Indiennes Stoff fĂźr tausend Geschichten
Indiennes Stoff fĂźr tausend Geschichten Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.) Christoph Merian Verlag
Inhalt
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Andreas Spillmann Vorwort
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Joya Indermühle Weaving the Urban Fabric: Bombay, Baumwolle und die Stadtentwicklung
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Isabella Bozsa und Stephanie Lovász Die Basler Mission und ihr unternehmerisches Wirken in Indien, 1834–1914
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Peter Pfrunder Gandhi privat – der Mahatma in den Fotografien von Walter Bosshard
Pascale Meyer, Andrea Franzen, Joya Indermühle Einleitung
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Harald Fischer-Tiné Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500–1950
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Avalon Fotheringham Indiens Textilproduktion im 17. und 18. Jahrhundert
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André Holenstein Die Indiennes und die Schweiz: weit mehr als die Geschichte eines bunten Stoffes
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Lea Haller Schweizer Kaufleute in Übersee: ein gigantisches Geschäft
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Helen Bieri Thomson Die Indienne-Stoffe aus der Sammlung Xavier Petitcol: eine Bereicherung für das Schweizerische Nationalmuseum
Christof Dejung Schweizer Kaufleute und koloniale Herrschaft: die Firma Gebrüder Volkart in Britisch-Indien
Von Indien nach Winterthur Interview mit Andreas Reinhart, ehemaliger Präsident der Volkart Gruppe
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Anhang Literaturempfehlungen Autorinnen und Autoren Glossar Impressum
Indiennes – Stoff für tausend Geschichten
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Vorwort
In jüngster Vergangenheit ist die Baumwolle, das ‹weisse Gold›, wie sie auch genannt wird, in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt. Historiker wie Sven Beckert oder Giorgio Riello zeichnen anhand der Faser eine ganze Geschichte des Kapitalismus nach, und die Historikerin Lea Haller untersucht in ihrem Buch ‹Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus› die Bedeutung des Transithandels für die Schweizer Wirtschaft. Auch in der Textilforschung wurde den sogenannten Indienne-Stoffen grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Was also liegt näher, als diese beiden interessanten Forschungszweige in einer Ausstellung miteinander in Verbindung zu bringen? Eine bedeutende Sammlung von bedruckten und bemalten Baumwollgeweben, von Indiennes, hat der Kunsthistoriker Xavier Petitcol in Frankreich angelegt. Dem Schweizerischen Nationalmuseum bot sich 2016 die einmalige Chance, diese Sammlung zu erwerben und 2018 in der Ausstellung ‹Indiennes. Un tissu révolutionne le monde! › im Schloss Prangins einer grossen Öffentlichkeit zu zeigen. Ab 2020 wird neu ein Studienzentrum für Indiennes in Prangins eingerichtet werden – ein Ort, der zum Studium dieser geschichtsträchtigen Stoffe anregen soll.
