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Interniert In schweizer Flüchtlingslagern Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43
Felix Stössinger
Interniertt Internier
Frankreich, im Sommer 1942. Als die Deportationen beginnen, retten sich der jüdische Autor Felix Stössinger, seine Frau Charlotte und deren Sohn Hans in die Schweiz. Auf die geglückte Flucht folgt bald die Ernüchterung: Militärbürokratie und antisemitisches Personal prägen den Alltag in den Flüchtlingslagern. Stössinger wirft einen kritischen Blick auf die Schweizer Flüchtlingspolitik und Die zeitgenössischen Befindlichkeiten. Seine Aufzeichnungen sind ein einzigartiges Zeitdokument, dessen Unmittelbarkeit beeindruckt.
Christoph Merian Verlag
Interniert In schweizer Fl端chtlingslagern
Interniert In schweizer Flüchtlingslagern Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43
Simon Erlanger, Peter -Jakob Kelting (Hg.) Christoph Merian Verlag
Inhalt
6 Vorwort
Zwischen Tell und Gessler
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�. Teil: Flucht aus Frankreich
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��. Teil: Im Auffanglager
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���. Teil: Zivilinterniert
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Flucht aus Wien und Österreichs Sendung
472
Flucht aus Prag und von München nach ‹München›
von Felix Stössinger
Die 16 Gebote
494 Biografie 500
Der historische Kontext
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So hätte die Schweiz sein sollen, wie diese Walliser Bauern Interview mit
Hans Michael Freisager, Stiefsohn von Felix Stössinger
Vorwort
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«… Wir meldeten uns beim Kommandanten. Er zog die Brille über die Stirn, wiegte sich etwas in den Hüften von hinten nach vorne, lächelte und sagte: – Ich habe eine Arbeit für Sie, die Ihnen gefallen wird. Sie werden das Lager-Tagebuch führen. – Ein Kassenjournal, fragte ich. – Nein, ein literarisches Tagebuch. Sie schreiben es für sich selbst. Was Sie sehen, denken, beobachten, erleben. Ich gebe Ihnen mein Wort: Was ich aus dem Tagebuch über das Lager erfahre, ist so, als ob ich es nicht erfahren hätte. Aber ich möchte, dass Sie schreiben, was Sie erleben. – Auch Beschwerden und Bemängelungen? – Alles. …» So beschreibt der österreichisch-jüdische Journalist und Publizist Felix Stössinger, wie er dazu kam, seine Erlebnisse in Schweizer Lagern schriftlich festzuhalten. Ein literarisches Journal sollte er schreiben, gewissermassen in offiziellem Auftrag. Nicht nur Geschehnisse sollte er dabei dokumentieren, sondern ein literarisches Tagebuch verfassen. Die Ereignisse sollten eingeordnet und analysiert werden. Zeiten und Umstände sollten dadurch verstanden, verstehbar gemacht werden. Dies konnte in Zeiten der Militärzensur und des strikten Flüchtlingsregimes durchaus gefährlich sein: «Sofort begriff ich aber, dass ich mein Lagerjournal in doppelter Buchführung anlegen musste: Eine für mich, die andere ad usum delphini. Ich wollte nicht jedermann zeigen, was ich sah und dachte. Ich hatte zum Kommandanten Vertrauen, aber ich wusste nicht, wer die 2 Exemplare lesen würde, die ich ausser seinem Privatexemplar zu schreiben hätte. Und schliesslich lässt sich die Kunstform des Tagebuchs nicht aus den Tagen schütteln. Ihre Ergebnisse bedürfen der Anordnung, weil sie sonst sinnlos wie das Tagesleben wirken.»
