Mission Possible?

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Museum der Kulturen Basel Christoph Merian Verlag

mission Die Sammlung der Basler Mission Spiegel kultureller Begegnungen



MISSION POSSIBLE?



Museum der Kulturen Basel Christoph Merian Verlag

Die Sammlung der Basler Mission Spiegel kultureller Begegnungen


‹200 Jahre unverschämt viel Hoffnung› – die Schenkung der Sammlung  Pfr. Karl F. Appl

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«Mission Possible» dank grosszügiger Unterstützung von vielen Seiten

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Das Projekt Basler Mission

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Das missionarische Selbstverständnis

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Anna Schmid

Anna Schmid

Christian Vandersee

Die Basler Mission (BM): Entstehung und Kontexte Phänomen einer Schwellenzeit

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Die BM und ihr internationales Netzwerk

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Anders als die klassischen Kolonialmächte?

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Legenden und Schweigen

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Die Missionsstation

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Frauenleben in der Mission

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Vorbereitung auf ein nützliches Leben

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Christliche Rhythmen

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Michael Bangert

Matthäus Feigk

Georg Kreis

Paul Jenkins

Dagmar Konrad

Dagmar Konrad

Jennifer Jenkins

Veit Arlt


Missionsfelder: Strategien und Praktiken Knotenpunkt und Experimentierfeld

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Missionar Johannes Zimmermann

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Sklavenhändler an der Goldküste

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Sprache und Währung der Goldgewichte

141

«Hindernisse im Land des Hinduismus»

145

Der Alltag eines Missionars in Indien

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Missionarische Arbeit in China

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Zwischen Kolonialinteressen und Lokalpolitik

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Ein Missionsarzt als Sammler

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Kostbares Blut

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Realitäten in den Missionsfeldern

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Eine ethnografische Missionssammlung

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Die Basler Mission: eine Chronologie  Anke Schürer-Ries, Lucy Hindermann

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Bibliografie Quellenverzeichnis Autorinnen und Autoren

229 236 238

Peter Felber

Veit Arlt

Anke Schürer-Ries

Lucy Hindermann

Anna Schmid

Anna Schmid

Tobias Brandner

Kathrin Fischer

Claudia Hoffmann, Kathrin Fischer

Adrian Linder

Kathrin Fischer

Anna Schmid


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‹200 Jahre unverschämt viel Hoffnung› – die Schenkung der Sammlung «Mission Possible?» – vor einigen Jahren eine Ausstellung unter diesem Titel zu gestal­ ten, hätte – nicht nur am Platz Basel – ziemlich sicher Protest ausgelöst. ‹Mission› war in weiten Teilen der Gesellschaft zu einem Reizwort geworden. Es wurde sogar überlegt, das Wort aus dem Namen der ältesten Schweizer Missionsgesellschaft zu streichen. Nun, so weit ist es nicht gekommen. Dass wir in diesem Jahr als Basler Mission ‹200 Jahre unverschämt viel Hoffnung› feiern, ist Ausdruck einer umfassenderen Betrachtung der Bedeutung von Mission und der Geschichte der Basler Mission (BM). So war den Gründervätern der BM eine Durchsetzung kolonialistischer Interessen fremd. Ihr Beweggrund war, die Ver­kün­di­ gung des Evangeliums und die Ausbreitung einer ‹wohltätigen Zivilisation› voranzu­ treiben, dass Versklavte frei, Hungrige satt und Kranke gesunden würden. Getragen wurde ihre Hoffnung auf Gelingen vom Versprechen Gottes des Lebens in Fülle für Alle. Diese Hoffnung zieht sich durch die Geschichte der BM bis heute. Es ist auch eine Geschichte des gegenseitigen Lernens über sprachliche, kulturelle und auch religiöse Grenzen hinweg. Dieses Lernen hat für die BM immer eine entscheidende Rolle gespielt. Für das Direktorium war es wichtig, dass der Basler Missionar sich ganz auf das Leben der Menschen einlässt, mit denen er lebt – und dass er das Leben dieser Menschen in Afrika und Asien den Menschen in der Heimat näherbringt. Deshalb wurden schon früh den von Basel ausgesandten Männern und Frauen Fotoapparate mitgegeben, um das Leben der Menschen vor Ort festzuhalten. Aber nicht nur Fotos wurden nach Basel geschickt, sondern auch Kult- und Gebrauchsgegenstände als Anschauungsmaterial für die Heimatarbeit der Mission. Diese Gegenstände legten den Grundstein für eine ethnografische Sammlung, die zunächst im Missionshaus in Basel ausgestellt wurde. 1981 wurde die inzwischen umfangreiche Sammlung dem Museum der Kulturen Basel (MKB) als Leihgabe überstellt. Dabei betonte der damalige Prä­si­dent, Daniel von Almen, gegenüber dem MKB, dass die Sammlung weniger einen materi­ ellen als einen «sentimentalen Wert» darstelle. Dem kann ich mich nur an­schliessen: Mit jedem Gegenstand sind Geschichten verbunden, von Menschen, die sie nutzten und von denen, die sie für ‹wert befanden›, nach Basel geschickt zu werden. Auch das eine Wertschätzung gegenüber den Menschen in den Einsatz­gebieten. Weil hier ein Blick auf die Mission mit anderen Augen geschieht, und weil sie in einem anderen Rahmen aufzeigt, was die Gründer der BM 1815 bewegte, freue ich mich ganz besonders auf diese Ausstellung. Sie erlaubt auch einen neuen Blick darauf, was die BM in diesen zwei Jahrhunderten bewirkt hat. Ich danke dem MKB für die Initiative zu dieser Ausstellung, die für mich umso wertvoller ist, weil sie aus­ schliesslich mit Objekten aus der Sammlung der BM arbeitet. Im Wissen um die Professionalität im MKB und in Vorfreude auf weitere Präsenta­ tionen schenkt die BM dem Museum ihre Sammlung, und wir freuen uns einmal mehr zu sehen, was 200 Jahren unverschämt viel Hoffnung auf ein Leben in Fülle für Alle bewirkt hat und hoffentlich noch lange bewirken wird. Pfr. Karl F. Appl Präsident Basler Mission


