S AM 13 - Textbau / Constructing Text

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Textbau. Schweizer Architektur zur Diskussion

Constructing Text. Swiss Architecture under Discussion

Hubertus Adam, Evelyn Steiner Architektur ist allgegenwärtig und besitzt eine hohe Wirkungsmacht – und doch wird sie in der breiten Öffentlichkeit nur in Ausnahmefällen zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Architektur ist gewissermassen selbstverständlich, doch wie kann man über sie sprechen oder schreiben? Während zu den Themen Architekturtheorie sowie Architektur und Literatur zahlreiche Publikationen vorliegen, stellt die Architekturkritik ein noch wenig reflektiertes Feld dar. Anhand von fünfzehn ausgewählten Schweizer Bauten, Projekten und Schriften, die in den letzten vierzig Jahren kontroverse Debatten auslösten, wird in der vorliegenden Veröffentlichung ausschnitthaft nachgezeichnet, auf welche Weise Architekturkritik das Bauen aus dem realen Raum in mediale Räume überführt. Wie wird hierzulande in verschiedenen Medien über Architektur geschrieben und gesprochen? Die Projekte stehen jeweils beispielhaft für bestimmte Debatten und verdeutlichen, wie unterschiedlich Architektur wahrgenommen werden kann. Einige Gebäude wecken nur das Interesse des Fachpublikums, während andere in Volksabstimmungen legitimiert werden müssen und dort gegebenenfalls an ihr vorzeitiges Ende gelangen. In den Medien stehen je nach Bau ökonomische oder ökologische Fragestellungen, die Verflechtung von Politik und Architektur, Kritik an Grosssiedlungen, der Umgang mit dem Bestand, Denkmalpflege, Tourismus, Zersiedelung oder Verdichtung im Vordergrund. Absicht ist es, für den Architekturdiskurs und seine speziellen Formierungen zu sensibilisieren: Wer schreibt wann, warum und in welcher Form? Was ist das Ziel, welches ist das Zielpublikum der Kritik? Architekturkritik kann den innerarchitektonischen Diskurs befördern und damit Architekten bei der Präzisierung ihrer Entwurfshaltung unterstützen. Sie kann exemplarisch architektonische Grundfragen einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln. Sie kann zu harten, kontroversen Debatten antreiben oder lediglich schildern, was sich ereignet. Über die Massstäbe, die der Kritik zugrunde gelegt werden, lässt sich keine generelle Übereinkunft erzielen. Mal versteht sich der Kritiker als Wegbereiter und Wegbegleiter des Neuen, mal operiert er als Volkstribun, Protokollant oder Archivar. Und häufig bleibt bei polemischen Debatten die Architektur auf der Strecke, drängen sich andere Themen in den Vordergrund. Sich mit Architekturkritik auseinanderzusetzen bedeutet, Antworten auf einige generelle Fragen zu finden: Welche Funktion besitzt Architekturkritik? Sollte Architekturkritik Position für eine bestimmte Haltung beziehen – oder geht es darum, ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen darzustellen? Hat sich Architekturkritik in den letzten Jahren verändert? Und worin bestehen die zukünftigen Potenziale oder Gefährdungen im Bereich der Architekturkritik, gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Medienlandschaft? Wir haben diese Fragen nationalen und internationalen Akteuren der Architekturkritik gestellt – und veröffentlichen die Ergebnisse im abschliessenden Teil dieser Publikation. Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Haltungen und das berufliche Selbstverständnis der Befragten. Architekturkritik hat viele Facetten – sie ist eine dringend nötige, aber auch auf vielerlei Weise gefährdete Disziplin.

Architecture is omnipresent and highly potent – and yet only in exceptional cases does it become the subject of debate among the general public. In a way, architecture is self-evident, but how can it be talked or written about? While there are numerous publications on the topics of architectural theory and ‘architecture and literature’, architectural criticism is a field that is still rarely reflected on. On the basis of 15 selected Swiss structures, projects and texts that have triggered controversial debates in the past 40 years, this publication fragmentarily traces the way in which architectural criticism transfers construction from the real space to the medial space. How is architecture written and spoken about in various media, here in Switzerland? Each of these projects is an example that represents a specific debate and illustrates how differently architecture can be perceived. Some buildings only arouse the interest of trade professionals, while others have to be legitimised in public referendums, which possibly bring them to a premature end. Depending on the construction, the media can place economic or ecological issues, the interweaving of politics and architecture, criticism of large residential complexes, the handling of existing buildings, heritage preservation, tourism, urban sprawl, or densification in the foreground. The intention is to raise awareness of architectural discourse and its particular formations: Who writes when, why and in what form? What is the criticism’s objective? Who is its target audience? Architectural criticism can encourage internal architectural discourse, thus helping architects to clarify their design approach. It can convey fundamental architectural issues to a broader public via examples. It can provoke hard, controversial debates or merely indicate what is happening. It is impossible to reach any general agreement about the criteria on which criticism is based. Sometimes the critic sees themselves as someone who paves the way for, and accompanies, the new; sometimes they operate as a people’s tribune, a keeper of minutes, or an archivist. And in polemic debates, architecture often falls by the wayside while other topics push themselves to the fore. To address architectural criticism is to find answers to a number of general questions: What is the function of architectural criticism? Should architectural criticism take a firm stand – or is it about expressing a broad spectrum of different positions? Has architectural criticism changed in the past years? And where can future potential or hazards be seen in the field of architectural criticism, particularly against the backdrop of the digitisation of the media landscape? We have put these questions to national and international protagonists of architectural criticism – and are publishing the results in the final section of this publication. The answers differ as much as the interviewees’ attitudes and professional self-perceptions. Architectural criticism is multifaceted – it is an absolutely essential, but in many ways endangered discipline.


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Inhalt

Content

Gedanken 端ber Architekturkritik Projekte Statements Impressum

Thoughts on architectural criticism Projects Statements Imprint


Gedanken über Architekturkritik Hubertus Adam

Thoughts on architectural criticism Hubertus Adam

Architekturkritik hat einen schweren Stand. Was sie leisten soll, ist unklar; selbst ihre Akteure vermögen nicht, sich auf ein gemeinsames Selbstverständnis zu berufen. Einigkeit besteht lediglich darin, dass es um die Architekturkritik nicht zum Besten steht. Und dass sie dennoch von höchster Bedeutung ist. Der englische Wikipedia-Eintrag drückt es mit aller Deutlichkeit aus: «Architecture crit­icism is a confused topic.» 1 Kann Architekturkritik sich Aufmerksamkeit verschaffen, so aufgrund des Interesses an ihrem Objekt, der Architektur. Dieses Interesse mag allgemein sein – oder sich auf spezielle Gruppen beschränken. In der allgemeinen Wahrnehmung fristet Architektur nur ein Nischendasein. Was irritiert, wenn man Architektur als die öffentlichste und grundlegendste aller Künste versteht. Als ‹Paragone› wird in der Kunsttheorie der Wettstreit der Künste bezeichnet, die Frage nach der Hierarchie der Gattungen. Dass Architektur die Mutter aller Künste sei, ist ein Gedanke, der schon von Vitruv geäussert wurde, und der im Verlauf der Geschichte immer wieder postuliert wurde – beispielsweise im emphatischen Einleitungssatz des Bauhaus-Manifestes von Walter Gropius 1919: «Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!» Blicken wir auf die Gegenwart, so ist der Primat der Architektur in weite Ferne gerückt. Gebaut wird viel, reflektiert wenig. Während in den Schulen die Auseinandersetzung mit Literatur, Musik und Kunst selbstverständlich ist, gilt Architektur in den Lehrplänen als quantité négligeable. Und wenn im Bereich der Politik einmal von Baukultur die Rede ist, so geht es hierzulande selten um mehr als um MinergieVerordnungen oder die Idee der 2000-Watt-Gesellschaft. Wir werden in Architektur geboren, wir sterben in Architektur; wir wohnen, wir arbeiten, wir leben: in Architektur. Architektur ist unausweichlich, und dennoch wird Architektur beispielsweise gegenüber der Kunst als inferior wahrgenommen. Dinge, die allzu selbstverständlich sind, entziehen sich der Wahrnehmung. Weil die Konfrontation mit Architektur nicht einer persönlichen Willensentscheidung unterliegt wie etwa der Besuch eines Museums, wird der Architektur – abgesehen von einigen spektakulären, eher als Kunst verstandenen Werken – selten Aufmerksamkeit zuteil. Der etymologisch im Griechischen wurzelnde Begriff der Kritik wurde im 17. Jahrhundert von Frankreich aus in den deutschen Sprachraum importiert und blieb zunächst auf die Literaturtheorie beschränkt. Architekturkritik wird nach heutigem Verständnis erstmals im 18. Jahrhundert greifbar und durchlief im 19. Jahrhundert eine lange Latenzphase. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten verbilligte und vereinfachte Druck- und Reproduktionsverfahren nachgerade eine Springflut an neuen Publikationen zur Folge. Die fotomechanische Reproduktion führte zur Gründung neuer Fachzeitschriften, der Rotationsdruck ermöglichte die kostengünstige Verbreitung von Tageszeitungen. Damit war auch für die Besprechung von Architektur mehr Platz vorhanden. Und Architektur wurde angesichts des radikalen Stadtwachstums der Gründerzeit zu einem wichtigen Thema. Blickt man auf das deutschsprachige Mitteleuropa als Referenzfeld, so konnten sich in der neuen Medienwelt Kulturschriftsteller etablieren, die der Architektur in den verschiedenen Publikationsorganen ihre Auftrittsflächen verschafften. Einigen der auch heute noch bekannten Akteure gelang es, Tageszeitungen, Publikumszeitschriften und Fachorgane gleichermassen zu bedienen – mitunter sogar, ohne dass sich ihr Stil dabei gravierend geändert hätte. Adolf Behne war einer der einflussreichsten Kritiker in Deutschland. Bekannt wurde er als Wegbegleiter von Bruno Taut, doch auf eine eindeutige Position festlegen, wie es Architekten favorisieren, liess er sich nie. So äusserte er gegenüber J.J.P. Oud: «Es ist ihnen, was mich nicht verwundert, etwas seltsam, dass ich gleichzeitig Sympathien habe für Taut und De-Stijl-Dinge, die sie als unvereinbare Gegensätze empfinden. […] Ich kenne nun mal kein Dogma in der Kunst.» 2 Noch stärker irrlichterte Peter Meyer 3 zwischen den Fronten, der

Architectural criticism is in a difficult position. What it is supposed to provide is unclear; even its protagonists cannot refer to any common understanding of themselves. All that is agreed on, is that architectural criticism is not in the best of situations and that it is nevertheless of utmost importance. The corresponding Wikipedia article puts it very clearly: ‘Architecture criticism is a confused topic.’1 Whenever architectural criticism is able to attract attention, this is due to the interest in its object, the architecture. This interest may be general – or limited to special groups. Architecture only carves out an existence in a niche of the public’s perception. This is irritating, considering that architecture is the most public and fundamental of all arts. In art theory, the rivalry between the arts, the question of the hierarchy of art forms, is referred to as ‘paragone’. The notion that architecture is the mother of all arts was already expressed by Vitruvius and has been repeatedly postulated throughout the course of history – for instance in the emphatic introductory sentence in the 1919 Bauhaus manifesto by Walter Gropius: ‘The ultimate aim of all creative activity is building!’ If we look at the present day, the primacy of architecture has receded into the distance. Much is built, little is reflected on. While addressing literature, music and art in schools is a matter of course, architecture is a negligible quantity in the curricula. And in this country, whenever building culture is discussed in the domain of politics, it is seldom about anything more than Minergie regulations or the idea of the 2000-watt society. We are born within architecture, we die within architecture; we reside, we work, we live: within architecture. Architecture is un­ avoidable and yet architecture, for example, is perceived to be inferior to art. Things that are all too self-evident elude perception. As the confrontation with architecture is not the subject of a personal wilful decision, such as the decision to visit a museum for instance, architecture (except for a number of spectacular works that are primarily seen as art) is seldom paid any attention. In the 17th century, the concept of criticism, etymologically rooted in Greek, was imported from France into the German-speaking world and initially remained confined to literary theory. Architectural criticism, in today’s understanding of the term, first manifested itself in the 18th century and went through a long latency phase in the 19th century. Towards the end of that century, cheaper and simpler printing and reproduction methods had triggered a virtual tidal wave of new publications. Photomechanical reproduction led to the founding of new specialist journals; rotary printing en­ abled low-cost distribution of daily newspapers. This also meant that there was more space available for discussing architecture. And in view of the radical urban growth during the founding period, architecture became an important topic. If one looks at German-speaking Central Europe as a field of reference, this enabled cultural writers to establish themselves in this new media world, creating a platform for architecture within the various publishing bodies. Several of the protagonists who are also still known today managed to use daily newspapers, popular magazines and specialist journals to an equal extent – sometimes without even making any major changes to their style. Adolf Behne was one of the most influential critics in Germany. He became famous as a companion of Bruno Taut, but he never let himself be tied down to one clear position, in the way that architects prefer. To J.J.P. Oud, for instance, he wrote the following: ‘They find it somewhat strange (which does not surprise me) that I simultaneously have sympathy for Taut and for De Stijl things, which they see as irreconcilable opposites. […] I just do not know any dogma in art.’2 Peter Meyer,3 who after studying architecture under Theodor Fischer in 1914 –18, turned to architectural criticism and initially wrote for the newspaper NZZ and the journal Schweizerische Bauzeitung, flitted about between the fronts to an even greater extent. With an inestimable volume of articles for various daily newspapers and specialist

