut, dennoch über Übertragungseigenschaften verfügte: um ihn herum bildete sich das stalinistische Moskau heraus. Die fünfstöckigen Häuserblocks der Chruschtschowzeit verbindet man heute schwerlich mit einer utopischen Idee. Dabei waren sie eine direkte Umsetzung der Ideale des kommunistischen Phalansteriums1 und repräsentierten die Losung: «Der Kommunismus in zwanzig Jahren!» Das erstaunliche Phänomen dieser Häuser, die aus dem Boden schossen wie Pilze, wurde als Ausdruck einer nie dagewesenen technischen Leistung gesehen und in der Presse mit dem Flug Gagarins in den Kosmos gleichgesetzt. Und sogar die Breschnewzeit bietet mit der Prachtstrasse ‹Kalinin Prospekt› (heute Neuer Arbat) Utopisches. Sie ist der Uferstrasse in Havanna nachempfunden und führt zur Moskwa als sogenannter ‹Hafen der fünf Meere›, wo sich die Weltmeere sozusagen unmittelbar vor dem Gebäude des ‹Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe› treffen. Bei all dem fällt eine Eigentümlichkeit auf: Es geht nie um die Transformation der Stadt als Ganzes. Es geht um die Schaffung eines Superobjekts, das die Stadt symbolisch verwandeln soll. Gewissermassen soll ein Ort der Verklärung, ein eigener Berg Tabor2 entstehen. All dies erinnert an einen

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Witz aus der Zeit vor der Perestroika, in dem ein Kolchosmillionär überlegt, wie er sein Geld ausgeben soll. Ein alter Kolchosbauer empfiehlt, Spanplatten zu kaufen. «Wozu?» «Um ein Flugzeug zu bauen und endlich von hier abzuhauen. In den Kosmos, nach Havanna, nach Europa – egal, einfach nur möglichst weit weg.» In der Utopie des russischen Ökonomen Alexander Tschajanow, der vor seiner Ermordung 1937 durch Stalins Schergen unter einem Pseudonym Romane verfasste, kommt in eben jenem Jahr die Bauernpartei an die Macht und erlässt ein Dekret über die Zerstörung der Städte und ihre Umwandlung in kleine Siedlungen inmitten von endlosen Feldern. Und im Zentrum einer jeden Siedlung steht ein eherner Turm, der direkt aus dem Kosmos Energie empfängt, das Klima verändert und überhaupt Segen verbreitet. Man möchte meinen, die Moskauer Superobjekte seien ebendiese Türme von Tschajanow. Man könnte Moskau somit auch das Symbol der ‹Russischen Idee› nennen. Die ‹Russischen Idee› ist eine metaphysische Sache. Metaphysik in Physik, in Realität umzuwandeln, ist die Bestimmung der Architektur. Also muss in der Stadt ein solcher Ort geschaffen werden, der dem, der ihn betritt, als eine Art Startrampe in den ‹russischen Kosmos› dient. Die ganze Stadt – die Stalin’sche, die Chruschtschow’sche, die Breschnew’sche – besteht aus Bruchstücken solcher Startrampen für nie gebaute Flugzeuge. Am meisten erstaunt jedoch die Tatsache, dass diese Utopien auch heute noch auftauchen. Es scheint zwar, als hätte sich das Verhältnis zur Stadt grundsätzlich gewandelt. Hatte Corbusier noch vorgeschlagen, ganz Moskau abzureissen und eine neue Stadt aufzubauen, rissen Stalin, Chrusch­ tschow und Breschnew dann tatsächlich die Hälfte ab und bauten sie neu auf. Heute aber wird rekonstruiert. Das historische Zentrum von Moskau samt all seinen Makeln, Irrationalitäten und seiner fehlenden Logik erhalten – so lautet gegenwärtig einer der Leitsätze der offiziellen Architekturpolitik. Wie aber kann unter der Twerskaja-Strasse ein unterirdisches Shopping-Zentrum gebaut und gleichzeitig die traditionelle Bebauung der Moskauer Gassen rekonstruiert werden? Wie können Wolkenkratzer neben der wiederaufgebauten Kasaner Kathedrale, dem Iwerski-Tor und der Christi-Erlöser-Kathedrale stehen? Wenn man heute versucht, einen in der Moskauer Architektur herrschenden Imperativ zu formulieren, so lautet er: «Alles abreissen und wieder aufbauen, wie es war». Wir sind der Geschichte verfallen wie einer Utopie. Die Christi-Erlöser-Kathedrale, die im Jahr 2000 wiedereröffnet wurde, ist keine Rekonstruktion des Originalprojekts, sondern eine ebensolche Startrampe in den ‹russischen Kosmos› wie der Palast der Sowjets. Nur die Kon-


