KOSMOS HINTERHOF
Der Hinterhof ist das Aschenputtel der Stadt. In der Regel erst auf den zweiten Blick sichtbar, bleibt er oft genug auch ganz im Verborgenen. Welche enorme Bedeutung der Hof für Funktion und Verständnis der europäischen Stadt hat, wird einem vielleicht erst dann wirklich bewusst, wenn man eine Stadt entdeckt, in der es keine Höfe gibt – wie zum Beispiel in der amerikanischen Stadt, wenn in Midtown Manhattan ganze Stadtblöcke vollständig überbaut sind durch Bürogebäude, deren enorme Grundrisstiefen nur noch künstlich belichtet und belüftet werden können. Ohne Hof gibt es nur die dialektische Unterscheidung von bebautem und unbebautem Raum. In der europäischen Stadt, die stadträumlich auf dem Prinzip der Blockrandbebauung basiert, gibt es aber zwei komplementäre Formen des « Urban Void »: Strasse / Platz und Hof.
Der Hinterhof ist dabei das notwendige Pendant zum Strassenraum; beide zusammen bilden eine räumliche Klammer, die das Gebaute zusammenhält. So wie im Theater die Hinterbühne die Voraussetzung für die Bespielbarkeit der Bühne darstellt, ist der Hof für die europäische Stadt die performative Bedingung städtischen Lebens. Selbst wenn wir die Höfe nicht sehen, wenn wir durch eine Strasse flanieren, so wissen wir doch, dass sich hinter den Häusern versteckte Räume befinden, die das völlige Gegenteil des Strassenraums sind: in der Regel ruhig, oft begrünt, vor allem aber räumlich umschlossen und introvertiert. Wir brauchen diese urbanen Oasen als atmosphärischen Ausgleich zum inszenierten öffentlichen Raum der Strasse und des Platzes. Weil Höfe so versteckt sind, funktionieren sie auch als Wahrnehmungsreserve der Stadt. Selbst wenn wir meinen, unsere Stadt gut zu kennen, werden wir doch immer wieder überrascht sein, wenn wir zufällig oder aus Neugier einmal hinter die Kulissen der Strasse schauen und Hofräume entdecken, die wir noch nie gesehen haben.
In diesem Sinne bietet das vorliegende Buch eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein urbanes Territorium zu entdecken, das auf unserer Mental Map Basels in der Regel nur als weisser Fleck vorkommt. Und je mehr wir uns dieser kostbaren Räume gewahr werden, umso mehr begreifen wir, dass das Aschenputtel in Wirklichkeit die Prinzessin ist.
Andreas Ruby, Direktor Schweizerisches Architekturmuseum S AMFlanierendes Forschen –eine Einführung
Elias Aurel RüediDie Basler Vorstadtquartiere sind von der Blockrandbauweise des 19. Jahrhunderts geprägt. Sie zeichnen sich durch Höfe und Gärten aus, welche gut geschützt hinter den Blockrandmauern [ → S. 133, Glossar ] liegen. Selbst ein zufälliger Einblick offenbart sofort: Ob verlassen oder genutzt, überwuchert oder durchgestaltet, begrünt oder gepflastert – jeder Hinterhof ist ein Kosmos für sich und bildet einen Kontrapunkt zur Strassenseite. Besonders die Beispiele, die wie ruhige, grüne Oasen im dicht bebauten Stadtkörper [ → S. 133, Glossar ] stehen, weisen auf das Potenzial hin, welches die verborgenen Hinterhöfe in Bezug auf ein zukünftiges städtisches Zusammenleben haben können.
In Zeiten der Urbanisierung wächst der Entwicklungs- und Verdichtungsdruck auf die städtischen Gebiete. Diesen Herausforderungen kann durch spezifische Bebauungs- und Planungsstrategien begegnet werden: Nachhaltige Architektur und Grünraumgestaltung rücken neben den wirtschaftlichen auch soziale, klimatische und ökologische Werte in den Mittelpunkt. Somit ermöglichen sie als nötige Ergänzung zur baulichen Verdichtung eine lebenswerte Stadt. In diesem Zusammenhang gewinnen Hinterhöfe eine neue Bedeutung – es gilt, die Wahrnehmung zu schärfen und eine andere Perspektive einzunehmen. Innen wird das neue Aussen.
Die Entdeckung des Hinterhofs als architektonisch-städtebaulich kaum beachtete Thematik ist für mich als Projektinitiator eng mit dem « Flanieren » verknüpft, welches als reflexive Technik zu verstehen ist: Immer wieder stiess ich bei absichtslosen Stadtspaziergängen auf eine andere, versteckte Stadt in den Höfen und entwickelte eine leidenschaftliche Neugier für ihre Vielfalt und die Möglichkeiten ihrer Umgestaltung. Als Architekt fiel mein Interesse auf das städtebauliche Potenzial der verborgenen Stadträume: Eine nachhaltige Hinterhofbeschaffenheit kann als Ventil funktionieren, welches bei der stetigen Verdichtung der Städte einen willkommenen Ausgleich ergibt. Die vorliegende Publikation bietet Anwohner:innen und Planenden Anhaltspunkte in der Handhabung mit theoretischen und praktischen Aspekten der noch wenig besprochenen Thematik. Bauen oder nicht bauen – das ist dabei eine Kernfrage.