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sich nach seinem Architekturstudium bei Theodor Fischer 1914–18 der Architekturkritik zuwandte und zunächst für die NZZ und die Schweizerische Bauzeitung schrieb. Mit einer unübersehbaren Masse von Beiträgen für diverse Tageszeitungen und Fachzeitschriften beherrschte er den Schweizer Architekturdiskurs bis in die Vierzigerjahre, wobei er sich – anders als Sigfried Giedion – nicht als Propagandist einer bestimmten Richtung verstand und daher in seiner Haltung unabhängig, zum Teil auch verstörend wirkte. Ohne Zweifel können die Zwanziger- und Dreissigerjahre als eine Blütezeit der Architekturkritik gelten. Die in der Zeitschrift Die Form geführte Debatte um das Haus Tugendhat von Mies van der Rohe in Brünn, an der Walter Riezler, Justus Bier, Fritz und Grete Tugendhat sowie Roger Ginsburger mit Beiträgen beteiligt waren, kann mit ihren kontroversen Positionen und ihrer argumentativen Schärfe auch heute noch als mustergültig angesehen werden.4 Eine kontinuierliche Berichterstattung über Architektur blieb lange die Ausnahme. Die New York Times als wichtigste Tageszeitung der USA setzte ein Zeichen, als sie die Kuratorin, Autorin und Kritikerin Ada Louise Huxtable 1963 als ständige Architekturkritikerin einstellte – ein Posten, der speziell für sie geschaffen worden war. Huxtable mischte sich vehement in die Debatten der Zeit ein; so schrieb sie gleich am Anfang ihrer Tätigkeit gegen den Abriss der Penn Station. Ihre Wortmacht wurde geschätzt und gefürchtet, und ihr Nachfolger Paul Goldberger resümierte 1996: «She has made people pay attention. She has made people care. She has made architecture matter in our culture in a way that it did not before her time.» 5 Huxtable blieb bis 1982 bei der New York Times, dann folgte ihr Goldberger. 1997 wechselte er zu The New Yorker und Herbert Muschamp übernahm die Stelle für zwölf Jahre. Die Ära Goldberger / Muschamp ist insofern symptomatisch, als sich das Image des Architekten parallel zur Postmoderne wandelte. Während Hux­ table noch die spätmoderne Zerstörung gegeisselt hatte, traten nun jüngere Architekten auf den Plan, die mit phantasievollen Entwürfen auf sich aufmerksam machten und zu den Lieblingen der Medien avancierten: Frank O. Gehry, Jean Nouvel, Zaha Hadid oder Rem Koolhaas, später auch Diller & Scofidio, Greg Lynn oder Reiser + Umemoto. Architektur war wieder starfähig geworden, die Zeiten der Sechziger- und Siebzigerjahre, in welchen sich Architekten und Medien entfremdet hatten, waren vorbei. Dabei beruht das Verhältnis auf einem wechselseitigen Geben und Nehmen: Benötigen Redaktoren von Tageszeitungen Architektur, die genug Aufmerksamkeitswert besitzt, so profitieren die Architekten von der medialen Publizität der Tageszeitungen, die ein breiteres Zielpublikum erreichen als die in den eigenen Zirkeln, aber selten von potenziellen Bauherren gelesenen Fachzeitschriften. Mit der festen Einrichtung der Stelle eines Architekturkritikers ging die New York Times voran, und auf Herbert Muschamp folgten 2004 Nicolai Ouroussoff und ab 2011 Michael Kimmelman. Kimmelman wird nicht mehr als ‹architecture critic›, sondern als ‹senior critic› geführt. Tatsächlich widmet er sich unterschiedlicheren Themenfeldern als seine Vorgänger, was angesichts seiner Ausbildung als Kunsthistoriker und Pianist auch nicht erstaunt. Man mag an dieser Neuorientierung aber auch eine Reaktion auf das Ende der Stararchitektur sehen. Begleiteten die Architekturkritiker eine aufstrebende Architektengeneration, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren ihr intellektuelles Profil geschärft und mit ihren experimentellen Konzepten die Debatten bestimmt hatten, so ist seit ungefähr 2000 Ernüchterung eingekehrt. Was einst Vision war, ist inzwischen Realität geworden – aber mehr und mehr in zweifelhaften politischen Systemen, ob in der Golfregion oder anderen Staaten des mittleren oder fernen Ostens. Und auch in Europa nähern sich die einstigen Protagonisten dem Mainstream an, ohne dass eine aufbrechende Generation junger Architekten wirklich erkennbar würde. Die Veränderung der Architekturlandschaft, die neuer Formen der Kritik bedürfte, fällt in eine Zeit, in der auch die Printmedien in die Krise geraten. Tageszeitungen leiden unter dreierlei Faktoren, die miteinander verbunden sind: dem Wegbrechen von Abonnenten, dem Anzeigenschwund und der digitalen Konkurrenz. Wie

journals, he dominated Swiss architectural discourse into the forties, whereby (unlike Sigfried Giedion) he did not see himself as a propagandist for any particular school of thought, and therefore his stance came across as independent and, in part, unsettling. Without a doubt, the twenties and thirties can be described as a time of prosperity for architectural criticism. The debate that took place in the journal Die Form about Mies van der Rohe’s Villa Tugendhat in Brno, in which Walter Riezler, Justus Bier, Fritz and Grete Tugendhat, as well as Roger Ginsburger participated by contributing articles, can still be considered exemplary to this day, with its controversial positions and argumentative acrimony.4 For a long time, continuous reporting on architecture remained an exception. In 1963, The New York Times, as the most important daily newspaper in the USA, pointed the way by appointing the curator, author and critic Ada Louise Huxtable as permanent architecture critic – a post that was specially created for her. Huxtable vehemently intervened in the debates of the time; for instance, when she had only just started her work, she wrote in opposition to the demolition of Penn Station. The power of her words was appreciated and feared, and her successor Paul Goldberger summed her up in 1996 as follows: ‘She has made people pay attention. She has made people care. She has made architecture matter in our culture in a way that it did not before her time.’5 Huxtable stayed at The New York Times until 1982 and was then succeeded by Goldberger. In 1997, he switched to The New Yorker and Herbert Muschamp took over the position for twelve years. The Goldberger / Muschamp era is symptomatic, in that the image of the architect transformed in parallel to postmodernism. While Huxtable had still castigated postmodern destruction, younger architects now appeared on the scene, drawing attention to themselves with imaginative designs and evolving into favourites of the media: Frank O. Gehry, Jean Nouvel, Zaha Hadid and Rem Koolhaas, later came Diller & Scofidio, Greg Lynn and Reiser + Umemoto. Architecture had become capable of producing stars again; the times of the sixties and seventies, when architects and media had grown apart, were over. This relationship is based on mutual give-and-take: while editors of daily newspapers need architecture with sufficient attention-getting value, the architects benefit from the medial publicity of daily newspapers that reach a broader target group than specialist journals, which are within their own domain, but rarely read by potential contractors. By setting up the permanent position of architecture critic, The New York Times took the lead and Herbert Muschamp was followed by Nicolai Ouroussoff in 2004 and Michael Kimmelman in 2011. Kimmelman is no longer described as ‘architecture critic’, but as ‘senior critic’. Indeed, he attends to a more diverse range of topics than his predecessors, which is not surprising, considering his education as an art historian and pianist. However, this re-orientation can also be seen as a response to the end of starchitecture. Although architecture critics accompanied an upcoming generation of architects who, in the eighties and nineties, enhanced their intellectual profile and defined the debates with their experimental concepts, disenchantment has set in since around the year 2000. What was once a vision has now become reality – but, to an increasing extent, within dubious political systems, be it in the Gulf Region or other states in the Middle or Far East. Also in Europe, the former protagonists are moving closer to the mainstream, without any emerging generation of young architects really in evidence. This change in the architectural landscape, which demands new forms of criticism, is taking place at a time when the print media are also plunged into crisis. Daily newspapers are suffering from three different factors that are interrelated: the decline in subscriptions, the downturn in advertising and the digital competition. At present, nobody knows how to counter these dangers effectively on the long term. The more modest budgets that feature-section editors have at their disposal are a greater threat to architectural criticism than to other disciplines. Over the past years, the major German-language daily newspapers, such as Neue Zürcher Zeitung, Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung and Süddeutsche Zeitung, have created


man diesen Gefahren langfristig und wirksam begegnet, weiss derzeit niemand. Die bescheideneren Budgets, die den Feuilletonredaktionen zur Verfügung stehen, bedrohen die Architekturkritik in stärkerem Masse als andere Disziplinen. Die grossen deutschsprachigen Tageszeitungen wie Neue Zürcher Zeitung, Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Süddeutsche Zeitung haben in den vergangenen Jahren Stellen für festangestellte Architekturkritiker geschaffen. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass die Hochphase der Architekturberichterstattung in den Zeitungen vorüber ist. Die Honorare für freie Autoren sinken, und in den Kulturressorts geht es um Verteilwettkämpfe. Dabei ist Architektur im Nachteil gegenüber anderen Themenbereichen, die sich im bürgerlichen Kanon fester etabliert haben: Literatur, Musik, Kunst oder Theater. Während bei einer Opernkritik selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass prominente Musiktheaterstücke bekannt sind, gilt das bei einer Architekturkritik für Architekten nicht. Viele Redaktionen beharren darauf, dass die Autoren gleichsam bei Null anfangen, da man auch Ansätze von Wissen bei Leserinnen und Lesern nicht voraussetzt. Wenn Druckzeilen und Geld knapper werden, leidet die Architektur als Erstes. So hat die NZZ – zweifelsohne das wichtigste Tagesmedium für das Thema Architektur im deutschsprachigen Raum – ihre singuläre Beilage ‹Planen, Bauen, Wohnen› zunächst auf einen selteneren Erscheinungsrhythmus um- und schliesslich ganz eingestellt. Problematischer noch sieht es mit der Architekturberichterstattung in den Lokalteilen sowie in den kleineren Tageszeitungen aus. Hier auf ernsthafte Beiträge zum Thema Architektur zu stossen, gleicht Glücksfällen. In den Lokalteilen wird Architektur selten als kulturelle Äusserung verstanden. Als berichtenswert angesehen werden markante Veränderungen in der Stadt, aber auch Kosten­ überschreitungen und andere Pannen. Dabei wäre gerade im Lokalteil anzusetzen – dort, wo Menschen in ihrem Lebensfeld unmittelbar betroffen sind. Doch die Beispiele hierfür sind selten. Prima vista besser wirkt die Situation, wendet man sich den Fachzeitschriften zu. Mit Zeitschriften wie archithese, Faces, Hochparterre, tec21, Trans sowie werk, bauen + wohnen zeigte sich der Markt der Zeitschriftenpublikationen in der kleinen Schweiz bislang erstaunlich vielfältig. Im Gegensatz zur Situation in Deutschland sind die Abonnement- und Verkaufszahlen relativ konstant geblieben, auch bei den Anzeigenverkäufen war – anders als bei den Tageszeitungen – bislang kein grosser Einbruch zu verzeichnen. Eine drohende Krise in der Baukonjunktur wird auch hierzulande Veränderungen bewirken; die Warnzeichen sind unübersehbar. Ein Ende der Baukonjunktur kann zum Wegbrechen von Abonnenten und Anzeigen führen. Noch wichtiger aber ist es für die Zeitschriften, auf die digitale Herausforderung zu reagieren. Online-Portale decken mit Nachrichten und Bildstrecken seit einiger Zeit das primäre Informationsbedürfnis ab. Print und Online lautet die Doppelstrategie, die verschiedene Zeitschriften in unterschiedlicher Gewichtung verfolgen. Auch hier bleibt der Ausgang ungewiss.

positions for permanently employed architecture critics. However, there are increasing signs that the heyday of architectural reporting in newspapers is over. The fees paid to freelance writers are decreasing; in culture sections, it is a matter of competition for allocated space, whereby architecture has a disadvantage in relation to other subject areas that have established themselves more firmly in the middle-class canon: literature, music, art and theatre. While an opera critic naturally assumes that prominent operas are already known, the same does not apply to an architecture critic with regard to architects. Many editors insist that writers start from scratch, as it were, because it is not taken for granted that readers have even rudimentary knowledge. When money and lines of print become more scarce, architecture is the first to suffer. For instance, NZZ (undoubtedly the most important daily medium for the topic of architecture in the German-speaking world) firstly decreased the frequency of its unique supplement ‘Planen, Bauen, Wohnen’ (Planning, Building, Living), then eventually cancelled it altogether. The situation looks even more problematic for architectural reporting in local sections and in smaller daily newspapers. Here, readers who come across any serious articles on the topic of architecture can count themselves lucky. In the local sections, architecture is rarely understood to be a form of cultural expression. Prominent transformations in the city are considered worth reporting, but so are cost overruns and other mishaps. And yet the local section in particular would be where to start – right there, where it is directly about people in the place where they live. However, examples of this are seldom. At first glance, the situation seems better upon turning to the specialist journals. With journals such as archithese, Faces, Hochparterre, tec21, Trans and werk, bauen + wohnen, the market for journal publications in little Switzerland has, to date, shown itself to be astonishingly diverse. In contrast to the situation in Germany, subscription numbers and sales figures have so far remained relatively constant, and in contrast to the situation of daily newspapers, there has as yet been no major downturn in advertising sales to report. A threat of crisis within the construction boom will bring changes in this country too – the warning signs are unmistakable. An end to the construction boom could lead to a decline in subscriptions and advertisements. However, what is more important for the journals, is to respond to the digital challenge. For some time, online portals have been covering primary information needs with news and photo galleries. ‘Print and online’ is the dual strategy that various journals are pursuing, with different degrees of emphasis. Here too, the outcome remains uncertain.

1 en.wikipedia.org/wiki/Architecture_criticism, accessed on 30.07.2014. There are few studies on architectural criticism in general. The following are worthy of note: Ulrich Conrads, Eduard Führ, Christian Gänshiert (ed.), Zur Sprache bringen. Kritik der Architekturkritik (Putting it into Words. Criticism of Architectural Criticism), Münster 2003; Arch+ no. 200, October 2010: Criticism; archithese 4 / 2011: Architectural Criticism. 2 Letter from Adolf Behne to J.J.P. Oud, 3.10.1920, unpublished; quoted here from Haila

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en.wikipedia.org/wiki/Architecture_criticism, abgerufen am 30.07.2014. Zum Thema Archi­-

Ochs (ed.), Adolf Behne. Architekturkritik in der Zeit und über die Zeit hinaus (Architectural

tekturkritik allgemein gibt es wenig Untersuchungen. Hinzuweisen ist auf: Ulrich Conrads,

Criticism in Time and Beyond Time), Basel / Berlin / Boston 1994, p. 10.

Eduard Führ, Christian Gänshiert (Hg.), Zur Sprache bringen. Kritik der Architekturkritik,

3 On Peter Meyer: Katharina Medici-Mall, Im Durcheinandertal der Stile. Architektur und

Münster 2003; Arch+ Nr. 200, Oktober 2010: Kritik; archithese 4 / 2011: Architekturkritik.

Kunst im Urteil von Peter Meyer (1894–1984) (In the Valley of the Confusion of Styles. Archi-

2 Brief von Adolf Behne an J.J.P. Oud, 3.10.1920, unpubliziert; hier zit. n. Haila Ochs (Hg.),

tecture and Art in the Judgement of Peter Meyer), Basel / Berlin / Boston 1998; Dieter Schnell,

Adolf Behne. Architekturkritik in der Zeit und über die Zeit hinaus, Basel / Berlin / Boston

Bleiben wir sachlich! Deutschschweizer Architekturdiskurs 1919 –1939 im Spiegel der Fach-

1994, S. 10.

zeitschriften (Let’s Stick to the Facts! Architectural Discourse in German-Speaking Switzer-

3 Zu Peter Meyer: Katharina Medici-Mall, Im Durcheinandertal der Stile. Architektur und

land 1919 –1939 as Reflected in Journals), Basel 2005.

Kunst im Urteil von Peter Meyer (1894–1984), Basel / Berlin / Boston 1998; Dieter Schnell, Blei-

4 The articles appeared in 1931, in several issues of the journal Die Form, published by Deut-

ben wir sachlich! Deutschschweizer Architekturdiskurs 1919 –1939 im Spiegel der Fachzeit-

scher Werkbund.

schriften, Basel 2005.

5 www.archdaily.com/384223/a-tribute-to-ada-louise-huxtable/, accessed on 30.07.2014.

4 Die Artikel erschienen 1931 in mehreren Heften der vom Deutschen Werkbund herausgegebenen Zeitschrift Die Form. 5 www.archdaily.com/384223/a-tribute-to-ada-louise-huxtable/, abgerufen am 30.07.2014.

