Pilgern boomt

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Christoph Merian Verlag


Pilgern boomt



Dominik Wunderlin Museum der Kulturen Basel (Hg.)

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Christoph Merian Verlag


Inhalt

Anna Schmid

Vorwort

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Dominik Wunderlin

Einführung

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Josef Imbach «In Gottes Namen fahren wir … » Bussgürtel Pilgerziele (Bilderfolge)

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Dominik Wunderlin Basel im Schnittpunkt alter Pilgerstrassen Bernhard von Aosta

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Helmut Bauckner Zeichen der JakobUsverehrung zwischen 38 Freiburg und Basel Katakombenheiliger Wegkreuz Dominik Wunderlin Devotionalien und Sakramentalien Schabmadonna Häubchen Das kleine Andachtsbild Rosenkranz Wallfahrtswimpel Pilgerkommerz (Bilderfolge)

46

Dominik Wunderlin Pilgerrituale Votivgabe, ein visualisiertes Dankgebet / Wachsvotiv Eisenvotiv Scala santa Rituale (thematische Bilderfolge)

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Domink Wunderlin

Sacri Monti

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Hannes Stricker

Am Anfang stand der NEUE Schwabenweg Jakobus und das Galgenwunder

80

Sibylle Hardegger Pilgern im Norden Europas Birgitta von Schweden

92

Thomas Schweizer Hannes Stricker

97

Begleitetes Pilgern – eine Form bewegter und bewegender Erwachsenenarbeit Pilgerherberge Brienzwiler: Was für ein Glücksfall!

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Reinhard Chiari

Gesundheitliche Aspekte des Pilgerns

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Bruno Kunz

Psychologische Aspekte des Pilgerns

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PilgerInnen und Pilger erzählen Luzia Rauch

Erst mit dem Bus, dann nur noch zu Fuss

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Niklaus Liggenstorfer Stationen einer Pilgerreise

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Martin Bühler

Ein Jahr im Leben eines Pilgers

108

Béatrice Flückiger

Wenn Füsse in Sandalen beten

115

Luigi Pedrazzini

Glaube und Freundschaft

117

Emil Kräuliger Lourdes-Fahrt Heiliges Wasser Glassturz

119

Ingrid Chiari

Warum Pilgern?

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Anna Schmid

Geben & Nehmen – die ökonomie des Göttlichen

127

Literatur Die Autorinnen und Autoren Impressum

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Anna Schmid

Vorwort

Warum pilgern Menschen? Mit dieser Frage beschäftigen sich die meisten Beiträge dieser Publikation. Die Antworten sind so erstaunlich wie vielfältig: immer geht es dabei ganz wesentlich um Erfahrung. Sie wird allerdings jeweils anders erlebt, gedeutet und eingesetzt. Unterwegssein, Entschleunigung, Begegnungen mit anderen, Abkehr vom Alltag, Einsicht in wirkliche Notwendigkeiten des Lebens, spirituelles Erlebnis, Lebenswegritual, Auseinandersetzung mit sich selbst, metaphorisch Ballast abwerfen oder materiellen Ballast zurücklassen sind einige der Stichworte, mit denen die Erfahrungen des Pilgerns beschrieben werden. Dabei handelt es sich ausschliesslich um Berichte zu Pilgerreisen in Europa. Pilgern ist (wieder) zu einem Massenphänomen gerade auch in den westlichen, säkularen Industriestaaten geworden. Genaue Statistiken zu den Hintergründen der Pilgerreisen liegen nicht vor. Aus Erfahrungsberichten wissen wir jedoch, dass eine grosse Zahl der Pilgerreisenden sich zwar zu keiner Kirche, sehr wohl aber zu einem – wie auch immer gearteten – religiösen Glauben bekennt. Dabei geht es um die einzigartige Verbindung zu Kraftorten, um die spirituelle Energie eines Gemeinschaftserlebnisses, um Sinnsuche oder meditative Selbstbesinnung, um Bewusstseinsveränderung und Erkenntnisgewinn durch den Akt des Gehens. Die allenthalben beschworene Rückkehr des Religiösen, auch als Zeit des Postsäkularen bezeichnet, scheint sich gerade auch im Phänomen Pilgern zu manifestieren. Gerhard Gamm konstatiert, dass die grossen säkularen «Erzählungen der modernen Welt die Versprechen, die sie in die Welt gesetzt haben, irgendwie nicht eingelöst» zu haben scheinen (Lettre International 2012). Eine Reaktion auf diese ‹missglückte› Entzauberung der Welt durch Aufklärung und Rationalität zeigt sich in quasi-religiösen Zügen verschiedenster Lebensbereiche. Dann stellt sich weniger die Frage, ob das Pilgern religiöse Praxis oder sportliche Betätigung ist, sondern vielmehr, inwiefern die sportliche Betätigung religiöse Praxis ist oder werden kann. Pilger bringen von ihren Reisen oft Erinnerungsstücke für sich oder ihre Angehörigen mit. Es gibt kaum eine Pilgerstätte, die nicht über ein ungeheuer vielfältiges Angebot an Devotionalien verfügt: Da werden der oder die Heilige in allen Variationen und Materialien feilgeboten, sämtliche religiösen Accessoires – in christlichen Kontexten etwa Rosenkränze und Kruzifixe – sind im Sortiment, aber auch segensreiche Speisen und Flüssigkeiten stehen zum Verkauf. Neben Einkommensquellen aus Devotionalienverkäufen bezieht sich die Pilgerökonomie vor allem auf die Infrastruktur, die auf das Pilgerwesen ausgerichtet ist. Diese reicht von Hajj Terminals auf Flughäfen in Nationen mit muslimischer Bevölkerung bis zu weitverzweigten Netzen von Pilgerwegen, von Herbergen entlang der Pilgerwege bis zu Hotels in den Pilgerorten; von gehobenen Restaurants bis zu Imbissbuden, in denen sich die Schar der Pilger verpflegt. Der Ökonomisierung des Pilgerwesens scheinen kaum Grenzen gesetzt. Dies wird einmal mehr deutlich, wenn wir das Geben und Nehmen in anderen Religionen in den Blick nehmen. In hinduistischen, buddhistischen und volksreligiösen Traditionen sind Opfergaben für Gottheiten ein weiteres Feld der religiösen Ökonomie. Aber letztlich dienen sowohl Opfergaben wie auch Devotionalien der Erinnerung an den Weg, die Erfahrungen, die vorgetragenen Anliegen – eben an das Gesamterlebnis ‹Pilgern›.