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Das Tagebuch ist so nicht blosse Chronik der Ereignisse und einfaches Zeitdokument, sondern ein literarisches Produkt, ein bewusst gesetzter und gewichteter Kommentar zur schweizerischen Flüchtlingspolitik, zum Lagersystem und zur Behandlung der Flüchtlinge durch die Schweiz. Felix Stössinger gehörte zusammen mit Frau Charlotte und Stiefsohn Hans zu den 22 500 jüdischen Flüchtlingen und Emigranten, denen es bis 1945 gelang, in der Schweiz Aufnahme zu finden – trotz einer schon seit den zwanziger Jahren gegen Juden gerichteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, welche während des Krieges noch verschärft wurde. Tausende jüdischer Flüchtlinge wurden an der Grenze abgewiesen und zurückgeschickt, in den sicheren Tod. Die meisten derjenigen, die Aufnahme fanden, wurden für kürzere oder längere Zeit in Auffang- und Arbeitslagern sowie in den sogenannten Flüchtlingsheimen interniert. Nur wenige hielten ihre Erlebnisse im schweizerischen Lagersystem in Tagebüchern fest. Einige mehr fassten sie, zum Teil Jahrzehnte später, in ihren Erinnerungen zusammen. Nur sehr wenige dieser Aufzeichnungen erreichen aber die literarische Qualität und die Unmittelbarkeit des Tagebuchs von Felix Stössinger. Die Sprachgewalt, die Genauigkeit der Beobachtung, die politische Analyse, die kulturelle Tiefe, die Feinheit der Ironie – das alles sucht seinesgleichen in der Erinnerungsliteratur. Immer wieder werden die präzisen und eindrücklichen Schilderungen des Lageralltags unterbrochen durch kurze Essays, in denen die Belesenheit und die Bildung des Autors zum Ausdruck kommt, der in Wien, Berlin und Prag als Kulturjournalist und politischer Publizist gewirkt hatte. Nach der Befreiung aus dem Lager und später noch nach Kriegsende redigierte Stössinger das Tagebuch und fügte Kapitel und Essays hinzu, die unter anderem seine Flucht aus Prag und Wien
beleuchten. Schon der Titel des Manuskripts ‹Zwischen Tell und Gessler› deutet die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: schwankend zwischen den Idealen von Schillers Tell, mit einer Schweiz als Hort der Freiheit, und einer antijüdischen Flüchtlingspolitik, die eher zur Staatsraison eines Landvogts Gessler passte. Lange Jahre blieb das nur als Typoskript in wenigen Exemplaren vorhandene Tagebuch unveröffentlicht. Fast ein halbes Jahrhundert nach der Redaktion durch Felix Stössinger übergab dessen Stiefsohn Hans Freisager eine Kopie des Tagebuchs dem Journalisten und Historiker Stefan Keller. Der hatte mit der Reportage ‹Grüningers Fall› 1993 die Geschichte des St. Galler Polizeihauptmanns und Fluchthelfers Grüninger aufgearbeitet und so dessen Rehabilitierung durchgesetzt – was damals auch ein Anstoss zu einer vertieften Beschäftigung mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik war. Keller machte Ende der neunziger Jahre Simon Erlanger, Mitherausgeber der vorliegenden Edition, auf das Tagebuch aufmerksam, worauf es Erlanger als eine Quelle für seine 2006 erschienene Dissertation zum System der schweizerischen Arbeitslager und Heime verwendete. Durch diese Arbeit wurde Mitherausgeber Peter-Jakob Kelting auf das Manuskript aufmerksam, der es wiederum Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung vorlegte. Von Wartburgs Begeisterung für das Tagebuch ist es zu verdanken, dass es nun im Christoph Merian Verlag veröffentlicht und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird. Die vorliegende Ausgabe umfasst den ganzen ungekürzten Text des Tagebuchs, nebst zusätzlichen Artikeln und Essays, welche die Flucht Stössingers aus Wien und Prag schildern und die Stellung der Flüchtlinge in der Schweiz thematisieren.* Wo es die Herausgeber als nötig erachteten, wurde der Text durch kurze *
Das Originaltagebuch besteht aus zwei broschierten Bänden, die drei Teile enthalten. In dieser Publikation veröffentlicht werden der gesamte erste und zweite Teil, ausserdem drei Aufsätze aus dem dritten Teil. (Anm. d. Hg.)
