Hope

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Sarah Hildebrand Gerhild Perl Julia Rehsmann Veronika Siegl

christoph merian verlag


‹ hope › ist aus der Begegnung und Zu­sam­ menarbeit der bildenden Künstlerin und Fo­tografin Sarah Hildebrand und den Sozialan­ thro­­pologinnen und Autorinnen Gerhild Perl, Julia Rehsmann und Veronika Siegl ent­standen. Vom menschlichen Körper ausgehend, be­leuchten drei künstlerisch-literarisch-wis­senschaftliche Forschungen Ambivalenzen der Hoffnung. In einem Europa politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit, existenzieller Unsicherheit und zunehmender Ab­schottung, sind die Perspektiven der Hoffnung ungleich verteilt.

sein, um auf die Warteliste für eine neue Leber zu kommen, gesund genug bleiben, um nicht vor dem entscheidenden Anruf zu sterben. Warten auf den Tod eines anderen Menschen als Bedingung für das eigene Überleben. Die gepackte Tasche neben der Tür, monate-, wenn nicht jahrelang.

WASSER  Spanien. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, das Grenzen für die Einen aufmacht und für die Anderen ver­riegelt. Hoffnungen, die seit Jahrzehnten an Europas Küsten zerschellen und im unbe­ rechenbaren Wasser untergehen. Menschliche ZEHN MONATE  Russland. Die Hoffnung Körper, die in den Meeren und auf den Fried­ eines Paares auf ein Kind durch die repro­duk­ höfen verschwinden. Zurück bleiben Spuren: tive Arbeit einer fremden Frau. Die Hoffnung Reste der Schlauchboote, verblasste Zeichen einer Frau, für die eigene Familie besser sor­- auf Grabsteinen, Kunstblumen und die Stim­ gen zu können, indem sie für andere einen men der Toten sowie derjenigen, die auf unterEmbryo austrägt. Viele Monate der Unge­ ­ schiedliche Weise in Beziehung mit ihnen wissheit, die einer Fremd- und Selbstkontrolle ­stehen. unter­worfen sind. Tabletten, Spritzen, HorMit Fotografien und Erzählungen folgt mone, Anweisungen, Untersuchungen. Kon­trollier­te Grenzüberschreitungen, wo nötig, ‹ hope › den Spuren von Menschen, die kör­ perliche, seelische, emotionale, moralische, ­kon­trollierte Grenzwahrungen, wo möglich. geografische und ihre eigenen Grenzen über­ ORGANISMUS  Deutschland. Die Hoff­- schreiten, in der Hoffnung auf etwas, das für nung, das eigene Leben durch eine Trans­ andere eine Selbstverständlichkeit ist: ein plantation zu verlängern. Ein Mensch an der Kind, ein längeres Leben, ein selbstbestimm­ Grenze zwischen Leben und Tod. Krank genug tes Leben.


‹ hope › emerged from the encounter and collaboration between artist and photo­gra­pher Sarah Hildebrand and the social anthro­ pologists and authors Gerhild Perl, Julia Rehs­ mann and Veronika Siegl. Taking the human body as their depar­ture point, three artistic/literary/scientific ex­plo­ rat­ions shed light on ambivalences of hope. In a Europe of political and economic inju­ stice, existential uncertainty and increasing isolation, hopeful prospects are distributed unevenly.

TEN MONTHS  Russia. A couple’s hope for tive a child realized through the reproduc­ work of an unknown woman. A woman’s hope of providing for her own family through car­ rying an embryo for somebody else. Many months of uncertainty, subjected to self-con­ trol and the control of others. Tablets, injec­ tions, hormones, instructions, examinations. Crossing boundaries, where necessary; guar­ ding boundaries, where possible. ORGANISM  Germany. The hope of prolon­ ging one’s life with a transplant. A person at the boundary between life and death. Being ill enough to get onto the waiting list for a new liver; staying healthy enough not to die before that crucial telephone call. Awaiting the d ­ eath

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of another person as a condition of one’s own survival. The packed bag by the door, for months, if not years, on end.

WATER  Spain. Hope of a better life in Eu­ rope, which opens borders for some and bolts them for others. Hopes that, for decades, have been shattered on Europe’s coasts and sunk in unpredictable waters. Human bodies that ­vanish in the seas and in cemeteries. Traces remain: remnants of inflatable boats, faded letters on gravestones, artificial flowers and the voices of the dead as well as of those who are linked to them in various ways. With photographs and narratives, ‹ hope › fol­lows the traces of people who exceed ­phy­si­cal, mental, emotional, moral, geographic and their own boundaries in the hope of s­omething that, for others, is a given: a child; a longer life; a self-determined life.