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Dominik Wunderlin

Einführung

Das Pilgern und Wallfahren ist eine Tätigkeit, die allen grossen Religionen gemeinsam ist. Eine oft über viele Tage, ja Wochen und Monate dauernde Fussreise zu einem heiligen Ort scheint einem alten menschlichen Bedürfnis zu entsprechen. Neuere Schätzungen sprechen von mehreren hundert Millionen Menschen, die jährlich irgendwo auf der Welt auf einer Pilgerfahrt sind. Tendenz steigend. Anlass zu diesem Buch gibt eine grosse thematische Ausstellung, die das Museum der Kulturen Basel zwischen September 2012 und Juli 2013 ausrichtet. Sie trägt ebenfalls den Titel ‹Pilgern boomt› und behandelt das Phänomen mit dem bewussten Fokus auf Europa. Denn auf unserem Kontinent ist seit wenigen Jahrzehnten die Ausbreitung einer seltsamen Trendsportart zu beobachten: Sie brachte zunächst die Menschen vor allem auf den FussWeg nach dem eher peripher gelegenen Santiago de Compostela; in zunehmendem Masse werden jetzt aber auch andere Pfade zu Heiligtümern, zu christlichen Kraftorten wieder bekannt (gemacht). Bei der Beschäftigung mit dem Thema wird immer wieder nach den Motivationen des modernen Pilgers gefragt. Sie können je nach Individuum heute so verschieden sein, wie sie es im Mittelalter waren. Verschoben haben sich jedoch die Akzente: Kein Straffälliger wird heute noch zu einer Pilgerfahrt verurteilt, aber immerhin kennt sie die moderne Bewährungshilfe als erlebnispädagogisches Konzept für straffällige Jugendliche! Heute deutlich geringer als vor fünfhundert Jahren und mehr ist indes der Prozentsatz der Pilger, die sich aus einem tiefreligiösen Grund auf den Weg machen. Und manche Motivation, die früher auch schon bekannt war, wird heute mit wissenschaftlichen Termini etikettiert, wie etwa das Pilgern als Therapie nach einer Krise, als Schwellenritual oder als Mittel zur Erlangung einer Transformation. Das moderne Pilgern ist keine katholische Exklusivität mehr. Denn auf den Weg machen sich nun mit Gewinn auch Angehörige anderer Konfessionen und Religionen und darüber hinaus auch viele Kirchenferne. Sie alle begegnen sich auf den Wegen und in den Herbergen und werden zudem auch konfrontiert mit alten Ritualen und Glaubensvorstellungen, die einer fremd gewordenen, anderen Welt angehören. Aber auch unsere säkulare Gesellschaft kann augenscheinlich nicht ganz auf alte Praktiken verzichten. So decken etwa der Brauch des Kerzenanzündens und der Eintrag ins Anliegenbuch längst auch ausserhalb des katholischen Kirchenraums offenbar vorhandene Bedürfnisse ab. Und das Pilgern, das bewusste Sich-Lösen aus dem Alltag, wird von Studenten, Managerinnen und Rentnern ebenso gesucht wie von Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Denn die von Pilgern allgemein gelobte Langsamkeit, die Einfachheit und die Gemeinschaftserlebnisse werden als Gegenentwürfe interpretiert zur Hektik in unserer Arbeitswelt und zu einer Kultur, wo das

