Neue Schulräume Architektur für zeitgemässes Lernen

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Neue Schulräume Architektur für zeitgemässes Lernen

Roman Weyeneth Tilo Richter

Christoph Merian Verlag


Inhalt

Bauen für die Schule

Neue Räume

Neue Schulen

Anhang

Impulse für neue Schulräume S. 10

Lernateliers S. 28

Sekundarschule Sandgruben S. 206

Basler Schulstandorte S. 284

Primarschule Schoren S. 232

Anmerkungen S. 286

Zur Geschichte der Schularchitektur S. 13 Räume für die Schule von morgen S. 19

Klassenzimmer und Gruppenräume S. 46 Fachunterrichts­zimmer und Spezialräume S. 66 Sporthallen und Schwimmhallen S. 96 Aulen und Versammlungsräume S. 112 Tagesstrukturen und Mensen S. 128 Kindergärten S. 150 Erschliessungsräume S. 166 Dachausbauten S. 192

Primarschule Erlenmatt S. 254

Quellen und weiterführende Literatur S. 287 Impressum, Dank S. 288


Bauen fĂźr die Schule


Impulse für neue Schulräume

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Das sogenannte HarmoS-Konkordat1 bewirkte in der Schweiz eine grundlegende Transformation kantonaler Schulgeset­ ze. Die von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) im Jahr 2007 formulierte ‹In­ terkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule›, kurz HarmoS, legt eine einheitliche Laufbahn an den Schweizer Volksschulen fest. Mit ihrem Beitritt zu diesem Konkordat passen die jeweiligen Kantone nicht nur die administrativ-organisatorische Struktur ihrer Schulsysteme an, sondern unternehmen parallel dazu auch umfangreiche bauliche Massnahmen an den Schulgebäu­ den. Zum einen sind in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten pädagogische Konzepte entwickelt worden, für deren Umsetzung in den Volksschulen ein neuer räumlicher Rahmen geschaffen werden soll. Zum anderen ergeben sich aus dem Beitritt Basels zum HarmoS-Konkordat und zum Sonderpädagogik-Konkordat der EDK Veränderungen, die sich auf die Zusammensetzung der Klassenstufen und damit auch auf die Struktur der Schulräume auswirken. Die Volks­ schule umfasst elf obligatorische Schuljahre: «Die Primar­ schule selbst wird von vier auf sechs Jahre verlängert. Die Orientierungs- und Weiterbildungsschulen werden aufge­ löst, und es entsteht eine neue dreigliedrige Sekundarstufe I. Diese werden alle Kinder in den drei letzten obligatorischen Schuljahren vor dem gleichzeitigen Übertritt in die Sekun­ darstufe II durchlaufen. Schliesslich wird das daran an­ schliessende Gymnasium von fünf auf vier Jahre verkürzt.»2 Das Grossprojekt der Schulharmonisierung führt zu deutlich sichtbaren Veränderungen in der Schularchitek­ tur – sowohl bei den älteren Schulen, die zum Teil gravieren­ de bauliche Anpassungen erfahren, als auch bei neu errichte­ ten Schulen, deren Raumkonzepte die neuen pädagogischen Ansätze, wo immer möglich, konsequent berücksichtigen. Neu ist die Konzeption clusterartiger Lernateliers, die das al­ ters- und leistungsgemischte Lernen im Verbund mehrerer Schulklassen unterstützen. Ebenso fordert die selbst gestal­ tete und selbstständige Lernarbeit der Kinder und Jugend­ lichen neue Strukturen, weil Lehrpersonen nicht mehr nur belehren, sondern auch begleiten. Schliesslich führt auch das steigende Angebot von Tagesstrukturen zu räumlichen Veränderungen in den Schulen. Vor allem die Integration der Tagesstrukturen in den regulären Schulbetrieb bedeutet einen grossen Schritt hin zum Tagesschulbetrieb. An allen Volksschulen soll für min­ destens ein Viertel der Schülerinnen und Schüler ein alters­ gerechtes Angebot zur Verfügung stehen. Auch damit sollen sich die Schulen künftig als gestaltbare Lebensräume be­ währen, sich ins Quartier öffnen und sich selbstverständli­ cher als bisher in den urbanen Alltag integrieren. Zum gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre zählt auch die zunehmende Zahl von Schülerinnen und Schü­