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Projekte

Projects

Atomkraftwerk Kaiseraugst Siedlung Seldwyla Dorferneuerung Monte Carasso Altstadtsanierung St. Alban-Tal Dorferneuerung Vrin KKL Luzern La Congiunta Blur Building, Expo.02 Europaallee Neues Stadt-Casino Basel Andermatt Swiss Alps Roche Tower (Bau 1) Nagelhaus Zentral- und Hochschul足 bibliothek Luzern Zersiedlung

Kaiseraugst nuclear power plant Seldwyla residential complex Monte Carasso village modernisation St. Alban-Tal old town refurbishment Vrin village modernisation KKL Luzern La Congiunta Blur Building, Expo.02 Europaallee Neues Stadt-Casino Basel Andermatt Swiss Alps Roche Tower (Bau 1) Nagelhaus Zentral- und Hochschul足 bibliothek Luzern Urban Sprawl

Alle Fotos von Marcel Rickli

All photographs by Marcel Rickli


Warum: Geplantes Atomkraftwerk, bürgerlicher Widerstand

Wann: Während Planung, anlässlich zahlreicher nachfolgender Atomdebatten

Wer: Lokaljournalisten

Was: Ökologische Fragestellungen, Atomfrage, politischer Aktivismus

Wo: Regionale, nationale Tagespresse, politische Blätter, keine Fachpresse

Wie viel: Starkes Presseecho

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WHY: Planned nuclear power plant, citizen resistance

WHEN: During occupation, afterwards, in context of numerous nuclear debates

WHO: Local journalists

WHAT: Environmental issues, nuclear issue, political activism

WHERE: Regional (but also national) daily press, political gazettes, no specialist press

HOW MUCH: Strong press response


1966 gibt das Energieversorgungsunternehmen Motor-Columbus AG die Absicht bekannt, in Kaiseraugst ein Atomkraftwerk zu realisieren. Das Bauvorhaben scheitert jedoch am breiten Widerstand der Bevölkerung. Bereits im Mai 1970 tritt mit dem Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst (NAK) eine organisierte Opposition gegen das Projekt auf. Als am 24. März 1975 die Bauarbeiten beginnen sollen, organisiert die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK) die Besetzung des Geländes, an der zeitweise 15 000 Personen teilnehmen. Nach elfwöchigem Widerstand der Demonstranten wird der Baubeginn von den Behörden verschoben. Die Auseinandersetzungen um das Projekt ziehen sich noch jahrelang hin und finden erst ein Ende, als bürgerliche Nationalräte im März 1988 eine Motion für den Verzicht auf das Kernkraftwerk einreichen. Noch immer klingt der Name Kaiseraugst bedeutungsschwer nach und bildet als Symbol für eine erfolgreiche Anti-AKW-Bewegung einen festen Bestandteil der nachfolgenden medialen Auseinandersetzung um die Atomkraft. Nicht eine Visualisierung der Anlage findet den Weg in das kollektive politische Gedächtnis der Schweiz, sondern der blosse Begriff, womit das Projekt symptomatisch für einen Textbau steht. Erst die weit verbreitete Abbildung des Anfang 1979 gesprengten Informationspavillons ergänzt die Diskussion um ein architektonisches Bild. Trotz der starken Zeichenhaftigkeit des markanten Kühlturms steht die formale Ausprägung nie zur Debatte, vielmehr dominieren die Atomfrage und das Bürgerengagement den Diskurs. Die Berichterstattung beschränkt sich auf die Schweizer Tagespresse sowie auf politische Blätter; Fachzeitschriften entziehen sich der Debatte. Der mediale Umgang mit dem AKW Kaiseraugst ist symptomatisch für Infrastrukturbauten: Trotz ihrer umfassenden Prägung der Umwelt erfahren diese aufgrund der Unabhängigkeit der gestalterischen Ansprüche kaum eine kritische architektonische Debatte.

Atomkraftwerk Kaiseraugst 1966–1988 Kaiseraugst Kaiseraugst nuclear power plant 1966–1988 Kaiseraugst

In 1966, the power company Motor-Columbus AG announces its intention to build a nuclear power plant in Kaiseraugst. However, the construction project is thwarted by widespread public resistance. Already in May 1970, organised opposition to the project emerges in the form of the North-West Switzerland Action Committee Against the Kaiseraugst Nuclear Power Plant (NAK). On 24 March 1975, when the construction work is supposed to start, Non-Violent Action Kaiseraugst (GAK) organises an occupation of the site, in which at times up to 15,000 people are involved. After eleven weeks of resistance on the part of the demonstrators, the authorities postpone the start of construction. The disputes surrounding the project drag on for years and delay further planning. Not until March 1988, when National Councillors acting in a civil capacity submit a motion for abandoning the nuclear power plant, is the construction project definitively terminated. To this day, the name Kaiseraugst is still loaded with meaning and stands as a symbol of a successful anti-nuclear movement. It is not a visualisation of the plant that finds its way into Switzerland’s collective political memory, but the term itself – whereby, symptomatically, the project represents a constructing text. Only the widely distributed picture of the information pavilion, demolished at the start of 1979, supplements the discussion with an architectural image. Already established in written form before the planned construction work, the project lives on in the press, because in the subsequent nuclear debates, it is repeatedly referred to as an example of a project successfully forestalled by citizens’ action. Despite the highly emblematic nature of the tall, distinctive cooling tower, the formal characteristics are never up for debate; instead, the discourse is dominated by the nuclear issue and the public’s involvement. The reporting is limited to the Swiss daily press and political gazettes; specialist journals avoid the debate. The medial handling of the Kaiseraugst nuclear power plant is symptomatic of infrastructural buildings: despite their strong and comprehensive influence on the environment, they are the subject of barely any critical architectural debate, due to the autonomy of the design requirements.

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[…] Nach starker Opposition beerdigten bürgerliche Parlamentarier vor 20 Jahren das AKW Kaiseraugst. Man dachte, auf Schweizer Boden würde nie mehr ein AKW gebaut. Jetzt siehts wieder anders aus. […] Kaiser­augst spaltete ab den siebziger Jahren die Gesell­ schaft und brachte das Land an den Rand einer Staats­krise. «Damals glaubten wir, es könne in der Schweiz nie mehr ein AKW gebaut werden», so Weder. Und das glaubt er heute noch. Er könnte sich täuschen. Kaiseraugst wurde zwar letztlich durch den Wider­stand verhin­dert, hing aber schon vorher am Tropf, wie eine Doktor­ arbeit des Zürcher Historikers Patrick Kupper zeigt. Der Widerstand wird überschätzt – er entzündete sich an einem Kadaver. Kaiseraugst war das falsche Projekt am falschen Ort. Leibstadt und Gösgen konnten schliess­ lich in der gleichen Zeit gebaut werden. Blenden wir ins Bundeshaus zur Beerdigung am 2. März 1988. Ins Grab gebracht hatten Kaiseraugst eine Handvoll bürgerlicher Parlamentarier um Georg Stucky (FDP), Ulrich Bremi (FDP), Christoph Blocher (SVP) und Gianfranco Cotti (CVP) mit einer bis zuletzt geheim gehaltenen Blitz-Eingabe. Sie forderte, auf Kaiseraugst zu verzichten und die Initianten ‹angemessen› zu entschädigen. Die Badener Firma Motor-Columbus, mit der Projektleitung von Kaiseraugst beauftragt, war vorgängig informiert worden. «Die wollten eine Entschädigung, weshalb wir diese in den Motionstext einbauten», sagt Georg Stucky heute. Das war der grosse Unterschied zu früheren Kaiseraugst-Verzichtseingaben. «Keine lustige Übung», erinnert sich Ulrich Bremi: «Wir waren schliesslich alle Kernenergiebefürworter.» Doch mit der Leiche Kaiser­ augst im Keller liess sich kein Kampf mehr für ein anderes neues Kraftwerkprojekt gewinnen. Sie musste endlich entsorgt werden. Und die Bauherrin konnte zufrieden sein, sie wurde mit immerhin 350 Millionen Franken aus der Bundeskasse entschädigt. Kaiseraugst kostete alles in allem rund 1,3 Milliarden Franken. Welch Kontrast zur freudigen Geburt fast ein Vierteljahrhundert vorher! 1966 gab die Motor-Columbus die Absicht bekannt, im aargauischen Kaiseraugst, nur zehn Kilometer von Basel, ein Atomkraftwerk zu bauen. Der Gemeinderat atmete auf, denn damit verzichtete das Technologie­ unternehmen auf das ursprünglich geplante konventio­ nelle thermische Kraftwerk am Ort. Die Atomkraft­werke Beznau, Mühleberg, Leibstadt und Verbois waren bereits angekündigt worden. 1965 war Spatenstich in Beznau, 1967 in Mühleberg. Nur noch das Wettrennen auf den Mond übertrumpfte damals das Wettrennen um das erste AKW. Es gab keine nennenswerte Opposition, Sicherheit war kaum ein Thema, nicht mal, als sich im Versuchsreaktor der Nationalen Gesellschaft zur Förde­rung der industriellen Atomtechnik in Lucens 1969 ein schwerer Unfall ereignete. Die Anlage wurde dabei vollständig zerstört. Doch weitere Gesellschaften kündigten weitere AKW-Projekte an. «In erster Linie kämpfte jedes Projekt gegen alle anderen», schreibt

Historiker Kupper. Was sich als fatal für die Atomwirt­ schaft erweisen sollte, weil jede Unternehmung das Lehrgeld für Planung und Bewilligungsverfahren selber zahlen musste. Das Feindbild einer miteinander verwachsenen und verklumpten ‹Atomwirtschaft› lässt sich im Nachhinein kaum mehr aufrechterhalten. Von einer gemeinsamen strategischen AKW-Planung jedenfalls kann nicht die Rede sein. 1971 verbot der Bundesrat die Flusswasserkühlung an Aare und Rhein. Gewässerschutz war damals das Top-Umweltschutzthema. Alfred Schaefer, Verwaltungsrat der Motor-Columbus und Präsident der Schweizerischen Bankgesellschaft, war der Ansicht, «dass wir die Hoffnung auf eine Verwirk­lichung von Kaiseraugst aufgeben müssen». Kaiseraugst, ohne Kühltürme geplant, war faktisch erledigt. Doch Motor-Columbus-Direktor Michael Kohn verbiss sich in sein Lieblingsprojekt. «Wenn es hier nicht geht, geht es auch an einem anderen Ort nicht.» Mit dem Domino-Effekt hatten schon die Amerikaner ihr Eingreifen in Vietnam begründet: Der Feind musste am ersten Kriegsschauplatz gestellt und zurückgeschlagen werden. Kohn stilisierte Kaiseraugst zum Vietnam der Schweiz, zum Pro oder Kontra Atomkraft. Das war wahrscheinlich sein grösster Fehler. In der gleichen Zeit erlebte Kaiseraugst einen brutalen Akzeptanzverlust. Aber nicht wegen atomarer Ängste, sondern weil die beiden Basel bei der Projektierung übergangen worden waren, vor allem auch in steuerlichen Fragen. Dieses verlorene Vertrauen liess sich in der Region nie mehr zurückgewinnen. Kaiseraugst war in einer Sackgasse gelandet. Erst zu diesem Zeitpunkt, 1975, besetzten AKWGegner das Baugelände. An Demos marschierten bis zu 20 000 Leute auf. Der Kabarettist Franz Hohler zog eine Gasmaskenbrille und ein Paar Eishockey­ handschuhe an und rezitierte seine Moritat vom Welt­ untergang. Junge Leute wie der damalige Student der Umweltökonomie und spätere Fernseh-Chefredaktor Filippo Leutenegger brachten das Thema Sicherheit und Abfall auf: «Ich war als junger Student nach der Veröffentlichung des Club of Rome besorgt über die Zukunft der Menschheit und fragte mich: Droht uns die kollektive Vergiftung?» Erst nach über zwei Monaten zogen die Besetzer, nach Verhandlungen mit dem Bundesrat, ab. Es ging fortan nicht mehr nur um ein kon­kretes Atomkraftwerk, sondern um die Zukunft der Menschheit, um die Grenzen des Wachstums. Dieser Knoten sollte nie mehr gelöst werden. Während Militante mit Brand­an­schlägen auf Infopavillons und Autos von Vertretern der Atombranche die Schweiz durchschüttelten, ignorierte das Baukonsortium weitere Warnlichter: Finanzierung, Bauprogramm und Bewilli­ gungsverfahren liefen aus dem Ruder. Bei den Banken verlor das Projekt jegliche Kreditwürdigkeit. Pech auch, dass die Knappheitsszena­rien der Stromwirtschaft aus den sechziger Jahren nicht eintrafen. (Auch heute redet man bereits wieder von einer ‹Stromlücke› in

ferner Zukunft.) Der Leiter der Sicherheitsabteilung des Bundes schrieb 1979 zuhanden des Bundesamts für Energiewirtschaft: «Ich gehe davon aus, dass alle Beteilig­ten sich einig sind, dass das Kernkraftwerk Kaiseraugst nicht realisiert wird, auch wenn niemand das offen sagen kann, da er dann den schwarzen Peter in der Hand hält.» Der Bund hoffte, dass die Initianten von sich aus auf Kaiseraugst verzichten würden. Doch dann hätten sie die Chance auf eine Entschädigung verwirkt. Dann spielte der Zufall. Im März 1979 geriet das AKW Three Mile Island in Harrisburg (USA) ausser Kontrolle. Dies nutzten die Bundesbehörden, um in Kaiseraugst strengere Vorschriften bezüglich Notfallplanung durch­ zusetzen. «Es könnte nun aber sein, dass die Kern­ kraftwerk Kaiseraugst AG dann, wenn die Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen, die hier am Zug ist, ihre Forderungen hart auf den Tisch legt, das Handtuch wirft und das Projekt aufgibt», zitiert Historiker Kupper ein internes Behörden-Memo. Trotzdem glaubt Michael Kohn noch heute: «Ohne Tschernobyl (1986) hätten wir das Projekt vielleicht doch noch durchziehen können.» Aus historischer Sicht eine völlig surreale Einschätzung. Sie illustriert, wie realitätsfremd und verbissen die Bauherren am Schluss agierten. Nach der Annahme des zehnjährigen AKW-Baumoratoriums 1990 wurde die Debatte um die Atomtechnologie von einer Art Endlagerstimmung umwölkt. Die zehn Jahre sind vorbei – und der Geist ist wieder aus der Flasche, wie Ankündigungen neuer AKW-Projekte zeigen. Franz Hohler ist «erstaunt über die Selbstverständlich­ keit» – «als ob es Kaiseraugst nie gegeben hätte». Würde er wieder die Gasmaskenbrille hervorholen für einen allfälligen Widerstand? Nein, wehrt er ab, das würde er diesmal den Jüngeren überlassen. […]

Beobachter 2008 Nr. 5 ‹Atomkraft – Der Mythos Kaiseraugst› Christoph Schilling

[…] Der lokale Widerstand im Epizentrum Kaiseraugst erschüttert die Energielandschaft bis heute […] Die Besetzung in Kaiseraugst ist vorbei und das geplante Atomkraftwerk vom Tisch. Doch der Widerstand wirkt weiter und hat etliche Gesetze beeinflusst. Die Besetzung des AKW-Geländes 1975 war keine spontane Aktion, keine kurz einberufene Demo als Happening gegen die Langeweile. «Wir haben die Besetzung trainiert und angekündigt», sagt Peter Scholer, ein Besetzer der ersten Stunde. Der damalige Liestaler SP-Politiker betont, dass die ‹Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst› bewusst mit dem Ziel gegründet worden war, um gewaltfrei Widerstand zu leisten. So gab es schon ein Jahr vor der Besetzung eine Probebesetzung. «Das wurde lächelnd zur Kenntnis genommen», sagt Scholer heute. Gemäss den Grundsätzen des gewaltfreien Widerstandes sei die Besetzung vorher angekündigt worden. «Alle anderen Bemühungen waren juristisch und politisch am Ende angelangt», sagt Scholer, der später 20 Jahre lang als SP-Stadtrat in Rheinfelden tätig war. Er rechnete damals damit, dass die Besetzer höchstens eine Nacht ausharren mussten, dann komme die Räumung. «Wir sind eigentlich davon über­rascht worden, dass die Besetzung schliesslich elf Wochen dauerte.» Basellandschaftliche Zeitung 03.04.2010 ‹Auswirkungen für die ganze Schweiz› WALTER BRUNNER

Die Unterstützung war so gross, dass es immer genug zu essen gegeben habe – trotz Kälte, Regen und Schneeschauern. Die gute Vorbereitung, die Gewaltfreiheit und die Unterstützung lohnten sich: Die Atomkraftbetreiber mussten erkennen, dass sich in der Nordwestschweiz kein AKW bauen lässt. In der Folge von Kaiseraugst haben die Kantone Baselland und Basel-Stadt in der Verfassung verankert, dass sie sich gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in der Nordwestschweiz wehren müssen. Damit sind die Regierungen praktisch verpflichtet, den ‹Geist von Kaiseraugst› beizubehalten. Die Widerstandsbewegung führte mit zum Programm Energie Schweiz. Jetzt will der Bundesrat dieses bis 2010 befristete «Programm für Energieeffizienz und erneuerbare Energien» bis im Jahr 2020 fortführen. Ebenfalls im Sinne der Wider­standskämpfer von 1975 ist die Moratoriums­ initiative, die 1990 vom Volk angenommen wird und den Bau neuer AKW zehn Jahre verboten hat. Sollten Bundesrat und Parlament einem Kernkraftwerk die Rahmenbewilligung erteilen, kann das Referendum ergriffen werden und das Volk über ein neues AKW abstimmen. Die Nordwestschweiz dürfte das kaum betreffen. Für Peter Scholer ist klar: «Ich habe keine Zweifel, dass sich der Widerstand wieder regen würde.»