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Geld regiert und viele Begegnungen auf schalen Small-Talk reduziert bleiben. Wie immer wieder betont wird, erlebt jeder moderne Pilger, ob religiös oder nicht, während seinem Time-Out eine Verwandlung – und geläutert kam schon der Pilger in früheren Zeiten in seine Heimat zurück. Verbunden mit der Wiedereröffnung des Museums im September 2011 waren auch eine Neupositionierung und eine neue Programmatik des Hauses. Seither fokussieren wir unsere thematischen Ausstellungen, die wir selbstverständlich immer in Verbindung mit dem Hier und Jetzt bearbeiten, auf einen oder mehrere der fünf Aspekte: Zugehörigkeit, Handlungsfähigkeit, Raum, Wissen und Inszenierung. Die Ausstellung ‹Pilgern boomt› erfüllt genauso wie das vorliegende Buch diese Vorgaben in hervorragender Weise: Man sieht sich der Pilgerschar zugehörig, sei es unterwegs, wo man die Communitas in immer neuen Konstellationen erlebt. Aber auch nach einer Pilgerfahrt lebt man mehr oder weniger die Zugehörigkeit zu jener Gruppe, deren Mitglieder alle Pilgererfahrungen haben und dies oft auch äussern durch ein entsprechendes Zeichen, das sie auf sich tragen oder auch durch die Mitgliedschaft bei einer Pilgervereinigung. Wer sich zu einer Pilgerfahrt entschliesst, macht dies kraft seiner Handlungsfähigkeit. Er orientiert sich in seinem Agieren subjektiv am Verhalten anderer und bewegt sich dabei als soziales Wesen, das die Konventionen bestens kennt. Die Grundlage des Pilgerwesens bildet das kollektive und tradierte Wissen um dieses Tun, aber ein Pilger erweitert auf seiner Reise auch sein eigenes Wissen und lernt Land und Leute, andere Kulturen und Traditionen kennen. Diese bezeugen ganz klar auch die Auslobung der Pilgerwege als Europäische Kulturwege durch die EU und die Ernennung dieser alten und wichtigen Beziehungen des Langsamverkehrs zu einem UNESCO-Weltkultur­ erbe. Damit ist gleich auch das nächste ethnologische Thema angesprochen: Der Pilger durchschreitet gleich jedem Fernwanderer Räume und überwindet Grenzen. Dabei findet immer auch ein Kulturaustausch statt. Schliesslich: Das Pilgern hat viel mit Inszenierung oder Performance zu tun. Zahlreich sind nämlich die Rituale, die unterwegs, aber auch am Ziel einer Wallfahrt gelebt werden. Diese fünf Elemente sind, ohne sie immer auch zu benennen, in der Ausstellung ebenso wie hier im Buch implizit nachvollziehbar. Der vorliegende Sammelband ist aber nicht die Ausstellung zwischen zwei Buchdeckeln! Während das Gerüst der Ausstellung die fünf Kapitel Anstoss und Anlass, Aufbruch und Ausbruch, Unterwegs, Am Ziel, und Ich bin dann mal zurück bildeten, so folgt das Buch einer anderen Konzeption. Nach einem kurzen Überblick der Geschichte des christlichen Pilgerwesens aus der Sicht eines katholischen Theologen und ausgewiesenen Kenners der Formen popularer Frömmigkeit (Josef Imbach) gehen wir auf die Suche nach historischen und aktuellen Pilgerspuren in der Region Basel (Dominik Wunderlin, Helmut Bauckner). Die vielfältigen Bemühungen, passende Angebote für den modernen Pilgerwanderer zu schaffen, beschreiben vier weitere Beiträge. Zunächst wird gezeigt, wie man sich im Kanton Thurgau bereits in den 1980er Jahren dafür eingesetzt hat, letztlich mit Erfolg den historisch

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belegbaren Schwabenweg zu rekonstruieren und für die modernen Pilger benutzbar zu machen (Hannes Stricker). Wie im lutherischen Skandinavien und vor allem in Schweden die alten Pilgerwege wieder ins Bewusstsein gerufen und reaktiviert werden, ist der Inhalt eines weiteren Beitrags (Sibylle Hardegger). Zwei weitere Artikel zeigen, wie auf Privatinitiative eine Pilgerherberge im Berner Oberland entstanden ist (Hannes Stricker) und welche Bedeutung das begleitete Pilgern als eine moderne Form der Erwachsenenarbeit bekommen hat (Thomas Schweizer). Eingehende Behandlung finden auch die gesundheitlichen und die psychologischen Aspekte des Pilgerns (Reinhard Chiari und Bruno Kunz). Zu Wort kommen ferner sieben Menschen, die auf ganz unterschiedliche Art und sehr persönlich von ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Pilgerinnen und Pilger erzählen (Luzia Rauch, Niklaus Liggenstorfer, Martin Bühler, Béatrice Flückiger, Luigi Pedrazzini, Emil Kräuliger, Ingrid Chiari). Eingeschoben sind schliesslich einige kürzere Beiträge über ausgewählte Objekte aus den Sammlungen des Museums und – als Exkurs – über asiatische Religionsformen, wo es konkret um das Thema ‹Geben & Nehmen – Die Ökonomie des Göttlichen› geht (Anna Schmid). Dem Herausgeber bleibt die angenehme Pflicht, allen Mitautorinnen und Mitautoren ganz herzlich für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu danken. Ohne sie wäre dieses Buch nicht innerhalb eines zeitlich engen Rahmens zustandegekommen. Ein grosser Dank geht ebenso an Claus Donau (Christoph Merian Verlag), an die Lektorin Doris Tranter, an den Gestalter Gian Besset (Tatin Design Studio) und an das Druckhaus Grammlich. Basel, am Nikolaustag 2012

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Josef Imbach

«In Gottes Namen fahren wir … »

