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EINLEITUNG: WAS IST EINE FAMILIE?
Die Familie Stähelin ist, wie jede Familie, zugleich Faktum und Fiktion. Ein Fakt ist die Familie, weil die Stähelin, Staehelin, Stehelin existieren: Menschen dieses Namens, die sich der gleichnamigen Gemeinschaft zugehörig fühlen und sich qua Abstammung von ihr herleiten, also von anderen Menschen, die diesen Namen tragen oder mit Namensträgerinnen und Namensträgern ehelich verbunden sind oder sonst wie ein Paar bilden. Die Menschen sind in den Archiven der Gemeinden, Kir chen und Staaten verzeichnet: ihre Geburten, Heiraten und Tode. Ferner zeugen Briefe und Bücher, Bilder, Häuser und Firmen von ihren Leben. Die heute noch bekannten Mitglieder der Basler Familie Stähelin sind im Stammbaum und im ‹Familienbuch› verzeichnet. Das 1903 vom Historiker Felix Stähelin vollendete Buch wird heute von einer Familienarchivarin weitergeführt, seit einigen Jahren auch als digitale Datenbank.
Der ‹Stammvater› Stehelin hat 1520, vor fünfhundert Jahren, das Basler Bürgerrecht erhalten. Das ist archivalisch verbürgt. Der Handwerker wanderte aus Süddeutschland in die Stadt am Rheinknie ein. Thomas Platter, der Basler Gelehrte aus dem Wallis, verfertigte in seiner berühmten Autobiografie eine kurze Charakterskizze des Seil- und Schnurmachers. Dessen Existenz ist so bezeugt. Die Stähelin haben gelebt, sie sind eine Tatsache. Eine Fiktion ist die Familie, weil sie sich eine aus heutiger Sicht willkürliche Ordnung gegeben hat. Der Stammbaum verfährt patrilinear: Er folgt den männlichen, nicht aber den weiblichen Nachkommen. Wenn diese heiraten, verschwinden sie mit ihren Kindern aus dem Blick – und tauchen vielleicht in den Genealogien ihrer Männer auf, falls die neuen Familien welche führen. Würde man die Frauen und Töchter privilegieren statt der Männer und Söhne, entstünden ein neuer Stammbaum und damit ein anderes Familienbild. Das Stähelin’sche ‹Familienbuch› setzt ferner einen Ursprung, wo keiner ist: Auch das ‹Stammpaar›, Hans Seiler und Magdalena Mieg, hatte Vorfahren und Geschwister, auch es war in eine Generationenabfolge eingebettet. Schliesslich ist das Verzeichnis unvollständig: Die illegitimen Kinder sind nicht aufgeführt und wohl auch nicht alle legitimen. Früher war die Geburtenrate höher, als die Angaben des ‹Familienbuchs› nahelegen. Die Fiktion ist indes – und das macht die Sache für die Geschichtsschreibung nicht einfacher – ebenfalls ein Faktum. Dass und wie sie errichtet wurde, sagt etwas aus über die Mentalität der Menschen, die sie teilten. Wenn Menschen an eine Fiktion glauben, wird diese zum Faktum. Spätestens im 19. Jahrhundert legt man sich in den bürgerlichen Schichten nach dem Vorbild des Adels kunstvoll geschmückte und weit ausholende Stamm bäume zu, die historische Tiefe suchen, am liebsten im Mittelalter. Die Stähelin lassen um 1870 einen riesigen Stammbaum malen, der knapp vier Quadratmeter misst. Er liegt heute im Basler Staatsarchiv. Das heisst: Die Stammbäume zeigen nicht die Wirklichkeit der Familien, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Vielmehr erzeugen sie Wirklichkeit. Sie regeln mit den vä
terlichen Namenslinien die männliche Herrschaft und ihre Erbund Nachfolge. Sie inszenieren die Familie als altehrwürdiges Geschlecht, das erfolgreichen Nachwuchs hervorbringt: Zunftmeister, Kaufmänner und Professoren, ja sogar tapfere Ritter. Die ‹ersten› Stehelin des 16. Jahrhunderts aber führten keinen Stammbaum. Für sie bedeutete Familie etwas anderes als für ihre Nachfahren. Wahrscheinlich zählten sie die Mägde auch zu ihrer Sippe, die Schwiegersöhne dagegen dürften erst dann voll dazugehört haben, wenn sie Nachwuchs gezeugt hatten. Im 17. und 18. Jahrhundert heirateten viele Stähelin mehrmals, weil die Frauen bei der Geburt oder im Wochenbett starben. Das begünstigte Patchwork-ähnliche Familienverhältnisse, wie sie den Bürgern um 1900 obsolet schienen.
