René Küng - Kunst und Natur

Page 1

RenĂŠ KĂźng Kunst und Natur

Christoph Merian Verlag

Eine lebenslange Beziehung



Stefan Hess

im reich der sinne Seit über 3000 Jahren wird in China und Indien mit Steinen Musik erzeugt. Auch für René Küng ist es eine tiefe innere Erfahrung, dass Steine Klänge hervorbringen können; dazu braucht es nicht einmal einen Schlägel, denn die Klänge wohnen in seinem synästhetischen Empfinden den Steinen selbst inne: In zahllosen Variationen durchziehen sie das umfangreiche Werk des Künstlers. Paradigmatisch ist eine bereits 1957, im Jahr der ‹Künstlerwerdung› René Küngs, entstandene Miniaturplastik, die den mythischen thrakischen Sänger Orpheus zeigt, wie er die Hörner eines Tieres zu einer Lyra formt und damit gleichsam die Musik aus der Natur hervorbringt. Später sind es die vom Wind umspielten Harfen und Lauten aus Holz oder Stein, welche die universelle Musik einfangen. Oder wie es Nicolaj van der Meulen ausgedrückt hat: «Zwischen den steinernen Saiten der Harfen spielen die Elemente ihr Lied. Wer die Skulpturen umschreitet und aufmerksam hinblickt, vermag das Gesehene auch zu hören: Küngs musikalische Bildwerke lehren uns, die Natur zu hören.» In den 1980er-Jahren löste der intensive Gesang des blinden Vor­ sängers einer ägyptischen Wandertruppe, die im Rahmen der Konzert­ reihe Chants sacrés du monde in einer romanischen Kirche der Provence auftrat, bei René Küng eine Art Vision aus: Er sah, wie die menschliche Stimme sich in einer Treppenlinie zum Himmel erhebt – ein Bild, das er dann in den Canti aus Holz oder Stein, später auch aus Metall, materia­ lisierte. Als deren Weiterentwicklung können die filigranen Nachtmusiken der 2000er-Jahre gelten, die aus schmalen, emporstrebenden Bändern bestehen und die Assoziation an Notenlinien erwecken. René Küngs Skulpturen sprechen also nicht nur die visuelle und die taktile Sinneswahrnehmung an, von ihnen geht vielfach auch ein imaginärer auditiver Reiz aus. In manchen Werken, wie Erntelandschaft oder Stillleben mit Zitrone, wird darüber hinaus die olfaktorische Wahrnehmung angesprochen, und die steinerne Gemüseplatte (1986) verspricht gar gustatorische Genüsse. Wie die Sinne, so verschränken sich bei René Küng auch die künstlerischen Gattungen. Seit den 1970er-Jahren überträgt er immer wieder die malerische Gattung des Stilllebens ins Dreidimensionale, zuerst als Guckkästchen mit hineinmodellierten Töpfen, Krügen und Vasen aus bemaltem Ton, dann als Arrangements von ausgesuchten Steinen. Seine aufragenden, filigranen Skulpturen aus Holz oder Metall wirken wiederum wie Versuche, in die Luft zu zeichnen. René Küngs Arbeitsweise lässt sich denn auch mit der geläufigen Berufsbezeichnung ‹Bildhauer› nur ungenau erfassen. Zwar hat er eine Lehre als Steinmetz absolviert und dabei alle wichtigen Techniken der Steinbearbeitung durch Werkzeuge und Maschinen erlernt. In seiner künstlerischen Tätigkeit beschränkt er – soweit er mit Stein und Holz