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Kommentare ergänzt. Diese sollen das Verständnis erleichtern. Um Leserinnen und Leser an die Person von Felix Stössinger und seine Zeit heranzuführen, enthält die vorliegende Edition eine biografische Notiz und eine kurze historische Einordnung sowie ein längeres Interview mit Stössingers Stiefsohn Hans Michael Freisager. An dieser Stelle sei Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung für seine Initiative ebenso herzlich gedankt wie Claus Donau, Kevin Heiniger und Oliver Bolanz vom Christoph Merian Verlag für die ausgezeichnete Betreuung. Dank gilt auch Jörg Bertsch für die gute und äusserst produktive Zusammenarbeit beim Lektorat sowie nicht zuletzt der Christoph Merian Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, ohne deren finanzielle Unterstützung die vorliegende Publikation nicht möglich gewesen wäre. Simon Erlanger und Peter-Jakob Kelting, Basel, im Juni 2011
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Was sie bed端rfen, Nicht was sie verl angen. Ibsen
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Zwischen Tell und Gessler von Felix Stรถssinger
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�. Teil Flucht aus Frankreich Naître, vivre et mourir dans l a même maison. Sainte-Beuve
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1. Meine Rettung in die Schweiz – mit meiner Frau und ihrem erwachsenen Jungen – verdanke ich einem Zufall. Wir lebten in Nice, versteckt in der eleganten Wohnung einer französischen Familie, die sich im Sommer der Deportationen 1942 in den Alpes Maritimes vom heissen Meeresklima erholte. Die Concierge hatte die Schlüssel und überliess uns für einige Tage die Wohnung für 2500 Francs. Unser treuer Hima* besorgte die Verbindung mit der Aussenwelt. Jeden Mittag brachte uns seine Frau Essen für 24 Stunden und Nachrichten über die Deportationen. Kaum war sie fort, warteten wir auf sie. Mit Unruhe im Magen und vergessenen Fragen in den Augen sassen wir um den Küchentisch. Wenn sie kam, gab die Concierge am Haustelephon ein Klingelzeichen, stundenlang hatten wir auf dieses hölzerne Klingeln gewartet. Manchmal klirrte es, wenn die Concierge die Klappe versehentlich streifte. Unsere Anwesenheit beirrte sie, daher passierte es öfters. Nie wussten wir, was das Klingeln bedeutete: eine falsche Verbindung, das Kommen von Hima oder die Polizei. In dem Fall wollte ich um die Balustrade der Terrasse klettern, die einen Häuserblock säumte. Die Nachbarwohnungen waren auf dem Balkon nur durch Milchglaswände getrennt. Man konnte längs der Balustrade in ein anderes Haus kriechen und es vielleicht verlassen. Man konnte auch 6 Treppen tief auf die besonnte Strasse stürzen. Ich war aber entschlossen, mich nicht deportieren zu lassen. Zunächst erschien aber bei jedem Klingeln Hima oder seine Frau. Simon war elsässischer Jude, Louise eine Strasbourgerin. Louise fuhr mit dem Lift bis zum 5. Stock, dann glitt sie geräuschlos die Spiraltreppe bis zum 6. hinauf, um von keiner Partei gesehn zu werden. Wusste man doch nie, ob es Freunde oder Verrä*
Es handelt sich hier vermutlich um einen Decknamen, den Felix Stössinger für einen Helfer namens Simon Durlach verwendet hat.