Zehn Monate  Ten Months Sarah Hildebrand: Fotografie Veronika Siegl: Text

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ZEHN MONATE

ALLE PERSONENNAMEN WURDEN ANONYMISIERT.

MONAT NULL. SIE WOLLEN ALSO LEIHMUT TER WERDEN Draussen liegen die Temperaturen weit unter null, und die ältere Frau an der Garderobe nimmt Pelzmäntel und Daunenjacken entgegen. An der Re­ zeption der Fertilitätsklinik AltraVita in Moskau hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Ich nehme mir ein Paar blaue Überziehschuhe, gehe in den Wartekorridor und setze mich auf eine der Bänke. Es ist viel los, aber dennoch ruhig. Olga Pawlowna, die Managerin des Leihmutterschaftsprogramms, kom­mt auf mich zu. An ihrer Seite geht eine junge Frau, etwa Mitte zwanzig, die sie mir als Lena vorstellt. Gemeinsam betreten wir das Sprechzimmer von Dr. Semjonova. Auf dem Fensterbrett stehen zwei grosse Glasrahmen mit ei­ ner Collage aus Babyfotos, daneben eine gestickte Ikone und ein in Plastik­ folie verpackter Strauss mit rosa Stoffblumen. «  Sie wollen also Leihmutter werden  », sagt die Ärztin, mehr zu sich als zu Lena, und holt eine Liste von Fragen hervor. « Wann wurden Sie geboren? Haben Sie Geschwister? Welche Krankheiten gibt es in der Familie? Hatten Sie Unfälle oder Operationen? Nehmen Sie Medikamente? Wann hat Ihre Menstruation begonnen? Ist sie schmerzhaft? Wie viele Schwangerschaften hatten Sie? Wie viele Abtreibun­ gen? Welche Grösse und welches Gewicht hatten Ihre eigenen Kinder bei der Geburt? Sind Sie verheiratet? Wer wird sich um die Kinder kümmern, wenn Sie Leihmutter sind?  » Zum Abschluss der Befragung nickt die Ärztin zufrieden, und gemeinsam mit Lena verschwindet sie hinter dem weissen Vorhang. «  Bitte entspannen Sie sich, ich werde Ihnen nicht wehtun », sagt sie erst freundlich, dann etwas strenger, gefolgt von einem: « Sehr gut. Bravo. » Nach dem Ultraschall kehren beide an den Schreibtisch zurück. « Die Gebär­ mutterschleimhaut ist von der Struktur her gut, aber sehr dünn. Wir müssen etwa am achtzehnten Tag des Zyklus einen weiteren Ultraschall machen, erst dann können wir sagen, ob Sie als Leihmutter infrage kommen. Rufen Sie bei der nächsten Menstruation Olga Pawlowna an und vereinbaren Sie einen­ neuen Termin. » MONAT NULL. DU MUSST UNSERE ANWEISUNGEN AUSNAHMSLOS BEFOLGEN « Du gibst dein Einverständnis, dass du dich nicht mit den Eltern treffen wirst und dass du niemandem von der Leihmutterschaft erzählst. Du musst unsere Anweisungen ausnahmslos befolgen und alle Präparate gewissenhaft

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einnehmen. Du musst immer das Telefon eingeschaltet haben, und wenn dir etwas ungewöhnlich vorkommt, ruf uns sofort an. Bis zu fünf Wochen nach dem Embryotransfer kein Geschlechtsverkehr. Das ist wichtig! Und denk da­ ran, dass wir dich jederzeit auf Alkohol, Nikotin oder Drogen testen können, und falls das Resultat positiv ist, gibt es Sanktionen. Nach der Geburt gibst du mit deiner Unterschrift das Recht auf die Mutterschaft ab, und die Geburtsurkunde wird auf den Namen der Eltern ausgestellt. Wenn die Mutter bei der Geburt anwesend sein will, solltest du ihr das erlauben. Du wirst das Kind nicht sehen, es wird auch nicht auf deine Brust gelegt, sondern geht direkt in die Arme der Mutter. » Olga Pawlowna macht eine Geste, als würde sie behutsam ein Kind von einer Person zu einer anderen reichen. Dann blickt sie kurz vom Vertrag auf und fährt fort: « Nach dem Embryotransfer erhältst du wöchentlich 3000 Rubel und nach einem positiven Ergebnis 20 000 im Monat. Bei Zwillingen 27 000. Nach der Geburt bekommst du eine Entschädigung für den Arbeitsausfall und für die körperliche Regene­ ration; diese beträgt eine Million Rubel. Wenn du, aus welchem Grund auch immer, den Vertrag nach dem Embryotransfer auflöst, schuldest du uns 1 400 000 Rubel. Bedenke, dass du nach dem Transfer und ab der 30. Schwan­ gerschaftswoche bis zur Geburt in Moskau wohnen musst. Wir haben neben der Klinik Wohnungen, die du in dieser Zeit nutzen kannst. »

