Für Freiheit kämpfen

Page 1

Beiträge zur Basler Geschichte Benedikt Pfister

Für Freiheit kämpfen Die Geschichte des Basler Freisinns Christoph Merian Verlag


Beiträge zur Basler Geschichte


Benedikt Pfister

Fßr Freiheit kämpfen Die Geschichte des Basler Freisinns

Christoph Merian Verlag


Diese Publikation wurde ermöglicht durch Beiträge der Christoph Merian Stiftung, der Bürgergemeinde der Stadt Basel und des Swisslos-Fonds Basel-Stadt.

1. Auflage Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:   /    /  dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 Christoph Merian Verlag Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat  : Jörg Bertsch, Basel Gestaltung und Satz  : icona basel Lithos  : LAC AG, Basel Druck und Bindung  : Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell Papier  : Lessebo Design Smooth natural 115 g  /  m2 ISBN 978-3-85616-897-1 www.merianverlag.ch

Auch als E-Book ( PDF ) erhältlich eISBN 978-3-85616-912-1


Inhalt

Vorwort Einleitung

1

2

8 10

«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  » Die Ursprünge der freisinnigen Bewegung in Basel

15

Freiheit durch Bildung Freisinnige Schulpolitik stösst auf Widerstand

31

3

«  Vorwärts wollen wir, nie zurück  !  » Der Basler Einfluss in der Frühphase der nationalen Partei 43

4

«  Der Proporz steht im Geiste des Klassenkampfs  » Das Ende der freisinnigen Herrschaft

51

Der erste Basler Bundesrat Ernst Brenner (1856  – 1911 )

63

Der «  Fanatiker der Freiheit  » Ernst Thalmann (1881 –1938  ) und die freisinnigen Netzwerke

71

5

6

7

«  Wir sind die unabhängige, zielsichere Mittepartei  » Der Freisinn und das «  Rote Basel  » 79

5


Inhalt

8 Der « Eidgenössische Weg  » ist evolutionär, nicht revolutionär Der moderne Sozialpolitiker und Beinahe-Bundesrat Alfred Schaller (1908 –1985 ) 95   9 Bruderkrieg zwischen den Schwesterparteien Der Kampf um die liberale Deutungshoheit 105 10

Der Moskau-Flieger und Vollblut-Journalist Eugen Dietschi (1896  –1986 )

119

11

Die radikale Krise führt zum freisinnigen Frühling Die Jugend fordert den Freisinn heraus 129

12

«  Die Grenze der staatlichen Ausgaben ist heute erreicht  » Paul Wyss und die Rigi-Thesen

141

«  Die Basler FDP darf nicht unter die umweltpolitischen Räder kommen  !  » Basel und sein Ökoliberalismus

151

Europa-Trauma statt ‹  Vereinigte Staaten von Europa  › Der Basler Freisinn und seine «  Föderalismus-Fanatiker  »

161

13

14

6


Inhalt

15

«  Unterstützt uns Frauen, denn wir wollen und können einen Beitrag leisten  !  » Die freisinnigen Frauen und ihre Mühen mit der Struktur einer bürgerlichen Partei

169

16

«  Ein Postulat, das ideologisch zur FDP passt  » Eine liberale, pragmatische Drogenpolitik für Basel 183

17

«  Das Elektorat von Basel-Stadt ist bürgerlicher, als man meint  » Eine Gesprächsrunde zum Freisinn in Basel 195

Schlussbemerkungen

Anhang Anmerkungen Statistiken Literaturverzeichnis Bildnachweis

203 209 210 213 219 223

7


Vorwort

Basel, im August 2019 Die Freisinnig-Demokratische Partei hat die Schweiz geprägt wie keine zweite. Die freisinnige Handschrift ist noch heute bei zahlreichen unserer Staatsinstitutionen erkennbar. Während dies vielen Politikinteressierten bekannt sein dürfte, mag es einige überraschen, welch wichtige Rolle Basler Freisinnige in der Gründerzeit unserer Partei gespielt haben. Beginnend damit, dass der erste Parteipräsident der FDP Schweiz, Christian Friedrich Göttisheim, ein Basler war, wurde sein Nachfolger an der nationalen Parteispitze, Ernst Brenner, der erste Basler Bundesrat. Wer sich vertieft mit der Gründerzeit unserer Partei auseinandersetzen möchte, findet in Walter Lüthis Schrift aus dem Jahr 1983 über die Anfänge des Basler Freisinns bis 1914 eine lohnenswerte Lektüre. Über die darauffolgende Zeit bis zum heutigen Tag waren bisher hingegen nur vereinzelte Schriftstücke und Zeitzeugenberichte verfügbar. Zum Anlass des 125-jährigen Bestehens der FDP.Die Liberalen Basel-Stadt wollen wir diese Lücke mit dem vorliegenden Werk schliessen. Als aktuell a­ ktive Mandatsträger sehen wir es als unsere Verantwortung an, die reichhaltige und spannende Geschichte unserer Partei zu bewahren, damit sie auch für künftige Generationen verfügbar bleibt. Gerade in der heutigen schnelllebigen Zeit, wo viele Materialien nur noch digital bei einzelnen Mitgliedern verfügbar sind, war uns das sehr wichtig. Es wird die Leserinnen und Leser erstaunen, wie viele Themen und Diskussionen ihnen bekannt vorkommen werden. Viele grundlegende Fragen aus der 125-jährigen Geschichte beschäftigen uns auch heute noch. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, die zu unserer Zeit passende Antwort 8


Vorwort

darauf zu finden. Die früheren Antworten unserer Vorgängerinnen und Vorgänger können hierfür jedoch Vorbild, Orientierung und Inspiration zugleich sein. Es war uns ebenso wie dem Verlag ein Anliegen, dass unsere Geschichte kritisch aufgearbeitet wird. Deshalb sind wir sehr glücklich, dass wir für dieses Projekt den unabhängigen Historiker Benedikt Pfister gewinnen konnten. Er zeigte sich schon beim ersten Treffen, als wir über die Idee gesprochen haben, sehr interessiert und hat sich enorm in unsere Parteigeschichte vertieft. Ihm möchte ich ganz herzlich für seine tolle Arbeit danken. Mein grosser Dank gebührt aber auch allen Unterstützerinnen und Unterstützern, die mit ihren grosszügigen Beiträgen dieses Buch ermöglicht haben. Besonders hervorheben möchte ich hierbei die Christoph Merian Stiftung sowie die Bürgergemeinde der Stadt Basel, für deren Vertrauen in unser Projekt ich sehr dankbar bin. Auch der Swisslos-Fonds Basel-Stadt hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Buch erscheinen konnte. Schliesslich möchte ich dem Christoph Merian Verlag danken für die fachliche Unterstützung und die Möglichkeit, dieses Werk in der Reihe ‹  Beiträge zur Basler Geschichte  › erscheinen zu lassen und ihm damit einen sehr würdigen Rahmen zu geben. Ich blicke mit grossem Respekt zurück auf das Schaffen unserer politischen Vorfahren. Möge es uns Verpflichtung und Motivation sein, auch weiterhin für die Freiheit zu kämpfen. Luca Urgese Präsident FDP.Die Liberalen Basel-Stadt