Eine Auswahl dieser prachtvollen Indienne-Stoffe ist zuvor auch im Landesmuseum in Zürich zu sehen – ergänzt um die Kulturgeschichte der Baumwolle, die Geschichte Indiens und die Verbindungen mit der Schweiz. Einige der zahlreichen Verflechtungen werden sichtbar über die Indienne-Produktion in der Schweiz, die Textilfabriken der Basler Mission in Indien, die Textilproduktion in Glarus und über den Transithandel der Gebrüder Volkart. Die Schweiz, ein Kleinstaat mitten in Europa, hat kräftig mitgewirkt in Handel, Produktion und Vertrieb eines globalen Produkts. Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren der vorliegenden Publikation. Ihre Artikel halten diese Kultur- und Textilgeschichte rund um die Baumwolle fest. Besonders danken möchte ich den Leihgebern, insbesondere dem Victoria and Albert Museum in London, dem Museum Rietberg in Zürich, dem Museum der Kulturen Basel, der British Library, der Fotostiftung Winterthur u.v.a.m. Zu danken habe ich dem Szenografen Alex Harb, dem es einmal mehr gelungen ist, den prächtigen Stoffen und andern Objekten einen würdigen Rahmen zu setzen. Ebenso gebührt mein Dank den Ausstellungsmacherinnen, der Projektleiterin Pascale Meyer sowie den Kuratorinnen Andrea Franzen und Joya Indermühle. Ein grosser Dank geht schliesslich an die vielen weiteren Beteiligten, die zum Gelingen der Ausstellung und der Ausstellungspublikation beigetragen haben. Andreas Spillmann
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Vorwort
Einleitung
Die Baumwolle gehört bis weit ins 20. Jahrhundert zu den wichtigsten globalen Handelsgütern. Aus der Pflanze, die nur in den tropischen und subtropischen Regionen der Welt wächst, entstehen Stoffe, die – neben der Rohbaumwolle – zu einem der wichtigsten Handelsprodukte werden. Indien spielt dabei eine zentrale Rolle: Dort werden seit Jahrhunderten Färbe- und Drucktechniken entwickelt, die lange Zeit unerreichbar bleiben und Vorbild für Stoffdrucker in Asien und Europa sind. Ab dem 16. Jahrhundert kommen indische Stoffe mit ungewöhnlichen Motiven nach Europa, die später als ‹Indiennes› bezeichnet werden. Clevere Geschäftsleute imitieren diese im 17. Jahrhundert und lösen im 18. Jahrhundert einen wahren Sturm der Begeisterung unter den europäischen Konsumenten aus. Bald sind auch Schweizer Firmen gross im Geschäft, weil Frankreich die Grenzen dichtmacht, um die heimische Seidenproduktion zu schützen. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts gelingt es den Europäern, industriell hergestellte Indiennes konkurrenzfähig zu machen, und in der Folge kehren sich die Handelsströme um: Indien importiert billige Baumwollstoffe aus England. Die einst blühende Heimindustrie kommt in Bedrängnis, Kleinbauern verlieren ihre Arbeit, Armut und Hunger greifen um sich. Bombay aber wird zum Zentrum des Baumwollhandels, und dort etabliert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Textilindustrie, die einen rasanten Aufschwung nimmt. Die Schweizer Handelsgesellschaft Gebrüder Volkart gründet 1851 ihre erste Niederlassung in Bombay und ist Ende des 19. Jahrhunderts einer der grössten Baumwollexporteure der Welt. Schweizer Angestellte arbeiten vor Ort; auf Fotos sieht man sie den kolonia-