figuration des ‹Kosmos› hat sich verändert – aus dem kommunistischen ist ein nationaler geworden. Man sieht also, das utopische Pathos ist nie aus Moskau verschwunden, es ist immer noch da, vertraut und doch berauschend. Historische Gebäude und Orte werden bis in ihren Urzustand zurück rekonstruiert. Und dort, wo die Geschichte fehlt, kommt man mit dem traditionellen utopischen Arsenal daher: Türme, unterirdische Städte, Gartenstädte – alles greifbare Mittel, um möglichst weit wegzufliegen. Die sozialistisch-kapitalistische Stadt Eine Startrampe in eine neue Epoche bildete das Jahr 1991 mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung. In der ersten Dekade dieser neuen Zeit hat Moskau einen Bauboom erlebt, der in seinem Ausmass mit den Entwicklungen der 1920er-Jahre und der Stalinzeit vergleichbar ist. Dieser Boom war jedoch nicht durch visionäre architektonische Ideen geprägt, vielmehr verkörpert er die wichtigsten Merkmale, die für den Zustand Russlands in der Zeit nach der Perestroika bezeichnend waren. Der Bauboom wurde durch den Zustand der Stadt bedingt, der in der neuen Epoche plötzlich anachronistisch wurde. Moskau auf der Schwelle in die 1990er-Jahre war die Hauptstadt eines sozialistischen Staates. In der Stadtstruktur gab es keine Spuren des Kapitalismus: Es gab keinen Raum für Handel. Die wenigen sowjetischen Geschäfte, die viel Platz für Warteschlangen und nur kleine Ladentheken zur Auslage der Waren hatten, mussten im Laufe eines Jahrzehnts schliessen, weil sie für den kapitalistischen Handel völlig ungeeignet waren. Es fehlte an Büroflächen. Die Räumlichkeiten der grossen sowjetischen Behörden – völlig unrepräsentativ und nach dem Prinzip der Durchsichtigkeit für die überwachenden Instanzen organisiert – erwiesen sich als unbrauchbar für kleine Privatunternehmen. Es gab keine Bankgebäude. Keine Cafés, keine Restaurants. In Sachen Wohnraum hatte sich das historische Zentrum mit den ehemals vornehmen Wohnungen teilweise in eine Zone mit nicht vollständig aufgelösten Gemeinschaftswohnungen und halbzerfallenen armseligen Wohnblocks verwandelt: der real existierende Sozialismus. All das musste korrigiert werden, und diese Notwendigkeit gebar einen Bauboom. Wer heute das Stadtzentrum betrachtet, erhält den Eindruck, alles sei bestens gelungen. Das Zentrum ist durchgängig zur Zone für Handel, Büros, Banken und Nobelwohnungen geworden, unzählige neue Gebäude sind entstanden – kurz: die Struktur einer kapitalistischen Stadt ist vorhanden. Doch gibt es hier einen weiteren Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt. Bei aller Intensität hat dieses neue Leben in mancher Hinsicht eine trügerische

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und unbeständige Natur. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist dieser Boom nämlich äusserst rätselhaft, denn er vollzog sich nicht nur vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Niedergangs, sondern einer permanenten Krise. Dies verweist recht deutlich auf die Unabhängigkeit des Baubooms von wirtschaftlichen Konjunkturschwankungen. So stehen all die neuen Gebäude auf Grundstücken, die den Besitzern dieser Gebäude nicht gehören. Sie wurden ihnen für neunundvierzig Jahre verpachtet, ein Fünftel dieser Zeit ist bereits abgelaufen. Denn der Boden gehört dem Staat, vertreten durch die Moskauer Stadtregierung. Die offiziellen Besitzer der Gebäude sind Aktionärsgesellschaften, deren Namen so lauten, wie das, was sie besitzen. Der Eigentümer des unterirdischen Shopping-Komplexes beim Manegeplatz heisst ‹Manegeplatz AG›, der Eigentümer des Handelskomplexes ‹Gostiny Dwor› heisst ‹Gostiny Dwor AG›. Es handelt sich um kommerzielle ‹Einweggebilde›, welche eigens für das jeweilige Investitionsprojekt geschaffen worden sind. Und da das Kontrollpaket der Aktien stets der Moskauer Regierung gehört, hat man es mit einer eigentümlichen Art von Staatseigentum zu tun, das vorgibt, privat zu sein. Die Baumeister dieser Gebäude sind äusserlich ebenfalls private Firmen, doch beginnen ihre Namen alle mit dem Präfix ‹Mos› – ‹Mospromstroi›, ‹Moskapstroi›, ‹Mosingstroi›3 und so weiter. In Wirklichkeit sind es Aktionärsgesellschaften mit einem entscheidenden Anteil an Staatskapital. Die Architekten dieser Gebäude sind Mitarbeiter von grossen Instituten, einige davon privat, andere staatlich. Die einen wie die andern sind jedoch Abteilungen des Departements für Architektur der Moskauer Regierung – von ‹Moskomarchitektura›. Die Verordnungen von ‹Moskomarchitektura› sind für alle bindend, Sitzungen werden mit den einen wie mit den andern durchgeführt, die Aufträge werden gleichmässig zwischen ihnen verteilt und das ganze Management ist auf der gleichen Grundlage organisiert – ohne Rücksicht auf die Unterschiede in der Eigentumsstruktur. Ja, es gibt tatsächlich keinen Unterschied zwischen den privaten und den städtischen Firmen, da sie alle dem Bürgermeister unterstellt sind. So erweisen sich die meisten der in Moskau gebauten Häuser als wirtschaftliche Phantome. Der Staat verpachtet als Grundeigentümer den Boden an sich selbst als Immobilienentwickler, vergibt an sich selbst einen Auftrag als Eigentümer eines Architekturbüros, stimmt das Projekt gleichzeitig als Auftraggeber und unabhängige Aufsichtsinstanz ab, baut das Gebäude als Bauherr, kauft sich als Investor das Gebäude als Besitzer ab und vermietet es an die Bürger, damit sie dort leben und wirtschaften. Gleichzeitig ist der Staat sorgsam darauf bedacht, nirgends als Staat, sondern stets irgendwie anders in Erscheinung zu treten.