9


Einleitung

«  Seit 125 Jahren freie Sicht auf die Realität.  » Die ‹  FDP.Die Liberalen Basel-Stadt  › wählte für ihr Jubiläumsjahr 2019 einen selbstbewussten Slogan. In Zeiten von Fake News und Leben im ‹  postfaktischen Zeitalter  › ist es beruhigend, wenn eine politische Partei den Anspruch hat, sich an der Realität und nicht an einer selbst definierten Wirklichkeit zu orientieren. Dass sich die FDP dabei bei den linken Aktivisten der 1980er-Jahre bedient und den Spruch «  Freie Sicht aufs Mittelmeer  » adaptiert, zeugt auch von einem entspannten Umgang mit der eigenen Geschichte. Während die Bewegten der 1980er-Jahre die Alpen als Symbol für die nationale Kultur niederreissen wollten, verrät der Slogan der FDP nicht, was möglicherweise die freie Sicht auf die Realität behindern könnte. Der Slogan sagt nur aus, dass die FDP die freie Sicht hat. Als bürgerliche Partei der Mitte positionierte sie sich in der Geschichte mal leicht links oder leicht rechts, je nachdem, woher gerade der Nebel aufzog, der die freie Sicht auf die Realität verdeckte. Dieses politische Mäandrieren liegt dem Freisinn mehr als das Abfeuern von Nebelpetarden. Die FDP zeichnet sich durch einen Sinn für das Pragmatische aus, der nach dem Historiker Olivier Meuwly zur DNA der FDP gehört. Eine freie Sicht kann aber nicht nur von Hindernissen verdeckt, sondern auch durch die Unfreiheit des Beobachtenden verhindert sein. Die Freiheit des Beobachters ist Grundvoraussetzung, um überhaupt auf die Realität blicken zu können. Die politische, soziale und wirtschaftliche Freiheit des Individuums ist der Kern liberaler Politik. Der Freiheitsbegriff steht deshalb auch im Mittelpunkt dieses Buches. Er führt als Leitgedanke durch die Kapitel und wirft immer wieder die Frage auf  : Was heisst Freiheit in unserer Zeit  ? Diese Frage sei gleich­ bedeutend mit der Suche nach dem Wesen des Freisinns, schrieb die Basler FDP 1973 in ihren ‹  Richtlinien freisinniger Politik  ›. Darin heisst es  : «  Freiheit und Selbstbestimmung haben eine doppelte Bedeutung  : sie sind einerseits als 10


Einleitung

Anspruch gegen sich selbst und anderseits als Anspruch gegenüber Staat und Gesellschaft zu verstehen.  »1 Die Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff ist deshalb immer auch gekoppelt an die Frage nach dem Staatsverständnis. Olivier Meuwly beschreibt die Philosophie des Freisinns als Synthese von Freiheit und Staat. Die freisinnige Bewegung erkämpfte im 19. Jahrhundert die freiheitlichen Bürgerrechte gegen konservativen Widerstand. Der eidgenössische Bundesstaat von 1848 ist das Kind freisinniger Eltern. In Basel konnte sich das konservative Ratsherrenregiment wegen der Trennung des liberalen Baselbiets nach dem Bürgerkrieg von 1833 länger an der Macht halten. Die freisinnigen Freiheitskämpfer in der Stadt brauchten einen langen Atem. Nach der Einführung einer neuen Kantonsverfassung 1875 begann auch hier die Ära des freisinnigen Basel. Da das Proporzwahlsystem in Basel-Stadt 1905 und damit 14 Jahre früher als auf Bundesebene eingeführt wurde, war die Zeit der freisinnigen Alleinherrschaft entsprechend kürzer. Als Radikal-Demokratische Partei entwickelte der Freisinn von 1919 bis 1973 in Basel eine von der nationalen Partei eigenständige Politik und positionierte sich innerhalb des Freisinns am linken Flügel. Nach der Umbenennung in Freisinnig-Demokratische Partei näherten sich die Basler in den späten 1970er-Jahren dem zunehmend staatskritischeren nationalen Freisinn an. Der Verlust des letzten Nationalratssitzes 2015 und die Niederlage bei den Grossratswahlen 2016, als die FDP im bürgerlichen Lager zum ersten Mal wieder seit 1976 hinter die Liberal-Demokratische Partei zurückfiel, trafen die Partei schwer. Die Geschichte des Basler Freisinns verlief nicht geradlinig. Hochphasen folgten auf existentielle Krisen. Dem Freiheitsbegriff wurden wechselnde Schwerpunkte ­unterlegt. Mal trat man fortschrittlich-kämpferisch auf, mal konservativ-verteidigend. Entsprechend war und ist der Freisinn Projektionsfläche für die politischen Gegner links und rechts. Philipp Loser und Alan Cassidy beschrieben dies in ihrem Buch ‹  Der Fall FDP  › zutreffend  : «  Beide Pole der politischen Schweiz sehen im Freisinn einen natürlichen Verbündeten. Die Rechte wünscht sich den Freisinn der Nachkriegszeit zurück  : wirtschaftspolitisch rigide, aussenpolitisch auf sich beschränkt. Die Linke hingegen wünscht sich eine FDP der Staatsgründer, wie sie sie in den 1990er-Jahren zu erkennen glaubte  : fortschrittlich, offen, modern. Diese Projektionen begleiten die Partei seit ihren Anfängen. … Beide 11