«Von Jerusalem und von Britannien aus steht uns der Himmel gleichermassen offen. Deshalb zeugt es von sträflicher Torheit, wenn einer aus seiner Heimat fortzieht, um dann nach dem hochberühmten Jerusalem zu pilgern, wo sich Huren, Schauspieler und Possenreisser genauso wie in allen anderen Städten umhertreiben.»1 So wettert der heilige Hieronymus (347–420) gegen einen zu seiner Zeit herrschenden Modetrend, der später zu jenem ‹Gros­ sen Laufen›2 führte, das wir heute als Wallfahrt bezeichnen. Die christliche Wallfahrt hat ihren Ursprung in der Heiligenverehrung, die letztlich auf das von der Kirche schon früh gepflegte Gedenken der Märtyrer und Blutzeuginnen zurückgeht. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts zweifelte kaum jemand mehr daran, dass die Gräber der Heiligen der geeignetste Ort seien, um mit Gott in Kontakt zu treten. Das hatte zur Folge, dass sich seit dem Frühmittelalter immer mehr Gläubige entschlossen, das Risiko einer monatelangen und gefährlichen Pilgerfahrt auf sich zu nehmen. Die diesbezüglichen Beweggründe waren vielgestaltig: Erfüllung eines Gelübdes, Sühne für die Sünden oder das

Spätmittelalterliche Pilgergruppe. An den Hüten erkennbar sind die Jakobsmuschel und die Petersschlüssel. Letzteres weist auf den Rompilger hin. (Aus: Johannes Geiler von Kaysersberg, Predigen Teütsch. 1508.)

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Bedürfnis, den Heiligen an ihren Gräbern für einen ihnen zugeschriebenen Gnadenerweis zu danken. Andere wiederum suchten an den Gnadenstätten Heilung von allen nur möglichen Leiden, Trost in ausweglosen Situationen, Hilfe in schlimmen Nöten – und daran hat sich bis heute nichts geändert. Üblich waren vom 5. bis zum 12. Jahrhundert auch kirchlich verordnete Sühnewallfahrten, die vor allem bei schweren Vergehen wie Mord, Diebstahl von Kirchengütern, Unzucht oder Sodomie verhängt wurden. Solche Zwangsmärsche führten oft zu zweifelhaften Ergebnissen. Denn oft zeigten sich die Kriminellen keineswegs einsichtig, sondern machten lediglich die Gegend unsicher. Selbst die sich mit den besten Absichten auf den Weg begaben, durften nicht nur an ihre Seele denken, sondern mussten gleichzeitig darauf bedacht sein, in keine Pilgerfalle zu tappen. Häufig berichten die Chronisten von nichtsnutzigen Fährleuten und gerissenen Zöllnern. Wegelagerer betrachteten Pilgerinnen als Freiwild. Wer ein entferntes Heiligtum aufsuchte, war sich bewusst, dass ausser nur Hab und Gut während der Reise auch Leib und Leben auf dem Spiel standen. Daneben sahen sich die Wallfahrenden mancherlei seelischen Gefahren ausgesetzt. Selbst die unbeschadet beim Heiligtum ankamen, hatten damit noch keine Gewähr, dem Himmel ein Stück näher gerückt zu sein. Denn ausgerechnet an den Grabstätten der Heiligen scheint die Frivolität die Frömmigkeit zeitweise verdrängt zu haben. So sah sich die Synode von Avignon 1209 genötigt, die Übernachtung in Kirchen zu verbieten, weil sich die Ankömmlinge die Nächte vorzugsweise mit dem Absingen von Liebesliedern und erotischen Tänzen verkürzten und so, statt ihren Geist zu läutern, an der Seele Schaden nahmen.3 Ähnliche Bedenken hatten schon den heiligen Bonifatius im Jahr 747 zu einem geharnischten Schreiben an den Erzbischof Cudberth von Canterbury veranlasst. Energisch fordert er ihn auf, den Frauen, insbesondere den Nonnen, zu verbieten, die Gräber der Apostel aufzusuchen. «Es gibt nämlich nur sehr wenige Städte in der Lombardei, in Franzien oder in Gallien, in der es nicht eine Ehebrecherin oder Hure (meretrix) gibt aus dem Stamm der Angeln. Das aber ist ein Ärgernis und eine Schande für Eure ganze Kirche.»4 Knapp ein halbes Jahrhundert später, 792, meldet die Synode von Friuli ähnliche Vorbehalte an, wenn sie den Nonnen unter Androhung der Exkommunikation untersagt, nach Rom zu pilgern, «weil sie während ihrer Reise notwendigerweise mit Männern in Kontakt kommen».5 Dass es sich um Kontakte von der von Bonifatius geschilderten Art handelte, dürfen wir voraussetzen. Kritische Einwände gegen das Wallfahrtswesen finden sich später auch bei Martin Luther. Zwar wehrt er sich dagegen, dass das «Wallfahren böse» ist; von Gott aber sei es «nicht geboten. Er hat jedoch geboten, dass ein Mann sich um sein Weib und seine Kinder sorge. Nun geschieht es aber, dass einer gen Rom wallet, verzehrt dabei fünfzig oder hundert oder mehr Gulden, was ihm niemand befohlen hat, und lässt sein Weib und Kind oder seine Nächsten daheim Not leiden», und das ist nichts anderes als eine «Verführung des Teufels». Deshalb sollen Wallfahrer zuerst mit ihrem «Pfarrer oder Oberhirten» reden, bevor sie sich zum Aufbruch entschliessen.6 Die von Bonifatius und Luther vorgetragenen Befürchtungen sind längst gegenstandslos geworden. Schon im 17. und 18. Jahrhundert liess das Wallfahrtsfieber im Zug der euro-

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Ein Pilgerandenken aus Besançon war bis zur französischen Revolution die Heiltumsweisung einer Kopie des Turiner Grabtuches. Seidenstickerei. Ca. 1750. VI 20819. Sammlung A. L. Henry, Montreux