lern, die einen höheren Schulabschluss anstreben. Gleich­ zeitig fordern die allgemeine Leistungsheterogenität und fehlende Sprachkenntnisse von Menschen mit Migrations­ hintergrund ein stärkeres Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Diese Veränderungen sind seit Längerem im Gange, sie wirken sich auch auf die Rolle Letzterer sowie auf den Schulalltag der Schülerinnen und Schüler aus. Mit den neu­ en (Sammel-)Fächern, dem selbstgesteuerten Lernen, den Lernateliers und Tagesstrukturen ändert sich die Schule nicht nur architektonisch, sondern auch inhaltlich. Gleich­ zeitig ist sie mit partiellem Frontalunterricht oder den Fä­ chern Musik, Werken, Sport aber immer noch traditionell.

Basels Schulraumoffensive Die durch die Schulharmonisierung bewirkten Verän­ derungen bedeuten für die Basler Volksschulen die grösste Reform seit ihrer Gründung im Jahr 1880 und der Einfüh­ rung des neuen Schulgesetzes vor rund neunzig Jahren. «Mit der Inkraftsetzung des (zwar mehrfach revidierten, aber heute noch gültigen) Schulgesetzes war es nach 1929 unum­ gänglich, neue Schulhäuser zu bauen. Durch die im Gesetz verankerte Verkleinerung der Klassen und die Einführung der Kindergärten erhöhte sich der Raumbedarf nämlich massiv.»3 Im Juni 2011 veröffentlichte das Erziehungsdeparte­ ment des Kantons Basel-Stadt das ‹Porträt Volksschulen 2011›, in dem die wesentlichen Grundlagen der neuen Orga­ nisation und wichtige inhaltliche Aspekte der zukünftigen Volksschulen festgehalten sind. Im Wandel sind die Struktu­ ren der Schullaufbahn und die Unterrichtsformen. Im Kern formuliert dieses Porträt Grundsätze wie: Die Volksschule ist eine Schule für alle, die individuelle Schullaufbahnen ermöglicht; sie ist leistungsorientiert und bereitet auf die Berufswelt vor. Die Volkschule gewährt den Schulleitungen Freiräume und unterstützt die Lehrpersonen mit praxis­ tauglichen Hilfsmitteln.4 2011 startet der Kanton Basel-Stadt seine sogenannte Schulraumoffensive. Ziel dieses umfangreichen Projekts ist die Modernisierung und strukturelle Erneuerung der Schul­ gebäude. In einem Zeitraum von etwa zehn Jahren werden nahezu alle Schulhäuser der Stadt davon profitieren. Der heutige Bestand von rund hundert Basler Schulgebäuden an fünfzig Schulstandorten reicht von Gebäuden aus der zwei­ ten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu jüngst fertiggestellten Neubauten. «Neu war in Basel, dass die Schulraumplanung des Erziehungsdepartements mit den Schulleitungen und der Fachstelle Tagesstrukturen lange vor Beginn der Bau­ planung gemeinsam und sehr eng die Grundlagen mit pä­ dagogisch inspirierten Layouts und Flächenbudgets entwi­ ckelten.»5