Einleitung

Seiten denken sich ihren Freisinn so, wie sie ihn gerne hätten. Beide blenden dabei aus, was der Freisinn nie war  : so isolationistisch, wie ihn viele Rechte gerne hätten, und so gesellschaftsliberal, wie Linke sich ihn erträumen.  » 2 Die Abgrenzung gegen links und rechts ist eine Konstante in der Geschichte der FDP seit ihrer Gründung 1894. Darauf spielt das Titelbild dieses Buches an, das auf einem Flugblatt aus den 1920er-Jahren die Radikal-Demokraten als Verteidiger der Schweizerfahne gegen die Kommunisten links und die Konservativen rechts zeigt. Die offene Hand gegen rechts verdeutlicht das Selbstverständnis der Partei als Teil des bürgerlichen Blocks. Dieses Motiv findet sich in Basel in verschiedenen Variationen bis in die Zeit des Kalten Krieges. Geschichte wird in der Politik immer wieder dazu benutzt, den eigenen politischen Standpunkt zu legitimieren. Der Historiker Guy P. Marchal nannte dies «  Gebrauchsgeschichte  ». Politikerinnen und Politiker interpretieren Geschichte so, dass sie ihre Interessen durchsetzen können. Politische Parteien versuchen, die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte zu behalten. Die beiden umfangreichsten Werke zur Geschichte des schweizerischen Freisinns stammen aus der Feder von prominenten Parteimitgliedern (  Eduard Steinmann 1955  ; Eugen Dietschi 1979  ). Viele Jubiläumsbücher von verschiedenen FDP-Kantonalparteien sind ‹  Inhouse  ›-Produktionen. Ich rechne es der Basler FDP deshalb hoch an, dass sie, beziehungsweise der Verein Freisinnige Geschichte Basel als Herausgeber, die historische Aufarbeitung ihrer Geschichte für dieses Buch in parteifremde Hände gegeben hat. Es ist mir ein Anliegen, im Sinne der Transparenz meinen Hintergrund offenzulegen. Ich bin unabhängiger Historiker und gehöre keiner politischen Partei an. In den 1990er-Jahren habe ich mich politisch beim Aufbau eines Jugendparlaments in Basel engagiert und 1996 mit 18 Jahren als Parteiloser auf der Liste der Grünen Partei für den Grossen Rat kandidiert. Mein Bruder Pascal Pfister ist seit 2017 Präsident der SP Basel-Stadt. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, die Geschichte des Basler Freisinns vollständig erzählen zu wollen. Eine 125-jährige Geschichte lässt sich nicht in einem Buch allumfassend darstellen, sie verlangt den Fokus auf ausgewählte Themen. Vieles muss deshalb leider ungesagt bleiben. Ich habe mich bei der Auswahl der Themen von den Quellen und der Literatur leiten lassen. Politik wird von Personen, Wahlen, Abstimmungen und Parteiprogrammen geprägt. 12


Einleitung

­ iese Faktoren spielen deshalb im Buch eine wichtige Rolle. Ich habe versucht, D die Geschichte des Basler Freisinns möglichst quellennah zu erzählen und die Exponenten zu Wort kommen zu lassen. Soweit es die Quellen zulassen, stehen dabei Menschen im Mittelpunkt. Dass dabei in erster Linie Mandatsträgerinnen und -träger vorkommen, ist der Tatsache geschuldet, dass sie gegen aussen die Partei vertreten und in den Quellen die meisten Spuren hinterlassen. Das Buch leistet einen Beitrag an die Basler und Schweizer Geschichte aus freisinniger Optik. Hingegen kann und will sich das Buch nicht theoretisch mit dem Liberalismus-Begriff auseinandersetzen. Bei der Benennung der freisinnigen Partei halte ich mich an die historischen Bezeichnungen. Für die Zeit bis 1894 rede ich von der freisinnigen oder radikalen Bewegung. Von der Parteigründung 1894 bis 1919 hiess sie Freisinnig-Demokratische Partei (  FDP  ), bis 1973 Radikal-Demokratische Partei (  RDP  ) und bis 2017 Freisinnig-Demokratische Partei. Seither ist die offizielle Bezeichnung ‹  FDP.Die Liberalen Basel-Stadt  ›, wobei ich in der Regel auf die Verwendung dieses Namens verzichte und von der Basler FDP schreibe. Für die Zeit von 1919 bis 1973 ist in den Quellen sehr oft von den «  Radikalen  » die Rede. Ich v­ erwende dagegen den Begriff ‹  Radikal-Demokraten  ›. Bei den übrigen Parteien verwende ich in der Regel ebenfalls die historischen Bezeichnungen. Ich habe bei der Recherche und Redaktion für dieses Buch zahlreiche Unterstützung erhalten. Den langjährigen FDP-Mitgliedern Robert Heuss und Max Pusterla danke ich für erste inhaltliche Inputs in der Frühphase des Projekts. Philipp Loser, Prof. Dr. Georg Kreis und Peter Bollag danke ich für den inte­ ressanten und hilfreichen Austausch und die Diskussion inhaltlicher Thesen. Robert Heuss bin ich für die Unterstützung bei der Erstellung der Statistik sehr dankbar. Peter Heer danke ich für das Bild der Basler Radikalen aus dem 19. Jahrhundert. Christophe Haller und Georg Kreis danke ich für den Einblick in private Unterlagen. Luca Urgese und Daniel Seiler haben das Buch als Vertreter des Herausgebers, des Vereins Freisinnige Geschichte Basel, eng begleitet. Christine Heuss, Fabienne Beyerle, Hanspeter Gass, Titus Hell und Luca Urgese danke ich für die Teilnahme an einer Gesprächsrunde zum Freisinn in Basel. Bei der Recherche des Archiv- und Bildmaterials haben mich zahlreiche helfende Hände im Staatsarchiv Basel-Stadt, im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv, in der 13


Einleitung

Universitätsbibliothek Basel, im Schweizerischen Bundesarchiv und in der Nationalbibliothek unterstützt. Mein Dank gilt all jenen, die an der Produktion des Buches beteiligt waren, insbesondere Claus Donau vom Christoph Merian Verlag, dem Lektor Jörg Bertsch und der Gestalterin Katharina Marti. Das vorliegende Buch kann nur einen knappen Einblick in die lange und wechselhafte Geschichte des Basler Freisinns geben. Es wäre wünschenswert, wenn die freisinnige Geschichte und jene anderer politischer Parteien auch in Zukunft Gegenstand historischer Betrachtungen bliebe. Gerade im ‹  postfaktischen Zeitalter  › darf das historische Gedächtnis auch der politischen Parteien nicht verloren gehen.