Bis heute ein beliebtes Mitbringsel von Wallfahrtsorten sind Foto- und Fernsehapparate. Sie zeigen auf Knopfdruck verschiedene Motive, wie hier zum heiligen Antonius. Italien, Veneto, Padua. Um 1960. VI 36616. Sammlung Dox, Basel

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päischen Aufklärung merklich nach. Überdies scheint jeder Pilgerort innerhalb der sich wandelnden Frömmigkeitsbewegungen sein eigenes Schicksal zu haben. Manche Wallfahrtsstätte hat im Lauf der Jahrhunderte an Anziehungskraft verloren, über andere ist gar der Schatten der Vergessenheit gesunken. Vormals bedeutende Pilgerziele wie St. Gallen oder Thann erfreuen sich nach wie vor grosser Beliebtheit – insbesondere bei kulturbegeisterten Urlaubern und Touristinnen. Neben Santiago de Compostela verzeichnen heute im europäischen Raum besonders die bekannten Marienwallfahrtsorte (Lourdes, Fatima, La Salette, Kloster Andechs, Maria Einsiedeln, Mariazell …) einen grossen Zulauf. Unzählige Pilgergruppen wiederum machen auf ihren Romfahrten auf der Hin- oder Rückreise einen Halt beim heiligen Antonius von Padua oder entschliessen sich zu einem Abstecher nach Assisi. Gut gebucht sind seit einigen Jahren auch Busreisen zu dem kleinen in den Abruzzen gelegenen Städtchen Manoppello, wo das angeblich echte Schweisstuch der heiligen Veronika zur Verehrung ausgestellt ist.7 Ungebrochen ist auch der Pilgerstrom zum heiligen Bruder Klaus nach Flüeli-Ranft und Sachseln, wobei ein Grossteil der Wallfahrenden aus Deutschland stammt. Einmal abgesehen von den oft hitzigen Diskussionen um Marienerscheinungen oder andere Wunderzeichen, die sich in den letzten Jahrzehnten ereignet haben sollen (auffallenderweise mehr im heissen Süden als im kalten Norden), unterliegt das Pilgerwesen heute keiner Polemik. Anders verhält es sich, wenn die Echtheit von Erscheinungen oder angeblichen Wunderheilungen zur Debatte steht, was unter anderem für Medjugorje (Bosnien-­ Herzegowina) zutrifft. Pilgerorte werden bekanntlich nicht nur von Gläubigen aufgesucht. Wie in früheren Zeiten mag auch der Wunsch nach Abwechslung und Zerstreuung Menschen manchmal zu einer ‹Wallfahrt› veranlassen. Oft spielen kunst- und kulturhistorische Interessen eine gewisse Rolle. Christenmenschen, die davon überzeugt sind, dass man auch mit den Füssen beten kann, sehen in der Wallfahrt ein sinnfälliges Zeichen dafür, dass nicht nur die einzelnen Gläubigen, sondern, wie das Zweite Vaticanum betont, auch die Glaubensgemeinschaft als Ganze «hier auf Erden in Pilgerschaft fern vom Herrn lebt»8 und daher immer auf dem Weg ist zu jenem Ziel, das die Heiligen bereits erreicht haben. Die vielleicht grösste Gnade, die ihnen an deren Gedenkstätten widerfahren könnte, wäre wohl jene Erkenntnis, die wir aus unserem Alltag gern verdrängen, nämlich dass wir auf dieser Erde nie ganz zu Hause sind.

1 Hieronymus, Brief 58, in: Patrologia latina, Bd. 22, 582. 2 A. Angenendt, Heilige und Reliquien. München 1994, 230. 3 Cap. 17 in: G. D. Mansi, Sacrorum Conciliorum nova et amplissima Collectio, Bd. 22, 791 f. 4 Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Darmstadt 1968, 253. 5 Cap. 12 in: Mansi, Bd. 13, 851. 6 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation. In: WA, Bd. 6, 439 f. 7 Mehr dazu bei J. Imbach, Marias Panzerhemd und Josefs Hosen. Kurioses und Verborgenes in der christlichen Kunst. Ostfildern 2011, 61–63. 8 II. Vaticanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 6.

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In der stimmungsvollen Krypta der Basilika San Nicolà in Bari finden sich immer Gläubige, die beim hier bestatteten Nikolaus für ihre Anliegen beten.

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Am Rande der Abruzzen ist im kleinen Städtchen Manoppello das angeblich echte Schweisstuch der heiligen Veronika zur Verehrung auf dem Haupt­altar ausgestellt.

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Bussgürtel Eine Pilgerfahrt war immer schon mit Strapazen verbunden. Sie mögen heute zwar geringer sein, allein schon dank gutem Schuhwerk. Früher quälten sich manche aber noch zusätzlich und inszenierten ihre Pilgerfahrt als grosse Bussübung. Sie trugen ein schweres Kreuz, liefen den ganzen Weg nackt (!) oder barfuss, legten Erbsen in die Schuhe, kleideten sich in ein kratzendes Wollgewand (auf nackter Haut) oder trugen einen schmerzenden Bussgürtel. Bussgürtel. Deutschland, Bayern. Ca. 1550 bis 1600. Metalldraht, Eisen. VI 2325, VI 15255.01-03. Sammlung Helbling München / Sammlung Rudolf Iselin, Basel

