Lorenzo Mattotti. Ligne Fragile

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Anette Gehrig Hg./  ed. Christoph Merian Verlag

Lorenzo Mattotti Ligne Fragile



Lorenzo Mattotti Ligne Fragile



Anette Gehrig (Hg. / ed.) Lorenzo Mattotti Ligne Fragile Christoph Merian Verlag



Im Dialog mit sich selbst – die Ligne fragile Lorenzo Mattottis  Anette Gehrig


Mit dem malerischen und farbintensiven Comicalbum ‹Fuochi› (dt. ‹Feuer›, 1986) wird der heute in Paris lebende Italiener Lorenzo Mattotti (* 24.1.1954 in Brescia) weltbekannt. Sich sofort einbrennende, teilweise seitenfüllende, kontrastreiche Bilder, ohne schwarze Umrisslinien mit Kreide und Farbstift gemalt, und eine wegweisende Erzähltechnik eröffnen dem Comic neue Richtungen. Auch spätere Werke Mattottis, wie beispielsweise seine in die 1920erJahre verlegte Interpretation von Robert Louis Stevensons berühmter Novelle um Dr. Jekyll & Mr. Hyde (2002, mit Jerry Kramsky als Texter), tragen dieselbe dynamische, opulente Handschrift. Neben diesen farbstarken Arbeiten entstehen immer wieder schwarz-­ weisse Geschichten, die von den feinen Tuschezeichnungen in ‹L’homme à la fenêtre› (1992, mit Texten von Lilia Ambrosi) bis zu den sehr dunklen, flächig und grosszügig mit dem breiten Pinsel gearbeiteten Bildern im Album ‹Hänsel & Gretel› (2009, Texte von Jacob und Wilhelm Grimm) reichen. In den 1970er-Jahren hat Mattotti zudem in kleinen Heften eine Serie sehr persönlicher, freier, in feinem Strich getuschter Arbeiten begonnen und bis heute fortgeführt, einem Strich, den der Künstler ‹Ligne fragile› (it. ‹Linea fragile›, zerbrechliche Linie) nennt. Das vorliegende Buch versammelt eine kleine Auswahl von Zeichnungen der Ligne fragile aus mehr als vierzig Jahren Arbeit. In diesen kleinen Bildchen kündigen sich die zeichnerischen Entwicklungen Lorenzo Mattottis an, von hier aus brechen sich neue Figuren und Elemente seines Werks Bahn und bis hierhin lassen sich von aufmerksamen Lesern die Ursprünge seiner grossen Alben und Arbeiten verfolgen.

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Nach der Arbeit an seiner Version von Huckleberry Finn (1978, Text von Antonio Tettamanti nach Mark Twain) leidet der junge Mattotti unter dem Gefühl, seine spontane und direkte Art zu zeichnen verloren zu haben. In dieser Krise rät ihm der toskanische Künstler Enzo Borgini, jeden Tag in ein leeres Heft zu zeichnen, sich dabei ganz seinen Emotionen und dem Moment zu überlassen und sich vollkommen auf die Zeichnung zu konzentrieren. Mattotti macht sich dieses Ritual zu eigen und findet mit der Ligne fragile rasch zu einem intimen und gleichwohl kraftvollen zeichnerischen Alphabet, entwickelt eine Handschrift für seine Gefühls- und Ge-


dankenwelt. «Die Ligne fragile wurde schnell zu einer Sprache, zu einem Blick auf mein Inneres, eine Parallelwelt, meine Welt.» Jahre später schreibt Mattotti: «Diesen Heften verdanke ich, dass ich mich wieder aufbauen konnte, dass ich mir die wesentlichen Fragen gestellt habe: die nach der Zusammensetzung oder vielmehr der Bedeutung jedes Strichs, den ich aufs Papier bringe. Es sind diese Hefte, die mir Mut gemacht haben, alles zu zerstören, neu zu beginnen, für jedes Projekt einen neuen Ansatz zu wählen.» Diese Zeichnungen entstehen nur für Mattottis Augen, ohne Gedanken an eine Publikation. Sie sind persönlich wie Tagebücher, geheime Inspiration und als Rohmaterial eine Art Steinbruch für seine anderen Werke: «Diese intimen Zeichnungen, die ich seit fast vierzig Jahren in unzähligen Heften anfertige, bilden ein Ideen­ labor, aus dem ich ständig für meine Bücher, meine Bilder und meine Illustrationen schöpfe.» Ermutigt von der Resonanz des zeichnerisch verwandten und sehr freien schwarz-weissen Albums ‹Stigmates› (1998, mit Texten von Claudio Piersanti) wächst in ihm der Wunsch, nun die ganze Bandbreite seiner Arbeit zu zeigen, und schliesslich veröffentlicht er 1999 eine erste Auswahl seiner Ligne-­ fragile-Zeichnungen im Buch ‹Linea fragile› (mit kurzen Texten von Jerry Kramsky).