14


1

«Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren» Die Ursprünge der freisinnigen Bewegung in Basel


Wut und Konsternation machten sich breit. Der 1878 neu gewählte, mehr­ heitlich konservative Grosse Rat hatte Regierungsrat und Erziehungsdirektor Wilhelm Klein ( 1825 – 1887 ) seines Amtes enthoben und durch den liberal-­ konservativen Paul Speiser ersetzt. Das konnten die Basler Freisinnigen nicht auf sich sitzen lassen. Empörte Bürger reagierten  : «  Aufruf  ! Der Führer der Freisinnigen Basels, der Vertreter derselben in den kantonalen und eidgenössischen Behörden, Wilhelm Klein, ist der Koalition der verschiedenen konserva­ tiven Parteien Basels erlegen und aus der Regierung beseitigt worden  », stand am 17. Mai 1878 im ‹  Schweizerischen Volksfreund  ›. «  Der im Dienste der Freiheit ergraute Kämpfer ist gefallen  », hiess es pathetisch. Mit einem Fackelzug solle das Volk seine Solidarität bezeugen. Tatsächlich kamen am Abend des 18. Mai 1878 hunderte Bürger, Mitglieder von freisinnigen Organisationen wie dem Artillerieverein, dem Unteroffiziersverein, dem Aargauer- und dem Bündnerverein, dem Basler Männerchor oder dem Grütliverein zum Totentanz. Fritz Brändlin, Redaktor der ‹  National-Zeitung  ›, zählte rund 1200 Fackeln, die sich auf den Weg zum Stadttheater und dem Café Bijou an der Ecke Theaterstrasse/ Steinenberg machten. Die Stimmung war aufgeregt und die Teilnehmer von der grossen Anzahl Gleichgesinnter bewegt. Vor dem Café Bijou sprach der Kleinbasler Albert Huber und richtete sich direkt an Wilhelm Klein  : «  Wir bitten Sie, das Kreuz der politischen Verfolgung auf sich zu nehmen und es zu tragen bis zum Grabe. Wir bitten Sie, sich auch fernerhin an die Spitze der für den Fortschritt kampfbereiten Scharen zu stellen und diese mit Ihrer gewohnten Kraft und Energie zu führen.  » 3

16


Wilhelm Klein – Feindbild der Konservativen

Der freisinnige Freiheitskämpfer ­Wilhelm Klein in einer Porträtaufnahme zwischen 1883 und 1887.

Wilhelm Klein – Feindbild der Konservativen Wilhelm Klein ergriff das Wort. Er warf der konservativen Seite Machtspiele vor. Ohne Not hätten sie die Konkordanz zwischen den freisinnigen und den konservativen Kräften aufs Spiel gesetzt. Die Konservativen hätten immer noch das Gefühl, dass befehle, wer bezahle. «  Aber ein Volk zahlt man nicht und einem Volke befiehlt man auch nicht, denn regieren heisst heute nicht mehr befehlen, sondern es heisst verwalten und auf das allgemeine Wohl bedacht sein  », sagte Klein bestimmt.4 «  Um aber das zu können, muss man nicht viel im Hosensack, sondern man muss etwas im Kopf haben. Nun scheint es aber, es komme die Fähigkeit zu regieren, denjenigen immer mehr abhanden, welche das Recht dazu aus ihrem Hosensack herleiten wollen.  »5 Am Schluss seiner engagierten Rede stellte Klein eine politische Forderung  : Nicht der Grosse Rat, sondern das Volk solle in Zukunft den Regierungsrat wählen. Dass die freisinnigen Kräfte im Mai 1878 in Basel zum Massenprotest auf die Strasse strömten, hatte seinen Grund. Der Freisinn hatte in Basel – im Gegensatz zu vielen anderen Schweizer Kantonen – erst 1875 eine Mehrheit im 17


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

Parlament und der Regierung errungen. Der Mathematik-Lehrer Wilhelm Klein war seit 1850 Mitglied im Grossen Rat und Führer der freisinnigen Opposition. 1875 erfolgte seine Wahl in den Regierungsrat. Die Abwahl drei Jahre später war nicht nur eine Demütigung des Politikers Klein, den konservative Gegner abschätzig «  Kleinli  » nannten. Die neuen Kräfteverhältnisse zugunsten der ­Konservativen lösten bei den Freisinnigen auch Ängste aus. Sie sahen die hart erstrittenen Freiheitsrechte in Gefahr. Sie fürchteten einen konservativen Backlash, kaum hatte sich das freisinnige Gedankengut auf dem harten Basler Boden durchsetzen können. Zwar konnte die freisinnige Bewegung auch in Basel auf eine lange Geschichte zurückblicken, aber während auf eidgenössischer Ebene der Sonderbundkrieg mit einem freisinnigen Sieg endete und 1848 zur Gründung des Bundesstaates führte, hiess es für den Basler Freisinn  : Steter Tropfen höhlt den Stein.

Die Kantonstrennung von 1833 stoppt die freisinnigen Kräfte in der Stadt Dabei hatten die radikal-freisinnigen Kräfte im Zuge der 1830er-Revolution auch im Raum Basel eine kriegerische Auseinandersetzung für sich entscheiden können. Der Bürgerkrieg zwischen der Stadt Basel und ihren Untertanengebieten führte aber nicht zu einer liberalen Revolution im Kanton Basel, sondern 1833 zur Trennung der Stadt- und der Landgebiete in zwei Kantone. Das konservative Regime konnte so immerhin die Macht in der Stadt retten. Enttäuschte Freisinnige verliessen diese, wenn sie es nicht schon vor Kriegsausbruch getan hatten. Der Basler Jurist Emil Remigius Frey etwa, Vater des späteren freisinnigen Basel­ bieter Bundesrates Emil Frey, zog aufs revolutionäre Land und war 1831 Mitglied der provisorischen Baselbieter Regierung. Unter dem Druck der eidgenössischen Tagsatzung, die noch Truppen in Basel stationiert hatte, gab sich die Stadt 1833 eine Verfassung und installierte ein 119-köpfiges Parlament. Der Grosse Rat wurde alle zwei Jahre zu einem Drittel erneuert. Der Kleine Rat – das Exekutivorgan – bestand aus 13 Ratsherren und 2 Bürgermeistern, die vom Grossen Rat gewählt wurden, und wurde ebenfalls alle zwei Jahre zu einem Drittel erneuert. Die Wahlteilnahme war stark einge18


Carl Brenner und die Anfänge der liberalen Opposition

schränkt. Das Wahlrecht erhielten nur über 24-jährige oder verheiratete Basler Bürger, die Mitglied einer Wahlzunft waren und ein bestimmtes Vermögen besassen. 83 Grossräte wurden in Bezirken gewählt, 36 Grossräte durch die Wahlzünfte. Auf kommunaler Ebene gab es zusätzlich den Grossen Stadtrat mit 80 Räten und einen Kleinen Stadtrat mit 11 Mitgliedern. Das Basler Ratsherrenregiment war zwar kompliziert aufgebaut, aber sehr einseitig besetzt. Die Oberschicht der Industriellen und Kaufleute bestimmte die Basler Politik. Die freisinnige Opposition nannte das System deshalb eine «  Geschlechterherrschaft  ».