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Pilgerweg-netZ euroPa

Leicester Lübeck Hamburg

London brügge

Canterbury

Hannover

Calais Le Havre

mont-St.-michel

oviedo

bordeaux Le Puy

braga Salamanca

burgos Logroño

madrid mérida

Faro

Sevilla Cádiz

Luzern

Lausanne

Innsbruck

Aosta Susa

Avignon Arles

Narbonne

Aquileia triest

Venedig

Genua

Ravenna

Luni

marseille

Lerida

Florenz

Jerusalem

Zara

Ancona

barcelona

toledo

Jerusalem

Wien

mailand toulouse

Zaragosa Lissabon

Lyon

Konstanz

León

Porto Coimbra

Passau

Nevers

Pamplona

SANtIAGo

Nürnberg

bASEL

tours

Prag

Würzburg

Worms

Nantes

La Coruña

mainz

trier

Paris

San Sebastian

magdeburg

Köln

Foligno Rom

Valencia Alghero

montecassino Neapel

bari benevent

Cagliari

messina

otranto

Palermo Jerusalem

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Pilgerziele

Von l. o. nach u. r.: Assisi (Portiuncula), Madonna di Barbana / G   rado, St. Ottilien bei Buttisholz (Kanton Luzern), Castelnuovo Don Bosco, Eichstätt (hl. Walburga), Einsiedeln, Heiligkreuz ob Hasle (Kanton Luzern), Flüehli-Ranft (Bruder Klaus).

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Von l. o. nach r. u.: Fulda, Marseille (Notre Dame de la Garde), Monserrat, Madonna di Oropa (Piemont), S, Giovanni Rotondo (San Pio), Undervelier (­Ste-Colombe), Vorbourg (Jura), Wies (Oberbayern).

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Dominik Wunderlin

Basel im Schnittpunkt alter Pilgerstrassen

Ein Blick auf eine moderne Landkarte zeigt sofort: Basel ist ein mitteleuropäischer Knotenpunkt zahlreicher bedeutender Verkehrswege. Die Lagegunst machte aber die Stadt am Rheinknie nicht erst seit dem Eisenbahnbau (ab 1844) und den Autostrassen des 20. Jahrhunderts zu einer internationalen Drehscheibe. Denn mindestens seit spätkeltischer Zeit führten Handelswege aus allen Himmelsrichtungen hier durch und nutzten auch den Rhein als Wasserweg. Die zur Römerzeit ausgebauten Strassen wurden dann auch das Rückgrat eines Netzes, auf dem sich oft bis in die frühe Neuzeit der Verkehr abgewickelt hat. Die historische Verkehrswegforschung hat längst bestätigt, dass die alten Wege stets multifunktional waren: Auf ihnen bewegten sich die Händler, die Fuhrleute, die Handwerker, die Künstler, die Migranten und die Pilger – Männer, Frauen und Kinder. Sie dienten zugleich dem Nah- und Fernverkehr und waren Achsen, auf denen Wissen und Kultur vermittelt wurden. Neue und alte Pilgerwege Vor allem in den neuesten Ausgaben mancher Bücher, Pilgerwegkarten und anderer Handreichungen für moderne Pilger findet sich vermehrt der Vorschlag, über Basel zu pilgern. Verstärkt hat sich dies ganz deutlich seit 2010, als verschiedene Gremien begannen, geeignete Routen nach Basel und darüber hinaus zu beschreiben und öffentlich zu machen. Das Interesse an solchen Wegen kam fast durchwegs von Leuten, die sich um den Unterhalt und den Ausbau des europäischen Jakobusweg-Netzes bemühen. So geschah es auch mit den Beschreibungen des ‹Himmelreich-Jakobusweges› (Hüfingen-Freiburg i. Br.–Weil am Rhein / Basel),1 mit deren Fortsetzung ‹Basel–Jura–DreiSeen Weg›2 und mit einem Ost-West-Weg von Waldshut über Basel nach Vézelay,3 wo die alte Via Lemovinencis ihren Anfang nimmt. Diese Wege erfüllen alle das Bedürfnis, Lücken zwischen bereits etablierten Jakobuswegen in Südwestdeutschland und der Westschweiz respektive dem Burgund zu schliessen. Zwar verlaufen diese Routen auf Wegen, die nicht als geschichtlich bezeugte Pilgerstrassen bezeichnet werden können, aber sie sind doch so angelegt, dass der moderne Jakobuspilger viele spirituelle Nischen für sich entdecken kann. So wird er immer wieder auch auf Spuren einer alten Pilgerkultur oder sogar auf Stätten der Jakobus-Verehrung treffen.4 Obwohl davon heute nichts mehr sichtbar ist, bleibt es doch bemerkenswert, dass am ‹Basel–Jura–DreiSeen Weg›, exakter in der südjurassischen Gemeinde Péry, eine Kapelle mit einem Jakobus-Patrozinium aus dem Jahre 866 nachgewiesen ist. Es zählt zusammen mit dem allerdings nicht ganz sicheren Patrozinium von Sissach (Kanton Basel-Landschaft) von 856 zu den frühesten Nachweisen eines Jakobus-Kultes in der Schweiz und auch Süddeutschlands.5 Schon einige Jahre vor den soeben genannten Anstrengungen, Basel in das europäische Jakobuspilger-Netz einzubinden, hatten moderne Pilger gelegentlich den Weg über die Rheinstadt gewählt oder empfohlen. Wie der Wirtschaftsingenieur und -ethiker Ulrich Hagenmeyer in seinem klug geschriebenen Pilgerbuch Das Ziel ist der Weg6 festhielt, pil­ gerte er im Sommer 2000 von Waldshut nach Basel und dann über mehrere, anspruchsvolle Jurakuppen weiter nach Solothurn und Bern, um dort Anschluss an die alte ‹Obere Strasse› zu finden. Hagenmeyer folgte damit zweifellos einer Wegbeschreibung von Bert Teklenborg