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Es ist ein Vertreter der Ligne claire, der französische Zeichner JeanLouis Floch, der Mattotti den Begriff ‹Ligne fragile› als Ersatz für dessen eigene Wortschöpfung ‹Lignes desarmées› (wehrlose Linien) vorschlägt. Er erkennt Mattottis spontanen, eruptiven und expressionistischen Strich als eine Art Gegenentwurf zur aufwendig gesuchten, technischen und oft realistischen Ligne claire von Comic­ künstlern wie Hergé und E . P. Jacobs. Denn anders als die Künstler der Ligne claire will Mattotti nicht verdichten und stilisieren, was er sieht, sondern Empfindungen, Gefühlen und inneren Bildern Gestalt verleihen. Er tritt in einen ehrlichen, schonungslosen Dialog mit sich selbst und giesst diesen in seine kleinen, tagebuchartigen Hefte, zeichnet Hunderte von surrealen, oft grotesken Standbildern eines inneren Films auf, direkt und ungefiltert. Diese Arbeiten sollen nicht formalen Ansprüchen genügen, sondern der Wahrhaftigkeit des Gefühls verpflichtet sein. «Weit weg von den Blicken


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von Aussenstehenden kann ich in diesen Zeichnungen alles wagen, ich habe keine Angst, hässliche, beängstigende, intime Dinge zu Papier zu bringen, die Harmonie, den Akademismus, die Form zu zer­brechen. Im Gegenteil, das ist ein Labor der Fantasie und der zeichnerischen Forschung.» Mattotti schüttelt seine Kontrolle und in einem gewissen Sinn auch sein Können, seine Fähigkeiten als akkurater Zeichner ab, er improvisiert und überlässt – so scheint es – seine Hand sich selbst. Zwar ist Mattotti ein Künstler, der auch bei seinen farbenprächtigen Comics und Bildern selten realistisch arbeitet. Seine eigentümlich verzerrten, an die zerquälten Personen auf Francis Bacons Bildern gemahnenden Menschen und Fabelwesen treten oft in über­höhten oder komponierten Landschaften und traumartigen Situationen auf. Dennoch nimmt die freie, spontane Ligne fragile auch in dem der Imagination entsprungenen zeichnerischen Universum Mattottis eine Sonderstellung ein. Sie erinnert an die feine, vorsichtige Linie der Zeichnungen aus dem Spätwerk von Paul Klee, der ebenfalls gerne seine Augen nach innen statt nach aussen richtete, um nicht wie gesehen, sondern wie empfunden zu zeichnen. Während Klees Zeichnungen sich aber an der Nahtstelle zur Abstraktion bewegen und die dargestellten Personen kaum Details haben, zu Formen werden oder sich in zeichenhafte Körper aufteilen, sind vor allem die Personen auf Mattottis frühen Zeichnungen der Ligne fragile eher karikiert, grotesk überzeichnet. Nicht statisch wie auf Klees ruhigen Bildern, sondern bewegt, in unverständliche Abläufe und Handlungen vertieft. Sehr selten nur sind auf Mattottis kleinen Bildern ausschliesslich Gegenstände, unbelebte Natur oder Architektur zu sehen. Meist stehen Menschen, menschenähnliche Wesen oder Fabeltiere und ihre Handlungen im Zentrum. In den frühen Arbeiten zeigen sie sich verformt, massig, manchmal nackt, mit vergleichsweise realistischen Zügen. Später wird der Strich feiner, die Zeichnungen geraten heller, luftiger und durchsichtiger. Auch die dargestellten Personen wandeln sich, werden abstrakter. Spinnenhafte Beine bewegen üppige Körper, Gesichter werden durch Formen ersetzt oder tragen clowneske, zuweilen groteske, monsterhafte Züge. Der Leser meint, einem Heer von