Carl Brenner und die Anfänge der liberalen Opposition Allerdings war Basel auch in den Jahren nach der Kantonstrennung kein freisinniges Brachland. Im Gegenteil. Eine kleine Gruppe aufmüpfiger Geister sorgte dafür, dass der Gedanke der politischen und sozialen Freiheit für alle Bürger weiterlebte. Der Anwalt Carl Brenner ( 1814 – 1883  ), in bescheidenen Verhältnissen an der Freien Strasse aufgewachsen, trieb die freisinnige Bewegung der Basler Nachkriegsjahre voran. Seines prägnanten Bartes wegen erhielt er von konservativen Gegnern den Spitznamen «  Bart-Brenner  ». «  Bierdemagoge  » hiess er, weil sich die oppositionellen Kräfte gerne in Wirtshäusern zum politischen Austausch trafen. Für die Verbreitung des freisinnigen Gedankenguts war das Entstehen einer Presselandschaft von grösster Bedeutung. Sie war Grundlage für die «  Neuformierung der Öffentlichkeit  » (  Philipp Sarasin  ). Carl Brenner war 1841 Mitgründer der ‹  Schweizerischen National-Zeitung  ›. Unter seiner Leitung schoss sie «  Bresche um Bresche in das morsche Mauerwerk veralteter Miss­ bräuche und hochmütiger Volksbevormundung  ».6 Eine weitere wichtige liberale Zeitung waren unter anderem – zumindest für die Zeit bis 1902 – die 1855 gegründeten ‹  Basler Nachrichten  ›. Der Staat überwachte die Presse mit Argusaugen, wie Brenner 1845 erfahren musste. Brenner nahm eine von der Regierung verordnete neue Bekleidung der Basler Soldaten zum Anlass für eine grundsätzliche Kritik am System. Die Regierung hatte beschlossen, die Kopfbedeckung der Soldaten der Infanterie und Artillerie zu ersetzen. Aus finanziellen Gründen sollten vorerst nur die Infanteristen die neuen ‹  Käppis  › erhalten. Für Artilleriewachtmeister Brenner war dies eine Provokation, eine bewusste Benachteiligung 19


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

Carl Brenner mit seinem prägnanten schwarzen Bart, dem er seinen ­Übernamen «  Bart-Brenner  » verdankte. Undatiertes Porträt.

des freisinnigen Artillerie-Corps. Er schrieb am 2. August 1845 in einem Artikel der ‹  National-Zeitung  ›  : «  Einem fremden Professor einen Pallast, statt einer Wohnung hinzustellen, nimmt den Beutel gewiss mehr in Anspruch, als dem Artillerie-Korps Kleidungsstücke anzuschaffen.  » Es blieb nicht bei der für die Zeit typischen freisinnigen Kritik an der elitären Universität. Brenner schrieb weiter über die alte Kopfbedeckung, meinte aber die konservative Regierung  : «  Fort mit dem alten Drucksystem.  » Das war den Oberen zu viel. Brenner wurde verhaftet und zum Verhör in den Lohnhof gebracht. Nach kurzer Beratung beschlossen Vertreter des Artillerie-Corps einen Protestmarsch. Hunderte Mitglieder des Corps zogen durch die Stadt und forderten  : «  Brenner raus  !  » Beim Lohnhof angekommen drohte eine Eskalation mit den bewaffneten Polizisten. Ohne Blutvergiessen gelang es den Protestanten schliesslich, Brenner – gegen seinen Willen – zu befreien und unter Jubel durch die Stadt zu tragen. Der ‹  Käppi-Sturm  › hatte für die Teilnehmer keine Folgen. Die Regierung verzichtete auf Repressionsmassnahmen. Bereits wenige Monate zuvor war Brenner mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die revolutionäre Stimmung in der Schweiz mit den zahlreichen Auseinan20


Carl Brenner und die Anfänge der liberalen Opposition

Artillerie-Soldaten tragen 1846 unter Jubel den aus dem Lohnhof befreiten Carl Brenner auf den Schultern.

dersetzungen in den freisinnig-fortschrittlichen und katholisch-konservativen Kantonen liess auch Basel nicht kalt. Die Berufung von Jesuiten an die höheren Schulen in Luzern empörte fortschrittliche Geister, die in zwei Freischarenzügen 1844 und 1845 gegen Luzern loszogen. Carl Brenner, Wilhelm Klein und 10 weitere Basler Mitstreiter wollten sich dem ersten Zug anschliessen. Sie zogen am 8. Dezember 1844 los, bewaffneten sich in Liestal und wollten in Langenthal auf weitere Freischärler treffen. Die Luzerner Regierung löste den Zug allerdings auf, bevor es zu kämpferischen Auseinandersetzungen kommen konnte, und verhaftete viele der Teilnehmer. Von den Baslern gelang es nur einem Teilnehmer, überhaupt Luzerner Boden zu betreten. Dennoch mussten sich am 28. Dezember 1844 die Basler Freischärler um Brenner vor dem Basler Gericht verantworten. 21


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

Dieses beurteilte schon die Teilnahme am Zug als strafbar, verurteilte aber nur fünf Teilnehmer zu Haftstrafen. Als aktiver Politiker stand Brenner, der 1839 als Delegierter der Zunft zu Schiffleuten in den Grossen Rat gewählt worden war, besonders im Fokus. Er erhielt eine Haftstrafe von einem Monat. Wilhelm Klein und drei weitere Personen wurden zu einer achttägigen Haft verurteilt. Ein Antrag im Grossen Rat, Brenner von seinem Amt auszuschliessen, blieb erfolglos.

Neue Verfassung von 1847 sorgt für Kopfschütteln Im Sommer 1846 geisterten Gerüchte durch die Stadt, über das Gebiet der Landschaft sei ein Sturm auf Basel geplant, dem sich die unzufriedenen radikalfreisinnigen Kräfte in der Stadt anschliessen würden. Die ‹  National-Zeitung  › verlangte in einer Erklärung am 17. Oktober 1846 eine Annäherung von Basel an die liberalen Kantone und ein klares Bekenntnis in der Tagsatzung gegen den Sonderbund der katholisch-konservativen Kantone. Die politischen Vertreter der Konservativen, der Vermittlerpartei ‹  Juste Milieu  › und der Liberalen erkannten die Zeichen der Zeit und trafen sich, um eine neue Kantonsverfassung auszu­ arbeiten. Die Konservativen fürchteten eine freisinnige Revolution und suchten den Kompromiss mit den Mittekräften. Jene liberalen Mittekräfte fürchteten sich ihrerseits vor der stetig wachsenden Zahl der Arbeiterschaft im Industriekanton. «  Die Lust am Untergang des Alten schlug im entscheidenden Moment immer wieder um ins Erschrecken über den damit möglicherweise verbundenen eigenen Untergang  », schreibt Philipp Sarasin als Erklärung, weshalb Basels neue Verfassung von 1847 zwar leichte Anpassungen des politischen Systems brachte, das Ratsherrenregiment aber stützte.7 Die radikal-freisinnigen Kräfte konnten deshalb nur den Kopf schütteln. Martin Schaffner spricht von einer «  informellen Koalition  » zwischen den Industriellen und Kaufleuten, die den Grossen Rat dominierten, und den Handwerkern im Stadtrat, die grössere Reformen in der neuen Verfassung verhinderten. Entgegen des nationalen Trends in den freisinnigen Kantonen wurde der Protektionismus in Basel gestärkt. Der Zunftzwang wurde in der Verfassung festgeschrieben, die Gewerbefreiheit abgelehnt. Bereits der 1834 gegründete Handwerkerverein, ein Vorläufer des Gewerbeverbandes, hatte sich über den Schmuggel von Waren wie Brot aus dem Baselbiet in die 22