8


arbeitet – seine Eingriffe mit Messer, Meissel und weiteren technischen Hilfsmitteln auf ein Minimum, sodass die ursprüngliche Form der verwendeten Materialien weiterhin erkennbar bleibt. Häufig besteht seine Arbeit vor allem im Arrangieren, im Komponieren von vorgefundenen Steinen und Ästen in ihrer natürlichen Gestalt. «Für mich sind die einzelnen Elemente wie Buchstaben», äussert sich der Künstler selbst zum behutsamen Umgang mit seinen Werkstoffen. Stets pflegt er einen intensiven Dialog mit seinen Materialien, deren Eigenheiten und natürliche Gestalt die Genese eines Werkes massgeblich mitbestimmen. Entscheidend ist dabei das Sehen: Aus Erinnerungsbildern und den hinter den Werkstoffen erkannten ‹Urbildern› formt sich im Kopf und unter den Händen des Künstlers ein neues Werk. Manche Grossplastik hat ihren Vorläufer in einem kleinformatigen Werk. Nicht selten entstehen aber die grossen Werke ohne jeglichen plastischen Entwurf; dem Künstler genügt dann eine flüchtige Bleistiftskizze, um die sich aus dem inneren und äusseren Sehen herausdestillierende Formgebung zu fixieren. Bei dieser fast meditativen Tätigkeit befindet sich René Küng allein im Austausch mit seinen Werkstoffen. Einzig seiner Frau Silvia billigt er zu, durch unbefangene Kommentare auf die Gestaltung eines im Entstehen begriffenen Werkes einzuwirken, und auch dies – wie er im Gespräch schmunzelnd hinzufügt – eher widerwillig. Etwas anders vollzieht sich der Arbeitsprozess in Metall, da René Küng nur mit ‹natürlichen› Materialien und nicht – wie manch Plastiker seiner Generation – mit Industrieschrott arbeitet. Entweder dienen ihm Metalle dazu, in Stein und Holz erprobten Bildthemen neue Ausdrucksmöglichkeiten abzugewinnen und auch kleine Serien, sogenannte Mul­ tiples, herzustellen. Oder sie ermöglichen es ihm dank ihrer Formbarkeit Bildideen auszudrücken, die in festen mineralischen oder organischen Substanzen kaum umsetzbar wären.

Inspirationen

Einen massgeblichen Einfluss auf René Küngs Schaffen haben auch die Orte, die er sich zum Arbeiten und Wohnen ausgesucht hat. Allschwil und Schönenbuch, Les Bois in den jurassischen Freibergen und Le Beaucet in der Provence, aber auch vorübergehende Aufenthaltsorte wie die Balearen-­ Insel Ibiza, Rom, das Tessin, Irland, Nordafrika und die griechische Insel Naxos haben in René Küngs Œuvre in Form von neuen Materialien und Bildthemen einen sichtbaren, meist andauernden Niederschlag gefunden. Auf Ibiza etwa begann Küng zu zeichnen und in Ton und Holz zu arbeiten, im Jura baute er seine ersten Skulpturen aus Tannenästen, darunter die ersten Leitern, im Tessin erschloss sich ihm der dort auf dem Land

9


omnipräsente Granit als Werkstoff und in der Provence empfing er einen starken Impuls zum Arbeiten in Kalkstein und motivische Anregungen, wie etwa die Steinbücher oder die von romanischen Kirchenportalen angeregten Tore. Erweisen sich Natur und Landschaft als prägende Faktoren im künstlerischen Schaffen von René Küng, üben Werke anderer Künstler keinen manifesten Einfluss auf ihn aus. Zwar gibt es durchaus Bildhauer, die Küng beeindruckt haben, etwa Eduardo Chillida, in dessen Werk er sich 1962 anlässlich einer Ausstellung in der Basler Kunsthalle vertiefte, oder der Aristide Maillol sowie dem Kubismus nahe stehende Franzose Henri Laurens, doch sind auch sie für ihn zu keinen unmittelbaren Vorbildern geworden. Überhaupt veränderte sich bei René Küng das Formenvokabular nur langsam, ohne je augenfällig auf Strömungen im Kunstbetrieb zu reagieren. Überschaubar ist das Themenspektrum: Es umfasst ausgewählte Himmelskörper, Landschaften, Tiere und Pflanzen, mythologische und transzendente Wesen, menschliche Artefakte, wie Räder, Fenster und die bereits genannten Leitern, Bücher und Musikinstrumente, sinnträchtige oder wegweisende Zeichen, geometrische Formen, aber auch optisch nicht wahrnehmbare Entitäten, wie Jahres- und Tageszeiten oder die Musik. Im Lauf des künstlerischen Werdegangs kam es immer häufiger auch zu Motivüberschneidungen, was schon Werktitel wie Mondleiter, Fenster mit Apfel, Sonnentor und Venustor anzeigen. Eine untergeordnete Rolle als Bildthema spielt dagegen der Mensch; er erscheint nur in mythologischer Gestalt sowie in reduzierter Form als Torso, Steiwybli oder Venusdreieck. Zeichenhaft tritt auch der Künstler selbst vereinzelt in seinem Werk in Erscheinung – als Buchstabe K. Auf René Küngs Werk wurden immer wieder Begriffe wie ‹Symbol› und ‹Archetyp› bezogen. Tatsächlich sind dem Künstler kulturhistorische Bedeutungsreflexe durchaus bewusst und auch die Archetypenlehre von C. G. Jung ist ihm nicht unbekannt, doch bilden sie für ihn keinesfalls den entscheidenden Referenzhorizont. Bei allem Interesse für Literatur und Kulturgeschichte ist er kein intellektueller Künstler. Seine Arbeitsweise ist mehr intuitiv, meditativ, wobei auch eine spielerische Note mitschwingt. Ausserdem verdient die technisch-handwerkliche Seite besondere Beachtung. So hat sich René Küng noch als junger Künstler gegenüber einem Journalisten dahin geäussert, dass jedes Handwerk eine gute Vorbereitung für einen künstlerischen Beruf darstelle und er selber die Ausbildung zum Grafiker an der Kunstgewerbeschule vor allem deshalb abge­brochen habe, weil ihm ein ‹rauer› Beruf vorgeschwebt habe. Solche Äusse­r ungen erinnern an die Kunsttheorie der Renaissance, in der im Zusammenhang mit dem Paragone, dem ‹Wettstreit der Künste›, die ‹difficoltà›