MONAT NULL. ES IST EINE ART SCHALTER « Vielleicht interessiert Sie, warum wir am Leihmutterschaftsprogramm teilnehmen », fragt Zhenja. Noch bevor ich etwas erwidern kann, fährt sie bereits fort: « Dass alle Menschen auf der Welt nett sind und ich aus ‹  noblen  › Gründen Leihmutter werde, so etwas gibt es nicht. Uns geht es ums Materiel­ le. Nirgends sonst in Russland kann man eine Million Rubel verdienen. » Sie sitzt in T-Shirt und einer weissen Unterhose vor mir, ein Bein über das an­ dere geschlagen, und blickt mir herausfordernd in die Augen. So sei hier die Einstellung, sagt Zhenja und setzt hinzu, womöglich wäre es anders, wenn alleinstehende Mütter es nicht so schwer hätten in diesem Land. Noch vor sechs Jahren hätte sie nicht verstanden, wie man ein Kind austragen und es dann weggeben könne. Im Laufe der Zeit sei ihr jedoch klar geworden, dass man sich einfach emotional gut vorbereiten muss: « Das passiert innerlich. Es ist eine Art Schalter. Du triffst für dich die Entscheidung, und dann funk­ tioniert es auch. »

1000 RUBEL ≈ 18 EURO


ZEHN MONATE

MONAT NULL. EIN GUTES EINKOMMEN Direkt neben der Klinik befinden sich zwei Plattenbauten: hohe Ge­ bäude in Braun und Weiss, umgeben von Bäumen und einem Spielplatz. In der Wohnung Nummer 38 wohnen Leihmütter, Eizellspenderinnen und manchmal auch Patientinnen, die für ihre Untersuchungen extra nach Moskau kommen. Das Treppenhaus wirkt schmutzig und abgenutzt, in der Wohnung ist alles neu und sauber. Mehrere Zettel mit Anweisungen und Aufforderungen hängen an den Küchenwänden. Sonja stellt Datteln auf den Tisch und sagt, ich solle zugreifen. Die blonden Haare fallen ihr strähnig ins Gesicht, sie sieht müde aus. Die monatlichen 20 000 Rubel, die die Leih­mütter während der Schwangerschaft erhalten, sind für Moskauer Ver­ hältnisse ein geringes Gehalt. Wenn man ‹  in den Regionen  › lebt wie Sonja, ist dies aber ein gutes Einkommen. In ihrem Job als Küchenhilfe verdient sie weniger als die Hälfte dieser Summe und ihr Mann, Elektriker, nicht viel mehr. Gemeinsam müssen sie zwei Kinder versorgen und die alte Mut­ ter, die die Einzimmer-Wohnung mit ihnen teilt. Die Einnahmen aus der Leihmutterschaft möchten sie in den Kauf einer Eigentumswohnung in­ vestieren, um mehr Sicherheit in finanziellen Krisenzeiten zu haben. Diese gebe es ja in Russland immer wieder. Sonja erklärt, sie habe morgen ihren Embryotransfer. Die letzten zwei Wochen war sie in ‹Vorbereitung  ›. So be­ zeichnet man die Zeit der hormonellen Stimulation, während der die Ge­ bärmutterschleimhaut aufgebaut wird, damit sich der Embryo gut einnis­ ten kann. Sonja geniesst die Zeit weg von der Familie und den häuslichen Verpflichtungen: « Wir sind eben Frauen. Zu Hause würden wir keine Ruhe geben und immer aufräumen und putzen. Hier haben wir Bett, Fernseher, Internet und können aufstehen, wann wir wollen. Manchmal unternehmen wir auch etwas gemeinsam. » Gestern sei sie mit ein paar anderen Frauen zum 59. Mal im Lenin-Mausoleum am Roten Platz gewesen. MONAT NULL. ICH WAR SCHOCKIERT Evgenijas Redefluss ist kaum zu stoppen. Mit lauter Stimme schildert sie ihre Erstuntersuchung und meint, sie müsse nun noch ein paar Stunden warten, bis die ärztliche Kommission beschlossen habe, ob sie ‹  passe  › oder nicht. Eigentlich sei sie gelernte Köchin und Bäckerin. Diese Berufe mochte sie nie, jedoch musste sie ihre Mutter schon früh finanziell unterstützen, und das war damals die beste Möglichkeit. Sie hätten es nicht leicht gehabt,

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