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ter waren. Das Ohr an die Tür gepresst, warteten wir, bis Louise und die Concierge die letzte Stufe erreicht hatten, zogen die Tür weit nach innen auf, damit die Frauen eintreten konnten, ohne mit den Körben und Paketen die Tür zu streifen, dann erhielten wir Post und Essen. Wir erfuhren, ob die Strassen kontrolliert, Passanten verhaftet und französische Wohnungen noch respektiert wurden. Schliesslich unsere Hauptfrage: Ist Carmen zurück? Wir erwarteten von ihr und ihren vielen guten Beziehungen alles. Mit der Deutung der Nachrichten beschäftigten wir uns bis zum nächsten Mittag. Wie viele Möglichkeiten lagen hinter ihnen. Aus jedem Wort destillierten wir Ereignisse, die Hima vielleicht vor uns geheim hielt oder nicht richtig gedeutet hatte. So treu und lieb er auch war – sollten wir ihm rückhaltlos glauben? Manchmal begingen wir die Sünde, an ihm zu zweifeln. Er hatte Freunde, die ihn einschüchterten. Waren wir ihm nicht schon lästig geworden? Dazu kam, dass wir einige Tage hungerten. Die Vorräte, die wir Hima mitgebracht hatten, waren aufgegessen, aber Louise hatte eine schwere Hand zu ihren vollen Speisekammern. Ich sage das nicht, um die liebe Madame Hima herabzusetzen – aber welchen Wert könnte meine Erzählung haben ausser dem der sincérité, zu der mir der französische Roman Mut gemacht hat. So hatten wir in Hima [und Louise] Freunde entdeckt, die aus gaullistischem Enthusiasmus für uns ihr Leben gefährdeten, die aber zögerten, unser Leben durch Öffnung ihrer Vorratskisten in gutem Zustand zu erhalten. Der Enthusiasmus: Das war die Hingabe an eine Idee, die Liebe zu Frankreich, die résistance gegen die Deportationen. Die Hungerpsychose: Das war die Angst um das eigene, kleine Ich. Um allem gerecht zu werden, organisierte Simon unsere Versorgung bei unseren Gemüselieferanten draussen in St-Augustin, bei denen wir ihn früher eingeführt hatten. Die tropische Hitze hielt den lieben Menschen vor keiner Beschwer-
lichkeit zurück. Täglich nahm er das Risiko auf sich, in unserer Wohnung unsere Post abzuholen. Die Fleischerin auf dem Marché de la Buffa gab aus Sympathie mit den Versteckten für ein 250 Gramm-Ticket 1 Kilo Fleisch. Die brave Elise setzte die schwarzen Kartoffelpreise für verfolgte Juden um 2 Fr. per Kilo herab. Und an einem Tag brachte Louise sogar Obst. Es waren Pfirsiche, Tennisbälle aus gelbrotem Velours. Wir dachten beim Essen an unsere heiteren Expeditionen ins herrliche Tal des Var. Das Obst war überreif, hatte die Tüte nass gemacht, und damit sie nicht auseinanderging, hatte sie Hima in eine dicke Zeitung eingeschlagen; es war eine Beilage der Neuen Zürcher Zeitung. In Todesängsten sassen wir in der komfortablen Küche. Sie war mit allem Luxus raffinierter Küchengeräte ausgestattet, wie sie nur ein Volk von Feinschmeckern konstruieren kann. Nie haben wir so eine Wohnung gehabt, klagte Charlotte. Jetzt gehn meine Wünsche in Erfüllung, wo … Sie wollte sagen, wo wir sterben müssen. Das Tröpfeln der Wasserleitung, der Knall des Gases beim Entzünden, das Knarren einer Schranktüre erschreckten uns zu Tode. Da wir solche Geräusche nicht wie im Konzertsaal niederzischen konnten, ohne sie zu vergrössern, versuchten wir den Schuldigen mit Blicken zu ersticken. Hinter der Glaswand auf der Terrasse der Nebenwohnung sassen Franzosen mit Kindern und Gästen heiter beim déjeuner. Wir sahen auf dem Milchglas das Schattenspiel ihrer guten Laune und hörten ihren Gesprächen zu. Es war wie eine Ballettmusik von Verdi, bevor einer erstochen wird. Wir hielten den Atem an, die Seele in Tränen, unsere Lage war aussichtslos. In zwei Tagen sollten wir die Wohnung räumen. Die Concierge fürchtete nicht die Rückkehr der Mieter, sondern der Partei unter uns. «Nous sommes en brouille», fügte sie hinzu. Sie glaubte, sie könnten sie beim gérant denunzieren. Als sie uns aber ihren Na-