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«Mission possible» dank grosszügiger Unterstützung von vielen Seiten Wir danken der Basler Mission herzlich für die grosszügige Schenkung dieser wertvollen Sammlung. Zusammengetragen von Missionaren und Personen aus ihrem Um­ feld, zeugt sie von Anstrengungen und Aktivitäten einer herausragenden Basler Institu­ tion und von vielfältigen Begegnungen mit dem Anderen. Namentlich möchte ich dem Präsidenten der Basler Mission, Herrn Pfarrer Appl für die vertrauensvolle Zusammen­ arbeit danken. Erst sein Engagement ermöglichte die Schenkung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mission 21 scheuten keine Mühen, kurzfristig Archivmaterial be­ reit zu stellen, uns bei der nicht immer einfachen Lektüre zu unterstützen und die his­to­ rischen Fotografien zur Verfügung zu stellen. Besonderer Dank gilt Peter Felber, Anke Schürer-Ries und Claudia Wirthlin für die fruchtbare Zusammenarbeit bei Aus­stellung und Publikation. Danken möchte ich auch für die grosszügige finanzielle Unter­stützung der Ausstellung durch die Mission 21. Die Publikation wäre nicht möglich gewesen ohne den finanziellen Beitrag der Christoph Merian Stiftung; für ihren namhaften Beitrag bedanke ich mich herzlich. Der Dank geht auch an alle Autorinnen und Autoren, die mit ihren Sachkenntnissen und Er­fahrungen zur Reichhaltigkeit des Buches beigetragen haben. Und schliesslich danke ich dem Team des MKB für den unermüdlichen Einsatz bei der Realisierung der Aus­stellung. Mission und Ethnologie sind zwei Arbeitsgebiete, deren Beziehung bis heute von Vor­ urteilen und Misstrauen geprägt ist. Einerseits hat die Ethnologie – besonders als das Fach noch Lehnstuhlwissenschaft war – von Arbeiten der Missionare und die Mission von denen der Ethnologie profitiert; andererseits entwickelte die Ethnologie mit der teilnehmenden Beobachtung eine Methode, die den Zielen einer Missionsgesellschaft entgegen stand: Die Ethnologie wollte verstehen, die Mission verändern. Es gab aber auch Personen, die sowohl missionarisch als auch ethnologisch tätig waren: etwa Pater Wilhelm Schmidt, Begründer der Kulturkreislehre; der französische Ozeanist Maurice Leenhardt; oder die britischen Afrikanisten Edwin W. Smith und Thomas C. Young. Heute sind das Verhältnis zwischen Ethnologie und Mission, missionarische Aktivitäten sowie Umgang der lokalen Bevölkerung mit Mission Untersuchungsgegenstand der Ethnologie. Beispiele auf diesem Feld sind John und Jean Comaroff oder James Clifford. ‹Mission Possible?› will diese Reihe fortsetzen. Wir fragen danach, ob es möglich ist, dass sich Individuen von ihrem sozialen und ökonomischen Umfeld so isolieren, dass daraus neue Gemeinschaften mit anderen Formen der Alltagsbewältigung, der Kultur und Religion entstehen – ein abrupter Bruch, den die Konvertiten selbst herbeiführen. Die Gleichung ‹Mission = Zwangsbekehrung› lässt sich nicht aufrecht halten. Mission zeichnet sich durch Begegnungen, Diskussionen und Aushandlungsprozesse aus. In Ausstellung und Publikation gehen wir diesem facettenreichen Phänomen anhand der Sammlung der Basler Mission nach, die dem Museum nunmehr als Ge­ schenk überreicht wird. Dr. Anna Schmid Direktorin Museum der Kulturen Basel


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Das Projekt Basler Mission Anna Schmid

Die Entwicklungen und Veränderungen der Basler Mission während ihrer 200-jährigen Geschichte sind beeindruckend. Sie entfaltete sich von einer Institution, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auszog, die Welt nach ihren Vorstellungen zu verändern und die Menschheit zu ihrer Richtung des christlichen Glaubens zu bekehren, zu einer Part­ nerinstitution des 21. Jahrhunderts, die nicht mehr die Predigt, sondern den Dialog ins Zentrum stellt. Der Weg der Basler Mission war mitunter steinig und mühsam. Die Beiträge dieser Publikation zeichnen diesen Weg und entscheidende Wegmarken nach. Dabei stehen drei Bereiche im Vordergrund: erstens die Umstände und historischen Gegebenheiten, die bei der Gründung der Missionsgesellschaft eine Rolle spielten; zweitens Begegnungen, also das Verhältnis zwischen der Missionsgesellschaft und ihrem ‹Personal› einerseits und den Menschen und Kräften auf den Missionsfeldern andererseits; drittens die Ergebnisse der Anstrengungen – Scheitern und Erfolge.

Gründung und Anliegen Die Gründung der Basler Mission ist Christian Friedrich Spittler und Nikolaus von Brunn zu verdanken, die im Pietismus (Erweckungsbewegung) eine authentische Form der Frömmigkeit gefunden hatten – und dies nicht nur für sich selbst; die ganze Menschheit sollte daran Anteil haben. Dazu mussten in Basel allerdings viele Wider­ stände ausgeräumt werden: Solle tatsächlich von der Schweiz eine protestantische Mission ausgehen, wo sie doch für die Schweiz ebenso notwendig wäre? Wäre Basel dafür der richtige Ort? Müsse es nicht eher eine Stadt in Holland, Dänemark oder England sein, «wo die Bekanntschaft mit den Ländern, wohin die Missionare gehen, und mit den Geschäften in denselben nicht aus Büchern, sondern von solchen Män­ nern könnte verlangt werden, die eigene Erfahrungen gemacht haben?» (Schlatter I, 1916: 13f.). Die Bedenken konnten ausgeräumt, die Missionsanstalt 1815 gegründet und schliesslich vom Staatsrat Peter Ochs genehmigt werden, nachdem ihm versichert wurde, dass der einzige Zweck «die Verbreitung der evangelischen Religionserkennt­nis und ächt menschlicher Civilisation und Sittenveredlung» (Hauzenberger 1996: 142) sei. Der Weg von pietistischen und Erweckungsbewegungen zum Missionsauftrag führte über Modernisierungsprozesse und über die Romantisierung der Mission, wie Bangert darlegt. Er skizziert die Entstehung der Basler Missionsgesellschaft als Kon­se­quenz der Aufklärung und der Französischen Revolution, die beide neue Vorstellungen hinsichtlich Weltauffassung und Menschenbild mit sich brachten. Ebenso gewichtig waren allerdings Verbindungen zu gleichgesinnten Gruppierungen – vor allem im deutschsprachigen Raum und in Grossbritannien. Feigk zeigt in seinem Beitrag, wie sich daraus ein weit­ verzweigtes und tragfähiges Netzwerk entwickelte, das bei Bedarf aktiviert werden

Modell des Missionshauses Das Missionshaus an der Missionsstrasse, finanziert von Christoph Merian, wurde am 4. Juli 1860 eröffnet. In der Eröffnungsrede nannte Inspektor Joseph Josenhans materielle und immaterielle Werte, mit denen das neue Haus gefüllt werden solle: neben Missionsgeist, einer Kan­zel und Mobiliar sollten es auch ethnografische Gegen­­stände, «Götzenbilder» und «vergoldete Herren», sein. Schweiz, Basel; Papier, Karton, Textil, Kunststoff; H 13,7 cm, L 35,9 cm, B 12,7 cm; private Leihgabe

Abb. S. 9



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konnte. Bevor das Basler Missionshaus in den 1820er Jahren selbst Missionare entsandte, fungierte es zunächst als Ausbildungsstätte für Missionare anderer Gesellschaften. Die Gründung der Basler Mission war also Teil einer breit gefächerten Strömung, in der das Bekenntnis zur ‹Heidenmission› und zu einem Sen­dungsbewusstsein gemeinsamer Nenner war. Osterhammel (2013: 1263) bezeichnet die gesamte Palette der protes­tan­ tischen Mission als «eine enorme Leistung einer ganz besonderen Art von ‹zivilgesell­schaftlicher› Organisation und voluntaristischer Initiative.»