Die Stähelin kannten die längste Zeit keine Genetik. Der Gedanke, dass das Blut Krankheiten oder edle Gesinnung weitergebe, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Die gefühlsintime Kleinfamilie der Gegenwart, die den Kindern einen pädagogisch hochwertigen Schonraum reserviert, der immer weiter in die Jugendzeit hineinreicht, wäre ihnen fremd gewesen – und selbstredend auch die vielen aussereuropäischen Familienformen mit ihren matriarchalen und polygamen Strukturen. Mit ihnen kamen zu ihrem Erstaunen die missionierenden und migrierenden Stähelin des 19. Jahrhunderts in Kontakt. Was eine ‹Familie› ist, lässt sich also nicht eindeutig sagen – nicht einmal wortgeschichtlich. Der Begriff ‹Familie› kam in der deutschen Sprache erst im 18. Jahrhundert in Gebrauch. Er ersetzte das ältere Wort ‹Haus›, das sowohl das Gesinde als auch den Besitz umfasste. Die Blutsbande zwischen Vorfahren, Nachkommen und Verwandten sind immer auch eine ‹Kulturtatsache›. Wer warum zur Familie gehört, wer sie nach aussen repräsentiert, wer das Vermögen vererbt, den Stammbaum hütet und wer erinnert wird beziehungsweise vergessen geht – das variiert nach Raum und Zeit. Permanent verändert ‹Familie› sich, nicht erst seit heute, nicht erst mit Reproduktionsmedizin und gleichgeschlechtlichen Eltern. Jede Familie ist mit der Politik des Gemeinwesens verbunden, dem sie angehört. Das gilt für die in Basel beheimateten
Stähelin in besonderem Masse. Sie gehören, wie das ‹Historische Lexikon der Schweiz› festhält – das daneben Thurgauer und St.Galler Stähelin nennt –, zu den ältesten noch existierenden Basler Familien überhaupt. Sie zählen zum legendären Basler ‹Daig›, zum vor allem im linksrheinischen Grossbasel ansässigen Patriziat, das sich traditionell durch ökonomischen Wohlstand und politische Macht auszeichnet und das Basel bis heute prägt, etwa mit seinen Stiftungen oder Büchern zu seiner Geschichte. Bis um 1870 wurde die Stadtrepublik Basel von einer Handvoll Familien regiert. Die Stähelin, Staehelin und Stehelin sind in einem Atemzug mit den Burckhardt, Merian und Socin zu nennen, auch wenn sie deren Machtfülle nicht erreichten. Die unterschiedlichen Schreibweisen des Familiennamens rühren daher, dass die Orthografie bis in das 19. Jahrhundert kaum reglementiert war. ‹Stehelin› ist die älteste überlieferte Version. Manche ‹Zweige› der Familie grenzten sich voneinander ab, indem sie sich anders schrieben, mit ‹ae› eben oder mit ‹ä›. In jüngster Zeit hat ‹Staehelin› an Beliebtheit gewonnen. Wir, die Autoren des vorliegenden Buchs, schreiben ‹Stähelin›, wenn wir von der Familie im Allgemeinen reden. Damit folgen wir dem ‹Historischen Lexikon der Schweiz›.
Dieses Buch geht der Geschichte der Familie seit dem Jahr 1520 nach, als sie das Basler Bürgerrecht erhielt –im Wissen darum, dass der Anfang eine willkürliche Setzung und sowohl der Stammbaum als auch das ‹Familienbuch› selektiv sind. Wir haben dieses Defizit korrigiert, das heisst, wir haben uns über den Stammbaum hinweggesetzt, um ein möglichst vollständiges Bild der Familie zu gewinnen. Dass die weiblichen Angehörigen den Nachwuchs in die Welt gesetzt haben, steht in seiner existenziellen Bedeutung für die Familie ausser Frage, aber sie haben auch Geschäfte getrieben, Bücher geschrieben und die pietistische Mission organisiert. Die Stähelin’sche Datenbank umfasst rund dreitausend Individuen. Unser Buch erzählt ihre Geschichte unter der Annahme, dass sie irgendwie zusammengehören. Einzelne Personen, deren Biografien aussagekräftig sind für unser Interesse – beileibe nicht nur die ‹grossen Namen›, sondern auch
Aussenseiterinnen –, tauchen prominent auf und verschwinden wieder. Ihre Genealogie bildet indes nicht unseren Leitfaden. Wir haben unseren Stoff thematisch gegliedert: Wir werfen den Blick auf das Wechselspiel zwischen der Familie und der Politik, der Migration, der Religion, Ökonomie und Akademie, besonders der Universität Basel. Den Anfang macht die Basler Reformation: ein epochales Ereignis. Ohne sie sind der protestantisch-bürgerliche Habitus des Kerns der Familie und ihr sozialer Aufstieg nicht zu verstehen, der vom einfachen Handwerk bis in die Regierung der Stadtrepublik führt.