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men nannte, fühlten wir uns wieder gerettet. Die Frau war eine Kundin von Charlottens Hutsalon, eine Jüdin, also kein Feind, eine Ungarin, also noch kein Opfer. Die Concierge gab aber nicht nach und daher zu neuem Misstrauen Anlass. Erst hatte sie 200 Francs refüsiert, um dann plötzlich 2500 zu verlangen, angeblich um ihre Tochter in der Bretagne besuchen zu können, da ihr Mann seine Stieftochter hasste. Man konnte nie wissen, ob sie uns gleich oder später verraten würde. Der Preis war eine Sicherung, denn niemand zahlte ihr für uns so viel wie wir selber. Um sie an unserem Leben zu interessieren, zahlten wir ratenweise, die Höhe der Schlussrate sollte ihre Treue verbürgen. Unsere grösste Sorge war unser nächstes Versteck. Himas Adressen waren erschöpft. Je vernünftiger wir unsere Lage durchdachten, umso hoffnungsloser wurde sie. Gerade in solchen Augenblicken ziehe ich mich instinktiv vor einem unlösbaren Problem zurück, ich erwarte mehr vom Wachstum der Dinge als von eigenen Bemühungen. Ich las viel, um mich nicht sinnlosen Plänen zu überlassen. Charlotte und Hansi spielten Karten oder Schach oder lasen etwas, aber jeden Moment besuchten wir uns auf den Fussspitzen in einem der drei Zimmer, um uns neue Einfälle oder Besorgnisse mitzuteilen. Wir trennten uns also nach Tisch, ich nahm die Neue Zürcher in mein Zimmer, leider war es nicht das Hauptblatt mit den Kriegsnachrichten, sondern eine Beilage mit Nachrichten aus den Kantonen, also für uns ohne Bedeutung. Ich legte mich aufs Sofa, sah das Blatt an, mein Leben blieb stehn. Da stand: «Flüchtlinge in der Schweiz». Ein nervöses Vibrieren verlor sich, als ich den Artikel bewusst ein zweites Mal las. Es war ein Bericht aus Bern über die Flüchtlingsfrage in der Schweiz. Wir hatten in Nice keine Ahnung, dass Flüchtlinge seit Monaten in die Schweiz eindrangen. Ich war in der Zone libre als Korrespondent und Mitarbeiter Schweizer Zeitungen tätig, bekam aber nur den Abdruck
meiner Beiträge von einem Ausschnittbureau zugeschickt. Hima hatte sich die Zürcher erst seit einigen Wochen durch den Petit Niçois zu besorgen gewusst. Während des Urlaubs der Redaktionssekretärin übersetzte er die Zeitung. Langsam, wie einen schwierigen Text, begriff ich nun beim dritten Lesen, dass sich ein Flüchtlingsstrom aus Holland und Belgien über den Jura ein Bett in die Schweiz gebahnt hatte. Der Protest des Volkes gegen die Zurückweisung der Flüchtlinge hatte den Bundesrat gezwungen, sie aufzunehmen und allen, die bis zum 13. August in die Schweiz gelangt waren, Asyl zu gewähren. War auch schon der 3. September, so schloss der Ton des Berichts die Besorgnis aus, Flüchtlinge könnten im September wieder über die Grenze gestellt werden. Wir wussten in Nice wenig von den Greueln dieses Sommers. Wie konnten wir ahnen, was in den besetzten Gebieten vor sich ging, wo wir nicht einmal zuverlässig erfahren konnten, was sich in Marseille oder Lyon ereignete. Ich sah das Zeitungsblatt in jenem passiven Zustand an, in dem man scheinbar nichts denkt, weil sich das Denken in uns ohne Worte vollzieht, nicht in Begriffen sondern in Dingen, bevor die Worte sie so oft deformieren. Ich dachte also ‹nichts›, wusste ‹nichts›, beschloss ‹nichts›, nur dass dieses Nichts plötzlich vor mir ohne Überlegung die Gestalt eines hinreissenden Beschlusses angenommen hatte, der mich wie ein Lichtsturm erfüllte. Ich sah mich plötzlich in diesem anmutigen Zimmer mit seinen provençalisch zierlichen Möbeln, seinen Garnituren, Teppichen, hohen grünen Fensterläden, seinen Seidentapeten, den Goldbändern der Sonne, die auf allem lagen, wie in einem Ort der Gnade, in dem ich aufgehoben lebte, bis der Engel eintritt, wie in die Zelle des Apostels, mit seiner Lichtkraft die Kette schmilzt und die Streu des Gefangenen in Himmelswölkchen auflöst. Noch konnten wir nicht ohne Schreck das Klosettwasser ziehn, die Zimmer abends lüften, ins Nachbarhaus zu