Freisinnige Basler ziehen in den Sonderbundkrieg

Stadt beschwert. Bei der Auseinandersetzung um die Basler Verfassung von 1847 zeigt sich die ganze Bandbreite der freisinnigen Bewegung. Während liberale Vertreter an einem Kompromiss mitarbeiteten, fluchten die radikal-freisinnigen Opponenten in den Beizen genau darüber. Die neue Verfassung verlängerte zwar die Lebenszeit des Ratsherrenregiments. Es gab aber Anpassungen an den Zeitgeist  : Das komplizierte System der Wahlzünfte und Wahlkollegien wurde entflochten. Der neu 139-köpfige Grosse Rat wurde von 18 Wahlzünften, 11 Wahlkreisen und in Bezirkswahlen gewählt, das Vermögen spielte keine Rolle mehr. Dass die Handwerker mit den Konservativen aber gemeinsame Sache gemacht hatten, führte bei vielen Freisinnigen zu einem nachhaltigen Missmut. In einem Artikel für die ‹  National-Zeitung  › schrieb der freisinnige Regierungsrat Albert Burckhardt am 16. Mai 1907 zum fehlenden revolutionären Geist der Basler Handwerker  : «  Die vornehmen Kreise waren im Gegensatz zu 1798 konservativ geworden, die Handwerker womöglich noch konservativer, da sie von der übrigen Welt nichts wussten und sich zufrieden gaben, wenn sie alljährlich keinen allzu hohen Hypothekarzins in die Bureaux der Herren tragen mussten und wenn sie abends ihren Schoppen trinken konnten.  »

Freisinnige Basler ziehen in den Sonderbundkrieg Die konservativen Kräfte in Basel verstanden es ausserordentlich gut, ihre Macht zu bewahren, indem sie jeweils nur jene Reformen umsetzten, die nötig waren, um eine Revolution zu verhindern. Die Geschehnisse in der übrigen Schweiz wurden in Basel mehr beobachtet als engagiert mitgestaltet. Als die fortschrittlichen Kantone an der eidgenössischen Tagsatzung am 4. November 1847 die Ausweisung der Jesuiten beschlossen, war der Bürgerkrieg mit den katholischkonservativen Kantonen des Sonderbunds unausweichlich. Auch Basel schickte Soldaten zur Unterstützung im Kampf gegen den Sonderbund. Carl Brenner und Wilhelm Klein schlossen sich den Basler Truppen an, nachdem sie drei Jahre zuvor noch für die Teilnahme am ersten Freischarenzug bestraft worden waren. Sie erlebten den Sieg der eidgenössischen Truppen. Der Weg war frei für den liberalen Bundesstaat, der mit der Verabschiedung der Bundesverfassung durch die Tagsatzung am 12. September 1848 gegründet wurde. 23


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

Der siebenköpfige Bundesrat setzte sich ausschliesslich aus freisinnigen Männern zusammen. Diese vertraten aber ein breites politisches Spektrum  : Vom konservativen Liberalen bis zum Radikalen auf dem linken Flügel war die Breite der freisinnigen Bewegung auch in der Regierung abgebildet. Die neue Bundesverfassung schuf einen einheitlichen Wirtschaftsraum, in dem die Binnenzölle abgeschafft und ein gemeinsamer Aussenzoll eingeführt wurde. Der Bund erhielt das Monopol für die Aussenpolitik. Die Kantonsverfassungen wurden der Bundesaufsicht unterstellt und die Bürger erhielten die Niederlassungsfreiheit im ganzen Land. Obwohl die Angst vor der Niederlassungsfreiheit mit ein Grund für die Bestätigung des Zunftzwangs in der Verfassung von 1847 gewesen war, stimmten 88 % der Basler Bürger für die neue Bundesverfassung. Lediglich 186 der 1550 stimmberechtigten Basler Bürger wollten von der neuen Schweiz nichts wissen.

Gründung des Vereins der Liberalen Basel Wesentliches Merkmal der freisinnigen Bewegung sind die zahlreichen Vereine, die für die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und die Meinungsbildung zentral waren. Als Teil eines Grösseren lässt sich auch eine oppositionelle Meinung leichter vertreten. Getarnt als Schachgesellschaft gründeten Freisinnige im ­Restaurant Harmonie am 15. Januar 1845 den ‹  Patriotischen Verein  › mit Carl Brenner als erstem Präsidenten. Der Verein setzte sich für Rechtsgleichheit, Volkssouveränität, Gewaltentrennung, die Garantie von Freiheitsrechten und die nationale Einheit ein. Als mit der Bundesverfassung von 1848 die Ziele erreicht schienen, verschwand der Verein wieder. Zehn Jahre später erlebte er als ‹  Helvetia  › ein allerdings nur wenige Jahre dauerndes Revival, da – speziell in Basel angesichts des Zunftzwangs – die volle Rechtsgleichheit noch nicht gewährleistet war. Nachhaltiger war 1838 auf nationaler und 1844 auf kantonaler Ebene die Gründung des ‹  Grütlivereins  ›. Dieser beschäftigte sich in erster Linie mit der sozialen Frage. Wilhelm Klein war von 1848 bis 1856 Präsident des nationalen Vereins. Er löste ab 1850 Carl Brenner als starken Mann des Basler Freisinns ab. Klein war es auch, der 1869 die Gründung des Vereins der Liberalen anregte und als erster Präsident amtete. Der Verein verstand sich als informeller Zusammen24


Eine Gruppe Radikaler um 1850, mit Wilhelm Klein (  mit Bier in der linken Hand in der Bild­ mitte  ) und Carl Brenner (  am Tisch vorne rechts sitzend mit Stumpen in der rechten Hand  ).