[…] Was am Ende des Jahrhunderts die Auseinandersetzungen um Kaiseraugst so spannend macht, war die Konfrontation von zwei verschiedenen Demokratie­ verständnissen: des rechtsstaatlichen mit all seinen Instanzenzügen durch Behörden und Gerichte dagegen die zuerst spontanen, dann zunehmend organi­ sierten Proteste der betroffenen Bürge­ rinnen und Bürger. Wie musste vor dem Hintergrund einer Technik, deren Tragweite, Potenzial und Risiken niemand verbindlich abschätzen konnte, die ‹direkte› Demokratie verstanden werden? 1962 plante die Badener Firma Motor Columbus, die der BBC und der Schweizerischen Kreditanstalt nahe stand, die Errichtung eines ölthermischen Kraftwerkes im aargauischen Kaiseraugst und kaufte das entsprechende Land. Im Dezember 1963 lehnten die Kaiseraug­ ster Stimmberechtigten aus Furcht vor Emissionen dieses Projekt ab. 1965 / 66 entwickelte die Motor Columbus als neues Konzept ein Atomkraftwerk mit Flusswasserkühlung durch den Rhein. Als diese Pläne bekannt wurden, fragte der Grosse Rat des Kantons BaselStadt den Bundesrat an, wie er sich zum Bau von Atomkraftwerken im Einzugs­gebiet der Agglomeration und bezüglich der Emissionsprobleme stelle. 1968 veröffentlichte Friedrich Baldinger, Direktor des Eidgenössischen Amtes für Gewässerschutz, sein Gutachten, das Vorbehalte für ein Kernkraftwerk mit Wasserkühlung in Kaiseraugst erkennen liess. Würde es also mit Kühl­ türmen gebaut werden? Motor Columbus stritt das ab. Im Sommer 1969 standen sich zwei Gruppierungen gegenüber, die ‹Kaiseraugster für gesundes Wohnen› und das von der Motor Columbus protegierte ‹Aktionskomitee Kernkraftwerk Kaiseraugst›. Nachdem an einer Gemeindeversammlung über die Einzonung des Geländes nicht entschieden werden konnte, wurde eine kommunale

Abstimmung nötig. Ihr ging eine heftige Propagandaschlacht voraus, in der die Motor Columbus auch mit den jährlichen Einnahmen für die Gemeindekasse und mit einer möglichen Konkurrenz durch deutsche AKWs argumentierte. In der Urnenabstimmung vom 17. August 1969 wurde der Umzonungsantrag angenommen, damit verlor die Gemeindeversammlung ihre Kompetenzen an den Gemeinderat. Die Standortbewilligung für das Kernkraftwerk erfolgte am 15. Dezember 1969. Am 5. Mai 1970 stellte Motor Columbus ein Konzessionsbegeh­ren immer noch mit Flusswasserkühlung; am gleichen Tag gründete sich das ‹Nordwestschweizerische Aktionskomitee gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst› (NAK). Dessen Präsident Hans Schneider aus dem basellandschaftlichen Zeiningen erhob am 20. Mai 1970 Einspruch beim Aargauer Regierungsrat wegen unstatt­ hafter Erwärmung des Rheinwassers; der Regierungsrat trat darauf nicht ein. Einsprachen erhoben auch die Regie­ rungen von Basel-Stadt und Basel-Land­ schaft, die das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau aus formalen Gründen ablehnte. Immerhin verbot am 8. März 1971 der Bund die Flusswasserkühlung an Aare oder Rhein. Also reichte Motor Columbus am 6. Juli 1971 flugs ein Baugesuch mit zwei Kühltürmen ein. Zwischen 1973 und 1975 wurde es klar, dass der ‹rechtsstaatliche› Instanzenzug von Gemeinden und Kantonen nicht zum Erfolg führen konnte, auch wenn nicht immer alles so rechtsstaatlich zugegangen war. Die Zeitungen hatten ein neues Thema bekommen, das die Leute in der Nordwestschweiz in Bann schlug. Die Gegnerschaft wuchs. Wenn offizielle Demarchen nichts mehr bewirken sollten, blieb als Ausweg nur die direkte Aktion. Im Dezember 1973 gründete sich neben der NAK die ‹Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst› (GAK), die eine Besetzung des Geländes ins Auge fasste und mit den

elsässischen und südbadischen Bürger­ini­tiativen (wegen den AKWs Marckols­ heim und Wyhl) Kontakt aufnahm. Sie wurde auch grenzüberschreitend in dem Sinn, dass sie gesellschaftliche Gruppen zusammenzuführen verstand, die bisher miteinander wenig zu tun haben wollten: Bauern, Naturschützer, Leute aus dem städtischen Mittelstand, Jungsozialisten, Wissenschafter, erstaunlich viele Frauen und junge Leute. Am 29. September 1974 fand erstmals eine Kundgebung mit 6000 Personen auf dem Gelände statt. Als am 24. März 1975 ohne weitere Ankün­ digung die Aushubarbeiten beginnen sollten, wurde der Bauplatz gewaltfrei besetzt. Es entstand ein provisorisches Dorf, in dem sich am 6. April um die 16 000 Menschen versammelten. Im Besatzerdorf wurden Hütten gebaut, Gärten gepflanzt, Verpflegungsstätten organisiert, Kindergärten eingerichtet und neue Kommunikationsverhalten eingeübt. Reformierte und katholische Pfarrer predigten. Polizeigewalt einzu­ setzen, wurde zum politischen Risiko. Aber natürlich konnte diese Besetzung nicht ewig dauern. Der Verwaltungsratsvorsitzende der Kernkraftwerke Kaiseraugst und der Bundesrat liessen Anfang Juni 1975 eine etwas gequälte Verhandlungsbereitschaft erkennen, so dass am 7. Juni eine Vollversammlung der GAK beschloss, unter gewissen Bedingungen das Gelände wieder zu verlassen. Aber: «Die Vollversammlung fordert den Bundesrat dazu auf, den Bau des Atomkraftwerkes unter keinen Umständen gegen den Willen der Bevöl­ kerung zuzulassen.» Die Wende war geschafft, als am 12. Juni die Besetzer ordentlich abzogen und am 4. Juli 1975 nicht weniger als drei Bundesräte unter der Führung von Willi Ritschard (1918–1983), flankiert von 15 Chefbeamten, sich mit der GAK und der in ‹Nordwest­ schweizer Aktionskomitee gegen

Atomkraftwerke› (NWA) umgetauften NAK trafen. Die Kernkraftwerkgegner sahen sich ernst genommen, der Bundesrat willigte in Expertengespräche ein, bei denen im Hinblick auf Risiken, Evakuierungspläne, Stromkosten und Entsorgungsprobleme viele Fragezeichen stehen blieben. Kaiseraugst wurde nicht gebaut. Von 1976 bis 1986 herrschte eine Art Grabenkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern: Beschwerden, Einsprachen, nicht nur gegen Kaiseraugst, sondern auch gegen andere AKWs, kantonale und eidgenössische Volksini­ tiativen; auf der anderen Seite weitere Bewilligungen und neue Atomkraftwerke im Bau oder am Netz. Dann passierte am 24. April 1986 der Atomunfall von Tschernobyl. Nach vorbereitenden Gesprächen lud ausgerechnet der der Elektrizitätswirtschaft nahestehende Nationalrat Christoph Blocher für den 2. März 1988 zu einer Pressekonferenz ein, an der er, umgeben von bürgerlichen National- und Ständeräten, die NichtRealisierung des Kernkraftwerkes Kaiser­ augst unter Entschädigungspflicht des Bundes verlangte. Die von der Gesell­ schaft investierten Mittel hatten den Betrag von einer Milliarde Franken bereits überschritten. 1989 stimmten die Bundesparlamente dieser Regelung zu; den Bund kostete die Entschädigung der Kraftwerkbauer 350 Millionen Franken. Zwar wurden noch Gösgen und Leibstadt gebaut, aber weitere Projekte zu den Akten gelegt.

Basler Zeitung 17.01.2000 ‹Das Kernkraftwerk Kaiseraugst wurde nicht gebaut› Markus Kutter, André Salvisberg

[…] Raus aus der Atomenergie! Das ist das logische Gebot. Aber wie? Es wird debattiert, entworfen, verworfen, neu ausgedacht. Die letzten Wochen glichen einer landesweiten Castingshow nach dem Motto: Wer hat das beste Ausstiegsszenario? Dabei steht der Sieger längst fest. Es ist Basel, der Stadt­kanton im Nordwesten des Landes mit 200 000 Einwohnern. Er hat das beste Energie­gesetz — er kommt ohne Atomkraft aus und verbraucht nur Strom aus erneuerbarer Energie (gewonnen aus Wasser, Wind, Sonne, Biomasse). Basel hat dreissig Jahre Vorsprung auf den Rest der Schweiz. Die energie­politische Wende begann in Basel am 16. November 1973. Damals gründeten ein paar junge Leute aus den beiden Basler Kantonen die ‹Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst› mit dem Ziel, das Baugelände zu besetzen. Gerade hatte die Bauherrin, die Badener Firma Motor -Columbus AG, vor Bundesgericht gesiegt, der letzte Rekurs gegen das neue Atomkraftwerk war abgeschmettert. Es konnte losgehen.

Am 1. April 1975 fuhren die Bagger auf, Teenager — über einen Telefonalarm zusammengeschlossen — schwänzten freudig die Schule, rotteten sich im aargauischen Kaiseraugst zusammen, ein Vorläufer des heutigen Smartmobs. Sie campierten und diskutierten. Verteilten Flugblätter. Schon nach einer Woche waren es 15 000 Leute. Michael Kohn, der Direktor von Motor-Columbus, blieb standfest, er sagte: «Wenn es hier nicht geht, geht es auch an einem anderen Ort nicht.» Damit hatte er aus Kaiseraugst ein Symbol gemacht. Es ging jetzt nicht mehr darum, dass Kaiseraugst nur zehn Kilometer von Basel entfernt lag und die Leute Angst vor möglicher Verstrahlung hatten. Es ging jetzt um Pro oder Kontra Atomkraft. Politisch war die Bewegung gegen das neue Atomkraftwerk sehr breit, es kamen Linke (der damalige Student Filippo Leutenegger fragte: «Droht uns die kollektive Vergiftung?») und Rechte (Valentin Oehen von der Nationalen Aktion), es kamen viele Bauern. «Es war wie ein Widerstand gegen einen fremden Vogt»,

erzählt Energiepolitiker Ruedi Rechsteiner. Neun Wochen lang verhandelten die Besetzer mit dem Bundesrat, dann zogen sie ab. Für sie war klar: Der Atommeiler würde nie gebaut werden. Michael Kohn glaubte zwar noch, das Projekt liesse sich zu neuem Leben erwecken, aber dann kam Tschernobyl, und kurz darauf reichte der damalige SVP-Nationalrat Christoph Blocher eine Motion ein, die den Verzicht auf Kaiseraugst verlangte (und eine Entschädigung der Bauherrin mit 350 Millionen Franken). Bürgerliche Politiker in Bern beerdigten also das Projekt endgültig. «Kaiseraugst war wie eine Revolution, es war unumkehrbar», sagt einer, der damals in der Delegation sass, die mit dem Bundesrat verhandelte. «Und Kaiseraugst schaffte einen Grundkonsens: Die Politiker in Basel waren danach querbeet gegen Atomkraftwerke.» Die Politiker wussten allerdings auch, dass sie jetzt den Tatbeweis erbringen mussten. Den Beweis, dass ‹Strom ohne Atom› machbar war. […]

Das Magazin 09.04.2011 ‹Basel ist Schweizer Meister› Mathias Ninck

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[…] Mehrere tausend Personen haben am Samstag nachmittag während zweier Stunden auf dem Bundesplatz in Bern an einer von der Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK) veranstalteten Kund­ gebung gegen den Bau von Atomkraftwerken teilge­ nommen. Sympathisanten und Organisationen aus der ganzen Schweiz bekundeten ihr Missfallen über das behördliche Vorgehen bei der Planung und Realisierung der Kernkraftwerke in der Region Basel. Die Demonstranten, deren Zahl von der Polizei auf 6000, von den Organisatoren auf 15 000 geschätzt wurde, forderten den sofortigen Stopp für alle Bewilligungsverfahren sowie das Recht der betroffenen Bevölkerung, in einem Volksentscheid ihre Meinung zu äussern. Auf Flugblättern und in Referaten wurde versucht, Argumente der Befürworter zu entkräften. So erklärte ein Redner, die Schweiz verzeichne einen deutlichen Export­ überschuss an elektrischem Strom. Auch seien die amtlichen Berechnungen über die Wachstumsrate des Stromkonsums «zum puren Unsinn» geworden, weil das Wachstum des Stromverbrauchs «deutlich» unter diesen offiziellen Schatzungen liege: «Daher brauchen wir keine Atomkraftwerke auf Vorrat», meinte der Redner. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass die Schweiz durch den Bau von A-Werken vom Ausland noch abhängiger werde, weil für den Betrieb notwendige Bestandteile aus den USA und der Sowjetunion eingeführt werden müssen und der Markt für Uran unter der Kontrolle der multinationalen Urgesellschaften

stehe. Die nutzbaren Uranvorkommen seien auf weniger Länder konzentriert, als dies beim Öl der Fall sei. Nach der Verlesung des Briefes der GAK an den Bundesrat, in dem sie ihm den Unterbruch der Besetzung anbietet, falls «ernsthafte Verhan­d­ lungen» aufgenommen würden, verabschiedeten die Demonstranten einstimmig eine Resolution. Darin appellieren sie an den Bundesrat, die Gespräche mit der Besetzerdelegation unverzüglich aufzu­ nehmen und auf die Strafverfolgung der Besetzer zu verzichten. Weiter weisen sie darauf hin, dass zu viele Probleme beim Bau und Betrieb von A-Werken ungelöst seien, so etwa die Art und Weise der Beseitigung des Atommülls, die Kosten stillgelegter A-Werke und die Fragen der Sicherheit. Ferner betonten die Demonstranten, dass nicht der Mensch den Gesetzen, sondern die Gesetze dem Menschen angepasst werden müssen. Sie kritisierten die Behörden, die es dem Schweizervolk verun­ möglichten, sich zum Bau von A-Werken auf demo­kratische Weise zu äussern. So habe die Bevölkerung der Region Basel das Gefühl, beim Bewilli­ gungs­verfahren von den Behörden und der am Bau interes­sierten Industrie getauscht worden zu sein. […]

Neue Zürcher Zeitung 28.04.1975 ‹Kundgebung gegen Atomkraftwerke auf dem Bundesplatz in Bern› sda