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Hima schlüpfen, in ein neues Versteck umziehn: und schon schien es mir das Ungefährlichste, ja sogar Sicherste der Welt, vom Bahnhof wegzufahren, vom Mittelmeer zum Genfer See zu reisen und unbekannt wo in die Schweiz zu schleichen. Das Zeitungsblatt, nass von Pfirsichschalen, war ein Zeichen, ein Auftrag, ein eindeutiges Orakel. Ich habe stets an Zeichen geglaubt, sie als Kind von Gott gefordert, damit er sich vor mir beweise, und sie erhalten, wenn ich mich vor ihm beweisen wollte. Alle erhalten sie, die eine existenzielle Frage stellen. Wir erhalten die Antwort von Zahlen, Sternen, Texten, vom Vogelflug, von Opfertieren, von Zweigen, die verneinend schweigen, von Hunden, die uns anspringen, von einem Schatten, der sich auf eine bestimmte Stelle legt. «...Und Winke sind Von alters her die Sprache der Götter» hat George im ‹Neuen Reich› gesagt. Alle bis jetzt mangelnde Kraft auszubrechen sammelte sich plötzlich in mir in solcher Stärke, dass wir alle drei davon auf der langen Flucht zehren konnten. Mit entwaffnender Heiterkeit bestanden wir tödliche Situationen. Wir gingen den Weg in die Freiheit mit solcher Festigkeit, als ob wir ihn vorher geprobt hätten. Noch andere Zeichen kamen, von denen ich schweige. Stets wusste ich auf einem Streckenabschnitt, worauf wir gefasst sein sollten. Eine Feuersäule ging uns voraus, wie allen, die einer Marschroute folgen. Die Gefahren verzogen sich vor unserem Kommen. Hoffnungslos starre Wände hatten für uns offene Türen. Helfer warteten wie der Reisegefährte auf Tobias. Verreiste Helfer wurden rechtzeitig von geheimnisvollen Telegrammen heimberufen. Selbst die Griffe der Gendarmen öffneten sich wie zu Papagenos Zauberspiel. Von den Dingen her durchströmt die Freiheit und das Wunder jeden, der ihnen gehört. Sie verwandeln das Leben, aber sie verlangen Glauben und tätige Hilfe. Dann,
aber auch nur dann wird das Werk des Zufalls zur Leistung des freien Willens.
2. Von jetzt an wusste ich, was ich sollte; bisher hatte ich nur gewusst, was ich nicht sollte. Wir waren Todesgefahren entgangen, gegen die ich mich gewehrt hatte, und solchen, um die wir uns bewarben. Vor der résidence forcée in einem Bergdorf, dem Gehege, in dem das Menschenvieh erst zusammengetrieben und dann abgeholt wird, bewahrte mich im Januar 1942 die telegraphische Intervention des St. Galler Tagblatts und des Tages-Anzeigers in Zürich beim Präfekten. Vor dem sauf-conduit in die Départements Cher und Indre, deren Fülle uns Hima empfohlen hatte, bewahrte uns die Tücke der heimischen Präfektur, die uns aus Nice nicht fortlassen wollte, um unser sicher zu sein. Aber in Nice schützten uns Hima und Carmen, während sich in der Deportation Cher und Indre durch ihre Grausamkeit auszeichneten, und Sommergäste in kleinen Orten fast ausnahmslos verloren waren. So verbrachten wir, resigniert, einen unwahrscheinlich schönen Sommer nicht ungestraft unter den Palmen des Parc Masséna. Die antiken Sarkophage des Museums leuchteten altrömisch weiss durch den Garten. Das goldene Gartengitter öffnete sich auf den blauen Dom, in dessen Formen Luft und Meer zusammenflossen. Durch den Garten rieselte wie Wasser der geheimnisvolle Wind von Nice, der auf einer bestimmten Linie fahrplanmässig durch das Rhônetal nach Afrika strömt. Diese Linie ist nur wenige Meter breit, weil die Strassen sie spalten, rechts und links von ihr ist das Thermometer um 10 Grade höher. Auf dieser Windlinie lag ich täglich wie in einer Hängematte auf einem Liegestuhl, den die liebe alte Billeteuse für ihre Freunde versteckt hielt, unter mächtigen Ulmen beim Kinderspielplatz, deren Stimmchen so wenig stören wie Musik. Täglich brachte