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von 1998,7 der dafür den Fernroutenführer ‹Basel-Sion›,8 herausgegeben von der Fachorganisation Schweizer Wanderwege, als Vorlage benutzt hatte …9 In den späteren 1980er Jahren tauchte im Umfeld des Forschungsunternehmens Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS; heute: ViaStoria) eine Kartenskizze auf,­­ wo­rauf auch ein mutmasslich von Jakobspilgern verwendeter Weg von Basel über den Oberen Hauenstein in Richtung Mittelland eingezeichnet war. Auf anderen, so oft auch auf h ­ istorischen Karten ist zumindest ein Weg von Basel durch die Burgunderpforte eingezeichnet, während auf anderen eine Route in einem leichten Bogen durch den Jura nach Genf führt.10 Wie die nachstehenden Ausführungen ebenfalls bestätigen, war Basel auch – und sogar früher als in Richtung Santiago – Durchgangsstation für Pilger von und nach Rom, Jerusalem und Einsiedeln. Dafür dienten verschiedene Strassen und Wege über den nordwestschweizerischen Jura. Wer das Oberrheintal hinauf gekommen war und über Basel in Richtung Grosser St. Bernhard weiter wollte, bevorzugte sicher den Unteren Hauenstein, da hier auch eine gewisse Infrastruktur bestand. Ob es in den seit dem hohen Mittelalter befestigten Orten Liestal, Waldenburg und Klus Pilgerherbergen gab, ist ungewiss, aber denkbar. Gesichert ist hingegen die Existenz eines Hospitals zwischen Waldenburg und der Passhöhe. Der heutige Hof Spittel geht auf eine alte Herberge mit Kapelle zurück, wie auch die Bauforschung ergeben hat. Das Gebäude befand sich auf Grund und Boden des nahe gelegenen, benediktinischen Klosters Schönthal, das wie die vorgenannten Kleinstädte eine Gründung der im Hochmittelalter in dieser Gegend mächtigen Grafen von Frohburg war. Wichtig für Pilger, die vom Oberrheingebiet in Richtung Süden ziehen wollten, waren auch die Wasserfallen, der Untere Hauenstein und der Schafmattpass.11 Der zwischen Reigoldswil und Mümliswil gelegene Wasserfallen-Pass, der nur von Fussgängern und Saumtieren begangen werden konnte, bot bei einem Anmarsch über Dornachbrugg–Hochwald–Seewen eine rasche Verbindung in Richtung Mittelland, das kurz nach dem Zwergstädtchen Klus erreicht wurde. Als Wegbegleiter trafen Pilger unterwegs auch Verehrungsstätten von Heiligen, die allerdings nicht alle schon seit dem Mittelalter Bedeutung hatten: der Brückenheilige Johannes von Nepomuk in Dornachbrugg, der fränkische Hilarius von Poitiers hinter Reigoldswil, der Pest- und Pilgerheilige Rochus von Montpellier auf der Passhöhe und die lokal bedeutende Wallfahrtskapelle St. Wolfgang bei Balsthal. Für Kaufleute und Fuhrwerke mit Ziel Italien und infolgedessen auch für Rompilgerinnen und -pilger attraktiv wurde der Untere Hauenstein erst nach der Öffnung des Gotthardpasses (nach 1200), während für das Pilgervolk nach Einsiedeln der Schafmattpass als Verbindung zwischen dem Ergolztal und Aarau über viele Jahrhunderte der wichtigste Übergang blieb. Der Weg führte von Basel unter anderem vorbei an den Dorfkirchen von Lausen und Oltingen, die dem auch von Kaufleuten und Pilgern stark verehrten Nikolaus von Myra / Bari geweiht waren und noch heute dank ihrem reichen Freskenschmuck gerne besucht werden. Jenseits des Passes kamen die Einsiedler Pilger, die meisten davon aus dem Elsass kommend, bei Rohr zu einer St. Ulrich-Kapelle. Ihr erster Bau geht vermutlich auf das 13. / 14. Jahrhundert zurück und wurde vom Kloster Einsiedeln veranlasst, das um 1200 durch eine Schenkung der Frohburger Grafen hier zu Landbesitz gekommen war. Bemerkens-