Die 75tägige Besetzung des Kaiseraugst-Geländes vor 25 Jahren, vom 1. April bis zum 14. Juni 1975, hat eine grosse Zahl vor allem junger Zeitgenossen politisiert. Zwar hatte es Widerstand gegen ‹Kaiseraugst› schon gegeben, seit die Motor Columbus AG im Oktober 1966 ein Gesuch für das Atomkraftwerk eingereicht hatte. Doch unterdessen war der Zug der Kernenergie in Fahrt gekommen: 1969 war Beznau I als erster Block ans Netz gegangen, 1971 Mühleberg und Beznau II. 1975 war zudem nicht nur ein Kernkraftwerk Kaiseraugst im Gespräch, sondern ebenso Gösgen (1979 in Betrieb) und Leibstadt (1984 in Betrieb). Die Besetzung des Kaiser­ augst-Baugeländes steckte Fronten ab, die sich als dauer­ haft erweisen sollten: zwischen atomkritischen Linken und wenig später auch Grünen sowie den in ihrer grossen Mehrheit atomfreundlichen Bürgerlichen,

die CVP eingeschlossen. Letztere konnte die Kern­energie während Jahrzehnten kaum anders als eine für die sichere Stromversorgung notwendige Ergänzung zu ihrem energiepolitischen Herzensanliegen, der Wasserkraft, betrachten. Aus dem Einbezug des energiepoli­ tischen Grabens ins Links-Rechts-Schema hat die Linke in der Vergangenheit mehr Gewinn gezogen als die Bürgerlichen. Bei energiepolitischen Abstimmungen haben wesentlich mehr Bürgerinnen und Bürger die linke und grüne Haltung gegenüber der Kernkraft unterstützt, als es dem Wahl- und Abstimmungs­potential von Sozialdemokraten und Grünen entsprochen hätte. Dies zeigte sich etwa beim vielzitierten energie­ politischen Patt von 1990. Damals lehnte eine knappe Mehrheit den Ausstieg aus der Atomenergie ab, ebenso knapp aber war die Zustimmung zum zehnjährigen

Moratorium für den Bau neuer Kernkraftwerke. Die atompolitische Teilung der Volksmeinung hat sich in den Moratoriumsjahren kaum verändert, die alten Gräben bestehen weiter. Damit wird vermutlich weiterhin zu rechnen sein, wenn atompolitische Entscheide an der Urne zu fällen sind. Verändert hat sich jedoch der Stellenwert des Atomstreits im energiepolitischen Diskurs generell. So haben vor allem die Bedarfsprognosen für den Strom und das einstmals vielbeschworene Gespenst einer Bedarfslücke beim Atomausstieg ihre Schrecken verloren. Europa schwimmt gegenwärtig im Strom, was im wesentlichen eine Folge des industriellen Zusammenbruchs im ehemaligen Ostblock ist. Und der plötzliche Überfluss drückt europaweit auf die Strompreise. […]

Neue Zürcher Zeitung 01.04.2000 ‹Atomenergie oder Zukunft für Totgeredetes› ALfred Neukom Jahrelang sollte das Gelände verkauft werden, auf dem einst das AKW geplant war. Nun verzichten die Landeigentümer auf einen Verkauf, um sich die Option für ein Kraftwerk zu sichern – ‹nuklear oder

Gaskombi›, wie es heisst. «Vielleicht ändern sich die politischen Gegebenheiten in fünf oder in zehn Jahren», sagt Hans Ulrich Sallenbach, der Sekretär des Verwaltungsrats der Aurica, wie die Kernkraftwerk

Kaiseraugst AG seit 1989 heisst. Für den Fall, dass Atomkraft künftig wieder salonfähig würde, möchten sich die Eigentümer für das Gelände, auf dem sie einst das AKW bauen wollten, alle Möglichkeiten offenhalten. […|

Basler Zeitung 13.06.2007 ‹AKW-Bau wird «nicht ausgeschlossen»› Daniel Schindler Vor 25 Jahren, am 8. Dezember 1988, zog der Ständerat – und drei Monate später der Nationalrat – einen Schlussstrich unter das Kernkraftwerkprojekt Kaiseraugst. Der Bund entschädigte die verhinderte Ausführung

des Vorhabens mit 350 Millionen Franken – der effektive Aufwand der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG wurde auf über eine Milliarde beziffert. Dem Parlamentsentscheid ging ein jahrzehntelanges Ringen voraus. Die Kontroverse

Aargauer Zeitung 19.12.2013 ‹Vor 25 Jahren wurde das Kernkraftwerk Kaiseraugst verhindert› Hans-Peter Widmer

wurde zu einer Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat. […] Den Bau des Kernkraftwerkes verhin­ derte unnachgiebiger Widerstand in der Region, begleitet von Protestkundgebungen und Gewaltaktionen. […]


[…] Mehr Atomkraftwerke erhöhten den Strom­kon­sum. Mehr Konsum rief nach zusätzlicher Produktion. Die Elektrowirtschaft plante ein AKW nach dem andern. Projekte entstanden in Kaiseraugst (Aargau), Graben (Bern), Inwil (Luzern), Rüthi im St.Galler Rheintal und in Verbois bei Genf. Doch mit dem Boom wuchs der Wider­ stand. 1975 besetzten AKW-Gegner das Bauge­lände in Kaiseraugst und stoppten das Projekt. In Graben und andern Landesteilen nahm Die Südostschweiz 18.03.2011 ‹Mit Atomkraft in die Abhängigkeit› Hanspeter Guggenbühl

[…] Die Manifestation des Volkswillens hätte kraftvoller, bunter und wirkungsmächtiger nicht sein können: Die Besetzung des Baugeländes von Kaiseraugst vor dreissig Jahren, wo die Atomwirtschaft ein AKW erstellen wollte. Das Projekt wurde 1989 beerdigt. Fast genau auf den Jubiläumstag der Besetzung hin präsentierte die Elek­trowirtschaft erneut Ideen für den Bau eines AKWs, um die von ihr prognostizierte Stromlücke zu decken. Und wie zu erwarten war, wurden die Visiere bereits herun­ter­geklappt: Linke und Grüne melden er­bitterten Widerstand an, die Rechte und die Wirtschaft finden den Vorschlag vernünftig. Das noch unbekannte neue AKW hat schon in einem Phantomstadium den Status eines Symbols erhalten, und das ist gut so. Die Geschichte von Kaiseraugst zeigt, dass wir Symbole brauchen. Anfang 1975 erteilen die Behörden die Baube­wil­ligung fürs AKW Kaiseraugst. Am 1. April beginnt die Besetzung des Geländes; wenige Tage später erfolgt eine Kund­ gebung mit rund 20 000 Teilnehmenden,

die Opposition ebenfalls zu. 1986 erschütterte die Katastrophe in Tschernobyl den Glauben an die Sicherheit der Atomenergie. 1988 begruben Regierung und Parlament die AKW-Projekte ‹Kaiseraugst› und ‹Graben›. 1990 stimmte das Schweizer Volk der ‹Moratoriums›-Initiative zu, die einen zehnjährigen Baustopp für neue AKW verlangte. Die weitergehende Initiative zum Ausstieg aus der Atomkraft lehnte das Volk indes ab. Hier obsiegte die Angst vor Stromentzug. […]

gefolgt von einer weiteren Grosskund­ gebung auf dem Berner Bundesplatz. Der Widerstand verbindet die ganze Bevölkerung: Grossmütter demonstrieren mit ihren Enkeln, der Ciba-Direktor, der Gerichtspräsident, der trotzkistische Revoluzzer und die Bäuerin geben sich bei einer Menschenkette die Hand. Die Bese­tzung des Baugeländes dauert gute zwei Monate mit dem Erfolg, dass die Bauarbeiten unterbrochen bleiben. Das bedeute, so die NZZ, dass «die illegale Aktion ihren Hauptzweck erreicht hat». Diese ‹illegale Aktion› war mehr als ein politisches Signal einer ganzen Region: Sie war ein Happening, eine kulturelle Veranstaltung und ein Trainingslager für eine ganze Politikergeneration, die zu landesweiter Bekanntheit gelangte und später Karriere machte. Zum Beispiel Anita Fetz, die als 18-jährige Schülerin bei der Besetzung dabei war und 13 Jahre später im Nationalrat das Totenglöcklein läutete. Oder Ruedi Rechsteiner, heute anerkannter Energie­ experte im Nationalrat, der etwas später zu

den Gegnern stiess. Auch Hansjörg Weder, einen der Köpfe des Widerstands, katapultierte seine Popularität in den Nationalrat. Oder Willi Gerster, der ehemalige Poch- Grossrat: Er holte sich Führungsqualitäten beim AKW-Widerstand, die er jetzt als Verwaltungsratspräsident der Bank Coop gebrauchen kann. Der Liedermacher Aernschd Born gelang­te mit seinen Widerstandsliedern zu nationaler Bekanntheit. Nicht zu vergessen Franz Hohler: Ihm verweigerte der Zürcher Regierungsrat eine Auszeichnung wegen seiner Kaiseraugst-kritischen Beiträge. Was kann einem Literaten Besseres passieren, als wenn ihm eine engstirnige Regierung aus politischen Gründen einen Preis verwehrt? […]

SonntagsBlick 26.06.2005 ‹Ein neues AKW? Ja, Bitte!› Thomas Buomberger Am frühen Montagmorgen ist auf den Informationspavillon der Kernkraft­ werk Kaiseraugst AG ein Sprengstoff­ anschlag verübt worden, der die beiden Obergeschosse des Leichtbaus völlig zerstört und Sachschaden von über einer Million Franken angerichtet hat. Nach Meinung der Untersuchungsbehörden ist der Anschlag von Personen verübt worden, die mit der Verwendung von Spreng­stoff gut vertraut sind. Der Alarm wurde um 2 Uhr 12 über die Brandmeldeanlage sowohl bei der Feuerwehr von Kaiseraugst als auch beim Betreuer des Informa­tionspavillons ausgelöst. Die Feuerwehr traf um 2 Uhr 23 am Tatort ein. Wenig später wurde auch die Kantonspolizei Aargau alarmiert, die nach einem ersten Augenschein sofort die Sprengstoff­spezialisten der Stadtpolizei Zürich beizog. Nach ersten Erkenntnissen sind der oder die Täter durch die Türe an der Südseite des Pavillons eingedrungen, die sie mit Steinen eingeworfen hatten. Der Spreng­ satz selbst wurde unmittelbar neben der Treppe im ersten Stock des zweige­ schossigen Gebäudes deponiert und zur Explosion gebracht. Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass ein

Sprengsatz von mehreren Kilos zum Einsatz gelangte; über die Art des Spreng­ stoffs und der Zündung liegen jedoch noch keine Erkenntnisse vor. Durch die Wucht der Explosion ist ausser der Stahlkonstruktion des Leichtbaues prak­tisch die ganze Verkleidung des Bauwerks und natürlich auch das gesamte Ausstellungsmaterial zerstört worden. Einzig der Keller, wo sich der Filmvorführ­ raum befindet, blieb praktisch von der Explosion verschont. Wie Polizeihauptmann Leon Forrer von der Kantons­polizei Aargau an einer Pressekonferenz am Montagvormittag in Kaiseraugst mitteilte, hat die Täterschaft offenbar Personenschäden vermeiden wollen. Auf allen drei Zufahrtsstrassen zum Pavil­ ­lon sind Plakate aufgestellt worden, auf denen in Druckschrift «Stop / Zurück­ treten / Polizei rufen / in 5 Minuten schwere Explosion im Informationspavillon» stand. Die Fahndung nach den Urhebern des Anschlags ist bereits um 4 Uhr früh auf nationaler Ebene ausgelöst worden. Zuständig für die Abklärung des Verbrechens ist die Bundesanwaltschaft, welche die Kantonspolizei Aargau mit der Untersuchung beauftragt hat. Der an der Pressekonferenz ebenfalls

anwesen­de Ulrich Fischer, Direktor der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG, hat den Schaden am Bau und an den Einrich­ tungen, die etwa 1,7 Millionen Franken gekostet hatten, auf über eine Million Franken geschätzt. Ob der Pavillon wieder aufgebaut wird, konnte Fischer noch nicht sagen; die Abstimmung vom Wochenende habe jedoch gezeigt, dass die Bevölkerung noch weiter über die Kern­ kraft informiert werden müsse. Die beiden Organisationen, die seiner­zeit an der Kaiseraugster Besetzungsaktion massgeblich beteiligt waren, die politisch-ideologisch nicht engagierte ‹Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst› (GAK) und die von Linksextremisten beherrschte ‹Gewaltfreie Aktion gegen das Atom­ kraftwerk Kaiseraugst› (GAGAK), haben zum Sprengstoffanschlag Stellung genommen. Dieser sei, so schreibt die GAK, «absolut nicht nötig» gewesen. Die GAK erachte solche Methoden als sehr untauglich und rufe die Bevölkerung auf, «den Kampf gegen das Atomkraftwerk­programm auf demokratischer Ebene und nur mit gewaltfreien Mitteln weiter­ zuführen». Auch die GAGAK teilt zuhanden der Öffentlichkeit mit, der

Anschlag sei nicht die richtige Ant­wort auf das Abstimmungsergebnis. Im übrigen schliesst sie nicht aus, «dass die gewaltsame Zerstörung des InfoPavillons auch im Interesse der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG geschah», da diese Aktion als Vorwand dienen könne, das Gelände «in eine umzäunte Festung zu verwandeln und auch AKWGegner, die nicht zu solchen Methoden stehen, zu verfolgen und zu krimi­ nalisieren». Dieser letzte Satz ist ein ins­truktives Beispiel für die abstruse Dialektik von Konfliktstrategien, wie sie seit der Studentenrevolte von 1968 mit wech­ selnden Zielen ihr Unwesen treiben. Die Schweizerische Informationsstelle für Kernenergie (SIK) ist davon über­ zeugt, dass der einmal gefällte demokra­ tische Entscheid zur Atominitiative auch von der unterlegenen Minderheit respektiert wird. In einer Stellung­ nahme schreibt die SIK den am Montag verübten Sprengstoffanschlag gegen den Informationspavillon von Kaiseraugst «Anhängern von extremistischen Gruppierungen zu, deren unschweizeri­ sche Haltung dadurch offenkundig geworden ist».