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Mademoiselle Thérèse auf ihren Armen Claude und Michèle, damit wir ihr Gedeihen bewunderten. Die Kinder wälzten sich im Sand, bis eine junge Gouvernante sie zum ‹Pont d’Avignon› zusammenrief, der alten Chanson, die vor 45 Jahren uns 3 Kindern in Prag eine Erzieherin aus Neuchâtel vorgesungen hatte. Und dann ging es weiter durch alle Strophen des Liedes ‹Savez-vous planter les choux? À la mode de chez nous? On les plante avec les pieds, on les plante avec les mains, on les plante avec le nez›, wozu die Kinder Sandkuchen mit den Füsschen zusammenstiessen oder der weissgoldene kleine Philippe, seiner Anmut bewusst, mit der er die anderen Kinder tyrannisierte, die Nase in die Erde steckte. Die Erwachsenen waren guter Laune, die Deutschen begannen den Krieg sichtbar zu verlieren, nachdem sie ihn bisher in Dunkerque sur Marne nur unsichtbar verloren hatten, kurz, es brauchten nur noch 5 –10 Millionen Menschen getötet zu werden, damit das gute Leben wieder beginnen konnte. Während aber einige Menschen glückliche Nachmittage in diesem antik heiteren Park verbrachten, sassen fleissige Beamte der préfecture über ihren Akten und sichteten sie. Die Dossiers von 2000 Personen, die den Beamten unbekannt waren und gegen die auch nichts vorlag, wurden links beiseite und nicht in die Aktenschachteln zurückgelegt, und das bedeutete, dass diese Menschen nachts überfallen, in Viehwagen verladen, 20 Tage stehend bei Brot und Urin in den Osten geschafft und dort sukzessive getötet wurden. Wahrheit wurde ruchbar, denn einige Beamte, die schon mit de Gaulle sympathisierten, erklärten laut, es ekle sie, ce sale travail, und eines Tages erfuhren wir im ‹Masséna›: Alles wird deportiert, was nach 1936 eingewandert ist, also auch Charlotte, auch Hans, auch ich, auch das reizende Fräulein Hausner, auch Noémi, auch Mme Jenny mit ihrem 6 Jahre alten Söhnchen, das gerade noch mit den Franzosenkindern Sandkuchen formte, à la mode de chez nous, alles, alles … Man sprang tau-
melnd auf, der Schweiss der Angst perlte anders als der der Côte, jeder fragte sich hastig: «Auch ich?». Jeder fand hastig Gründe, warum alle andern, nur er nicht. Um Gewissheit zu bekommen, besuchte ich den Schweizer Vizekonsul Alexander Manz. Vichy, sagte er mir, will sich aller ausländischen Juden entledigen, um die deutschen Wünsche zu erfüllen. Während alles in mir schlotterte, versuchte ich ohne Überzeugungskraft, Frankreichs Schande zu erklären. – Je croyais le droit d’asyl sacré? fragte der Konsul ernst. So denkt die Schweiz, sagte ich mir und schämte mich, nicht zum ersten Mal, für das Land, das ich mehr als alle anderen liebe. Im jüdischen Hilfsverein las ich zusammen mit anderen entsetzten Menschen am schwarzen Brett unser Vernichtungsdekret. 11 Ausnahmen wurden gewährt. Wer ihnen vertraute, war verloren. Wieder verlangten meine zwei Schweizer Zeitungen telegraphisch vom Konsul, für mich zu intervenieren. Herr Manz ging 4 mal in die Präfektur, mein Dossier wurde gesondert geprüft und beiseite gelegt. ‹Beiseite› hiess der Tod. Die Ereignisse überfielen uns aber nicht, sie schienen sich zu verziehn und dadurch die Pessimisten zu dementieren. Die Optimisten sprudelten von Beweisen über, weil sie zu feig waren, ihrem Schicksal zu begegnen. Die Behörden beobachteten, wie ihre Opfer auseinanderliefen, daher lockten sie sie durch ausgestreute Dementis zurück. Nachforschungen, wer schon verhaftet sei, waren ergebnislos. Die Gefangenen von Les Milles schrieben erfreut, die Urlaubssperre sei aufgehoben. Verhaftete, die ich feststellen konnte, gehörten alle derselben Gruppe an: detachierten Fremdarbeitern, die, statt bei Bauern gegen einen bescheidenen Lohn zu arbeiten, dem Bauern eine hohe Rente zahlten, um von ihm zur vorgetäuschten Arbeit angefordert zu werden. Das bewies den Optimisten, dass eben nur Sünder gefasst würden, wie
