Paradise Hotel

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Ueli Stilli

PARADISE HOTEL

Fotografien /Photographs

Essays von / by Nadine Olonetzky und /and Klaus M. Leisinger

Christoph Merian Verlag



Postkarte, gesandt an meine damals siebenjährige Mutter: letztes Lebenszeichen meines Grossvaters Paul Albert Buchschacher, datiert 3. Mai 1919. Postcard sent to my then seven years old mother: last sign of life from my grandfather Paul Albert Buchschacher, dated May 3rd, 1919.

Ueli Stilli

Vorwort

Vielleicht verdanke ich die Faszination für andere Kontinente und ihre Menschen meinem Grossvater, den ich nie kannte: Er verschwand 1919 spurlos auf einer Reise nach Dakar, der Hauptstadt von Französisch-Westafrika, des heutigen Senegal, wo er eine Stelle als Ingenieur antreten sollte. Sein letztes Lebenszeichen war eine Ansichtskarte an meine damals sieben Jahre alte Mutter: «Mille baisers de Papa». Abgeschickt von Teneriffa, zeigte sie das Schiff, das zwischen Le Havre und Dakar verkehrte. Diese letzte Karte wurde in der Familie meiner Mutter wie eine Reliquie aufbewahrt, und Legenden rankten sich um das Schicksal und die unbekannte Karriere des verschollenen Familienoberhauptes. Auch Jahrzehnte später noch begleiteten diese Geschichten und Mutmassungen meine Kindheit und regten meine Fantasie an. Afrika bewahrte für unsere Familie stets sein ganz besonderes Geheimnis. Meine ersten Reisen in andere Kontinente führten mich Ende der sechziger Jahre nach Lateinamerika, dann durch Südostasien. Abgesehen von einem frühen Aufenthalt in Marokko, lernte ich Afrika erst ab 1997 genauer kennen, als Mitarbeiter der Stiftung der Schweizer Wirtschaft für Entwicklungszusammenarbeit Swisscontact. Dieses Buch versammelt nun Bilder von Reisen der letzten vierzig Jahre. Die Fotos entstanden nebenbei und dennoch nicht zweckfrei. Als junger Lehrer begann ich, Menschen und ihre Umwelt zu fotografieren, um die Bilder im Geografieunterricht zeigen zu können. Später brauchte ich solche Aufnahmen, um die Entwicklungsprojekte und ihre Trägerinnen und Träger zu dokumentieren. Auf allen Reisen blieben meine Neugier und meine Bewunderung wach, wenn ich beobachten konnte, wie Menschen ihr Leben und ihre Umgebung gestalteten. Nicht zu übersehen waren an vielen Orten die Mängel und die Entbehrungen. Trotzdem versuchte ich, den Fokus nicht auf die Armut zu richten und schon gar nicht, diese zu ästhetisieren – weder mit Kinderbildern noch mit Schreckensdarstellungen. Viel mehr interessierte mich das undramatische Alltagsleben, in dem die Menschen Akteure und nicht Opfer sind. Hier entstehen die kleinen Erfolgsgeschichten, die für die Zukunft hoffen lassen, und meistens sind Frauen die Trägerinnen dieser Entwicklung. Sie treffen sich in Spargruppen, jede trägt regelmässig und diszipliniert ihr Scherflein bei, das zu einem Mikrokredit und zu einer Investition in ein Kleinunternehmen führt. Es ist diese beson-

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Mein Onkel Richard Buchschacher (2. v. rechts) machte sich auf die Suche nach dem vermissten Familienvater (Hafen von Dakar, undatiert). My uncle Richard Buchschacher (2nd from right) searched for the missed father (Port of Dakar, undated).