Neue Zürcher Zeitung 20.02.1979 ‹Sprengstoffanschlag auf den Informationspavillon Kaiseraugst› SDA

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[…] Es waren ein paar wenig Unentwegte, die sich am Abend des 14. April 1986 im Basler Café ‹Spitz› trafen, um das Unmögliche doch noch zu wagen: Nichts Geringeres hatten sie im Sinn, als den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst zu verhindern. Jedem vernünftigen Mensch in der Schweiz war damals klar, dass dies kaum mehr möglich sei. Anderthalb Jahre zuvor hatte das Schweizer Volk zum zweiten Mal eine Anti-AtomInitiative abgelehnt, und die AKW-Gegner im ganzen Land waren eher damit beschäftigt, den ange­falle­nen Schuldenberg abzutragen als neue Initiativen auszuhecken. Gegen den Willen der grossen Umweltorganisationen beschlossen die Mitglieder des Nordwestschweizer Aktionskomitees gegen Atomkraftwerke (NWA) unter der Leitung der damaligen Basler Nationalräte Alexander Euler (SP) und Hansjürg Weder (LdU) an jenem 14. April trotzdem einen dritten Anlauf. Wenigstens ein Moratorium für den Bau neuer AKW – gemeint war vor allem Kaiseraugst – sollte es sein. Zwei Wochen nach diesem Treffen erreichten erste Meldungen über das Reaktorunglück in Tschernobyl den Westen. Die öffentliche Aufregung

war gross. Nur noch eine Massnahme schien angemessen: Ausstieg aus der Kernenergie. Die SP nutzte die Gunst der Stunde und lancierte eine entsprechende Initiative. Die NWA-Mitglieder mit dem Moratoriums-Begehren blieben die Belächelten: Vor Tschernobyl waren sie es, weil sie starrköpfig Kaiseraugst zu verhindern versuchten, nach Tscherno­byl sprach man ihnen den Mut zu radikalen Forderungen ab. […] Im Rückblick lässt sich sagen: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat in politischen Kreisen zwar für rege Betriebsamkeit gesorgt (80 Vorstösse wurden allein im Bundeshaus eingereicht) und Bekenntnisse für eine neue, aufs Sparen ausgerichtete Energiepolitik gehörten eine Weile zur Tagesordnung. Nachhaltig wirksam blieb aber nur die MoratoriumsInitiative, für die unter dem Eindruck des Reaktorunfalls in der Ukraine die notwendigen Unter­schriften in Kürze zusammenkamen. Ohne Tschernobyl ebenfalls nicht denkbar wäre der 1990 vom Volk angenommene Energie­artikel, der mit zunehmender zeitlicher Distanz zur Katastrophe in der parlamentarischen Debatte verwässert wurde. […]

TagesAnzeiger 26.04.1996 ‹Kurze Halbwertszeit in der Energiepolitik› URS BUESS

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende […] Eine Weichenstellung in der Energiepolitik der Schweiz kündigte gestern Mittwoch in Bern der Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blocher an – und was er dann zusammen mit führenden Parlamentariern der drei bürgerlichen Bundesratsparteien FDP, CVP und SVP präsentierte, war ein Paukenschlag. Mit zwei gleichlautenden Motionen (ver­bindliche Aufträge) an den Bundesrat, die gestern im Nationalrat vom Zuger Volksvertreter Georg Stucky (FDP) und im Ständerat vom CVP- Parlamentarier Jakob Schönenberger mit den Unterschriften von total 26 National- und Ständeräten ein­gereicht wurden, soll der Bundesrat beauftragt werden, – mit der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG eine Vereinbarung über die Nichtrealisierung ihres Kernkraftwerk­ projektes abzuschliessen, – die Kern­ kraftwerk Kaiseraugst AG für die im Zusammenhang mit dem Projekt aufgelaufenen Gesamtkosten angemessen zu entschädigen und – die Massnahmen für eine zu­kunftssichernde Energiepolitik, in der die Kernenergie als Option offenbleibt, mit Nachdruck weiterzuführen. Wörtlich begründete Blocher die Abkehr jener Fraktionen, die während zweier Jahrzehnte das Projekt Kaiseraugst in allen Entscheidungsphasen konsequent mitgetragen hatten,

mit dem Satz: «Kaiseraugst muss beerdigt und abgeschrieben werden, weil es unverantwortlich wäre, weitere Kosten auflaufen zu lassen.» Es werde bedauert, nun so handeln zu müssen, meinte Blocher als Wortführer der Motionäre weiter, aber es gelte realistischerweise, sich der Macht des Faktischen zu beugen. Die schriftliche Motionsbegründung stellt dazu fest: «Die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG verfügt über rechtsgültige Standortund Rahmenbewilligungen für ihr Projekt. Trotzdem ist eine zeitgerechte Realisierung des Projektes aus politischen, staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gründen praktisch unmöglich geworden. Die Fortführung des Projektes ist aus volkswirtschaftlicher Sicht deshalb nicht mehr vertretbar. Der Beschluss über die Nichtrealisierung soll angesichts des ständig zunehmenden Projektaufwandes rasch erfolgen.» Nach Blochers Rechnung sind bereits Projektkosten von rund 1,2 Milliarden Franken aufgelaufen. Bis zum möglicherweise frühestens etwa 1995 denkbaren Baubeginn würden gar um die 2,5 Milliarden Franken investiert sein – und da ohnehin niemand mehr an die Realisierbarkeit glaube, sei dieser Preis für eine Projekteinstellung ent­schieden zu hoch. Überdies erklärte Nationalrat Blocher, zum theoretisch

Basler Zeitung 03.03.1988 ‹Kaiseraugst-Befürworter geben auf: Bundesrat soll Atomkraftwerk beerdigen› P.A.

denkbaren Zeitpunkt eines Baube­ginns in Kaiseraugst wären auch die geplanten Anlagen veraltet «und man stünde insgesamt vor einem gigantischen Scherbenhaufen». Aufkommen müssten für den volkswirtschaftlichen Schaden dann die Strombezüger und Steuerzahler. In der Motionsbegründung wird weiter gesagt, die Nichtrealisierung von Kaiseraugst solle auch «eine Entkrampfung in der Energiepolitik herbeiführen und Wege für eine sachbezogene, zukunftssichernde und umweltbewusste Gestaltung der Energiepolitik freimachen, in der die Kernenergie als Option offenbleibt.» Eine Weiterführung des Projektes wäre nach Überzeugung der Motionsunterzeichner nur dann sinnvoll, wenn in absehbarer Zeit auch wirklich gebaut werden könnte. Man müsse heute aber davon ausgehen, dass die seit Jahren in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik andauernde Ausein­ andersetzung über die zukünftige Energie-, Umwelt- und Sicherheitspolitik noch längere Zeit anhalten werde. Da die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG für die Gründe der Nichtrealisierung nicht einzustehen habe, müsse sie «angemessen entschädigt werden.» […]


WARUM: Abkehr vom Grosssiedlungsbau, Polarisierung durch romantisch-individuellen Charakter WAS: Bezug zur Tradition, Individualismus versus Gemeinschaft, Verdichtung in Peripherie

WANN: Zweite Hälfte der 70er Jahre, verstärkte Aufmerksamkeit durch Publikation ‹Bauen als Umweltzerstörung› (1973) von Rolf Keller WO: Fachpresse, Feuilletons, Publikumsmedien

WER: Regionaljournalisten, Feuilletonautoren, Architekturhistoriker, Architekten WIE VIEL: Grosses Presseecho

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WHY: Renunciation of large residential complexes, romantic character polarises WHAT: Incorporation of tradition, individualism versus community, densification

WHEN: Second half of the seventies, increasing amount of attention due to Rolf Keller’s 1973 publication ‹Bauen als Umweltzerstörung› WHERE: Specialist press, feature sections, public media

WHO: Regional journalists, feature writers, architectural historians, architects HOW MUCH: Major press response


Die Siedlung Seldwyla in Zumikon bei Zürich zählte zur Zeit der Planung und Realisierung zu den umstrittensten Bauvorhaben in der Schweiz. Die genossenschaftliche Siedlung war von ihrem Hauptarchitekten Rolf Keller als Antwort auf den normierten und als seelenlos verstandenen Wohnungsbau der Spätmoderne gedacht, den er wie andere Bausünden in seinem auch im Ausland stark beachteten Buch ‹Bauen als Umweltzerstörung› (1973) gegeisselt hatte. Seldwyla, heute auch als erstes postmodernes Bauprojekt der Schweiz verstanden, folgte dem Gedanken des verdichteten, aber kleinteiligen Einfamilienreihenhausbaus. Die Formensprache der weiss verputzten, Holz und Beton vereinenden Gebäude liess mediterrane und corbusianische ebenso wie mexikanische Bauten assoziieren und sollte doch – vermittels der Integration von Elementen abgerissener Häuser – auch auf Schweizer Traditionen rekurrieren, auch wenn es sich um ein synthetisches Heimatkonstrukt handelte. Seldwyla fand ein kontroverses Echo in der Tagespresse, wurde aber auch in Architekturmedien – besonders in der Zeitschrift werk-archithese – ausgiebig diskutiert. Auffällig ist, dass die Fachöffentlichkeit dem Experiment im besten Fall skeptisch, im Allgemeinen aber ablehnend gegenüberstand – und dies betraf auch die Architekten der aufbrechenden jungen Generation, die später das Schweizer Architekturgeschehen bestimmen sollten. Ästhetische und funktionale Kritik verbanden sich: Die Beliebigkeit der Formensprache fiel ebenso dem Verdikt anheim wie die Tatsache, dass es sich bei Seldwyla lediglich um einen monofunktionalen Schlafort in anderer Gestalt handele und damit nicht um ein Gegenmodell zur Zersiedlung. Besonders heftige Ablehnung erhielt die Siedlung aus dem ETH-Umfeld, wie Beiträge von Dolf Schnebli und Ulrike JehleSchulte Strathaus belegen. Letztere konnte ihre Kritik auch im Tagesanzeiger Magazin veröffentlichen, während andere Publikumsmedien – wie das Ideale Heim – Rolf Keller als ‹Rufer in der Wüste› und Vertreter eines ‹humanen Wohnens› vorstellten.

Siedlung Seldwyla 1967–1980 Rolf Keller und andere Architekten Zumikon Seldwyla residential complex 1967–1980 Rolf Keller and other architects Zumikon

At the time of its planning and realisation, the ‘Seldwyla’ residential complex in Zumikon near Zurich was one of the most controversial construction projects in Switzerland. This cooperative residential complex was conceived by its main architect, Rolf Keller, as a response to standardised late modernist residential construction, which was seen as soulless and contemptuous of humanity, and which he had castigated, along with other eyesores, in his 1973 book ‘Bauen als Umweltzerstörung’ (Building as Destruction of the Environment) – a highly regarded work, also abroad. Seldwyla, now also seen as Switzerland’s first post-modern construction project, adhered to the notion of compact, but detailed, single-family terraced house construction. These white plastered buildings combining wood and concrete had a language of forms that invited associations with Mediterranean, Corbusian and also Mexican structures, and yet was also meant to refer back to Swiss traditions (via the integration of elements from demolished houses), even though this was ultimately a synthetic homeland construct. Seldwyla met with controversy in the daily press, but was also discussed at length in architectural media, particularly in the journal werk-archithese. It is noticeable that the professional community’s view of the experiment was at best sceptical, but generally hostile – and this also applied to the architects of the upcoming young generation, who would later define the Swiss architecture scene. Criticism of aesthetics was combined with criticism of function: the condemnation applied just as much to the arbitrariness of the language of forms, as to the fact that Seldwyla was said to be merely a mono-functional sleeping place in a different guise and therefore not a model alternative to urban sprawl. Particularly fierce disapproval of the residential complex came from the domain of the Federal Institutes of Technology, as documented in articles by Dolf Schnebli and Ulrike Jehle-Schulte Strathaus. The latter was also able to publish her criticism in Tagesanzeiger Magazin, while other public media, such as Ideale Heim, presented Rolf Keller as a ‘voice in the wilderness’ and a representative of ‘humane living’.

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[…] Journalist: Sie sagten, das Haus sei in den Formen nachindustriell, nicht vorindustriell. Das habe ich eigentlich sehr treffend gefunden. Die Häuser sind natürlich auch eine Kritik an der herrschenden Bauweise; sie sind sogar eine Kritik an unsern Lebensformen. Die Häuser fordern sehr viel vom Bewohner, viel mehr als irgend ein Normhaus. Sie fordern von ihm, dass er sich mit jeder einzelnen der Formen auseinandersetzt, die sehr vielsagend sind, sehr laut auch teilweise. Überall gibt es Ecken, die nicht vordergründig funktionell sind. Der Bewohner fühlt sich angesprochen. Natürlich kommen dann die Leute und fragen: «Goht’s noh?» oder «Wie putzt man das?»

oder «Das hat ja dreimal soviel gekostet.» Eine Herausforderung, das Wort, das ein Bewohner brauchte am Anfang, ist es für alle anderen Leute, die Häuser haben und Häuser anschauen, aber auch für jenen, der darin wohnt. Und Sie, Herr Keller, sind, glaube ich, einer, der das auch will. Architekt: Ich wollte die Leute ja nicht überfordern, im Gegenteil, aber wenn man so etwas in unserer industriellen Zeit mit einer Bauindustrie bauen muss, dann wird es tatsächlich zu einer Herausforderung für alle, bis an die Bruchgrenze. Bewohner: Ja. Ich habe das erst mit der Zeit gemerkt. Und ich fühle mich jetzt noch wie im Anfangsstadium.

Bauen + Wohnen 1979 Nr. 1–2 ‹Herausgefordert – Bewohner und Architekt Diskutieren mit Journalisten› Ueli Schäfer

[…] Die Reaktionen der Fachkreise auf die Siedlung ‹Seldwyla› sind zwiespältig. Der Grund dafür liegt wohl weniger in Kellers erweitertem Verständnis des Begriffes Wohnen. Denn in dieser Hinsicht hat ‹Seldwyla› Vorläufer in den Siedlungen Halen und Thalmatt bei Bern oder auch Manuel Paulis eigenwilliger Überbauung ‹Wyler am Teich› im zürcherischen Embrach. Stein des Anstosses scheint vielmehr die hohe Priorität der ästhetischen Komposition in der Siedlung ‹Seldwyla› zu sein. Dem Betrachter eröffnet sich eine scheinbar unerschöpfliche Fülle von Durchblicken auf Gassen, Höfe, Plätzchen, Säulen, Vorhallen, Erker und auch eine abwechslungsreiche ‹Landschaft› von Schrägdächern. Gemeinsame Elemente sind weiss verputzte Backsteinmauern, die roten Ziegeldächer und die ausgiebige Verwendung von Holz. An verschiedenen Stellen sind Teile historischer Bauten, namentlich alte Haustüren, eingebaut worden. Die Anlage wirkt, im Touris­ tikjargon ausgedrückt, ‹malerisch› oder ‹schmuck›, sie erinnert an ein südländisches Dorf, man denkt an Ferien, und unverkennbar spielt auch ein Hauch von ‹altertümlicher Ruine› mit hinein. In ‹Seldwyla› widerspiegelt die Form nicht mehr nur die technische Funktion; sie soll darüber hinaus und manchmal auch ‹zweckfrei› dem Auge etwas bieten. Keller steht zu dieser Relativierung des

herkömmlichen Funktionalismus und plädiert dafür, dass inskünftig vermehrt in die optische Vielfalt der Bauten statt in die Ausstattung mit neuesten technischen Apparaturen investiert wird. Dieser ‹Mut zum Gemüt› entspreche den heutigen Bedürfnissen der Bevölkerung. Skeptischer gegenüber einer Eigenart der Ästhetik im skizzierten Sinn äussert sich Manuel Pauli. Er billigt eine grössere Formenvielfalt nur, insoweit damit ein funktionell weiteres und individuelleres Wohnen zum Ausdruck gebracht wird. […] Dolf Schnebli würdigt ‹Seldwyla› und ähnliche Versuche als «keine Wende zum Guten». Seine Kritik hat im wesentlichen drei Stossrichtungen. Erstens sei für die Erweiterung unserer Siedlungen zur Schonung der Landschaft nicht das Dorf, sondern die Stadt als Vorbild zu wählen. Die Aufgabe bestehe darin, funktionell durchmischte und deshalb menschliche städtische Räume statt blosser Agglomerationen zu schaffen. Zweitens sei es unmöglich, «neue alte Häuser» zu bauen und Siedlungsformen, die sich früher während langer Zeit herausgebildet haben, heute in einem Wurf hinzustellen. Auf diese Weise schaffe man «total romantische Scheinwelten». Es gehe darum, unter vernünftiger Anwendung der heutigen Bautechnik Gefässe für jenes Leben zu schaffen, das die Bewohner wirklich leben. Drittens liegen ‹Seldwyla› und ähnliche Siedlungen

nach Auffassung Schneblis im Spannungsfeld zwischen Monotonie und Chaos viel zu nahe beim Chaos. Die Selbstverwirklichung der Bewohner werde durch eine expressive Formgebung nicht gefördert. Dieser Einwand Schneblis konnte, auf eine Kurzformel gebracht, etwa lauten: Der Architekt darf nicht den Bewohner selbstverwirklichen. Die Individualität des Bewohners kann sich, mit anderen Worten ausgedrückt, nur vor einem zureichend monotonen architektonischen Hintergrund entfalten. […]