Ahnungslosen, Narren, Aufschneidern und Grobianen zu begegnen, er wird an George Grosz und dessen scharfen, entlarvenden Strich erinnert. Langsam treten dann in stilisierte, abstrahierte Figuren aufgelöste Wesen auf, die mit ihren amorphen Körpern und den entweder bärtigen oder behaarten Köpfen ohne jede Mimik wie friedliche Götter einer unbekannten Mythologie oder wie gelassene, sprachlose Bewohner eines erdähnlichen Planeten wirken. Unter den jüngeren Zeichnungen finden sich schliesslich wieder aufwendiger ausgearbeitete, dreidimensionalere, auch dunklere Bilder. Geflügelte oder gehörnte Mischwesen und konkretere Gesichter tauchen auf, der tragikomische, manchmal wütende oder bösartige Ton früherer Bilder weicht einer sanften, poetischen, teilweise märchenhaften Stimmung. Schönheit und Ruhe finden Eingang in die Ligne fragile Mattottis. Der Aufruhr, die Ängste und die Dämonen der frühen Ligne fragile sind nicht einfach weg, aber der Dialog mit ihnen hat eine andere, gelassenere Färbung angenommen. Lorenzo Mattotti ist ein grosser Zeichner und Erzähler mit einem komplexen, verästelten Werk, das trotz seiner Vielgestaltigkeit von der ureigenen und unverwechselbaren Bildsprache des Künst­ lers zusammengehalten wird. In der Ligne fragile liegen die Wurzeln seiner Sprache frei, hier ist sie roh und ungeschliffen zu hören, einzelne, fragmentierte Laute – noch keine Erzählung, kein Lied. Aber eine Offenbarung für alle, die sich für die Kraft der Zeichnung als eine der ursprünglichsten menschlichen Ausdrucksformen interessieren.

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Die Zitate Lorenzo Mattottis stammen aus Gesprächen, die die Autorin mit ihm geführt hat, und aus den Publikationen: Lorenzo Mattotti, ‹Dessins & Peintures›, ‹Livres›, MEL Publisher, 2016.


In dialogue with himself – Lorenzo Mattotti’s Ligne fragile Anette Gehrig


The painterly and colour-intensive comic album “Fuochi” (Eng. Fires, 1986) made Italy’s Lorenzo Mattotti (b. 24 / 1 / 1954 in Brescia), who now lives in Paris, world famous. Its high-contrast, sometimes fullpage images that immediately make a profound impression, drawn in crayon and coloured pencil without black outlines, as well as its pioneering narrative technique, opened up new avenues for comics. Later works by Mattotti, such has his interpretation of Robert Louis Stevenson’s famous novella about Dr. Jekyll & Mr. Hyde (2002, with text by Jerry Kramsky), which Mattotti transferred to the 1920s, are also in the same dynamic opulent style. Alongside such boldly coloured works, he often produces black-andwhite stories, ranging from the fine ink drawings in “L’homme à la fenêtre” (1992, with text by Lilia Ambrosi) to the very dark expansive images lavishly realised with a wide brush in the album “Hansel & Gretel” (2009, text by Jacob and Wilhelm Grimm). In the 1970s, Mattotti also began a series of very personal, free, fine-lined ink works in small booklets – a series that has continued to this day, and which the artist calls ligne fragile (Ita. linea fragile, Eng. fragile line). This book brings together a small selection of ligne fragile drawings from over 40 years of work. In these little pictures, Lorenzo Mattotti’s graphic developments announce themselves, new ground is broken by new characters and elements of his oeuvre, and attentive readers can detect the origins of his major albums and works.

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After working on his version of Huckleberry Finn (1978, text by Antonio Tettamanti, based on Mark Twain) the young Mattotti suffered from a feeling of having lost his spontaneous and direct way of drawing. During this crisis, Tuscan artist Enzo Borgini advised him to draw in an empty booklet every day, surrendering himself completely to his emotions and to the moment, and focusing entirely on the drawing. Mattotti embraced this ritual and, with his ligne fragile, quickly found an intimate and nonetheless powerful graphic vocabulary, developing a personal style for his world of feelings and ideas. “Ligne fragile quickly became a language, a glimpse of my interior, a parallel world, my world.” Years later, Mattotti wrote: “It is thanks to these booklets that I reconstructed myself and asked myself the essential questions: those about the composition or the


value of each line that I put on paper. It is these booklets that give me the courage to destroy everything, to begin again from zero, to adopt a new approach for each project.” These drawings were made for Mattotti’s eyes only, without any thought of publication. They are personal like diaries, a secret inspiration and, as raw material, a sort of quarry for his other works: “These intimate drawings that I have been realising for almost forty years in countless booklets constitute a laboratory for ideas, which I constantly extract from, for my books, my paintings and my illustrations.” Encouraged by the response to his graphically related and very free black-and-white album “Stigmata” (1998, with text by Claudio Piersanti), he developed a growing desire to now exhibit the entire breadth of his work. Eventually, in the year 1999, he published the first selection of his ligne fragile drawings in the book “Linea Fragile” (with brief text passages by Jerry Kramsky).