Bauen für die Schule

Im Zeitraum von 2013 bis voraussichtlich 2024 investiert der Kanton Basel-Stadt für diese Arbeiten insgesamt rund 790 Millionen Franken in Bauten, davon mehr als 200 Mil­ lionen Franken in Erweiterungsbauten (Wasgenring, Bläsi, Christoph Merian / Gellert, Rittergasse) und neue Schulen (Sandgruben, Erlenmatt, Schoren, Lysbüchel). Schulpoli­ tisch koordiniert wird das Vorhaben durch die Regierungs­ rätliche Delegation Schulraumplanung. Diese setzt sich zusammen aus den drei Vorsteherinnen und Vorstehern der Departemente sowie weiteren Vertreterinnen und Ver­ tretern des Erziehungsdepartements als Besteller und Nut­ zervertreter, des Bau- und Verkehrsdepartements als Planer und Bauherrenvertreter und des Finanzdepartements als Investor und Bauherr. Durch den Einbezug der künftigen Nutzerinnen und Nutzer bereits in der Planungsphase ent­ wickelten sich die Bau- und Umbauprojekte nah an der Pra­ xis des Schulalltags. Alle politischen Entscheide auf dem Weg zur Schul­ harmonisierung und zur Schulraumoffensive sind in den zuständigen Gremien mit grossen Mehrheiten gefällt wor­ den. Bei den genannten Ausgaben im Rahmen der Schul­ raumoffensive betrifft dies vor allem vier Ratschläge des Grossen Rats aus dem Jahr 2012, betreffend die zwei Rah­ menausgabenbewilligungen zur Anpassung bestehender Räume (93 Mio. Franken) sowie für Baumassnahmen für die Tagesstruktur (39 Mio. Franken), einen weiteren Kredit für die Projektierung von sechs Neu- und Erweiterungsbauten der Primarschule (7,7 Mio. Franken) und einen Gesamtkredit zur Planung und Realisierung des 10. Sekundarschulstand­ orts auf dem Sandgruben-Areal (60 Mio. Franken).6 Leitfäden für die Entscheidungen zu den strukturel­ len Veränderungen sind unter anderem neu formulierte Raumstandards für die Volksschulen und Gymnasien. Sie definieren Grösse, Belegung, Beleuchtung, Akustik und Ausstattung sowie weitere Parameter verschiedener Raum­ typen. Das Erziehungsdepartement Basel-Stadt legte 2012 detaillierte Raumstandards für alle drei neu strukturierten Schulstufen vor. Die Fläche der Klassenzimmer beträgt für alle Schulstufen 60 Quadratmeter, die der Gruppenraume 20 bis 30 Quadratmeter. Primarschulklassen sollen aus maxi­ mal 25 Schülerinnen und Schülern bestehen, Klassenräume der Sekundarstufe I sollen Platz bieten für 14 bis 25, die Grup­ penräume für 13 Schülerinnen und Schüler.7 Massgeblichen Einfluss auf die Planungen haben sogenannte Flächenbud­ gets, die festlegen, wie gross bestimmte Nutzungsbereiche angelegt werden müssen und in welchem Verhältnis sie zu­ einander stehen.8 Parallel zu diesen grundlegenden Parametern entstand die sogenannte Allokationsplanung, sie hält fest, an welchen Standorten welche Schulstufe welche Schulräume benötigt. Dabei können nicht alle gewünschten Standards in allen Schulbauten umgesetzt werden, vor allem bei den Umbau­ ten bestehender Schulen kam es auf ökonomisch sinnvolle und gleichzeitig funktionale Kompromisse an.

Neben den strukturellen und pädagogischen Veränderun­ gen gibt es im Bestand der basel-städtischen Schulbauten einen grossen Nachholbedarf an Unterhaltsarbeiten und eine Reihe von notwendigen Massnahmen zum Beispiel zur Erdbebenertüchtigung, zur energetischen Sanierung, zum Brandschutz oder zur Gewährleistung der Barrierefreiheit in älteren Bauten. Sie werden im Zuge der Schulraumoffensive in Angriff genommen. Zudem entsteht durch die seit mehre­ ren Jahren deutlich zunehmende Zahl von Einwohnerinnen und Einwohnern im Kanton Basel-Stadt die Notwendigkeit, bestehende Schulen zu erweitern und neue zu errichten, ins­ besondere in den grossen Stadtentwicklungsgebieten. Auch die Umsetzung des Konzepts ‹Förderung und Integration› führt zu einem erhöhten Raumbedarf. Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf sollen integrativ gefördert werden. Sie besuchen, soweit das möglich ist, Re­ gelklassen und werden dabei von zusätzlich anwesenden heilpädagogischen Lehr- und Fachpersonen unterstützt und gefördert.