Begegnungen: Kolonialmächte, Konfrontationen und Konversionen Diese enormen Leistungen sind einerseits in der privaten Finanzierung des Unter­ nehmens ‹Basler Mission› und andererseits in den Begegnungen angesiedelt, denen die Missionare in ihrem Feld ausgesetzt waren. Bereits bei der Gründung wurde verbindlich festgelegt, dass die Basler Mission keine öffentlichen Gelder erhalten würde. Damit war die finanzielle Grundlage des Hauses ausschliesslich von privaten Zuwendungen abhängig. Um diese zu erhalten, wurde die Halbbatzenkollekte ins Leben gerufen, es wurden Missionsfeste abgehalten, Publika­ tionen mit Beschreibungen der mühsamen Arbeit aufgelegt, Missionsindustrien in den Missionsgebieten und eine missionseigene Handlungsgesellschaft gegründet. Ausser­ dem kann die Basler Mission als Pionier in Sachen Marketing gelten. Alles aus den Missionsgebieten Berichtete und Gesandte wurde für die Sache eingesetzt: Handarbei­ ten aus den verschiedenen Institutionen aus Ghana oder Indien (J. Jenkins) genauso wie Fotografien; Erfahrungsberichte, Gedenkblätter und Postkarten ebenso wie im Feld gesammelte Artefakte für das Missionsmuseum (Schmid, Missionssammlung). Handelte es sich nicht direkt um Verkaufsaktionen, wurde damit die Auf­merk­samkeit auf das Tun der Mission gelenkt und gestärkt.

Kolonialmacht und Mission Die Basler Missionare waren angehalten, sich gegenüber Vertretern der Kolonialmächte zurückhaltend und respektvoll zu verhalten. Einmischung in ‹koloniale Angelegen­ heiten› war nicht vorgesehen. Einerseits waren Mission und Missionare auf das Wohl­ wollen der Kolonialvertreter und gegebenenfalls auch auf ihre Unterstützung – zum Beispiel in rechtlichen Dingen – angewiesen, andererseits hielten sie Distanz zu Reprä­ sentanten der Kolonialmächte, nicht zuletzt wegen unrechtmässiger oder brutaler Vorgehensweisen. Das Verhältnis zwischen Mission und Kolonialmacht variierte je nach Situation, Zielen und involvierten Persönlichkeiten: So war die britische Kolo­nial­ verwaltung bei der Vermittlung des Hauses für die erste Missionsstation in Indien behilflich; der Missionar Ferdinand Kittel wurde wegen «abstossender Eindrücke auf Engländer» in Indien von Inspektor Josenhans angewiesen, sich den «gehörigen Takt» (Schmid, Hindernisse) im Umgang mit der Kolonialverwaltung anzueignen. In Kamerun sprach sich die Basler Mission explizit gegen eine Zusammenarbeit mit Vertretern der


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Kolonialmächte aus. Dann wieder setzten die Missionare mit Hilfe der Kolonialregie­ rung ein Verbot der indigenen Christenmissionierung durch (Fischer, Kamerun). Zu einem späteren Zeitpunkt reagierten Missionare auf die ungeheuerliche Land­ politik der deutschen Kolonialmacht in Kamerun, um afrikanische Familien vor dem Ver­­lust ihres Landes zu schützen (P. Jenkins). Arlt stellt einen Missionar vor, der sogar zwischen lokalem Herrscher und Kolonialregierung vermittelte. Auch Kolonialmächte hatten ein zwiespältiges Verhältnis zu Missionen. Solange diese ‹in Schach gehalten› werden konnten, waren Missionen für ihre Bildungs- und Ent­wick­lungsarbeit hoch geschätzt. Die Einrichtung von Schulen bei jeder Missionsstation war Programm; neben Lesen, Schreiben und Rechnen gehörte auch die Ausbildung praktischer Fähigkeiten dazu (Konrad, Frauenleben; J. Jenkins; Arlt; Fischer, Kamerun). Die Kolonialmächte kontrollierten jedoch den Zugang von Missionsgesellschaften zu ihren Kolonien lange erfolgreich (Schmid, Hindernisse). Erst als diese Praxis unhaltbar wurde, musste die koloniale Religionspolitik angepasst werden. Kreis spricht dann auch von den Aktivitäten der Basler Mission als einer «selbstverständlichen Variante der europäischen Präsenz im Kolonialgebiet». Es ist allerdings definitiv zu kurz ge­ griffen, Mission mit Kolonialismus gleichzusetzen, zumal das Anliegen der Missionen unberechenbare Konsequenzen für Regierungen haben konnte. Osterhammel (2013: 1266) führt dies darauf zurück, dass Mission einem «Programm zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse» gleichkam. Missionare stellten «bestehende soziale Hierar­ chien in Frage. Sie befreiten Sklaven, scharten marginale Elemente der einheimischen Bevölkerung um sich, werteten die Position von Frauen auf und untergruben […] das Prestige von Priestern, Medizinmännern oder Schamanen.»

Konversion und Verstehen Ähnlich zwiespältig gestalteten sich die Begegnungen mit den zu bekehrenden Men­ schen. Konrad legt dar, dass schon die Platzierung und Architektur der Institution Missionsstation, in dem das Missionspaar mit seinen Kindern lebte, «steingewordenes Symbol der ‹einzig wahren› Religion» war. Während das Personal des Missionspaares und Katecheten privilegierten Zugang genossen, mussten andere ihre Anliegen auf dem Zwischenraum der Veranda vorbringen. Für Konvertiten sollte die Missionsstation ‹geistige und reale neue Heimat› werden (Konrad, Missionsstation). Bevor sie aber bekehren konnten, standen den Missionaren intensive Sprachstudien, lange Pre­digt­ reisen, Bibelunterricht und Hausbesuche bevor. Dabei mussten sie sich beständig aussetzen – sie führten schwierige Gespräche, mussten oft einsehen, dass ihre Arbeit nicht fruchtete; oder sie wurden mit heftigen Diskussionen zu Religion im Allge­ meinen konfrontiert. Wichtig ist dabei, dass die protestantische Mission auf die Be­keh­ rung des Individuums abzielte, also den Einzelnen zu überzeugen hatte. Massen­ konversionen wurden strikt abgelehnt. Darüber hinaus waren Motivationen für Konversionen keinesfalls nur religiös begründet, oft spielten wirtschaftliche Über­