len Lebensstil pflegend in ihren Büros. Doch aus der Schweiz sind im 19. Jahrhundert nicht nur Geschäftsleute auf dem Subkontinent anzutreffen. Die 1815 gegründete Basler Mission schickt ab 1834 ihre Missionare, um die Inderinnen und Inder, zumeist Hindus, zu bekehren. Gleichzeitig müssen die neu errichteten Sozialwerke, Spitäler und Schulen finanziert sein. Mit Ziegeleien, Druckereien und Webereien wird Geld verdient, aber auch die Debatte ausgelöst, ob es statthaft sei, mit der Mission Gewinne zu erwirtschaften. In der Schweiz selbst avanciert der Kanton Glarus im 19. Jahrhundert zum Zentrum des Textildrucks. Glarner Textilfirmen exportieren ihre Stoffe in die Levante, die Türkei, nach Ägypten und nach Indien. Im 20. Jahrhundert erfährt die Baumwolle in Indien nochmals eine neue Bedeutung. Ab 1930 wird Khadi, handgesponnene und -gewebte Baumwollkleidung, zum Symbol der politischen Befreiung Indiens und zum Markenzeichen von Mohandas ‹Mahatma› Gandhi. Der Schweizer Pressefotograf Walter Bosshard hält das mit seiner Kamera fest. Seine Fotoreportage von 1930 zeigt Gandhi beim Spinnen von Hand, quasi eine ‹Homestory›. Die Fotos gehen um die Welt. Die Ausstellung präsentiert ausgewählte indische und europäische Stoffe, die von hoher Kunstfertigkeit zeugen. Sie zeigt auch, wie die Schweizer Unternehmen eingebettet sind in das Geschäft mit dem ‹weissen Gold›: Es ist eine Verflechtungsgeschichte, ein Beispiel dafür, dass Schweizer Geschichte stets auch Globalgeschichte ist. Pascale Meyer, Andrea Franzen, Joya Indermühle
Indiennes – Stoff für tausend Geschichten
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Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500–1950 Harald Fischer-Tiné
Indiennes – Stoff für tausend Geschichten
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2.01
Baumwolle
2.02
Spinnrad und Webstuhl Das Spinnrad gelangt zu Beginn des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich über Westasien nach Indien. Auf dem Subkontinent findet die Verarbeitung von Baumwolle mit einfachen Spinnrädern und Webstühlen grösstenteils in ländlichen Haushalten statt, die häufig konzentriert in Webergemeinschaften und -dörfern liegen. Aquarellmalerei auf Papier, 19. Jh., vermutlich Nordwestindien, 18.7 x 23 cm, © The Trustees of the British Museum
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Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500 – 1950
In Indien ist die Baumwolle bereits für die Zeit um 2600–1900 v. Chr. nachgewiesen. Baumwollkultivierung breitet sich auch in anderen tropischen und subtropischen Gebieten in Südostasien sowie dem Nahen Osten aus. In Europa wird Baumwolle vergleichsweise spät und mit nur mässigem Erfolg ab dem 10. Jahrhundert im Mittelmeerraum angepflanzt. Baumwollkapsel, Samen, aus Orissa, Kuttack, Indien Inv.-Nr. IIa 6466, Fotograf: Omar Lemke, 2018 Museum der Kulturen Basel
Über mehr als ein halbes Jahrtausend — vom 13. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts — war der indische Subkontinent das unbestrittene globale Zentrum des Baumwollanbaus und der Herstellung von Baumwolltextilien. Baumwollpflanzungen und -verarbeitung konzentrierten sich in einigen wenigen Regionen Südasiens. Gujarat, im Westen Indiens am Arabischen Meer gelegen, die Koromandelküste im Süden (im heutigen indischen Gliedstaat Tamil Nadu) und Bengalen im Osten entwickelten sich zu den wichtigsten Zentren der Textilproduktion des Subkontinents. Sie alle drückten den Baumwollerzeugnissen ihren individuellen Stempel auf, weil sich Färbung und Verzierung von Tuchen und Textilien nicht nur nach Preis und Qualität, sondern auch nach der regionalen Herkunft unterschieden. Im späten 16. Jahrhundert waren an diesen und einigen anderen Standorten bereits Zehntausende Bauern und Handwerkerinnen im Baumwollgewerbe beschäftigt. Die Ausführung der verschiedenen Bearbeitungsschritte wurde oft zum Monopol der Angehörigen ganz spezifischer Kasten, die man als besonders geeignet für die jeweilige Tätigkeit ansah.