Fruchtbare Dialoge Um sicherzustellen, dass die spezifischen Ansprüche der einzelnen Standorte insbesondere bei Neu- und Er­ weiterungsbauten, aber auch bei baulichen Anpassungen bestehender Schulen ausreichend berücksichtigt werden, stellte auf Initiative des Schulraumplaners des Kantons jeder Schulstandort zwei bis drei Raumverantwortliche. Sie be­ gleiten die Schulraumoffensive. «Der Schulraum muss den Anforderungen der heutigen und der zukünftigen Nutzer / innen entsprechen. Um diesem Anspruch gerecht zu wer­ den, werden zielorientierte Mitwirkungsprozesse installiert. Der Einbezug des Schulpersonals und der Schülerinnen und Schüler in die Umsetzung der lokalen Schulprojekte ist der Projektleitung ein wichtiges Anliegen. Der Schulraum soll für lange Jahre dem erfolgreichen und zielorientierten Ler­ nen und Lehren dienen. Die Architektur muss diesen An­ spruch erfüllen.»9 Mehrheitlich sind solche fundamentalen Struktur­ veränderungen und insbesondere die damit verbundenen Baumassnahmen sogenannte Top-Down-Projekte, die von den zuständigen Behörden und weniger von den betroffenen Standorten koordiniert werden. Nicht so in Basel: «An jedem Schulstandort wurde im Dialog mit dem Schulraumplaner, der Schulleitung und der Fachstelle Tagesstrukturen das jeweilige Layout für die zukünftige Nutzung unter Berück­ sichtigung des pädagogischen Konzeptes definiert und als Bestellung dem Bau- und Verkehrsdepartement übergeben. Der Mitbeteiligungsprozess in dieser frühen Phase in allen Projekten ist einzigartig.»10 Bei Neu-, Erweiterungs- und Umbauprojekten erweist sich der Einbezug der Lehrperso­ nen in den Dialog mit den Architekturbüros und in die Ent­ scheidungsprozesse als sehr förderlich. Bereits zu Beginn der Architekturwettbewerbe haben die Schulleitungen die

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Gelegenheit genutzt, den involvierten Architekturbüros ihre pädagogischen Konzepte vorzustellen und sich über Mög­ lichkeiten der Zusammenarbeit im Gestaltungsprozess aus­ zutauschen. Im Ergebnis entstehen dann bessere Schulen als ohne diesen vorausgegangenen Prozess. Wie sehr dieses Konzept der Interaktion zwischen Behörden, Schulen und Architekturbüros Früchte trägt, ist im Schulalltag erlebbar. Zur Sekundarschule Sandgruben schrieb die Architektin und Architekturkritikerin Julia Hemmerling etwa: «Ohne stetigen Dialog der Beteiligten, ohne transdisziplinäres Vor­ gehen wäre der in seiner Offenheit sorgfältig formulierte Ar­ chitekturwettbewerb ebenso wenig entstanden wie das klare pädagogische Programm und die nutzerorientierte Umset­ zung.»11 Zugleich manifestiert sich das hohe Niveau der in die­ sem Dialog gefundenen neuen Lösungen für das Bauen und das Lernen in Auszeichnungen, die Basler Neubauten ver­ liehen wurden. Während sich die Sekundarschule Sandgru­ ben über die Anerkennung ihrer Arbeit durch die Verleihung des Schweizer Schulpreises 2017 freuen kann, erhielten Luca Selva Architekten den Hasen in Silber der Schweizer Archi­ tekturzeitschrift ‹Hochparterre›. Mit dem Schweizer Schulpreis zeichnet der Verein Schweizer Schulpreis Schulen für ihr überdurchschnittli­ ches Engagement sowie für die Gestaltung herausragender Prozesse und Resultate im Umgang mit schulischen bezie­ hungsweise pädagogischen Herausforderungen aus. Der Verein konstatiert: «Vielen Schulen in der Schweiz gelingt es, Schülerinnen und Schüler fürs Leben zu begeistern und die Schule als Ort des Staunens und der Freude zu gestalten. Sie setzen Kreativität frei, lassen Lust an Leistungen entstehen, stärken Lebensfreude und Lebensmut und erziehen zu Fair­ ness und Verantwortung. Diese Schulen sind pädagogisch richtungsweisend.»12 Wie viele andere Grossstädte steht auch Basel in den kommenden Jahrzehnten vor der Herausforderung einer zunehmenden städtebaulichen Verdichtung. Diese wird auf zwei Arten auch auf die Entwicklung der Schulbauten wir­ ken: Zum einen wird durch mehr Wohnraum auf gleicher Fläche die Bevölkerungszahl und damit auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler weiter steigen. Zum anderen wird der Druck auf den bebaubaren Boden zunehmen, was die Planung neuer Schulgebäude erschwert. Neue Stadtentwick­ lungsgebiete wie etwa das Lysbüchel-Areal im Nordwesten der Stadt, der Dreispitz Basel-Münchenstein im Süden oder der seit Generationen von der chemischen Industrie okku­ pierte Stadtteil Klybeck im Nordosten werden sich als Stand­ orte neu zu erbauender Schulen bewähren müssen. Trotz der hier genannten Erweiterungs- und Neubau­ projekte, die wesentliche Beiträge zur baulichen Verdichtung leisten, ist schon heute absehbar, dass die bisher bereitge­ stellten und auch die darüber hinaus geplanten Schulräume den künftigen Bedarf nicht vollständig decken können. Das macht weitere Bauprojekte und bis zu deren Realisierung