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legungen eine wichtige, wenn nicht gar die ausschlaggebende Rolle. Damit blieb auch die Rückkehr zur alten Religion eine Option, sollten sich die erhofften ökonomischen Verbesserungen nicht einstellen. Der Anspruch der Mission, neue christliche Lebens­ gemeinschaften aufzubauen, führte unausweichlich zur Verpflichtung, neue Einkom­ mens­quellen für die Konvertiten zu erschliessen – in Ghana beispielsweise geschah dies in Verbindung mit dem Kakaoanbau und -handel, in Indien und China mit dem Aufbau von Manufakturen; in allen Missionsgebieten wurden Einkommensmöglich­ keiten für Frauen durch Handarbeitserzeugnisse geschaffen (J. Jenkins). In den Beiträgen zu den Wirkungsregionen der Basler Mission – in chronologischer Rei­ hen­folge Ghana, Indien, China, Kamerun und Indonesien – werden sowohl allgemeine als auch regionalspezifische Probleme thematisiert. Dabei kann es sich um unterschied­ liche Auffassungen zwischen dem Missionshaus in Basel und den Mis­si­onaren im Feld zu Sklaverei handeln (P. Jenkins, Schürer-Ries); oder um Meinungs­ver­schiedenheiten zwi­schen diesen beiden Instanzen in Bezug auf die Ausübung der Mis­si­onarstätigkeit wie bei Johannes Zimmermann. Nicht nur hatte Zimmermann Regeln der Mission gebrochen, indem er ohne vorherige Erlaubnis heiratete; er unter­hielt auch kein «segregiertes Chris­ ten­dorf, in dem sich die Regeln eines christlichen Zusam­menlebens leichter vollziehen und kontrollieren liessen» (Arlt). Zimmermann gehörte wie sein Kollege Ferdinand Kittel zu einer Gruppe von Missionaren, die sich dem Diktum des Basler Hauses nicht um­ standslos fügten. Zimmermann war dennoch erfolgreich; dagegen musste sich Kittel von missionarischen Tätigkeiten fernhalten, stattdessen konzentrierte er sich auf seine Sprach­forschungen zum südindischen Kannada. In Briefen aus Basel werden Missionare immer wieder nach Fortschritten in ihrer Sprachkompetenz befragt. Auf diesem Gebiet haben einige Missionare herausragende Leistungen erbracht, indem sie nicht nur die Sprache hervorragend beherrschten, sondern diese zuweilen erstmals verschriftlichten und damit auch standardisierten, Grammatiken und Wörterbücher verfassten sowie Übersetzungen – keineswegs nur von christlicher Literatur – anfertigten und publizierten. In diese Reihe gehört auch Johann Gottlieb Christaller, der zudem eine Publikation zu Twi-Sprichwörtern vorlegte (Hindermann). Ganz allgemein ist mit Spracherwerb immer ein bestimmtes Mass an kultureller Kompetenz verbunden; diese wiederum war unabdingbar, um potenzielle Konvertiten bei ihrem Religions- und Weltverständnis abzuholen (Fischer, Realitäten). Gleichzeitig waren die Missionare beim Erwerb dieser Kompetenz auf lokale Sprach­ lehrer angewiesen und ihnen mitunter auch ausgeliefert. Vielleicht speist sich daraus das ständige Misstrauen gegenüber den Katecheten, mit denen sie zusammen reisten und predigten. Das Eintauchen in die jeweilige Kultur geschah mal offener, wie es bei den ersten nach China entsandten Missionaren scheint, die «ganz in die fremde Welt eintauchen und zu Chinesen werden sollten – in sprachlichem Ausdruck, in Klei­dung und auch in Essgepflogenheiten» (Brandner). Mal scheint es ein langsamer, fast un­merk­licher Prozess gewesen zu sein wie etwa bei Gustav Peter in Indien.


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Der Erste Weltkrieg stürzte die Basler Mission in eine ernsthafte Krise. Ihre Mis­ sionsgebiete waren davon ebenso betroffen wie die europäischen Nationen. Missionare und ihre Familien «wurden entweder inhaftiert oder gezwungen, die Missionsfelder in den britischen Kolonien und den von der Entente eroberten Gebieten Afrikas zu verlassen. Somit verblieben nur noch in China Basler Missionare. Erst ab Mitte der 1920er Jahre konnte die Tätigkeit in den früheren Arbeitsgebieten langsam, aber in deutlich geringerem Umfang wieder aufgenommen werden» (Feigk). In der Zwischen­ zeit wurde ein weiteres Missionsfeld erschlossen. 1920 nahm Basel seine Missions­ tätigkeit auf Borneo, Indonesien auf und führt sie bis heute fort (Hoffmann, Fischer). Daran zeigt sich zwar, dass sich sowohl das Missionsverständnis als auch die Tole­ranz gegenüber synkretistischen Religionsformen über ein Jahrhundert verändert haben. Allerdings macht der Beitrag von Linder deutlich, dass eine ernsthafte Part­ nerschaft erst noch zu erarbeiten ist.

Resultate Lange herrschte in Bezug auf die Mission das Bild vor, dass die Anderen von den Missionaren ‹überrumpelt› wurden. Diese Sicht vernachlässigt, dass protestantische Mission auf Begegnung und Veränderung des Lebens ausgerichtet war. Zwar gab es für Konvertiten Anreize wie Anstellungen und Verdienstmöglichkeiten aufgrund von Bildung, die von der Mission zur Verfügung gestellt wurde. Aber eine auf das Indi­ viduum zielende Bekehrung erfordert eine individuelle Entscheidung, die nicht von der Mission aufgezwungen ist. Aus den Beiträgen dieser Publikation wird deutlich, dass die protestantische Mission es mit Menschen und Gruppen zu tun hatte, die über einen eigenen Willen und Handlungsmöglichkeiten verfügten. Die Basler Mission nahm für sich in Anspruch, Konversionen nach Qualität zu messen. Allerdings zeigen Berichte, dass der Faktor Quantität nicht völlig nebensächlich war. Felber zeichnet die Prozesse nach, wie sich die Mission mit ihren unerschrockenen Missionaren «als Katalysatoren und engagierten Akteuren» in komplexen Lernpro­ zessen entwickelte und dadurch zu einem Pionier der Modernisierung wurde. Eine strikt hierarchisch aufgebaute Institution versuchte von Basel aus, die Geschicke ihrer Mitarbeiter in China, Indien, Ghana, Kamerun und Indonesien zu lenken. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Die Institution Basler Mission und ihre Tätigkeiten stehen für eine Form der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen. Die Ethnologie mit ihren Methoden und ihrem spezifischen Modus der Datengenerierung steht dagegen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch mit dem Fremden in der eigenen Gesellschaft. Die Missionssammlung und ihr Einsatz für die Zwecke der Mission (Schmid, Missionssammlung) legen beredtes Zeugnis für die erste Form ab. Ausstellung und Publikation erheben den Anspruch, diese Form vor dem Hintergrund ethnologischer Erkenntnisse kritisch zu reflektieren.


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Das missionarische Selbstverständnis Christian Vandersee

Als sich vor etwa 200 Jahren die ersten Missionare der Basler Missionsgesellschaft auf den Weg in ihre Entsendungsgebiete machten, hatten sie zwar jede Menge Unge­­ wiss­heiten im Gepäck: Wie sind die Verhältnisse? Welche Kräfte wirken für und gegen uns? Wie werden wir empfangen? Welchen Gefahren muss ich mich stellen? Aber das Selbst­verständnis ihrer Aufgabe stand ausser Frage, wie die vorliegenden Beiträge zeigen.

200-jähriger Kontrast Missionare wurden entsandt (und verstanden sich) als ‹Reich-Gottes-Arbeiter›, die an der Wiederkehr Christi mitwirken konnten, waren durchdrungen vom Evangelium als absolute und einzige Heilsbotschaft und sahen aus einer durchweg eurozentrischen Perspektive in der Bekehrung der ‹Heiden› – im Einklang mit ihrer Entsendungs­orga­ nisation – einen ganzheitlichen Vorgang der Seelenrettung der ‹Fremdvölker›, Erzie­ hung zum rechten Glauben und zum besten Gemeinschaftssystem sowie Ver­mittlung zahlreicher praktischer Kompetenzen für das tägliche Leben (J. Jenkins). An der Recht­ mässigkeit ihres Vorhabens oder ihres ehrgeizigen Anspruchs bestand in der Anfangs­ zeit weder im Basler Entscheidungskomitee noch bei den Missionaren ein Zweifel. Gegenüber den etablierten Kirchen aber, aus deren Gemeinden sich die Missionare ebenso rekrutierten wie die Komiteemitglieder, entwickelte sich eine skeptische Dis­ tanz, die andauern sollte. Schaut man sich heute Definitionen und Selbstzeugnisse von Mission allein im Schweizer Kontext an, trifft man auf ein vielfältigeres, um nicht zu sagen viel stärker desorientiertes Bild: Mission sei Zeugnis von Christus, Zeigen dessen, was man liebt, Solidarität mit den Armen, Anteilnahme, Austausch und gemeinsames Lernen, Ein­ treten für Pluralität und Religionsfreiheit, Leben in Fülle, Kampf und Wider­stand, Heilung und Suche nach Ganzheit. Eine solche Gegenüberstellung ist zwar selektiv und plakativ, wirft aber ein Licht auf den eklatanten Unterschied des Selbstverständ­ nisses kirchlicher und gesellschaftlicher Identität zwischen damals und heute.