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Grosse Nachfrage Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts blieb Südasien selbst der wichtigste Absatzmarkt für die Baumwollprodukte der Region, aber bereits lange vor dem Auftauchen europäischer Handelsgesellschaften erfreuten sich die indischen Textilien auch reger Nachfrage in Südost- und Ostasien sowie in Persien, dem Osmanischen Reich und der restlichen islamischen Welt. Insbesondere im Indischen Ozean existierten schon im 15. Jahrhundert engmaschige Handelsnetzwerke. Durch die zunehmende Beteiligung portugiesischer Händler und Seefahrer am Baumwollgeschäft seit dem 16. Jahrhundert sowie der niederländischen, englischen und französischen Ostindien-Kompanien seit dem frühen 17. Jahrhundert erweiterte sich das im Entstehen begriffene ‹world wide web of cotton› noch einmal beträchtlich. Es umfasste nunmehr auch den atlantischen Markt, denn die erschwinglichen Baumwollprodukte aus Südasien fanden schon bald eine zunehmende Zahl von Abnehmern insbesondere in Europa, aber auch in den beiden Amerikas und in Westafrika. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzten schliesslich zwei zusammenhängende Prozesse ein, die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fortspinnen und einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung der indischen Baumwoll-Protoindustrie nehmen sollten. Zum einen hatte die englische East India Company (EIC ) begonnen, sich im Machtvakuum des zerfallenden indischen Mogulreiches als bedeutende Regionalmacht zu
Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500 – 1950
etablieren und allmählich den indischen Mitbewerbern die Vormachtstellung in der Region streitig zu machen. Dank ihrer militärischen Potenz und der Tatsache, dass sie nun ganz offiziell territoriale Herrschaft ausübten, konnten die Briten ab etwa 1770 die Bedingungen von Baumwollanbau, Textilproduktion und Handel in einer nie da gewesenen Art und Weise diktieren. Dies hatte zur Folge, dass die Produktion von Tuchen und Textilien noch stärker auf den Export ausgerichtet wurde. Die neuen Machtbefugnisse der Kompanie führten in der Provinz Bengalen, dem Zentrum der britischen Macht auf dem Subkontinent, zur brutalen Ausbeutung lokaler Bauern, Weber und anderer in der Textilproduktion beschäftigter Gruppen. Diese als ‹Plünderung Bengalens› bekannten Exzesse erregten auch im englischen Mutterland einiges Aufsehen und lösten eine Reihe von strukturellen Reformen aus, die auf eine stärkere Kontrolle der EIC durch Krone und Parlament abzielten. Unterdessen hatten jedoch die miserablen Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne viele der betroffenen indischen Textilhandwerker zurück in die Landwirtschaft getrieben.
Folgen der Industrialisierung Europas Diese beginnende ‹Re-Agrarisierung› Indiens wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert durch einen zweiten historischen Transformationsprozess verstärkt: den Siegeszug der sogenannten industriellen Revolution in Europa und speziell auf den Britischen Inseln. Technische Innovationen wie der mechanische Webstuhl und die Dampfmaschine ermöglichten im Zusammenspiel mit hohen Löhnen und fallenden Energie- und Transportkosten in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den rapiden Aufstieg der englischen Textilindustrie. Spätestens ab 1820 konnten in Indien handwerklich hergestellte Textilien preislich nicht mehr mit der maschinell produzierten Billigware aus Manchester und anderen nordenglischen Städten konkurrieren. Ein Transfer der neuen Technologien und des dazugehörigen Know-hows wurde indes von der Kolonialregierung gezielt unterbunden, weil man keine unnötige Konkurrenz für die florierende nordenglische Textilindustrie schaffen wollte. Innerhalb kürzester Zeit mutierte Indien somit vom weltweit bedeutendsten Exporteur von Baumwolltextilien zu einem reinen Einfuhrland. Nur einige Nischenmärkte, die weiterhin von indischen Handwerkern besetzt wurden, vermochten sich insbesondere in Südindien und Gujarat zu halten — die Mehrzahl der in der Textilproduktion Beschäftigten in Bengalen musste sich eine andere Erwerbsquelle suchen.