Neue Zürcher Zeitung 14.07.1978 ‹Auf der Suche nach einer humaneren Architektur› John Benda

[…] Ich dachte lange darüber nach, ob die Bewohner von Seldwyla ihre Bedürfnisse eigentlich so genau kennen, dass sie sich ein Haus nach Mass zu bestellen wissen, ob sie diesen ‹nach-industriellen›, agraren Baustil wollten, ob sie die 365 TageFerienstimmung, die Seldwyla vermitteln will, aushalten können? Rolf Kellers Ausstrahlung und Suggestion muss gross gewesen sein. Das Individuelle der verschiedenen Villen erweist sich im Vergleich als Schein. Die Unruhe im Grundriss und Aufriss ist oberstes Prinzip. Hat denn da keiner gesagt, er brauche eine kubische Zelle und sei’s nur aus Spleen? Nein, da ist eine untergründige ‹Monotonie› des krampfhaft Lebendigen festzustellen, die bis ins einzelne Möbelstück dringt. Es ist, als hätten die Bewohner allen Hausrat weggeworfen, ehe sie nach Seldwyla gezogen sind, und sich mit ‹Echtem› ein­gedeckt: das sind abgelaugte Schränke, Truhen, ThonetTages Anzeiger Magazin 1979 Nr. 5 ‹Als würden Ziegel auf bäumen wachsen› ulrike jehle-schulte strathaus

und Tessiner Stühle, Bauerntische. Das rohe Holz wird durchwegs als Zeichen eines nach-industriellen Bewusstseins zur Schau gestellt. Die Frage nach dem Verhältnis Seldwylas zur Architekturgeschichte bleibt unbeantwortet. Agrare Bauten werden hier als zeitlose gesehen. Dass Dörfer in verschiedenen Regionen einen bestimmten Typus entwickelt haben, steht nicht zur Debatte. Mittelmeerisches, was immer das auch sei, Engadiner Mauern, Tessiner Stil und Mexikanisches stehen rein assoziativ da (Ich sah mich in einem ltalo-Western, als ich Seldwylas Platz betrat.) Keller findet die Frage, woher seine Formen stammen, uninteressant. Er weigert sich, die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Er verfügt über Vergangenheit und ignoriert bewusst die Zukunft. Er wählt seine architektonischen Elemente von der Warte der ethischmoralischen Instanz aus. […]


[…] Sehr geehrte Frau Ulrike JehleSchulte Strathaus. Sie müssen sich nicht nur als Spielverderberin vorkommen, wie Sie schreiben. Sie sind auch eine. Sie verletzen mit Ihrem Bericht viele Regeln des Anstands. Auch wenn Sie lange darüber nachgedacht haben, ob die Bewohner ihre Bedürfnisse so genau kennen, dass sie sich ein Haus nach Mass zu bestellen wissen, so kann ich Ihnen nur sagen: Lange nachdenken nützt wenig, wenn die Empfindsamkeit fehlt. «Abzulenken von der Wirklichkeit», das ist Ihnen mit dieser lückenhaften Betrachtungsweise auch gelungen. Fehlt nur noch, dass Sie selber in einem erwärmenden, gemütlichen Haus der Jahrhundertwende leben und selbst keine «kubische Zelle – und sei’s nur aus Spleen» – bewohnen. Schade, dass man Gastfreundschaft so nützt – ausnützt, könnte man auch sagen. Wer einem Fremden Einlass in sein Haus gewährt, sollte eigentlich erwarten dürfen, dass seine Bemerkungen wohl kritisch,

aber nicht entstellend ausfallen. Jetzt begreife ich auch, weshalb Sie bei unserer Hausbesichtigung kein einziges Wort geredet und keine einzige Frage gestellt haben. Ein stummer Monolog zur Meinungsbildung funktio­ niert im «Zeitalter europäischen Zusammenschlusses» eben nicht. Wenn Sie sagen, dass «Architektur keine Privatangelegenheit ist», dann ist sicher die Art, wie man sich einrichtet, eine. (Max Baltis, Zumikon) […] Der TAM-Artikel, der sich wissenschaftlich gibt, aber eher in emotionellem lmponierjargon gehalten ist, sagt wohl viel über die Verfasserin, aber wenig über Seldwyla aus, denn ihr Vor-Urteil hinderte sie zu verstehen, was uns antrieb: Wir lebten nicht – wie unsere paar Kritiker – in alten gemütlichen Häusern, nein, wir alle litten an emotionaler Unterernährung, die wir uns in den sterilen Wohnblöcken zugezogen hatten. Wir suchten deshalb einen unverwechsel­ baren Lebensraum und vor

allem mehr Leben, mehr Lebendiges. Wir wollten etwas entdecken, was uns fehlte, was uns wichtig scheint. Unser Seldwyla ist deshalb eine entschiedene Absage an die ‹sauber› genannte Architektur, ist eine Manifestation für eine sinnlich reichere Umwelt, ist Widerstand gegen die Lebensraumver­ stümmelung, ist eine Demonstration gegen die Resig­nation. Das eigentliche Miese an diesem Angriff aber ist, dass Ulrike Jehle-Schulte Strathaus schwieg, während Glatt- und Limmattal verbetoniert wurden, dass sie auch schwieg, als wir an all den strategischen Punkten Zürichs (von der Fleischhalle bis zum Y) kämpften, und nun als Sphinx über dem Trümmerhaufen unserer Umwelt das Gift ihrer Tinte aus dem Hinterhalt über eine der ach so raren Alternativen im Wohnungsbau zu spritzen trachtet, so, als gelte es, nicht die Wohnsilos und Einfamilien­hausweiden zu bekämpfen, sondern aus­gerechnet Seldwyla! Wenn hier also

verkehrte Welt gespielt wird – und das TAM mitspielt –, so bleiben wir getrost und zufrieden im Schutze der auf den Bäumen wachsenden Ziegel – um Ausschau zu halten nach besseren Alternativen. (Rolf Keller, Zumikon-Seldwyla) […] Nur gerade auf eines in Rolf Kellers Zuschrift möchte ich antworten, auf die Meinung, Seldwyla sei eine ‹Alternative im Wohnungsbau›. Eine Einfamilienhaus-Siedlung im Grünen, die ‹unmenschliche› Trennung der Bereiche Wohnen und Arbeiten fördernd, kann keine Alternative sein, auch wenn sie mit Architekturmotiven eines ‹nachtechnischen› Zeitalters schafft. Ich sehe sogar gerade in der scheinbaren Befriedigung von Bedürfnissen, die der moderne Alltag schafft. Ich sehe sogar eine Gefahr. Mit Ferienerinne­ rungen in architektonischer Endgültig­ keit lassen sich gesellschaftliche Widersprüche allenfalls kaschieren, aber nicht lösen. (Ulrike Jehle-Schulte Strathaus) […]

Tages Anzeiger Magazin 1979 Nr. 7 ‹Blut- Und Boden-Barock oder «Good Morning Mr. Gips»› LESERBRIEFE Nur soviel: Der Name ‹Seldwyla› führte auch andere aufs Glatteis; aber er war ein spontaner Einfall eines Kollegen an der Gründung der Genossenschaft, und zwar nicht im Sinne helvetischer Festredner, sondern als Antiname verstanden. Jahre danach behielten ihn die Bewohner, sich und andern etwas

Ironie zutrauend. Und schliesslich, was mich verletzt: die Lebenslüge jener Kritiker und Kollegen, die Wasser predigen und selbst Wein trinken, die, im Wider­ spruch zu dem, was sie lehren und für die Betroffenen bauen, selbst in alte Häuser flüchten.

Werk-Archithese 1978 Nr. 21–22 ‹Replik› Rolf Keller

[…] Das Donnerwort zielt auf seine Kollegen, die Architekten und Städteplaner, die Baubeamten und Verordnungsmacher – und auf das, was sie während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte an menschenfeindlicher Architektur entworfen und gebaut haben. Eine ‹Streitschrift wider die Untaten in Beton› nannte die ‹Neue Zürcher Zeitung›, was Keller auf 192 Seiten aus Hunderten von entlarvenden Photos und leidenschaftlichen Texten kompiliert hat: «Es ist ein Irrtum zu glauben, die Welt werde nur im Kriege zerstört.» Nach Alexander Mitscherlichs Hinweis auf die ‹Unwirtlichkeit unserer Städte› (l965) und den Streitschriften der amerikanischen Publizistin Jane Jacobs Anfang der sechziger Jahre wertete die Schweizer Presse das Keller-Buch als den bedeutendsten und einleuchtendsten Beitrag zur Kritik Der SPIEGEL 1974 Nr. 17 ‹Bilder einer Krankheit› N.N.

Die Zielsetzungen der im Mai 1967 gegründeten Genossenschaft Seldwyla gehen von der Notwendigkeit aus, den bekannten Siedlungsformen – Wohnblöcke einerseits, individuelle Einfamilienhäuser andererseits – eine Alternative, einen Mittelweg gegenüberzustellen. Um einen Quartierplatz scharen sich lockere Wohngruppen mit zusammengebauten Einfamilienhäusern, Eigentumswohnungen und einigen Ateliers, und zwar so,

des modernen Städtebaus. «Was Keller in Bildern zusammengetragen hat», so befand die ‹Neue Zürcher Zeitung›, «ergibt eine Galerie der Hässlichkeit, eine Sammlung der in Beton, Metall und Glas erstarrten Gestaltungsschwäche.» Jahrtausendelang, so Kellers Hauptthese, hatten sich Individualismus und Ordnung in der Architektur die Waage gehalten. Nun aber, in den letzten Jahrzehnten, «polarisierten sich diese Elemente und fielen auseinander»; übriggeblieben sind: das Chaos (Häuser, die nicht miteinander reden können, jedes in anderer Zunge. Gnadenlos stehen sie beieinander. Kontaktlos, vereinsamt wie ihre Bewohner) und Monotonie – Wohnsilos und Massenquartiere, ob nun in München oder Amsterdam, aber ebenso auch, wie Keller zeigt, in Caracas, Leningrad, Stockholm und in Afghanistan. […]

dass sie bei aller gestalterischen Individualität und Vielfalt als harmonische, in die Landschaft gefügte Einheit in Erscheinung treten. Mit einer gemeinsamen Baugesinnung soll ein kleines Quartier entstehen, das durch individuelle «Hauspersönlichkeiten» verwandt ist mit alten Dorfteilen. Die Oberflächenmaterialien der Häuser (weiss verputzte Backsteinwände, rote Ziegeldächer) sollen übereinstimmen; in der ländlichen

Formensprache soll im Äussern der Bauten Zurückhaltung geübt werden. Nachdem in jahrelanger Arbeit all die Hindernisse gegen ein solches Gegenbild zur üblichen baulichen Umweltverschandelung aus dem Wege geräumt sind, ist die erste Etappe im Bau und die zweite im Stadium des Baubewilligungsverfahrens. An der Projektierung der einzelnen Bauten sind weiter beteiligt: Rudolf Guyer, Max Lechner und Fritz Schwarz, dipl. Architekten BSA / SIA, Zürich.

Das Ideale Heim 1976 Nr. 8 ‹Seldwyla in Zumikon› Rolf Keller

[…] Die Frage nach dem Verhältnis der Architektur Seldwylas zur Geschichte bleibt unbeantwortet. Agrare Bauten werden als zeitlos gesehen und benutzt. Lokale oder regionale Unter­scheidungen greifen nicht. Mediterranes, Weissgetünchtes, Engadiner Mauertiefe, Tessiner Stil oder Mexikanisches stehen rein assoziativ nebeneinander. Rolf Keller als Initiant versprach den stadtmüden Bewohnern von Seldwyla Ferienstimmung rund um die Uhr während des ganzen Jahres. Er weigerte sich, geschichtliche Bedingungen zur Kenntnis

zu nehmen. Er verfügte so über die Vergangenheit und ignorierte die Zukunft. Von der Warte der ethisch-moralischen Instanz aus wählte er seine architektonischen Elemente gegen die beklagte Unwirtlichkeit der Städte. Entwickelt als Gegenbild zur Grossform, zur Urbanität durch Dichte, steht Seldwyla in einer Reihe mit Überbauungen der Siebzigerjahre, die sich verstehen «als individuelles und doch gemeinschaftsorientiertes Wohnen, als verdichtetes und deshalb noch vertretbares Bauen im ländlichen Raum». […]

Werk, Bauen + Wohnen 2000 Nr. 7–8 ‹Ein exklusiver Ausweg: nachindustrielle, globale Ferienstimmung› Ulrike Jehle-Schulte Strathaus

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[…] Es gab vehemente Reaktionen, die in den Magazinen vom 17. und vom 24. Februar veröffentlicht wurden. (Eine davon – diejenige von Rolf Keller *, Architekt BSA – wollen wir hier als Kuriosität abdrucken.) So erklärlich diese Leserbriefe sind, so eigenartig nehmen sich die darin formulierten Anliegen aus. Es scheint, als wäre kaum jemand bereit, über Architektur zu reden. Dagegen wird die Autorin als Frau und als Intellektuelle in Frage gestellt: «Als sinnenfeindliche Puritanerin» bemerke sie nicht, «dass Architektur mit den Sinnen, nicht mit dem Intellekt wahrgenommen wird», «langes Nachdenken nützt wenig, wenn die Empfindsamkeit fehlt». Oder, noch schöner: «Hat sie, die Frau, am Ende Angst vor der Sinnlichkeit, der Erotik unserer Architektur?» Auf die Frage von Ulrike Jehle, ob dörf­ liches und vorindustrielles Architektur-Vokabular verlorenes dörfliches Glück und Unschuld wiederbringen könnten, wurde weniger eingegangen. Es wurde auch nicht geantwortet auf den Vorwurf, dieses agrare Architekturgehabe sei nur Kulisse und in seiner Struktur unwahr. Dagegen hagelte es altbekannte Vorurteile auf den Kopf der am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH beschäftigten Kritikerin. Sie gehöre zu jenen, «die noch dem alten Fortschritts­ glauben an das ‹moderne Bauen› frönen», zu den

«vom grimmig-kalten Geist des ‹modernen Bauens›» Befallenen, sie hätschle ihren «Fortschrittsfetischismus». Warum äusserte sich gerade einer der Architekten von Seldwyla, Rolf Keller, in dieser Art? – Er hätte doch auch auf die Gründe verweisen können, die ihn zu seinen Experimenten treiben, auf die bestehende Unzu­ friedenheit mit der durchschnittlichen Bauerei. Er hätte im einzelnen begründen können, warum er diese oder jene Form verwendet hat. Indem er die Kritik an seiner Siedlung einfach persönlich nimmt, bringt er sich in den Verdacht, den ein anderer LeserbriefVerfasser äussert: er baue nämlich kitschige Ferienarchi­ tektur, «Mallorcaputz», «Blut-und-Boden-Barock», «Gips»-Kulissen mit einem sektiererischen Beigeschmack. Auch auf die Frage, was denn ausser altertümelnder Formen an der besprochenen Architektur alternativ sei, will kein Betroffener eingehen, weder Keller noch einer der Bewohner, die der Kritikerin «Entstellung» und Unanständigkeit vorwerfen. Vielleicht haben die recht, die sagen, Seldwyla sei lediglich eine weitere Variante des «Bauens als Umweltzerstörung»: «Seldwyla verhindert ja die negativen Auswirkungen unserer Gesellschaftsordnung nicht, im Gegenteil, ist gerade ihretwegen möglich: Seldwyla braucht die Hochleistungsstrasse, die Autos der Seldwyler

verstopfen den Strassenraum in der Stadt und verpesten die Luft». Einer meint, Seldwyla antworte auf ein wirkliches Bedürfnis, sich im Haus als Individuum zu verwirklichen mit «Attrappen der Sehnsucht nach einer heilen Welt». Warum ist so wenig von Archi­ tektur die Rede, wenn von Architektur ausgegangen wird? – Warum werden gerade von den Betroffenen die wenigen Ansätze der Architekturkritik in unseren Medien nicht wahrgenommen oder wenn, dann nur aus persönlicher Sicht? Das Tages Anzeiger Magazin gab den Reaktionen auf Ulrike Jehles Artikel etwa gleich viel Raum, wie eben dieser Artikel selbst einnahm. Es kam nur in Ansätzen zu einer Diskussion. Die Betrof­ fenen haben sich daran überhaupt nicht beteiligt. […] * Lesebrief von Rolf Keller siehe S. 20 oben.