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It was an advocate of ligne claire, French artist Jean-Louis Floch, who suggested the term ligne fragile to Mattotti instead of his own neologism lignes desarmées (defenceless lines). He saw Mattotti’s spontaneous, eruptive and expressionist line as a kind of counterpoint to the laboriously sought, technical and often realistic ligne claire of comics artists like Hergé and E. P. Jacobs. This is because, unlike the ligne claire artists, Mattotti does not want to condense and stylise what he sees, but instead to give shape to perceptions, feelings and internal images. He enters into a brutally honest dialogue with himself and pours this into his little diary-like booklets, drawing hundreds of surreal, often grotesque still frames from an internal film, in a direct and unfiltered way. These works are not meant to satisfy any aspirations in terms of form, but to be committed to the authenticity of emotion. “Far from the eyes of the outside world, I can dare to do anything in these drawings, I have no fear of laying down ugly, frightening, intimate things, or of putting an end to harmony, conventionalism and form. Quite the contrary, it is a laboratory for the imagination and for graphic research.” Mattotti casts off his control and, in a way, his skills, his ability to draw accurately. He improvises and seemingly leaves his hand to its own devices. Mattotti is an artist who rarely works in a realistic


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manner, even in his colourful comics and pictures. His strangely distorted people and mythical beings, bringing to mind the tormented individuals in Francis Bacon’s paintings, often appear in exorbitant or composed landscapes and dream-like situations. Nevertheless, the free spontaneous ligne fragile also has a special status in the graphic universe that has sprung from Mattotti’s imagination. It is reminiscent of the fine cautious line in drawings from the late work of Paul Klee, who also liked to direct his eye inwards rather than outwards, so as to draw how things are perceived, not how they are seen. However, while Klee’s drawings border on abstraction and the people he portrays have barely any details, become forms or split into symbolic figures, the people in Mattotti’s early ligne fragile drawings in particular are rather caricatured and grotesquely exaggerated. Not static, like in Klee’s tranquil paintings, but moving, immersed in incomprehensible processes and actions. It is only very rarely that Mattotti’s little pictures exclusively show objects, inanimate nature or architecture. People, human-like entities or mythical creatures, as well as their actions, are usually central. In the early works, they appear deformed, bulky and sometimes naked, with relatively realistic features. Later, the line becomes finer, the drawings grow lighter, airier and more transparent. The depicted people also transform, becoming more abstract. Spidery legs propel voluminous bodies, faces get replaced by forms or exhibit clown-like, sometimes grotesque, monstrous features. The reader thinks they are encountering a host of innocents, fools, show-offs and ruffians, and is reminded of George Grosz and his sharp revealing line. Gradually, beings who have deteriorated into stylised abstracted figures then appear, with amorphous bodies and either bearded or hairy heads devoid of any facial expression, coming across like peaceful gods from an unknown mythology or serene mute inhabitants of an Earth-like planet. Finally, among the more recent drawings, there are once again more elaborately worked-out, more three-dimensional and darker images. Winged or horned hybrids and more tangible faces emerge. The tragicomic, sometimes angry or malicious tone of earlier pictures gives way to a gentle, poetic, partly magical mood. Beauty and tranquillity


find their way into Mattotti’s ligne fragile. The turmoil, fears and demons of the early ligne fragile have not simply disappeared, but the dialogue with them has taken on a different, more serene tinge. Lorenzo Mattotti is a great illustrator and storyteller with a complex branching oeuvre that, despite its diversity, is held together by this artist’s very own unmistakeable visual language. In ligne fragile, his language’s roots are exposed; here, it can be heard in a raw and unrefined state as individual fragmented sounds – not yet a story or song. However, it is a revelation for anyone interested in the power of the drawing as one of the most primordial forms of human expression.

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The Lorenzo Mattotti quotes come from interviews that the author conducted with him and from the following publications: Lorenzo Mattotti, “Dessins & Peintures”, “Livres”, MEL Publisher, 2016.













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