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Die Krise betraf auch viele Bauern, die zuvor Baumwolle für die lokale Herstellung angebaut hatten, denn die neuen, dampfbetriebenen Entkörnungsmaschinen und mechanischen Webstühle in Europa harmonierten sehr viel besser mit der langfaserigen nordamerikanischen Baumwolle, die den Weltmarkt schon bald beherrschte und die indischen Rohbaumwollexporte dramatisch zurückgehen liess. Um das Jahr 1840 war der (regional unterschiedlich stark ausgeprägte) Niedergang des einst weltweit marktführenden indischen Textilhandwerks weitgehend abgeschlossen und das ehemalige indozentrische Baumwollhandelsnetzwerk durch ein atlantisches ‹cotton system› ersetzt worden, in dem in erster Linie britische Textilmagnaten und Pflanzer in den Südstaaten der USA die Marktbedingungen und Preise kontrollierten. Die Popularität indischer Baumwollprodukte hatte unterdessen auch in anderen Weltregionen (wie beispielsweise im Mittleren Osten oder in China) Forderungen nach Importsubstitution laut werden lassen und Experimente mit dem Aufbau einer eigenen Baumwollproduktion und Textilindustrie ermutigt. Keine dieser Unternehmungen war jedoch nur annähernd so erfolgreich wie die Textilindustrie in Grossbritannien, dem selbsterklärten ‹workshop of the world›.
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Indische Produzenten Wenn auch der Niedergang der indischen Textilproduktion zu Recht als Musterbeispiel für eine durch koloniale Ausbeutung ausgelöste Deindustrialisierung angeführt wird, sollte dennoch nicht übersehen werden, dass vor allem indische Akteure vom zweiten (sehr viel bescheideneren) indischen Baumwollboom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts profitierten. Über mehrere Jahre behinderte der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) massiv den Export von Rohbaumwolle nach Europa. Diese Rohstoffverknappung führte nicht nur dazu, dass in Indien wieder vermehrt Baumwolle für den Weltmarkt angebaut wurde, sondern ermunterte auch kapitalkräftige indische Geldgeber in Bombay und Ahmedabad zu Investitionen in lokale Baumwollspinnereien und Textilfabriken. Zwischen 1870 und 1900 etablierte sich vor allem in Bombay eine baumwollverarbeitende Industrie, die — anders als der Rest des immer noch kleinen industriellen Sektors auf dem Subkontinent — weitgehend in indischer Hand war: Von den 81 Baumwollspinnereien, die um 1920 in Bombay existierten, wurden 70 von indischen Fabrikanten betrieben. Das Kapital, das von den lokalen Parsi- und Maratha-Händlern in die Baumwollindustrie floss, stammte zum Teil aus dem profitablen Opiumhandel mit China, an dem seit dem 18. Jahrhundert nicht nur europäische, sondern auch indische Händler und Geldverleiher verdient hatten.
Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500 – 1950
Kampagne in den 1920er- und 1930er-Jahren erschöpfte sich aber nicht im Boykott britischer Textilien. Das von Gandhi für alle Mitglieder des INK propagierte individuelle Spinnen von Baumwollgarn sowie die Förderung der Produktion von schlichten indischen Baumwollkleidern (khadi) in dörflichen Kleinbetrieben wurden als ideale Protestformen angesehen, um den Kolonialstaat sowohl auf einer symbolischen als auch auf einer ökonomischen Ebene empfindlich zu treffen. Nicht nur symbolisierten sie eine klare Ablehnung jeglicher Form von Verwestlichung (in Form westlicher Kleidung), sie schwächten auch die britische Textilindustrie, deren Umsätze auf dem Subkontinent in der Folge zurückgingen. Vielleicht firmierte nicht zuletzt aus diesem Grund das Spinnrad (charkha) auf einer frühen Version der indischen Nationalflagge. Als Indien 1947 unabhängig wurde, stand der neue Staat vor