«Der Erfolg der Stadt ist wesentlich bestimmt von der Qualität ihrer Zwischenräume.»
Martin Haas 1
Die Lektüre ist in vier Kapitel gegliedert und im Modus des Flanierens und Entdeckens gestaltet. Im Forschungsteil der Analyse passt sich die Buchform an die diversen Erlebniswelten des Kosmos Hinterhof an. Die Höfe und ihre Nutzungen werden in fünf Fallbeispielen charakterisiert und unter den Aspekten « Raum und Atmosphäre » sowie « Organisation und Soziales » betrachtet. Die Gastautor:innen regen mit Textbeiträgen den Diskurs über den Blockrand an und geben im Perspektiven-Teil mit Projektideen Inspirationen zur Hofgestaltung der Zukunft.
Im Résumé werden die wichtigsten Aspekte zur Qualitätssteigerung dargelegt. Die mehrseitigen Bildstrecken laden dazu ein, in die facettenreichen Impressionen der Hofwelten einzutauchen. Durch den Perspektivenwechsel zwischen Analyse und Vision leistet das Werk einen Beitrag zur Stadtforschung und liefert Ideen für eine beständige Stadtentwicklung.
«They say that under the ocean there is another world which is full of silence and sounds. I believe it. »
Balkrishna Doshi 2
Basis und Diskurs
Basis
Elias Aurel
RüediINNENHOF ODER HINTERHOF ?
Die Klärung der Begriffe Innenhof und Hinterhof ist ausschlaggebend für das Behandeln der Thematik. In den schematischen Grafiken und einer nicht abschliessenden Definition ( unten ) werden deren Prinzipien festgehalten.
Innenhof: Dieser Hofraum ist vorwiegend zur Belichtung und Frischluftversorgung eines Gebäudes gedacht. Er ist in der Dimensionierung knapper bemessen und meist Teil einer Liegenschaft oder einer abgeschlossenen architektonischen Anlage. [ Abb. 2 ]
Hinterhof: Der Hof dahinter ist ein freier Raum hinter einem Gebäude. Er formiert sich meist aus mehreren Parzellen. Es ist möglich, dass sich hinter einem Hofgebäude abermals ein Hinterhof befindet. Das gesamte Hinterhof-Gefüge wird von einem Blockrand eingefasst. [ Abb. 3 ]
Block geschlossen
Block mit Lüftungsöffnung
Block mit zwei Lüftungsöffnungen
Block U-Form
Block vier seitig geöffnet
Block mit Punkthäusern
Block mit Zeilen und vier Öffnungen
Welche räumlichen Voraussetzungen müssen also gegeben sein, damit von einem « Hinterhof » gesprochen werden kann? Im Normalfall ist der Hinterhof von einer durchgehend geschlossenen Bauweise gegen die Strasse abgegrenzt, einzig Lüftungsöffnungen sind als Unterbrechung möglich. Für den vorliegenden Beitrag wurden auch dreiseitig geschlossene Gebäudefiguren oder solche mit geöffneten Ecken als Basis zur Bildung eines Hinterhofes betrachtet. Die Blockstrukturen in Basel sind in Grösse und Ausdehnung verschieden dimensioniert: von klein ( ca. 2 300 m² ) bis gross ( ca. 35 000 m² ) ist alles zu finden. Insgesamt gibt es rund fünfhundert Blocks, wovon ein kleiner Teil keine echten Hinterhöfe besitzt. Die Blocks werden in der städtischen Verwaltung als statistische Raumeinheiten mit Nummern eingeteilt. Beispiel-Code: bestehend aus Wohnviertel-, Bezirks- und Blocknummerierung, zum Beispiel: Block 17.2.005.
STADTMORPHOLOGIE MIT DURCHWEGUNGEN
Im Stadtgefüge, welches in Basel von Strassengittern mit der für Europa typischen Blockrandbebauung [ → S. 133, Glossar ] geprägt ist, sind zudem untergeordnete Wegnetze vorhanden. Diese blockquerenden Durchwegungen [ → S. 133, Glossar ] ermöglichen das Erschliessen von Hofgebäuden und Hofnutzungen sowie Abkürzungen für Fussgängerinnen und Fahrradfahrer. Die zum Teil halböffentlichen Verkehrswege bieten Einblicke und Begegnungsraum zugleich – einige haben gar Aufenthaltsqualitäten. Als Beispiel für eine in den Jahren 1978 – 1981 umgesetzte Stadtanpassung mit Durchgang kann die Siedlung « Hammer 1 » von Diener & Diener Architekten genannt werden. Die als subventionierter Wohnungsbau
entwickelte Anlage lehnt sich an die Anfangszeit der traditionellen Blockrandbebauung des späten 19. Jahrhunderts an. Sie umfasst ein Wohnhaus zur Strasse und kleinere Gewerbebauten (Ateliers) im Hof, am Durchgang zwischen Hammerstrasse und Efringerstrasse. Dieser neu gewonnene Zwischenraum – heute mit Quartiernutzungen wie einer Kompostieranlage – teilt den ursprünglichen Block in zwei Hälften. [ Abb. 5 ] Weitere Beispiele für geplante und gewachsene Durchwegungen werden in der nachfolgenden Bildstrecke gezeigt.