auch neue Provisorien nötig, wie sie schon seit Jahrzehnten eingesetzt werden, um temporäre Raumengpässe zu über­ brücken.

Schulraum als Entfaltungsraum Der Architekt und Architekturhistoriker Ernst Spycher kommt in seiner aktuellen Analyse der Basler Schulbauten zu dem Schluss: «Für die Umsetzung der geplanten Schul­ reformen, die derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen Ländern anstehen, genügt es nicht, immer mehr und differenzierter ausgestattete Schulräume zu bauen. Die neu gebauten Unterrichtsräume müssen einer sinnvollen und vielfältigen, vor allem aber intensiveren Nutzung zugeführt werden. Sie sollten allerdings so gestaltet sein, dass sich da­ rin die geistigen und schöpferischen Kräfte der Schüler voll entfalten können.»13 Das heisst, die Architektur liefert im Idealfall einen geeigneten äusseren Rahmen für das grund­ legend neue Verständnis vom Lernen und Lehren. Bereits 1979, also genau fünfzig Jahre nach Inkrafttreten des Basler Schulgesetzes, wusste man: «Der Geist, der in den Schulstu­ ben herrscht, nicht der Buchstabe des Gesetzes, die Mensch­ lichkeit, die in den Beziehungen zwischen Lehrern, Schülern und Elternhaus waltet, nicht die Lehrpläne und Promotions­ ordnungen, die Persönlichkeit des Lehrers, seine charakter­ liche, erzieherische und wissenschaftliche Qualität, nicht organisatorische Vorzüge und technische Mittel werden das Urteil über unsere Schulen sprechen.»14 Rolf Schönenberger, einer der Pioniere und Verfechter des Lernateliers, sagte 2017 in einem Interview: «Es ist wich­ tig zu verstehen, dass Lernlandschaften nicht als Selbst­ zweck funktionieren. Man muss sich zuerst über die Tiefen­ struktur einig sein, also die Frage, was man erreichen will. Erst dann kann man die Oberflächenstruktur anpassen und beispielsweise Lernateliers einrichten. Der Fehler, den vie­ le Schulen machen, ist der: Sie finden Lernateliers cool und wollen das bei sich einführen. Dabei sind ihnen die Gründe und Zielsetzungen dieser Veränderung nicht wirklich be­ wusst.»15