schluss aller freisinniger Vereine Basels. Richtungsweisend für frei­sinnige Politiker war das radikale Klingentalprogramm von 1866. Freisinnige Kräfte hielten in der Kantine der 1863 gebauten Kaserne sogenannte Reformbankette ab und stellten an einem solchen im Dezember 1866 im Hinblick auf eine Verfassungsreform einen Forderungskatalog auf. Das Klingentalprogramm verlangte unter anderem eine Erweiterung der Volksrechte, eine Wahlreform für den Grossen Rat, einen entlöhnten Regierungsrat, die Trennung von Kirche und Staat, einen weltlichen Zivilstand, die formelle Aufhebung der Todesstrafe, die Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts, die Gründung einer Kantonalbank, ein allgemeines Arbeitsgesetz und eine staatliche Beteiligung am Armenwesen. Später wurde die Forderung nach Initiative und Referendum als politische Instrumente für das Volk ergänzt. Das Erstellen eines politischen Forderungskatalogs war eine Neuerung. Im alten Regime standen bei Wahlen weniger Gruppierungen als vielmehr Einzelpersonen im Vordergrund. Dieser Paradigmenwechsel wurde den Freisinnigen 25


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

nach ihrer Machteroberung nach 1875 zum Vorwurf gemacht  : Im Gegensatz zu früher seien nicht mehr so starke Persönlichkeiten in der Politik engagiert, hiess es von konservativer Seite. Eine durchaus gewagte These angesichts einer so starken und prägenden Persönlichkeit wie Wilhelm Klein, der sich stark für die soziale Frage einsetzte. Die Forderung des Klingentalprogramms nach einem Arbeitsgesetz fand 1869 Erfüllung. Als nationaler Pionier installierte Basel-Stadt am 15. November 1869 ein Fabrikgesetz. Es begrenzte die Arbeitszeit auf 12 Stunden am Tag, verbot die Sonntags- und Nachtarbeit und die Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern und gab dem Kleinen Rat die Befugnis, die Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche je nach Einschätzung zu reduzieren.

Die freisinnige Machtergreifung 1875 Der in der Verfassung von 1847 festgeschriebene Zunftzwang stand im Widerspruch zur Bundesverfassung von 1848. Die Privilegien der Zünfte gerieten deshalb in Basel immer stärker unter Beschuss und wurden nach und nach abgebaut. Formell brachten die Revision der Bundesverfassung 1874 und die neue Kantonsverfassung 1875 die Gewerbefreiheit. Wilhelm Klein arbeitete als Nationalrat am Entwurf der neuen Bundesverfassung mit. Nach der erfolgreichen Abstimmung (  in Basel betrug die Zustimmung 86,4 %  ), trieb Klein die Revision auf kantonaler Ebene voran. Die Notwendigkeit von politischen Reformen war im Parlament unbestritten, 94 Grossräte stimmten zu, 22 sagten Nein. Das Volk beerdigte im Mai 1875 das Ratsherrenregiment  : Bei einer Stimmbeteiligung von 57 % stimmten 3430 Bürger für und 786 gegen die neue Verfassung. Der politische Einfluss der Zünfte wurde beendet. Der Grosse Rat wurde auf 130 Sitze reduziert und ausschliesslich durch 11 Wahlkreise gewählt. Ein siebenköpfiger bezahlter Regierungsrat ersetzte den Kleinen Rat, wurde aber weiterhin vom Grossen Rat gewählt. Der Grosse Stadtrat verschwand und gab die meisten Kompetenzen an den Kanton ab. Die neu geschaffene Bürgergemeinde hatte weniger Einfluss. Das fakultative Referendum und die Gesetzesinitiative wurden in die Verfassung aufgenommen. Die ersten ‹  freien  › Grossratswahlen brachten die Freisinnigen mit 64 Sitzen an die Macht. 26


Die Parteigründung 1894

Die Parteigründung 1894 Trotz der freisinnigen Machteroberung war die «  Geschlechterherrschaft  » noch nicht ganz beendet. Die freisinnige Fraktion bestand bis 1887 zur Mehrheit aus Altbaslern. Zusammen mit den praktisch ausschliesslich altbaslerischen Konservativen bestimmten sie die Politik. Ab 1890 stellten Zugewanderte und Neubürger die Mehrheit in der freisinnigen Fraktion. In der Politik zeichnete sich die Entwicklung der Stadt nach  : Die Bevölkerung von Basel hatte sich zwischen 1870 und 1910 von 47 000 auf knapp 136 000 Menschen verdreifacht. Der Anteil der Basler Bürger hatte sich entsprechend verringert. Das neue politische System mit den 11 Wahlkreisen veränderte das freisinnige Vereinswesen. Waren Vereine wie die oben bereits erwähnten oder die im Zuge der Verfassungsrevision gegründeten ‹  Schweizerischer Volksverein  › und ‹  Demokratischer Verein  › übergeordnete Vereine zur Verteidigung der freisinnigen Sache, organisierten sich die Freisinnigen ab den 1880er-Jahren immer stärker in Quartiervereinen. 1883 gründeten sich der Verein Freisinniger Kleinbasler und der Verein Freisinniger Spalemer, die in den folgenden Jahren in vielen Quartieren Nachahmer fanden. Das Parteileben geschah in den Quartiervereinen, hier wurden politische Fragen diskutiert und das gesellige Leben gepflegt. Die politischen Leitlinien wurden von der Grossratsfraktion, 1870 als ‹  Verein liberaler Grossräte  › gegründet und später in ‹  Verein freisinniger Grossräte  › umbenannt, vorgegeben. Die Fraktion gab sich 1884 ein erstes Arbeitsprogramm mit fünf Punkten in den Bereichen Erweiterung der Volksrechte, Justizreform und Demokratisierung des Schulwesens. Rund zehn Jahre später wurden soziale Anliegen wie eine obligatorische Krankenversicherung oder die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ergänzt. An der sozialen Frage begannen sich innerhalb der freisinnigen Bewegung immer stärker die Geister zu scheiden. Der ‹  Grütliverein  › unter Eugen Wullschleger distanzierte sich immer stärker von den von Selbständigerwerbenden und oberen Angestellten dominierten freisinnigen Vereinen. Mit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei verabschiedeten sich 1890 die Arbeiter aus dem freisinnigen Lager. Dem Freisinn kam in Zukunft eine Vermittlerrolle zu zwischen den Sozialdemokraten auf der linken und den Liberal-Konservativen auf der rechten Seite. 27