der schwierigen Aufgabe, das doppelte (Baumwoll-)Erbe der Kolonialzeit miteinander in Einklang zu bringen. Zum einen musste er die Existenz einer ansehnlichen Textilindustrie mit Hunderttausenden von Beschäftigten trotz starker Konkurrenz auf dem Weltmarkt sichern. Zum anderen war es ihm ein besonderes Anliegen, auch die ökonomisch weniger bedeutAntikolonialer Protest same Khadi-Tradition, die untrennbar mit dem In der Zwischenkriegszeit verstärkten sich die nationalen Unabhängigkeitsmythos verbunden antikolonialen Impulse, und der Swadeshi-Gedan- war, zu bewahren. ke wurde von M. K. Gandhi, der charismatischen neuen Führerpersönlichkeit des INK , aufgegriffen und weiterentwickelt. Seine grossangelegte Dieses Beispiel zeigt, dass der ungleichen Machtverteilung unter kolonialen Herrschaftsbedingungen zum Trotz auch indigene Eliten zu den Gewinnern des von der Kolonialmacht oktroyierten Wirtschaftssystems gehören konnten. Dessen ungeachtet wurde die Anklage, die Briten hätten aus Profitgier bewusst den Niedergang der indischen Textilindustrie betrieben, bald zum stehenden Topos des antikolonialen Nationalismus, der mit der Gründung des Indischen Nationalkongresses (INK) 1885 allmählich Fahrt aufnahm. Nicht ganz überraschend spielten daher Baumwolltextilien bei den ersten antibritischen Massendemonstrationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Um gegen eine unpopuläre Verwaltungsmassnahme der Briten zu protestieren, riefen Vertreter des radikalen Flügels des INK zwischen 1905 und 1908 zum Boykott von Baumwollerzeugnissen aus England auf und inszenierten öffentliche Verbrennungen von importierten Textilien. Diese sogenannte SwadeshiKampagne (swadeshi: aus dem eigenen Land stammend) trug ohne Frage zur Erstarkung der heimischen Baumwollindustrie bei.
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2.03
Stoffdrucker Die verschiedenen Ausführungsschritte der indischen Baumwoll- und Stoffproduktion sind oft das Monopol spezifischer Gruppen, wie zum Beispiel der Blockdrucker-Kaste der Chhipa. Techniken wie das Bedrucken und Bemalen von Textilien sind besonders komplex. Meister der zweiten Generation nach Nainsukh, ‹Bhakta Chhipa, andächtiger Stoffdrucker›, ca. 1800–1810, Pahari-Gebiet, Indien, Pigmentmalerei auf Papier, 16.6 x 11 cm Schenkerin: Lucy Rudolph, Inv.-Nr. RVI 908, Fotograf: Rainer Wolfsberger, Museum Rietberg
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2.04
Aktie Die englische East India Company wird 1600 gegründet, ab 1612 ist sie nach dem Vorbild der niederländischen Ostindienkompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie) als Aktiengesellschaft organisiert. Im 18. Jahrhundert entwickelt sie sich als British East India Company auf dem indischen Subkontinent zu einer Territorialmacht. Aktie der East India Company, 1795, London Schweizer Finanzmuseum, Zürich
2.05
Textilfragment Bereits früh perfektionieren indische Textilproduzenten Techniken wie die Färbung von Stoffen mit Indigo. Um 1500 gelangen die indischen Textilien über komplexe Handelsnetzwerke bis nach Westafrika und in den Fernen Osten. Häufig werden sie dafür an lokale Zwecke und Geschmäcker angepasst. Fragment, 15./16. Jh., Gujarat, Indien, gefunden in Fostat, Ägypten, Baumwolle, Leinwandbindung, beige, indigoblau, Batik-Reserveverfahren Inv.-Nr. III 16949, Fotograf: Christoph Lehmann Museum der Kulturen Basel
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Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500 – 1950
2.06