Kultureller Kontext Nach der Französischen Revolution, eingebettet in eine gesamteuropäische Auf­bruchs­ bewegung zwischen rationalistischem Denken der Aufklärung und der schwär­ me­ rischen Weltöffnung pietistischer Erweckungspredigt, war eine bibeltreue Missions­­­ bewegung kraftvoll und überzeugend (Bangert). Und sie war dies in einem gros­sen Zusammenhang kulturellen Ausdrucks und wirtschaftlichen Handelns: In der Lite­ra­


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tur bildeten die Werke des Sturm und Drang diese Stimmung ebenso ab wie die Frühund Hochromantik in der Musik. Die Vernetzung der von der Missionsgesel­lschaft gegründeten Basler Handelsgesellschaft schaffte später sogar die Strukturen für das evangelische Sendungsbewusstsein. Die heutigen Voraussetzungen einer Veräusserung christlicher Überzeugung sind ungleich schwieriger: Wirtschafts- und Staatenbünde sind eher veränderungs­resis­tente Apparate denn wegbereitende Hoffnungsträger, das europäische Erbe einer men­schen­ verachtenden Kolonialgeschichte in Ländern des Südens schliesst auch einen Teil der Missionsaktivitäten ein; der Begriff ‹Mission› ist in Verruf geraten und gilt weithin als unzeitgemäss. Literatur, Kunst und Musik helfen auch nicht aus dem Dilemma, es gibt keine mehrheitsfähige, geschweige denn eine enthusiastische Weg­weisung. Warum auch? Das vergangene Jahrhundert hat zwar eine Fülle philo­so­phischer und moralischer Reflexionen hervorgebracht, die aber keine der krie­ ge­ rischen, wirtschaftlichen oder migrationsbedingten Katastrophen verhindern oder ihnen einen Sinn geben konnten.

‹Entwicklung› – von Bekehrung zum Austausch Eine Anpassung der missionstheologischen Terminologie und damit auch der in­ haltlichen Ausrichtung des Missionsauftrags erfolgte Mitte des 20. Jahrhunderts. War schon in den Anfangsinitiativen der Missionsgesellschaft die Ermächtigung der bereisten Kulturen zu selbständiger Predigt, Lehre, Handwerks- und Landwirt­schafts­­arbeit angelegt (Fischer, Kamerun; Brandner), so hielt nach dem Zweiten Welt­ krieg der Begriff ‹Entwicklungspolitik› Einzug in den missionarischen Kontext. Der Ter­minus entstammt dem offiziellen Jargon der Aussenministerien westlicher Indus­ trieländer. Im Zuge des offensichtlichen Handlungsbedarfs nach den verheerenden Kriegsjahren wurden zahlreiche Hilfswerke gegründet, die ihren zunächst inner­ europäischen Fokus bald auf die Südländer ausdehnten. Spätestens nach den Unab­ hängigkeits­erklärungen vieler ehemaliger Kolonialstaaten in den 1960er Jahren kon­ zentrierten sich die Hilfswerke auf Gebiete, die bis dahin angestammte Missions­regionen waren. Teilweise von der Politik mitgetragen, entstanden grossformatige ­ Projekte der ‹Entwick­lungshilfe›: vom Bau einer Brunnenanlage über Lehrerausbildung, Handwerkskurse und Krankenversorgung bis zu Demokratisierungspro­ gram­ men und Frauenförderung. Missionsorganisationen, zunehmend in Konkurrenz­druck zu den Hilfswerken, eigneten sich das Vokabular dieser Werte, die für sie keines­wegs neu waren, an, legitimierten sie vortrefflich durch die jüdisch-christlichen Grundwerte und reihten die humanitären Tätigkeiten in die Kernaufgaben neben Bibelunterweisung, Predigt und Schulbildung ein. Unter Mission wurde bald der gesamte Katalog verstanden – nur der ursprüngliche Aspekt der Bekehrung zum Christentum fehlte: Er war nicht mehr vertretbar und hinterliess zunächst eine Lücke. Die Sinnkrise einer Missionsorganisation ohne ihre ursprüngliche Kernaufgabe war unausweichlich.


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Erst als seit den 1990er Jahren auch die ‹Entwicklungshilfe› als selbstherrlicher An­satz gebrandmarkt wurde und im gesellschaftspolitischen Diskurs dem Konstrukt der ‹Entwicklungszusammenarbeit› weichen musste, erhielt auch die verschwundene Be­ kehrung ein würdiges Substitut: Mission sollte neu als Austausch und gegensei­tiger Lernprozess verstanden werden, aus Bekehrung wurde folgerichtig das Eintreten für Glaubenspluralität und Religionsfreiheit. Die Basler Institution, mittlerweile um­be­ nannt in Mission 21, bezeichnet sich nun als ‹Lerngemeinschaft›.

Kirchen und Mission in der Selbstfindung Die Kirchen, die protestantischen sowie die ökumenisch verbundenen (hauptsächlich evangelischen) Denominationen, reagieren inzwischen ebenfalls auf die Krise: Der Mitte des 20. Jahrhunderts gegründete Weltkirchenrat in Genf (Ökumenischer Rat der Kirchen) publiziert regelmässige ökumenische Missionserklärungen. Die jüngste, 2013 bei der Vollversammlung auf Kreta eingebracht, setzt Akzente verstärkt auf soli­­darische Gerechtigkeit, multireligiöse Toleranz und interkulturelle beziehungs­ weise -religiöse Verständigung. Proaktive Bekehrung kommt nicht mehr vor; die eigene Über­zeugung entfaltet sich aber umso mehr im steten, ganzheitlichen und lebendigen ‹Zeugnis› von Christus. Die Dachorganisation der protestantischen Kirchen der Schweiz (der Schweizer Evan­ gelische Kirchenbund SEK), die traditionell die Beschäftigung mit Mission eher ihren kantonalen Mitgliedskirchen überlassen hat, bearbeitet nunmehr ein anderes, jedoch in der Sache sehr verwandtes Projekt: Das 500-jährige Reformationsjubiläum gibt Anlass zu Selbstreflexion und Standortbestimmung. Auch wenn es hier eine andere Geschichte aufzuarbeiten gilt, und obwohl die Mission in Ländern des Südens lange kein reformatorisches Thema war, finden sich Kirchen und Missionen beim Stichwort Zeugnis an der gleichen Stelle wieder: Zeugnis wovon, an wen, und wozu sind zwar scheinbar lapidare Fragen; gleichwohl spiegeln sie die Identitätskrise der Kirchen und des säkularisierten Glaubens ebenso wider wie die Grundsatzfrage, was den Sinn einer missionarischen Entsendung aus christlichem Beweggrund ausmacht. Dieser Band zu Aspekten der Missionsgeschichte erscheint in einer Zeit, in der eine grundlegende christliche Selbstbestimmung ansteht. Aus welchem Selbstverständnis heute Kirche gelebt, oder in den Partnerländern und mit ihnen ‹missioniert› wird, ist keineswegs klar.