10


(Schwierigkeit), die ‹fatica› (Anstrengung) und die ‹asprezza› (Rauheit) des bildhauerischen Berufes herausgestrichen und je nach Standpunkt positiv oder negativ bewertet wurden. So hat sich René Küng im Lauf seines Lebens ein stupendes handwerkliches Können in verschiedenen Gebieten – nament­lich in der Steinbearbeitung, in der Wagnerei und im Schmieden – angeeignet; darüber hinaus zeugen etwa seine aus einzelnen Steinstücken zusammengefügten Speichenräder von hervorragenden konstruktiven Fähigkeiten. Wichtige Kenntnisse hat er während seiner Steinmetzlehre erworben – neben verschiedenen Techniken der Stein­bear­ bei­tung auch das Herstellen von Werkzeugen und damit Grundlagen des Schmiedehandwerks. Viele Fertigkeiten hat er sich überdies durch Beobachten – etwa von spanischen Schiffbauern – oder schlicht durch ‹learning by doing› angeeignet: Künstlerische und handwerkliche Kreativität lassen sich bei René Küng nicht voneinander trennen. Wiewohl der Künstler in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern kann, sind seine Schaffenskraft und die Lust ungebrochen, seinen Werkstoffen und seiner Umgebung im Zwiegespräch immer wieder neue Facetten abzugewinnen. Auf die Frage, wohin das beharrliche Weiterschreiten und behutsame Erweitern der Werkfolgen noch führen werden, scheint es nur eine Antwort zu geben, wie sie Aurel Schmidt bereits 1983 formuliert hat: «Zurzeit ist alles offen».

11


A contre-vent 2012, Granit (Lavorgo), 155 × 120 × 19 cm

12



Blaues Mondtor 2012, Quarzit, 162 × 40 × 26 cm

14




Venussäule 1999, Granit (Portugal) / Bronze, 230 × 33 × 33 cm Dreieck 2014, Granit (Lavorgo), 156 × 142 × 21 cm

17


Scalaruota 2004, Kalkstein, 153 × 90 × 20 cm Nachtkreiszeichen 2002, Holz (Kirschbaum), 240 × 230 × 90 cm

18


19




I sette diavoli 2009, Granit (Andeer), 205 × 120 × 75 cm

22



Mondleiter 2014, Holz (Tanne), H 450 cm

24



Grosse Venus 1991, Granit (Andeer), 130 × 163 × 24 cm Lunatico 2014, Granit (Andeer), 210 × 67 × 30 cm

26


27


Sahara Variation 2006, Eisen, 130 × 180 × 110 cm

28





Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.