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sie ja auch in Deutschland und Österreich gern geglaubt hatten, dass das KZ nur ‹asoziale› Elemente aufnimmt. Allmählich sickerten die Greuel von Paris * durch, aber auch nur unbestimmt, und nun wurden die Optimisten die Panikmacher. Das Unglück der andern interessiert die Menschen nur, wenn sie zu seiner Zone gehören, und in den Diskussionen zwischen Optimisten und Pessimisten behielt Nietzsche recht, dass Argumente nur intellektuelle Selbstbehauptungen des Lebenswillens sind. Die Stadt war sommerlich leer, auf vielen Läden stand mit Kreide «En voyage» oder «Congé payé», aber am Nachmittag vor meinem Geburtstag walzte Charlotte mir zur Feier einen Kirschenstrudel aus, als mein Vetter Hans wie ein Gehetzter in unsere Wohnung stürzte: – Alles ist weg, rief er entsetzt, und ihr macht einen Wiener Strudel? Wir fahren nach Monte Carlo, ich beschwöre euch, kommt mit! Als ich hörte, dass ‹alle› nach Monaco gingen, war ich entschlossen zu bleiben. Mein Leben steht unter dem Gesetz des Abseitigen, wenn ich es breche, gefährde ich mich. Nie stand ich in den Reihen der kompakten Majorität, und auch die kompakten Minoritäten sahen in mir einen Fremdling. Ich konnte nie mit dem Strome schwimmen, und daher auch nicht nach Monte Carlo. Ich glaubte nicht, dass Polizei und Garde Mobile über die Mittel verfügten, in einer Nacht alle Wohnungen aufzubrechen. Für unsere Reise nach Cher und Indre hatte ich das letzte amerikanische Sicherheitsschloss samt Schrauben, ja sogar einen Schlosser
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Gemeint ist vermutlich die ‹Rafle du Vel. d’Hiv.› vom 16./17. Juli 1942. Die Pariser Polizei internierte rund 13 200 Juden in einem in der Radrennbahn ‹Velodrome d’Hiver› eingerichteten Transitlager, wo grauenhafte Zustände herrschten. Von dort wurden die Internierten in die Vernichtungslager in Osteuropa deportiert.
gefunden, der es anbringen konnte. Ich beschloss, so gerüstet die Polizei abzuwarten, ihr aber unter keinen Umständen zu öffnen. Nur eine Gefahr bestand: Hansi. Täglich holte er früh vor 7 Milch, Brot und Weisskäse (die Zulage für seine Jahresgruppe) zum Frühstück. Sein Frühstück war ein kultischer Akt, zu dem er sich schon am Nachmittag in Gedanken sammelte. Da ihn sicher nichts von seinem Ritus abhalten konnte, legte ich alle Wohnungsschlüssel unter mein Kopfkissen, und zur Sicherheit hängte ich vor die verriegelte Tür einen Zettel: «En voyage», dann gingen wir schlafen. Am 26. August um 7 Uhr früh stieg eine schwere Patrouille die Treppe herauf, eine Garde Mobile las laut: «En voyage», und ohne zu klingeln stieg die Patrouille eine Treppe höher, klingelte, unbegreiflicher Weise wurde geöffnet, Charlotte hörte oben Schreien und Schluchzen, die Truppe verliess das Haus mit ihrem Gefangenen. Ich selbst habe von all dem nichts gehört, da ich erst um 8 Uhr erwachte. Meine Deportation habe ich verschlafen. Was war geschehn? Wir wussten nichts. Das Strassenleben war alltäglich. Hansi holte erleichtert Milch, Brot und Weisskäse, aber während wir beim Frühstück sassen, stürzte gegen 9 Ruth Sternau zu uns. Ihre Brust flog, das liebe, lichte Gesicht war gelb von Schweiss, der Mund hing kraftlos zur Seite. Sie musste sich setzen, um sprechen zu können. Ihr Hotel in der rue Fricero war nachts viele Male durchsucht worden, fast alles wurde verhaftet. Als Mutter eines zweijährigen Kindes blieb Ruth mit ihrem Mann verschont. Aber nicht lange. Gegen 6 Uhr früh wurde ihr Name von der Strasse gerufen, unten stand zwischen zwei Gendarmen ihre Freundin Frau Herzka. Man hatte ihr den Umweg am Hotel Dante vorbei in ihr Inferno gestattet zum Abschied nehmen. Sie weinte etwas hinauf und wurde weitergeschleppt. Ohne die Warnung Ruths wären wir zu Hause geblieben und später vielleicht abgeholt worden.
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