Mogul Akbar Die muslimische Dynastie der Moguln herrscht zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert über weite Teile Indiens. Unter Herrschern wie Akbar oder Shah Jahan wächst das Mogul-Reich und erlebt eine kulturelle Blüte, nach weiteren Expansionen durch Aurangzeb ist es nur mehr schwer zu regieren und sein Verfall setzt ein. Mogul Akbar, um 1678, Indien, Pigmentmalerei mit Gold auf Papier, 21.7 x 12.4 cm Schenkerin: Danielle Porret, Inv.-Nr. 2011.393, Fotograf: Rainer Wolfsberger Museum Rietberg
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2.07
Indische Fürsten Zur Zeit der britischen Herrschaft über Indien gibt es auch Fürstenstaaten, die der britischen Krone untertan sind. Hinduistische Fürsten – Maharadschas, Radschas oder Raos genannt – und die muslimischen Nawabs leben in prunkvollen Palästen und führen einen aufwendigen Lebensstil. Aus Fotoalbum von Karl A. Krüsi, Gruppe indischer Fürsten, 1884–1888, Ostindien Schweizerisches Nationalmuseum
2.08
Frauen in den Kolonien Die Frauen von europäischen Beamten, Missionaren und Händlern in Britisch-Indien pflegen den kolonialen Lebensstil. Dazu gehört es, den Haushalt mithilfe vieler indischer Angestellter zu führen. Europäische Frau mit indischen Angestellten, ca. 1871, Indien, Sign.-Nr. Dep 42/1809 Stadtarchiv Winterthur
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Die Geschichte der Baumwolle in Indien, 1500 – 1950
Gandhi privat – der Mahatma in den Fotografien von Walter Bosshard Peter Pfrunder
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7.01
Münchner Illustrierte Presse 1930 veröffentlicht die ‹Münchner Illustrierte Presse› eine Reihe von Artikeln über Indien mit Fotografien des Schweizer Fotoreporters Walter Bosshard. In der Ausgabe vom 18. Mai gelingt ihr eine Sensation: Bosshard kann Gandhi privat fotografieren, eine Art ‹Homestory› über Gandhi. Münchner Illustrierte Presse, Jg. 7, Nr. 20, 18. Mai 1930 Schweizerisches Nationalmuseum
NÄCHSTE ZWEI DOPPELSEITEN: 7.02 UND 7.03 →
Gandhi beim Handspinnen Gandhi hat das Handspinnen von Baumwolle zum Kernsymbol seiner Kampagne für die indische Unabhängigkeit gemacht. Er fordert seine Landsmänner und -frauen auf, jeden Tag zu spinnen, und tut dies selbst täglich mehrere Stunden.
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‹Gandhi, Indien, Dandi, 7. April 1930›, s/w-Filmnegativ © Walter Bosshard / Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich) / Fotostiftung Schweiz, Winterthur
7.04
Gandhi privat Während des Salzmarsches erhält Walter Bosshard als einziger europäischer Berichterstatter Zugang zum engsten Kreis Gandhis. Seine Fotografien zeigen intime Einblicke und alltägliche Szenen, die das Publikum in Europa beeindrucken. ‹Gandhi, Indien, Dandi, 7. April 1930›, s/w-Filmnegativ © Walter Bosshard / Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich) / Fotostiftung Schweiz, Winterthur
7.05
Gandhi studiert Kriegsberichte Ein Foto Bosshards, in welchem Gandhi Berichte zum Verlauf der Protestbewegung studiert, scheint besonderenEindruck zu hinterlassen. Es ziert das Titelblatt der ‹Münchner Illustrierten Presse› und findet in Bosshards Buch ‹Indien kämpft!› erneut Verwendung. ‹Gandhi studiert die «Kriegsberichte», Dandi, Indien, April 1930›, s/w-Filmnegativ © Walter Bosshard / Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich) / Fotostiftung Schweiz, Winterthur
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NÄCHSTE DOPPELSEITE: 7.06 →
Salzmarsch Während Bosshards Indienaufenthalt findet der von Gandhi organisierte und gegen das britische Salzmonopol gerichtete Salzmarsch statt. Der eindrückliche Protest sorgt auch in der westlichen Öffentlichkeit für grosse Aufmerksamkeit. ‹Ghandis Anhänger lesen am Flusse Salz auf, Aat/Navsari, Indien, 7. April 1930›, s/w-Filmnegativ © Walter Bosshard / Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich) / Fotostiftung Schweiz, Winterthur