Die Basler Mission (BM): Entstehung und Kontexte



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Phänomen einer Schwellenzeit Michael Bangert

Mit dem Begriff ‹Schwellenzeit› hat der Germanist John Fetzer (2000) die je drei bis vier Jahrzehnte vor und nach 1800 charakterisiert. Diese Formulierung Fetzers beschreibt die Epoche, in der sich die Gründung der ‹Basler Missionsgesellschaft› ereignete. In dieser geschichtlichen Phase kam es zu einer teils abrupten, teils schleichenden Um­ wälzung Europas und damit der westlich-abendländischen Kultur. Es wurden histo­ rische Grenzen überschritten, und neue Paradigmen prägten von nun an eine nahezu vollständig veränderte Welt. Diese Veränderung geschah nicht linear. Sie erfolgte in einem komplexen Prozess der gegenseitigen Beeinflussung aller beteiligten Faktoren wie Menschenbild, Staatsverständnis, Gesellschaftsaufbau, Denksysteme, Weltauf­fas­ sung etc. Der tiefgreifende Wandel hatte eine weitgehende Neudefinition der Staaten und Gesellschaften zur Folge. De facto waren alle Lebensbereiche davon betroffen. Der Mentalitätswechsel zeigte sich exemplarisch in Frankreich, wo der Bruch mit dem monarchischen Staatssystem gerade deshalb massive Verwerfungen hinterliess, weil sich die Monarchie unter Louis XIV. zu einer singulären Totalität ausgewachsen hatte. Das autonome, allgewaltige Königtum, in dem es zu einer seinshaften Identität von Herrscher und beherrschtem Staat gekommen war (‹L’état, c’est moi!›), endete nicht nur metaphorisch mit der Enthauptung Louis XVI. am 21. Januar 1793 auf dem Scha­ fott. Die alte Lebensordnung war zerbrochen. So mannigfaltig die Gründe für diese radikale Verwerfung waren, so einheitlich war die prinzipielle Veränderung aller Lebensvollzüge und Weltauffassungen. In diesem Beitrag sollen diese Entwicklungslinien sowie einige kausale Motive und Ideen, die zu dem Schwellenphänomen ‹Basler Missionsgesellschaft› geführt haben, in bündiger Form skizziert werden.

Die Umwälzungen infolge der Französischen Revolution1 Die historischen Verwerfungen der Revolution in Frankreich, die sich in Phasen unter­ schied­licher Intensität von 1789 bis ca. 1799 erstreckte, betrafen die Schweiz besonders, da die Eidgenossenschaft im Mai 1777 ein Sold- und Militärbündnis mit Frankreich ab­geschlossen hatte. Obwohl das Verhältnis offiziell keine Abhängigkeit der Schweiz von Frankreich beinhaltete, war der finanzielle und politische Einfluss Frankreichs auf die Schweizer Politik im 18. Jahrhundert derart dominant, dass die Eidgenossenschaft als «französischer Klientelstaat» bezeichnet wurde (Oechsli 1903: 84f.). Innerhalb der komplexen Entwicklungen und Prozesse der Schwellenzeit kann die Französische Revolution als eine Art kumulatives Gründungsereignis der Moderne verstanden werden.2 Vor allem das neue, dominierende Menschenbild, das von allge­ meinen, unveräusserlichen Rechten aller ausgeht, forderte die christlichen Deno­mi­


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nationen heraus. Der Blick weitete sich zudem in Richtung auf Völker ausserhalb des europäischen Kulturraums, für die ebenfalls die Menschenrechte gelten sollten. Der sich verändernde anthropologische Hintergrund brachte die bisherigen Formen der Feudalgesellschaft an ihr Ende. Die Veränderungen der revolutionären Freiheit zeigten bald Wirkungen in Basel und der gesamten Eidgenossenschaft. Nicht zuletzt die Untertanengebiete – wie das kolo­ nial beherrschte Veltlin – suchten die politischen Veränderungen für eine neue Form staat­licher Integrität zu nutzen. Die Ereignisse im Nachbarland fanden in der Eid­­ge­nossenschaft ein breites Echo. Am 17. Januar 1798 wurde in Liestal ein Freiheits­baum errichtet, um den Forderungen der Französischen Revolution auch im Kanton Basel Nachdruck zu verleihen. Die Ereignisse gewannen eine so gewaltige Eigendyna­ mik, dass sich die politische Ordnung auflöste und die alte Eidgenossenschaft bis zum März 1798 flächendeckend zusammenbrach. Die staatstheoretischen Überlegungen des Basler Oberstzunftmeisters Peter Ochs (1752 –1821) dienten als Grundlage für eine streng zentralistisch ausgerichtete Verfassung, die die Basis für die kurzlebige ‹Helve­ tische Republik› wurde. Die heftigen, bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwi­ schen aristokratisch-föderalen und revolutionär-unitarischen Kräften führten rasch zum Niedergang der Einheitsrepublik und ab 1803 zur Rückkehr zu einem Staatenbund der Kantone mit einer permanenten, zentralen Bundesbehörde. Der Zweite Koalitions­ krieg zwischen Österreich, Russland und Grossbritannien auf der einen, sowie Frank­ reich auf der anderen Seite, verwüstete weite Teile der Schweiz. Die Verpflichtung, grosse Militärkontingente für den Allianzpartner zu stellen, beförderte die Verelendung ganzer Regionen. Nach der Niederlage Napoleons und den Verhandlungen des Wiener Kongresses schlossen nunmehr 22 souveräne Kantone im Jahr 1815 einen Bundesver­ trag, der in mancher Hinsicht die alte Ordnung wiederherstellte, doch zugleich wesentliche Forderungen der Revolution berücksichtigte. Mit der Rückkehr zu einer zwar restaurativen, aber sicheren Staatsordnung war die Basis für Handel, Wirtschaft und weltweite Unternehmungen – wie der Ausbildung und Entsendung von Missio­ naren nach Übersee – gegeben. Eine weitere, spezielle Ausprägung der schweizerischen Grundmentalität während dieser Schwellenzeit hielt im Hintergrund das Entsenden von Missionaren in andere Länder widerspruchsfrei. Der bis weit ins 19. Jahrhundert praktizierte ‹Sold­dienst› von Schweizer Männern bei ausländischen Mächten beförderte eine gewisse Normalität des ‹Kämpfens in der Fremde›. Noch 1815 verpflichtete sich die Mehrheit der Kantone, dem Königreich der Niederlande 10 000 Soldaten zu stellen. Die Vorstellung vom ‹miles christianus› (‹christlicher Streiter›) entsprach der aposto­ lischen Vorgabe des Epheser-Briefes (Eph 6,10 - 20), für die Verbreitung des Evange­ liums Jesu Christi einzutreten und zu kämpfen. In Bezug auf die histo­rische Praxis des ‹Solddienstes› war der Einsatz in der Mission ohne Weiteres an­schlussfähig. Die Ent­ sendung von Missionaren als ‹Kämpfer für das Evangelium› in andere Welt­regionen war in diesem Kontext schlüssig und die ent­sprechende Argu­men­tation konsistent.