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Bernhard von Aosta Nach diesem Heiligen heisst einer der bedeutendsten Alpenpässe, der Grosse St. Bernhard, der das Wallis und die Westschweiz mit dem Aostatal und dem westlichen Piemont verbindet. Bernhard von Aosta darf nicht mit dem anderen grossen Namensträger, Bernhard von Clairvaux, verwechselt werden. Wegen einer legendären Vita des 15. Jahrhunderts wird er oft auch fälschlicherweise Bernhard von Menthon (bei Annecy, Savoyen) genannt. Bernhard von Aosta entstammt einer vornehmen Aostataler Familie des 11. Jahrhunderts. Als Archidiakon gründet er mit Mönchen auf der Passhöhe des Grossen St. Bernhard ein Hospiz für die Durchreisenden. Das Hospiz, das später auch berühmt für die Bernhardiner-Hunde wird, liegt an einem sicher seit der Römerzeit begangenen Alpenübergang. Dank Sigerich, Erzbischof von Canterbury, der 990 seinen Rückweg von Rom nach England schriftlich festhielt, besitzen wir das älteste Itinerar zur Via Francigena, dem klassischen Pilgerweg von Nordwesteuropa nach Rom. Im Gegensatz zum isländischen Abt Nikulas von Munkathvera, der 1155 über den Pass nach Rom und weiter ins Heilige Land pilgerte und ebenfalls ein wertvolles Itinerar hinterliess, konnte er wohl noch nicht das Hospiz aufsuchen, denn dessen Gründung kann erst um die Mitte des 11. Jahrhunderts erfolgt sein. Als Todesjahr von Bernhard gilt 1081. Bernhard ist Patron der Bergbewohner, der Alpinisten und der Passreisenden, somit auch der Pilger. Wie auch bei unserer Holzstatuette wird er oft in der Gestalt eines Augustiner-Chorherren gezeigt, mit dem gefesselten Teufel, das Heidentum repräsentierend, zu Füssen. Statue: Bernhard von Aosta. Italien, Aostatal, Valsavaranche. Um 1860. Holz, geschnitzt. VI 10983. Sammlung Jules Brocherel, Aosta

24 | Basel im Schnittpunkt alter Pilgerstrassen


wertes Detail: Auf der grossen Glocke (von 1493) sind nicht bloss sechs Münzen aus Tirol, Strassburg, Metz und Luzern als ‹Verzierung› zu sehen, sondern auch zwei Plaketten, die als spätmittelalterliche Pilgerzeichen gedeutet werden dürfen. Die eine stammt von einem oberrheinischen Marienheiligtum, die andere – mit der Darstellung des heiligen Nikolaus – wahrscheinlich aus Saint-Nicolas-de-Port (bei Nancy/Lothringen). Dieses galt früher als bedeutender Tuchmesse- und Wallfahrtsort.12 Fremde Pilger ziehen durch Basel Klaus Herbers stellt mit Bedauern fest, dass wir von Pilgern aus dem Oberrheintal nicht so ausführliche Berichte besitzen,13 wie sie von Pilgern anderer Gegenden vorliegen. Infolgedessen wissen wir auch wenig über die von ihnen konkret benutzten Routen. Dafür erfahren wir etwas mehr über fremde Pilger, die im Mittelalter durch Basel zogen. Sie erlauben uns Rückschlüsse, welche die Nutzung der sich in Basel kreuzenden Strassen durch Pilger bestätigen. Dass es zeitweise nicht wenige waren, hielt 1450 der Münsterkaplan Erhard von Appenwiler in seiner Chronik fest: Er bezifferte die Präsenz von täglich tausend Pilgern, darunter «viele junge Lutte, Knaben und Meitlen».14 Ein sehr frühes Zeugnis verdanken wir dem Itinerar des Abtes Nikulas Bergsson aus dem isländischen Benediktinerkloster Munkathvera von 1154. Seinen knapp gehaltenen Aufzeichnungen entnehmen wir nicht nur, dass er in Utrecht den Pilgersegen empfangen hatte, sondern wir finden auch Angaben zum Weg: Er kam über Strassburg nach Basel und ging dann über den Oberen Hauenstein nach Solothurn (mit Besuch der Verenaschlucht?) und dann wohl zumeist auf der alten Römertrasse über Avenches (Aventicum) und St-Maurice (Agaunum) zum Grossen St. Bernhard.15 Nach dem Aufenthalt in Rom reiste der Abt weiter ins Heilige Land, und nach seiner Rückkehr nach Italien pilgerte er weiter nach Santiago. Seinem auch dann geführten Tagebuch verdankt die Pilgerwegforschung den ersten Hinweis auf die Verbindungsroute zwischen Italien und Santiago.16 Wohl bereits kurz nach 1150 pilgerte Graf Eberhard V. von Nellenburg, der Gründer des Klosters Allerheiligen in Schaffhausen, zweimal nach Rom. Dabei ging es ihm auch und vor allem um die Sicherstellung der Gründung und Rechtsform seines Klosters, das auch seine Herrschaft am Hochrhein festigen sollte. Später veranlassten beunruhigende Visionen Eberhard zu einer Fahrt nach Santiago, die er um 1072 mit seiner Frau Ida und einem Kaplan machte. Nach der Rückkehr entsagten beide allem Weltlichen und traten in Klöster ein. Es ist anzunehmen, dass das Grafenpaar über Basel nach Santiago und zurück gereist war. Auf der gleichen Route und nachweislich auf dem Wasserweg kam 1489 der armenische Bischof Martire de Arzendian nach Basel, um zunächst nach Köln (Dreikönigsschrein) weiterzureisen, bevor er in südwestlicher Richtung nach Spanien pilgerte.17 Nichts über die genaue Route wissen wir hingegen von einer grösseren Schar junger und alter Frauen und Männer, die Ende November 1457 mit «offen banern» durch Basel zogen und als Ziel ihrer Pilgerfahrt den Mont Saint-Michel in der Normandie nannten.18 Wahrscheinlich führte sie ihr weiterer Weg durch das Elsass und nach Saint-Nicolas-de-Port, um dann auf einer alten Handelsstrasse in westlicher Richtung dem berühmten Michael-Heiligtum entgegenzustreben.

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