Werk-Archithese 1979 NR. 27–28 ‹Eine versäumte Architekturdebatte› S.

[…] Bei den Kosten auch der kleinsten Wohneinheit in Seldwyla können die sozialen, siedlungspolitischen Argumente wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Es musste also die Form der Siedlung irgendwelche gültigen Werte schaffen. Das mangelnde Geschichtsbewusstsein, das ich in bezug auf die Namensgebung der Siedlung erwähnte, wird im Umgang mit den Architektur­ elementen ebenso offensichtlich. Bernoullis Siedlungen oder das naheliegendste Beispiel Neubühl scheinen nicht zu existieren. Eine Scheinwelt wird aufgebaut, deren Kulissenhaftigkeit nur noch in Aufführungen von Carmen im Theater von vorgestern benutzt wurde. Beim Besuch in Seldwyla an einem Samstagmorgen hatte ich das Gefühl, dass hier nur Musterschüler meiner Mittel­ schulzeit am Werke waren. Nicht Max Frischs Wilhelm Tell, nicht Adolf Muschgs Gottfried Keller, sondern die Schweizergeschichte und die Heimatliteratur, wie sie an meiner Mittelschule der Kriegszeit vermittelt wurde, allerdings gefiltert durch 30 Jahre Reiseprospekte für billige Ferien am Mittelmeer oder in Nordafrika, prägten das Geschichtsbewusstsein. Mir fehlt der Sinn für Architekturgeschichte, welcher Basis sein muss für jede heutige Architekturleistung. Ich hoffe, recht verstanden zu werden. Ich liebe Ziegeldächer, aber es verletzt, wenn ich sehen muss, mit wieviel unnötiger Spenglerarbeit die geschroteten Ziegel am Ort gehalten werden müssen. Es verletzt, wenn ich sehen muss, dass die Kollegen meiner Generation, die sich zur Elite der Zürcher Architekten zählen, die Unkultur, welche Bauspekulanten in meiner Wahlheimat Tessin als Ferienwelt anbieten, jetzt auch in Zürich als humanere Architektur auf den Markt werfen. Werk-Archithese 1978 Nr. 21–22 ‹Gedanken zur Siedlung Seldwyla in Zumikon› Dolf Schnebli

[…] Wo also wäre Kellers Platz in der Architektur? Seine Originalität würde ich zwischen der selbstgebauten Stadt­ randhütte und der Renaissance ansiedeln: die Armen des Stadtrandes verwenden schon einmal gebrauchtes Material (bei uns höchstens für Schrebergartenhäuschen angewandt), Keller findet unter dem schon Gebrauchten das Urmaterial Holz, das gar nicht ‹verbraucht› werden kann.

Er rettet die Erzeugnisse des Handwerks, er greift zu und stellt sie nicht ins Museum. Seine Fundstücke erhalten aber im neuen Kontext den ‹selbstverständlichen› Wert der Antiken-Fundstücke in Renaissance / Barock (bekannt ist die Römer Villa Doria Pamphili von 1644, wo antike Teile mit ‹neuen› die Fassaden bestimmen). Und mit dieser Asso­ziation wollen wir Seldwyla verlassen.

Wir verlassen es durch ein gerettetes Stück aus der Zürcher (Neu-)Renaissance, das in Seldwyla einbezogen worden ist: ein Bogen der abgebrochenen Fleischhalle bildet heute das Eingangstor zur Siedlung! Rolf Kellers ‹Seldwyla› ist vielschichtig, und auch sein Verhältnis zu Heimatschutz und Denkmalpflege ist eigen. ‹Eigensinnig› sagen seine Gegner. ‹Eigenwillig› würde ich sagen, original und genuin.

Werk-Archithese 1978 Nr. 21–22 ‹Siedlung «Seldwyla» alias Rockwil› Hanspeter Rebsamen, Rolf Keller

[…] Zu den schärfsten Kritikern gehörte der Zürcher Architekt und Publizist Rolf Keller. Seine Publikation ‹Bauen als Umweltzerstörung› fand 1973 weit über die Landesgrenzen Beachtung. Sein trister Reigen von Schwarzweiss-Bildern Die schönsten Bauten 1960–75 2013 ‹Wachstumskritik› Françoise Krattinger

verstand sich als bissige Bestandsaufnahme der Bauwut der Hochkonjunktur. Sein gemeinsam mit Fritz Schwarz entworfenes Dorfzentrum in Muttenz hatte gezeigt, wie ein respektvolles Weiterbauen in historischer Umgebung möglich wäre.


WARUM: Interesse für Tessiner Architektur und für Luigi Snozzi seit Mitte der 70er Jahre

WANN: Seit Beginn der Planung 1977, später Refe­renz­beispiel für gelungene Dorferneuerung

WER: Architekturkritiker, Feuilletonautoren, Denkmalpfleger, Architekten

WAS: Dorferneuerung, Einpassung von Neubauten, Baugesetzgebung

WO: Nationale und internationale Fachpresse, Feuilletons

WIE VIEL: Kontinuierliches Medienecho, vor allem in 80er Jahren, Ausstrahlung ins Ausland

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WHY: Strong interest in Ticino architecture and in Luigi Snozzi since the mid-seventies

WHEN: Since the planning in 1977, later, reference example of village modernisation

WHO: Architecture critics, feature writers, heritage conservationists, architects

WHAT: Village modernisation, integration of new structures, building legislation

WHERE: National and international specialist press, feature sections

HOW MUCH: Sustained media response, mainly in the eighties, presence also abroad


Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Dorf Monte Carasso zur Schlafvorstadt von Bellinzona; durch Zersiedlung verliert es seine Identität. Die Opposition gegenüber einem Richtplan, der diese Entwicklung fortzuschreiben droht, führt 1977 zur Kehrtwende: Der Architekt Luigi Snozzi beginnt mit seinem Konzept einer Dorferneuerung, das über mehrere Jahrzehnte in enger Abstimmung mit dem Bürgermeister Flavio Guidotti umgesetzt wird. Sonst übliche Baugesetze – etwa Abstandsregelungen zu den Nachbarparzellen – werden ausgehebelt, und Snozzi erarbeitet für Monte Carasso ein neues Regelwerk. Ausgangspunkt seiner Interventionen ist das ehemalige Augustinerkloster im Dorfzentrum, das von Bebauungen befreit und mit neuen Nutzungen versehen wird. Um das Kloster und den Friedhof samt den öffentlichen Freiflächen herum entsteht eine öffentliche Ringstrasse, die durch markante Bauten akzentuiert wird: die Raiffeisenbank, das Haus des Bürgermeisters, die Sporthalle. Neben der Stärkung des Zentrums widmet sich Snozzi auch den Wohnquartieren, wobei er Vorgaben hinsichtlich Material und Gestalt macht, ansonsten aber Freiräume für die Nutzer lässt. Bei Ausnahmen ist eine örtliche Baukommission zu konsultieren. Monte Carasso wird zum Musterbeispiel einer gelungenen Dorferneuerung, was sich nicht zuletzt in der Verleihung des Wakkerpreises des Heimatschutzes im Jahr 1993 niederschlägt. Von Anfang an stossen die Aktivitäten auf nationale und internationale Aufmerksamkeit – spätestens seit der Tendenzen-Ausstellung 1975 in Zürich ist die neue Architektur im Tessin ein vielbeachtetes Phänomen geworden. Von einigen kritischen Stimmen abgesehen, denen Snozzis Fokussierung auf Einzelbauten im Dorfzentrum angesichts einer von Suburbanisierung bestimmten Lebenswelt fragwürdig erscheint, wird die Erneuerung von Monte Carasso fast unisono positiv bewertet. Allerdings findet das Beispiel kaum Nachfolger; der Erfolg ist ohne das Engagement des Architekten nicht vorstellbar. An keinem anderen Ort gelingt es den Tessinern, in einem vergleichbaren Masse städtebaulich tätig zu werden.

Dorferneuerung Monte Carasso Seit 1977 Luigi Snozzi Monte Carasso Monte Carasso village modernisation Since 1977 Luigi Snozzi Monte Carasso

After World War II, the village of Monte Carasso becomes the dormitory suburban town of Bellinzona; it loses its identity as a result of unchecked urban sprawl. In 1977, opposition to a structure plan that threatens to continue this divergence leads to a U-turn: architect Luigi Snozzi begins his village modernisation concept, which is implemented over several decades in close cooperation with the may­ or, Flavio Guidotti. Building laws that usually apply (such as rules regarding distance from neighbouring parcels) are annulled and Snozzi develops new regulations for Monte Carasso. The starting point of his interventions is the former Augustinian monastery in the village centre, which is liberated from other constructions and given new uses. Around the monastery, cemetery and surrounding open areas, a public circular road is built, which is accentuated by striking structures: the Raiffeisen bank, the mayor’s house and the sports hall. Alongside the invigoration of the centre, Snozzi also attends to the residential areas, defining specifications regarding material (concrete and stone) and design (walls facing the streets) but otherwise gives the occupants free scope. Any exceptions require a consultation with a local construction committee. Monte Carasso becomes a prime example of successful village modernisation, which is reflected, to no small extent, by the fact that it is awarded the Wakker Prize for heritage preservation in 1993. From the very start, the activities attract national and international attention. At the latest, it is after the 1975 exhibition Tendencies in Zurich that the new architecture in Ticino becomes a highly regarded phenomenon. Apart from a few voices of criticism, saying that Snozzi’s focus on individual structures in the village centre seems questionable on consideration of a fleeting living environment defined by suburbanisation, the rejuvenation of Monte Carasso is almost unanimously seen as positive. However, there are hardly any successors to this example; without the continual involvement of the architect, such success is inconceivable. The people of Ticino do not manage to actively participate in town planning on a similar scale at any other location.

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[…] Ein Teil dieser Vergangenheit ist heute wieder zum Leben erweckt, aber überdacht und neu interpretiert im Lichte heutiger Not­wendig­keiten. Im Gegensatz zum zurzeit gültigen Plan, der die Dezentralisierung der Funktionen und Dienste vorsieht, wird der gigantische Kloster­ komplex wieder der Mittelpunkt, um den sich das soziale und kulturelle Leben des Ortes abspielt. Vorgesehen als Bürger- und Schulzentrum, befindet sich das wiedererstellte ehemalige Kloster heute im Zentrum eines grossen Platzes, der im Süden und im Westen von einer breiten, von Bäumen gesäumten Strasse, an der das Gemeindehaus steht, eingerahmt wird. Im Osten dehnt sich ein Grünstreifen aus, der als Garten für eine Serie von Reihenhäusern dient. Die südöstliche Ecke dagegen ist von der Turnhalle und vom Materiallager der Gemeinde umgeben,

welches von Snozzi zwischen 1981 und 1984 erbaut wurde. Ebenfalls von ihm sind die Raiffeisenbank und das Haus des Gemeindepräsidenten (1984), die das neue, riesige Zentrum wie einen Kranz umgeben. Die Restaurierung des Klosters hat somit eine Änderung der ganzen Regionalplanung herbeigeführt. Monte Carasso stellt ein wertvolles und seltenes Beispiel einer Gebietsund Stadt-Neuordnung dar, die den Ort aufwerten und ihm wieder seinen Charakter geben und die Verstädterung aufhalten. […]

Heimatschutz / Patrimoine 1993 Nr. 2 ‹Zu Besuch in Monte Carasso: ein Ort verändert sein Gesicht› Lucia Pedrini-Stanga

[…] Sie haben das Politische nie vom Architektensein getrennt. Kann Architektur den Menschen verändern? Architektur kann Archi­tektur verändern, nicht Men­schen. Doch mit meinen Erfah­rungen in Monte Carasso musste ich mein Bild über Archi­tektur etwas ändern, weil dort die Architektur die Menschen tatsächlich verändert hat. Als ich zum Beispiel nach Monte Carasso kam, war das Dorf arm. Und wer in der Schule dumm war, dem sagte

man damals nach, er komme aus Monte Carasso. Das hat sich total verändert, heute ziehen Leute aus Lugano nach Monte Carasso. Vor dreissig Jahren haben Sie das Projekt Monte Carasso mit Bürgermeister Guidotti gestartet. Und es geht immer noch weiter. Warum wurde aber das letzte Projekt, der Musiksaal, nicht gebaut? Der Sockel ist immerhin gebaut, weil die Gemeinde einen Luft­ schutzkeller brauchte. Das Projekt kam nie zustande, weil meine

guten sozialistischen Freunde aus Monte Carasso sich geweigert haben, das Geld anzunehmen, das ich von einem Freund bekommen hätte. Der reiche, ehemalige Student von mir wäre bereit gewesen, die Baukosten von dreissig Millionen Franken einzuschiessen. Die Sozialisten meinen, die Arbeiter bräuchten keine klassische Musik. Der Bürgermeister versucht zwar immer noch zu überzeugen, aber es wird noch einige Zeit dauern. […]

HochParterre 2012 Nr. 6–7 ‹Immer gegen die Natur› Interview Ivo Bösch / Luigi Snozzi

[…] Diese städtebaulich-architektonischen Themen entwickelte er bis heute weiter in den Häusern von Verscio, Agarone, Ronco, Carona und Cureglia. Vor allem gelang es ihm aber, in Monte Carasso seine Ideen durchzusetzen – von der meisterhaften Miniatur des Turmhauses für den Sindaco über die enigmatische Doppelsphinx der Turnhalle und die Friedhoferweiterung bis hin zum Umbau des ehemaligen Klosters in ein Gemeindezentrum und zum grossen, das Dorf gegen die Autobahn abschirmenden Wohnblock. Verglichen mit seinen fast gleichaltrigen Tessiner Kollegen Galfetti und Vacchini oder dem elf Jahre jüngeren Botta ist Snozzis gebautes Œuvre klein. Doch wohnen jedem urbanistischen Neue Zürcher Zeitung 29.07.2002 ‹Bauen mit Verstand› Roman Hollenstein

Entwurf, jedem Haus architektonische Aussagen inne, die bis heute nichts an Gültigkeit eingebüsst haben. Erinnert sei nur an den 1978 von ihm und Botta urbanistisch exakt formulierten Wettbewerbsentwurf für einen Zürcher Reiterbahnhof (den ein anderer Architekt dann zur amorphen Megastruktur des HBSüdwest verwässerte). Wenn heute Snozzis karge Bauten, die allem Detail- und Materialkult, allem selbstverliebten Minimalismus und aller formalen Übersteigerung abhold sind, auf junge Architekten wieder erfrischend neu wirken, so mag ihn dies darüber hinwegtrösten, dass er viele seiner schönsten Träume bisher nicht verwirklichen konnte. […]


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