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Neue Kommunikationsfelder: Die Gesellschaften Bildung und Freundschaft: Die säkular-aufgeklärten Gesellschaften Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstanden an vielen Orten in Mitteleuropa neue Formen der sozialen Begegnung.3 Zünfte, militärische Bruderschaften und geistliche Kooperationen verloren an Bedeutung. Es bildeten sich sogenannte ‹Gesellschaften› mit unterschiedlichen Intentionen und Inhalten, die die Freundschaft in einer neuen Qualität als den wesentlichen Grund des sozialen Zusammenhalts pflegten. Die freie Wahl des Freundes ersetzte in ideeller Weise die Verbindungen, die sich aufgrund einer Berufszugehörigkeit, des Bürgerrechts oder der familiären Abstammung ergaben. So traten an die Stelle der Zunftstuben und Bürgerwirtschaften vermehrt neue Salons, Logen, Klubs und Gesellschafts-Häuser, in denen sowohl Männer als auch Frauen zwecks gemeinsamer Lektüre, Gespräche und Diskussionen zusammenkamen. Allen Formen dieser neuen Gesellschaften ist der Ursprung in der europäischen Aufklä­rung gemeinsam. Bildung und humanistische Ideale waren allenthalben die Grund­lage für ihre Entstehung. Diese neuen Sozietäten wollten im Sinne der Aufklärung nationale, religiöse und kulturelle Grenzen überwinden und hielten daher engen Kontakt in Europa und nach Übersee: «Europa und beide Amerika sind zu Ende des 18. Jahrhunderts von einem Netz vielfältiger gesellschaftlicher Zusammenschlüsse überspannt, ein Netz, das einen gewichtigen Faktor in der Geschichte des Jahrhun­ derts darstellt» (Im Hof 1982: 10). In der Schweiz entstanden diese Gesellschaften ab Mitte des 18. Jahrhunderts mehr­ heitlich in der städtischen Kultur der reformierten Landesteile. Ganz dem Staats­wesen der alten Eidgenossenschaft entsprechend, fand sich in der Zeit bis 1798 eine födera­ listische Vielfalt von Gesellschaften. Die 1777 in Basel vom Freundeskreis um den dortigen Ratsschreiber und Geschichtsphilosophen Isaak Iselin (1728 –1782) gegrün­ dete ‹Gesellschaft zur Aufmunterung und Beförderung des Guten und Gemein­nützigen› kann als exemplarisch für die Funktion und das Selbstverständnis dieser neuen Kommunikations- und Handlungsgemeinschaften gelten. Sie lassen sich in ge­lehrte, gemeinnützige und literarische Gruppen klassifizieren. Die Sozietäten wurden ergänzt durch militärische und quasi-religiöse Gesellschaften. Eine besondere Stellung nahm die formell 1762 gegründete ‹Helvetische Gesellschaft› ein, da sie sich nicht nur lokal oder regional, sondern schweizweit orientierte. Zudem war sie ein Ort der konfes­ sionsübergreifenden Gespräche. Im Sinn eines ‹Helvetismus›, der kantonale, konfes­ sionelle und sprachliche Unterschiede überwölbte und sich an universellen Werten ausrichtete, wollten die Aufklärer in der ‹Helvetischen Gesellschaft› ein Reform­pro­ gramm entwerfen, das der besonderen, republikanischen Verfassung des Landes ent­ sprach und sogar den Ruf nach einem Einheitsstaat zuliess (Maissen 2010: 140). In diesem Zusammenhang spielten christliche Glaubensfragen eine geachtete, aber in der Regel zweitrangige Rolle, wobei die Tendenz zum Bedeutungsverlust – indu­ziert vor allem durch Deismus und Rationalismus – über Jahrzehnte ungebrochen anhielt.


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Mit dem neuen Weltbild der Aufklärung, in dem der einzelne Mensch und seine per­ sönlichen Fähigkeiten im Mittelpunkt standen, rückten göttliche Gnade und bi­blische Bildung in den Hintergrund, wo sie bestenfalls zu einem initiatorischen Impuls beziehungsweise einem abstrakten Auftrag für die Entwicklung des Menschen mu­tier­ten. Die Verbindung von christlichem Glauben und aufgeklärter Pädagogik zur Melioration des Menschen förderte die Stärke des Individuums. Die Individualisie­rung aber bewirkte zugleich eine zunehmend kirchenunabhängige Weltsicht. In den aufgeklärten Gesellschaften erlangte das Lesen einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Lesen als Bildungsinstrument wurde in der Folge zu einem festen Be­stand­ teil eines gehobenen Lebensgefühls und zu einem zentralen Postulat der Auf­klärung. Die Lektüre ‹frommer› Literatur aber geriet ins Hintertreffen. Hier reagierten die protestantischen Kirchen stringent und rasch, indem sie christliche Literatur und entsprechende Erbauungsschriften massiv förderten und für ihre Verbreitung sorgten. Diesem publizistischen Anliegen war später auch die Basler Missionsgesel­lschaft – dann aber in weltweiter Perspektive – verpflichtet. Die Verbesserung der Welt konnte nur durch eine grundlegende Erziehung und Bildung des Einzelnen erzielt werden. Damit trat aber auch das genuin religiöse Bildungsideal der Reformation in den Hintergrund. Religion und Glaube wurden zum Thema des gelehrten Gesprächs. Dass Religion und Glaube zum Objekt wurden, das heisst im Kontext der Bildung thematisiert wurden, förderte allerdings weniger den traditionellen Glaubensvollzug als vielmehr die Reduktion der Konfession zu einer bürgerlichen Bildungsattitüde.

Verteidigung und Frömmigkeit: Die Christentumsgesellschaft Die Grundideen, Methoden und Kommunikationsformen der neuen Gesellschaften übernahm auch eine Assoziation, die sich bei ihrer Gründung 1780 in Basel zunächst ‹Deutsche Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit› und ab 1786 ‹Deutsche Christentumsgesellschaft› nannte. In Bezug auf die Inhalte aber zei­ gten sich gegenüber den säkular-aufgeklärten Gesellschaften markante Unterschiede. Die neue Gesellschaft konstituierte sich vornehmlich aus dem Mitgliederkreis der ‹Gesellschaft der Freunde›, die unter dem Einfluss des begabten Predigers Hieronymus Annoni (1697–1770) eine innerliche und zugleich caritative Frömmigkeit pflegte. Ins­­ge­samt lässt sich festhalten, dass sich in Annonis Haltung die Grundpositionen der Christentumsgesellschaft und ihrer Tochtergründungen präfigurierten. Annoni ver­ band eine pietistische Frömmigkeit sui generis mit einem aufgeklärten Lebensgefühl. Obwohl seine seelsorglichen Aktivitäten von den kirchlichen Behörden mit Argwohn betrachtet wurden, blieb er bei seiner konsequent kirchentreuen Haltung. Die – für die Gründung der Missionsgesellschaft überaus bedeutsame – Beheimatung des Basler Pietismus innerhalb der verfassten Kirche kann als sein Verdienst angesehen werden. Die kirchenkritische Kompetenz des Pietismus, der seinen wesentlichen Lebensraum