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

Das Aufkommen einer Konkurrenz auf der linken Seite verstärkte das Bedürfnis nach einer strafferen Organisation der freisinnigen Vereine. 1894 liefen gleichzeitig auf nationaler wie kantonaler Ebene Bemühungen, eine übergeordnete Partei als Leitorgan zu installieren. Die Delegierten der freisinnigen Vereine von Basel trafen sich am 16. Februar 1894 in der Safranzunft. Sie beschlossen, eine hochkarätige Delegation Basler Freisinniger, unter anderem Ständerat Christian Friedrich ‹  Fritz  › Göttisheim, die Nationalräte Ernst Brenner und Hermann Kinkelin sowie Regierungsrat Rudolf Philippi, als Delegierte an die nationale Gründungsversammlung, die im gleichen Monat stattfinden sollte, nach Olten zu schicken. Der Verein freisinniger Grossräte fasste in der Safranzunft den Auftrag, in sämtlichen Wahlkreisen der Stadt und der Landgemeinden, wo dies noch nicht passiert war, politische freisinnige Quartiervereine zu gründen. Delegierte dieser Vereine trafen sich am 29. Mai 1894 am selben Ort. Sie diskutierten mehrere Stunden über einen vorgelegten Statutenentwurf, sodass am Schluss die Zeit fehlte, die Partei offiziell zu gründen. Am 19. September 1894 schliesslich wurden in der Safranzunft die Statuten verabschiedet und die Freisinnig-Demokratische Partei Basel-Stadt (  FDP  ) gegründet. Die Partei setzte sich aus den freisinnigen Quartiervereinen, einer Delegiertenversammlung und dem Parteiausschuss zusammen. Der Thurgauer Anwalt Paul Scherrer, ab 1895 Basler Bürger, wurde erster Präsident.

Das Ende des konservativen Intermezzos Wilhelm Klein hatte die Gründung der FDP nicht mehr miterlebt. Sie war das Werk der 3. Generation der freisinnigen Bewegung nach Brenner und Klein. Klein, dem die soziale Frage so am Herzen lag, musste auch die Abspaltung der Arbeiterschaft und die Gründung der Sozialdemokratischen Partei nicht mit­ erleben. Die Geschlossenheit der fortschrittlichen Kräfte in der freisinnigen Bewegung war Voraussetzung dafür, das 1878 begonnene konservative Inter­ mezzo nach drei Jahren wieder zu beenden. Die Wut über die Abwahl Kleins als Regierungsrat und die Angst vor einem neuen dauerhaften reaktionären Regime trieben die Massen nicht nur für einen Fackelzug auf die Strasse, sondern für die Grossratswahlen 1881 auch an die Wahlurnen. Arbeiter und Freisinnige tra28


Das Ende des konservativen Intermezzos

ten gemeinsam an. 78,4 % der Stimmberechtigten machten den Entscheid von 1878 rückgängig und bescherten den Freisinnigen mit 83 von 130 Sitzen eine starke Mehrheit. Die Wahlbeteiligung lag vor und nach den Wahlen von 1881 jeweils bei um die 60 %. Ein untrügliches Zeichen dafür, wie stark die Bevölkerung dem konservativen Intermezzo ein Ende bereiten wollte. «  Hoch das freisinnige Basel  !  », schrieb der ‹  Schweizerische Volksfreund  › am 26.  April 1881 erfreut und kostete die Niederlage der «  reaktionären Machthaber, die sich mit dem Ultramontanismus verbrüdert hatten  », genüsslich aus. Das konservative Bündnis mit den Katholiken war auf tiefes Unverständnis gestossen. Die Wahlen von 1881 waren auch für Wilhelm Klein eine persönliche Genugtuung. Auf der freisinnigen Liste des Steinen-Quartiers schaffte er als achter von insgesamt 13 Gewählten den Sprung in den Grossen Rat. Mit 632 Stimmen blieb er deutlich hinter dem freisinnigen Spitzenreiter Friedrich Greuter mit 875 Stimmen zurück. Klein war also auch bei seinen freisinnigen Zeitgenossen nicht unbestritten. Als die Wiederwahl von Klein in den Regierungsrat anstand, stellte eine freisinnige Minderheit Göttisheim als Gegenkandidaten auf. Dank der Unterstützung der Konservativen erhielt Göttisheim gleich viele Stimmen wie Klein. Das Los entschied für Letzteren. Klein erhielt das Sanitätsdepartement zugeteilt. Damit liessen sich erneute Konflikte im Erziehungsdepartement vermeiden. Der radikale Entwurf eines modernen liberalen Schulgesetzes war nämlich am Ursprung der Abwahl Kleins aus der Regierung gestanden. Sein Angriff auf das elitäre Bildungswesen durch die Berufung eines freisinnigen Theologieprofessors an die Universität und ein Schulgesetz, das die Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellte, hatte zuerst zur konservativen Mehrheit im Grossen Rat und schliesslich zu seiner Abwahl aus der Regierung geführt. Seine erfolgreiche Wiederwahl 1881 machte Klein zur freisinnigen Legende. Das Verhältnis zur liberal-konservativen Gegenpartei blieb nachhaltig gestört. Victor Emil Scherer, ab den 1910er-Jahren in führenden Positionen für die Basler FDP tätig, schrieb am 6. Oktober 1925 in der ‹  NationalZeitung  › über Kleins Abwahl  : «  Die Bitterkeit, die dieser konservative Vorstoss gegen Klein bei den Radikalen erzeugt hat, hat jahrzehntelang nachgewirkt, und wenn in späteren Jahren wir Jüngeren oft den alten Hass nicht recht verstanden haben, so wurde uns jene Regierungsratswahl von 1878 erzählt, und 29


«  Mit dem Verstand und nicht mit dem Hosensack regieren  »

wurde uns erzählt von der gewaltigen Demonstration des fortschrittlichen ­Volkes, das … im Schein der Fackeln zum Café Bijou am Steinenberg zog, wo Wilhelm Klein wuchtig und eindrucksvoll zum Volke sprach.  » Nicht nur Kleins «  wuchtige  » und «  eindrucksvolle  » Rede blieb nachhaltig in Erinnerung. Seine in jener Rede geäusserte Forderung nach der Volkswahl des Regierungsrates wurde Realität. Die Verfassung von 1889 schrieb neben der Volkswahl des Regierungs- und Ständerats auch den obligatorischen Schulunterricht fest. Diese freisinnig geprägte Verfassung blieb über 120 Jahre gültig und wurde 2005 total revidiert. Zwei Jahre vor der Verfassungsreform verstarb ­Wilhelm Klein am 12. Mai 1887 als amtierender National- und Regierungsrat. Sein jahrzehntelanger Kampf für die religiöse, politische und soziale Freiheit trug Früchte. War dieser Kampf in jugendlichen Jahren als Angehöriger des ersten Freischarenzugs und der Basler Truppen im Sonderbund durchaus auch einer mit Waffen gewesen, so setzte der ältere Klein in seinem Kampf für die Freiheit der Bürger auf die Karte Bildung.

30


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.