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dere Mischung aus Planung, Zuverlässigkeit, Solidarität und Kooperation, die ein fruchtbares Mikroklima der Entwicklung schafft. Diesen Willen zur Eigeninitiative zu fördern, ist denn auch ein zentrales Ziel der Entwicklungsorganisation Swisscontact, in deren Auftrag ich Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika begleitete. Und wo immer ich dort Menschen, die mit Erfolg ihr eigenes Kleinunternehmen führten, nach ihren eigenen Wünschen fragte, sagten sie, dass sie den Erlös aus ihrem Geschäft in die Ausbildung ihrer Kinder investieren wollten. Darum bin ich mehr denn je überzeugt, dass der Zugang zu Bildung und Ausbildung der wichtigste Entwicklungsschritt ist. Ich freue mich sehr, dass Prof. Klaus M. Leisinger für dieses Buch einen Überblick über die Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit verfasst hat und damit meine Einzelbeobachtungen in einen grösseren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stellt. Auch wer regelmässig für Projekte in Entwicklungsländer reist, wird sich immer wieder bewusst, dass man als Europäer oder Europäerin in Afrika, Asien oder Südamerika selten mehr als die Oberfläche sieht. So fuhr ich auf einer Dienstreise einmal zwölf Stunden von Mali nach Burkina Faso. Das Gespräch mit dem Fahrer war angeregt, nur war er jedes Mal seltsam unwillig, wenn ich bei einem besonders schönen Baobab-Baum am Strassenrand anhalten wollte, um ihn zu fotografieren. Er sagte mir nie, was ihn daran störte. Erst später erfuhr ich von einer Mitarbeiterin, der Fahrer habe über den Weissen geklagt, der immer die Baobab-Bäume, in denen die bösen Geister wohnten, fotografieren wollte. Fotos zeigen diese sichtbaren Oberflächen, sie bewahren Augenblicke auf. Für dieses Buch hat die Kulturjournalistin Nadine Olonetzky einen Essay über die Beziehung von Fotografie und Dritter Welt verfasst. Auch ihr danke ich herzlich für ihren Beitrag. Die Bilder, die hier versammelt sind, zeigen Ausschnitte aus dem Alltag von Menschen in Ländern der südlichen Hemisphäre. Jedes Foto ist ein Augenblick in einer Geschichte, die wir nicht kennen, die wir uns aber vielleicht vorzustellen versuchen, wenn wir das Bild anschauen. So wird ein Bild, das sein Geheimnis gleichzeitig zeigt und wahrt, zum Auslöser eigener Bilder, die ein Betrachter sich macht. Wenn dieser Fotoband da und dort, zu solchen Einblicken verhilft, ist der grösste Wunsch erfüllt, den ich meinen Fotografien mit auf den Weg geben kann.



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Preface

I probably owe my fascination with other continents and their people to my grandfather, a man I never knew. He disappeared without a trace in 1919 on his way to Dakar, the capital of French West Africa, today’s Senegal. He was going there to take on a position as an engineer. The last sign of life from him was a postcard to my mother, who was seven at the time: “Mille baisers de Papa!” It had been sent from Tenerife and was a picture of the ship traveling between Le Havre and Dakar. My mother’s family treasured this last card like a relic. The fate and unknown career of the lost head of that family became a thing of legend. Even decades later these stories and speculations accompanied my childhood and stirred my imagination. Africa always had a special mystery for our family. My first trips to other continents took me in the late 1960s to Latin America, then through Southeast Asia. Except for an early stay in Morocco, I did not get to know Africa to any great degree until 1997, when I stayed there as an employee of Swisscontact, the organization of the Swiss private sector for development cooperation. This book is a collection of photos from trips taken over a span of forty years. The pictures were taken on the side yet not entirely without a purpose. As a young teacher, I began to photograph people and their immediate environments to show pictures in geography class. Later, I used those images to document development projects and their actors. My curiosity and admiration remained alive whenever I was able to observe how people shaped their lives and the world around them. In many places, you simply could not overlook the shortages and deprivations. Nonetheless, I tried not to focus on poverty, let alone to estheticize it, neither with photos of children nor with horrible images. I am more interested in the less dramatic aspects of everyday life, when people are actors, not victims. Small success stories occur then and open up hope for the future. Women are usually responsible for them. They meet in savings groups. Each of them contributes their small bit, regularly and with discipline. Together, those bits add up to a micro-loan and an investment in a small enterprise. It is this special mix of planning and reliability, solidarity and cooperation that creates a fruitful microclimate for development. This will to encourage private initiative is a pivotal goal of the development


organization Swisscontact. I worked on its behalf supervising projects in Africa, Asia and Latin America. And whenever I asked successful small business owners about their own development objectives, they would say they wanted to invest the proceeds from the business in their children’s education. That makes me more convinced than ever that access to education and training is the most crucial step of all in economic development. I am pleased that Prof. Klaus M. Leisinger wrote an overview of the history of development cooperation for this book. In doing so, he put my individual observations in a larger context of time and place. Anyone who travels regularly to developing countries for projects becomes increasingly aware of rarely seeing beyond the surface as a European in Africa, Asia or South America. Once I took a twelvehour business trip from Mali to Burkina Faso. I had a lively conversation with the driver, but he became strangely unwilling whenever I asked him to stop at an especially magnificent Baobab tree growing along the roadside so I could photograph it. He never told me what bothered him about my request. Later I found out why from a staff member. The driver had complained about the white guy who kept wanting to photograph the Baobab trees where all the evil spirits dwell. Photos show these visible surfaces, they preserve moments in time. For this book, cultural journalist Nadine Olonetzky wrote an essay about the relationship between photography and the Third World. My warm thanks to her, too, for her contribution to this book. The pictures gathered here show excerpts from the everyday lives of people in countries in the southern hemisphere. Each photo is a single moment in a story we do not know but can perhaps imagine if we look at the picture. If you look at a picture that simultaneously reveals and preserves its secret, it may trigger further images in your own mind. My biggest wish for the photographs in this volume will have been satisfied if they do open up insights of this kind here and there.

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