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in kleineren Konventikeln und Zirkeln hatte, wurde in Basel durch eine Integration in das kirchen- und staatstragende Bürgertum deutlich entschärft bzw. zu alternativen Aufbrüchen genutzt: Für diese erfolgreiche und effektive Integration der Erweckung in Bürgertum und Ökonomie stehen beispielhaft die beiden Basler Seidenband­fabri­ kanten und Magistraten Adolf Christ (1807–1877) und Carl Sarasin (1815–1886). Christ wurde 1873 erster Präsident des Deutschschweizer Zweigs der Schweizerischen Evan­ gelischen Allianz. Sarasin engagierte sich in der Missionsgesellschaft, präsidierte die Stadtmission und stand der Evangelischen Allianz vor. Der Tradition des schwäbischen wie des speziellen Basler Pietismus verpflichtet, sah die Christentumsgesellschaft auch vor, katholische Christen aufzunehmen, denn ihr Zweck und Ziel war es, die Zusammenführung aller ‹lebendigen Christen› und Bibel­ treuen unabhängig von ihrer aktuellen Konfession zu fördern. Mit den modernen Kom­ munikationsformen von Monatszeitschriften, weitgestreuten Korrespondenzen und der Organisation von regelmässigen Zusammenkünften entstand – analog zu den säkularen Gesellschaften – ein über Europa und Nordamerika verzweigtes Netzwerk (vgl. dazu Feigk in diesem Band). Die Initiative zur Gründung der ‹Deutschen Christentumsgesellschaft› ging vom ehe­ma­ligen Augsburger Pfarrer Johann August Urlsperger (1728 –1806) aus. Urlsperger wollte mit der Gründung dem glaubenskritischen Geist der Aufklärung entgegen­treten. Seine vorrangige Absicht war, eine Art von defensiver Vereinigung zu gründen. Die Chris­ten­ tumsgesellschaft begann zunächst mit apologetischer Intention, preis­ gün­ stig pietis­ tische Literatur zu verbreiten. Zudem wurden die Kontakte zu den Per­sonen, die eben­ falls eine Frömmigkeit im Sinne des Pietismus kultivierten, verstärkt und verstetigt. Auf diesem Handlungsfeld blieb Urlspergers Sozietät konservativ: «Die Chris­tentums­ gesellschaft war in geistig-geistlicher Hinsicht retrospektiv orientiert und lebte vom Rückgriff auf das ältere pietistische Erbe» (Benrath 1982: 93). Im Gegen­satz dazu waren die Sozialarbeit, die Bildungsprojekte und die Missionsinitiative zukunfts­fähig. In diesem Kontext gewannen verschiedene Gründungen beziehungs­weise Filiationen der Deutschen Christentumsgesellschaft wie die Basler Bibel­gesel­­lschaft (gegr. 1804), die Missionsgesellschaft (gegr. 1815), die Anstalt zur Ausbildung von Armenschulleh­ rern auf Schloss Beuggen (gegr. 1820), der Traktatverein (gegr. 1835), die Taub­stum­ menanstalt in Riehen (gegr. 1838) sowie die Pilgermission St. Chrischona (gegr. 1840) eine grosse Bedeutung.

Die Erweckungsbewegung als Generator4 Ein entscheidender Faktor, der das Spektrum der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel wesentlich erweiterte, war die spirituelle Potenz der Erweckungsbewegung. Dieses geistliche Phänomen erweiterte die Aktivitäten der Christentumsgesellschaft um die Missionsaktivitäten. Die strukturell-theologisch begründete Selbstbeschränkung der protestantischen Kirchen in Bezug auf die offensive Mission nach aussen kommt


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erst mit dem Aufbruch der Erweckungen an ein Ende: «Innere und äussere Mission im modernen Sinne entstehen erst, als [...] auf dem Kontinent die ‹religious societies›, [...] der Pietismus und später die Erweckung um sich greifen» (Blaser 1982: 138). Die frommen Initiativen der Erweckungen, die bisweilen ganze Regionen ergriffen, akzentu­ierten das Selbstverständnis zahlreicher Protestanten neu und führten unter anderem zu einem veränderten Verhältnis zur Evangelisierung und Glaubensverbreitung in fremden Ländern. So verdankte sich die Gründung der protestantischen Missions­ gesellschaften substanziell dem Geist der Erweckungen. Die Basler Missionsgesel­ l­ schaft war mit ihrer Gründung im Jahr 1815 eine der ersten Institutionen mit dem Bewusstsein einer Erweckungsinitiative. Es folgten 1824 in Berlin die ‹Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Mission unter den Heiden› mit einem Arbeitsfokus in Süd- und Ostafrika, sowie im Jahr 1828 die ‹Rheinische Missionsgesellschaft›, die aus dem Zusammenschluss einiger konfessionsverschiedener Vorgängerorganisationen (Calvinisten, Lutheraner, Reformierte) hervorging und sich in ihrer Wirkung auf das südliche Afrika, China und Indonesien konzentrierte. Die relative Ferne zu den Staats­ kirchen beziehungsweise den staatskirchenrechtlich verfassten Organisationen bildet ein durchgängiges Merkmal dieser missionsorientierten Kooperationen. Darin ist zu einem guten Teil das Erbe der ‹erwecklichen› Ursprünge zu sehen. Wie kritisch die Aktivitäten der Erwecker gerade nach den Kriegswirren und Leiden der Jahre 1797 bis 1815 betrachtet wurden, zeigt der rigide Umgang von Kirche und Staat mit der Erwe­­ck­ungspredigerin Juliane von Krüdener (1764–1824), die als Gefährdung der öffent­ lichen Sicherheit angesehen und an verschiedenen Orten mit Ausweisung bestraft wurde. Unter den Begriffen ‹Erweckung› und ‹Erweckungsbewegung› werden religiös moti­ vierte Erneuerungsbemühungen im Bereich der protestantischen Kirchen im west­ lichen Kulturbereich beginnend im 18. Jahrhundert verstanden. Die Schwerpunkte dieser geistlichen Phänomene dauern bis weit ins 19. Jahrhundert fort. Die Erwe­ ckungsbewegungen in Deutschland und in den angelsächsischen Ländern hatten wegen ihres zeitlichen Vorsprungs und ihrer inhaltlichen Dynamik durchaus Vor­bild­ charakter für die Schweiz und für die Christentumsgesellschaft in Basel. Durch Karl F. A. Steinkopf (1773–1859), der von 1795 bis 1801 als Sekretär der Chris­ ten­tums­ gesellschaft wirkte, entwickelten sich intensive, anregende Beziehungen zur englischen Erweckungsbewegung. Zwar verlor in den protestantisch geprägten Ländern die fromme, gottunmittelbare Lebensdeutung des Pietismus ab 1730 ihre überragende und prägende Kraft. Doch insgesamt ist die Erweckung als Teil des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaft zu verstehen. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts setzte sich die Aufklärung immer mehr durch und bestimmte das all­ gemeine Bewusstsein. Die Mitgliederzahlen der pietistischen Gemeinschaften gingen

‹Altes Paar›; Beschriftungen der Fotografien sind mitunter unspezifisch. Die Verschlagwortung ordnet dieses Bild der Ethnologie des Körpers, Gender, Sozialstrukturen und Bekleidungsformen zu. China; zwischen 1881 und 1910; BMA QQ-30.022.0075

Abb. S. 25



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