Dieses Bild muss noch um einen zusätzlichen Aspekt erweitert werden. Am 28. Februar 2001 gab das russische Innenministerium bekannt, dass beim Bau der Moskauer Ringstrasse 265 Milliarden Rubel entwendet worden seien. Damals entsprach das etwa zehn Milliarden Dollar. Der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow (1992–2010) reagierte mit Entrüstung auf diese Summe und drohte, das Innenministerium zu verklagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Diese Angelegenheit vermag das Funktionieren des Bauwesens recht gut zu erklären. Die Ringstrasse war ja nur eines der sogenannten ‹grossen Projekte› von Luschkow. Teilweise mag diese Begebenheit zudem erhellen, wie während einer Wirtschaftskrise ein Bauboom zustande kommt, und möglicherweise mag dies sogar die Natur dieser Krise aufdecken. Hier liesse sich noch festhalten, dass die klassische Wirtschaftskrise eine Frage der Überproduktion ist. Dieser schrecklichen Plage ist Russland glücklicherweise entgangen. Russland hatte einen anderen Typ Krise, als ‹einfach so› Geld verschwand. Aber was war das Ergebnis des Baubooms der 1990er-Jahre? Es entstand eine kapitalistische Stadt, die gänzlich mit den Mitteln einer sozialistischen Wirtschaft erbaut worden ist, in welcher der Staat sowohl den Boden und die Gebäude als auch die Bauherren und die Architekten besitzt. Im sowjetischen Städtebau war der Begriff ‹Sozgorod›, sozialistische Stadt, gebräuchlich für eine Stadt, die durch den Staat nach einem einheitlichen Plan zur Versorgung eines grossen Industrieobjekts erbaut wurde. Das Moskau der 1990er-Jahre erweist sich im Rückblick als eine vom Staat geplante und erbaute Stadt – für die Versorgung des Kapitalismus. Zufällig stellt sich so heraus, dass der Staat selbst zum grössten Kapitalisten geworden ist, jedoch scheint er irgendwie scheu zu sein, wenn es darum geht, sich als solcher zu erkennen zu geben. Will man versuchen, ganz grob den Unterschied zwischen kapitalistischem und sozialistischem Städtebau in Worte zu fassen, so könnte man sagen, es handle sich um den Unterschied zwischen Dialog und Monolog. Der sozialistische Städtebau funktioniert nach dem Prinzip: «Wir planen, an dieser Stelle dieses Ding zu bauen.» Weil alles staatlich ist und vom Staat geplant und entschieden wird, und weil in den Gebäuden entweder staatliche Organisationen oder Bürger ohne Eigentumsrechte sitzen, ist dieses Prinzip realisierbar. Der kapitalistische Städtebau funktioniert grundsätzlich anders, da man ganz einfach nicht planen kann, was andere bauen wollen. Es gibt keinen Bauplan, sondern ein System von Regeln, in deren Rahmen sich verschiedene Strategien umsetzen lassen. Das sozialistische Moskau zu Beginn der 1990er-Jahre sah sich indes mit einigen unerwarteten Aufgaben konfrontiert. Es musste die Infrastruktur

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