So stark verbunden die Familie mit Basel ist, so international und global ist sie zugleich. Das fängt an mit Hans, dem süddeutschen Einwanderer. Heute leben die Mitglieder der Familie auf vielen Kontinenten. Stark vertreten sind sie in Frankreich, Kanada und besonders Brasilien. Familien sind immer auch ökonomische Verbünde. Die geschickte Heiratspolitik verhalf den Stähelin immer wieder zu Kapital. Die Familie handelte mit Eisen und Kaffee, Stoffen und Lokomotiven, Immobilien und Aktien. Aber längst nicht alle ihre Mitglieder waren und sind reich. Der Protestantismus und insbesondere der Pietismus haben den Alltag der meisten Stähelin bis in das 20. Jahrhundert stark geprägt. Der Glaube an eine ausserweltliche Macht hatte eine Bedeutung, die wir kaum mehr nachvollziehen können. Theologen und Pfarrer verbreiteten das Wort Gottes. Die Wissenschaften haben im Selbstbild des Familienkerns einen hohen Stellenwert. In der jüngeren Vergangenheit stellten die Stähelin eine Reihe von Professoren der Natur- und Geisteswissenschaften sowie Rektoren der Basler Universität. Die Familie sieht sich noch immer als Gelehrtengeschlecht. In der Gegenwart verschwimmen die Konturen der Fami lie, die in ihren ‹Anfängen› in Basel, in Zunft und Reformation besser fassbar erscheint. Dabei zeigt sich eine Vielfalt: Der familienpolitisch aktive Kern ist ‹baslerisch›, gut gebildet, wohlhabend und vorwiegend reformiert, während die brasilianischen Stähelin, die sich für ihre ‹Wurzeln› interessieren, katholischer Konfession sind und die Stehelin in der Normandie mit grossem Respekt zu den Angehörigen des ‹Daig› aufschauen.
Manche Angehörige verstehen sich konservativ als Teil einer schwindenden patrizisch-protestantischen Kultur, andere fühlen sich dem gutbürgerlichen Kern der Familie entfremdet, wieder andere ziehen aus der aussergewöhnlichen Geschichte der Familie ein ‹freigeistiges› Selbstbewusstsein. Eines bleibt aber: Selbst das Mitglied der Familie, das zu deren Zentrum und zur Genealogie Distanz hält, kommt nicht darum herum, sich zum historischen Gewicht dieser Familie zu positionieren. Dass man ein Stähelin ist, sagt einem spätestens die Umwelt, zumindest in historisch informierten Kreisen und in Basel. Das passiert einem Meier oder Müller so nicht. Unser Buch beruht auf der Auswertung unterschiedlicher Quellen. Neben den mündlichen Aussagen und einer Internet-Umfrage unter zeitgenössischen Stähelin haben wir uns insbesondere auf das ‹Familienbuch› und die reichhaltigen schriftlichen Bestände des Familienarchivs gestützt, das vom Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt wird. Bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts liegen nur wenig Quellen vor. In weiteren Sammlungen und Haushalten haben wir Objekte und bildliche Quellen ausfindig gemacht. Schliesslich haben wir die Familiendatenbank statistisch auswerten lassen. Unser Buch folgt nicht der traditionellen Familienforschung. Für diese besteht Geschichtsschreibung vornehmlich darin, die Biografien der berühmten und erfolgreichen Exponenten einer Familie hervorzuheben. Noch immer erscheinen Genealogien dieses Genres, meist von städtischen Oberschichten. Dass ‹Familie› breiter zu fassen ist, darin haben uns – neben der einschlägigen Literatur – gesprächsweise Caroline Arni, Susanne Burghartz (beide Universität Basel) und Simon Teuscher (Universität Zürich) bestärkt. 1 Dafür sei ihnen gedankt.
Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Tobias Ehrenbold hat die Kapitel zwei, vier, fünf und sieben verfasst, Urs Hafner die Kapitel eins, drei und sechs. Die demografische Analyse hat Lucas Rappo beigesteuert. Wir danken auch der Familienstiftung und Publikationskommission Stähelin für ihre grosszügige Unterstützung. Unsere wissenschaftliche Unabhängigkeit ist stets respektiert worden.
Daher knüpft unser Buch an Felix Stähelins Grundsatz an, der Zweck des von ihm 1903 verfassten ‹Familienbuchs› sei kein «panegyrischer», sondern ein «rein historischer», denn man finde darin «keinerlei Lobeshymnen auf das Geschlecht oder einzelne seiner Vertreter». 2 Sich ein eigenes Bild von der Familie zu machen, sich in ihren Vertreterinnen und Vertretern wiederzufinden oder gerade nicht, mit ihnen von Basel aus in die Welt zu reisen, mit oder ohne Stammbaum, das sei den Lesenden überlassen.