Bauen für die Schule

Zur Geschichte der Schularchitektur In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte die Schul­ architektur als grossstädtische Bauaufgabe in den Fokus von Stadtentwicklung und Architektur. Seit Mitte des 19. Jahr­ hunderts wurden die expandierenden wirtschaftlichen Zen­ tren in ganz Europa zum Magnet für Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland. Für sie mussten Wohnraum und urbane Infrastrukturen geschaffen werden. Den gesellschaftlichen Rahmen für die baulichen Entwicklungen bildeten erste Schulgesetze, die zuerst den freien Zugang zu Bildung, bald danach die Schulpflicht regelten. In Basel gilt seit 1838 die allgemeine Schulpflicht. Die das Stadtbild prägenden Schulbauten entstanden aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die prosperierende In­ dustriestadt rasant wuchs. Im Jahr 1880 wurden die Basler Volksschulen gegründet. «Die liberale Regierung [war] mit einer starken Zuwanderung von billigen Arbeitskräften konfrontiert, deren Kindern ein möglichst einfacher Zugang zur Bildung ermöglicht werden sollte. Man erhoffte sich da­ durch auch einen Nutzen für Wirtschaft und Industrie.»16 Die rund vier Jahrzehnte nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 71 und vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 markieren eine erste wichtige Epoche in der Geschichte der Basler Schularchitektur. In diesen Jahrzehnten entstan­ den, über das damalige Stadtgebiet verteilt, nicht weniger als 26 Schulgebäude. Eine zweite prägende Phase folgte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: In den 1950er-Jahren entstanden zwölf Neubauten, im Jahrzehnt darauf folgten zehn weitere. Noch einmal, in der zweiten Hälfte der 1990erJahre, kam es zu einem Boom der Schulneubauten. Damals errichtete der Kanton fünf neue Schulen und erweiterte eini­ ge der bestehenden. Die Schulraumoffensive der Jahre 2013 bis voraussichtlich 2024 markiert die jüngste Phase dieser Expansion. Neben dem quantitativen Zuwachs an Unter­ richtsräumen öffnet sie den Weg für die Umsetzung des HarmoS-Konkordats mit seinen neuen Schullaufbahnen in Basel. In jeder dieser historischen Etappen kamen spezifische Raumkonzepte und architektonische Stile auf. Die jeweils geltenden Schulgesetze boten die rechtliche Grundlage für die Gestaltung der Neubauten. Massgebliche Faktoren für die architektonische und städtebauliche Disposition der neu erbauten Schulen waren etwa das Alter der Schülerinnen und Schüler, die Anzahl der Klassen, die Lage der Bauten in der Stadt und zu den Nachbarn und nicht zuletzt die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. «Anfänglich wa­ ren es vor allem die Kantonsbaumeister selbst, die mit mar­ kanten Schulhausbauten städtebauliche Akzente setzten. Nach und nach kamen aber auch (zunächst ausschliesslich einheimische) Architekten zum Zug, wenn es galt, in einem Quartier zusätzlichen Schulraum bereitzustellen. Das Vogel­ sangschulhaus ist das letzte Schulhaus, das der damalige

Kantonsarchitekt Hans Luder in den 1960er-Jahren selbst entworfen und gebaut hat, bevor sich die heutige Praxis, für Schulhaus-Neubauten Wettbewerbe auszuschreiben, defini­ tiv durchzusetzen begann.»17 Basel bewegte und bewegt sich dabei immer wieder auf einem ausgesprochen hohen architektonischen Niveau – im Schweizer, mitunter auch im internationalen Massstab. «Der Blick zurück auf die Geschichte der Basler Schulhausbauten zeigt, dass der Schulhausbau in Basel wie in vielen anderen schnell wachsenden Städten immer wieder neue Gebäude­ typen hervorgebracht hat. Schulhausbauten waren und sind oft das kulturelle Zentrum neu entstehender Quartiere, neh­ men deshalb im Plan der Stadt eine prominente Stellung ein und sind ein wesentlicher Teil der Architektur- und Stadt­ geschichte.»18 Ausgehend von den geforderten Funktionen und vorherrschenden pädagogischen Konzepten haben sich im Laufe von rund hundertfünfzig Jahren verschiedene Mo­ delle herausgebildet, die Ernst Spycher in seiner detaillier­ ten Betrachtung der Basler Schulbautypologie ausführlich dargelegt hat.19 Zum besseren Verständnis der Geschichte der Schularchitektur sollen hier einige der markantesten Bautypen anhand ihrer Basler Vertreter vorgestellt werden.

‹Schulpaläste› des 19. Jahrhunderts Schulgebäude lassen sich anhand ihrer Grundrisse in verschiedene Typen einordnen, so wie sich im Inneren klare Raumaufgaben ausmachen lassen. Grundrisse von Schulen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert beruhen meist auf dem einfachen Schema der additiven Anordnung gleich­ grosser Klassenzimmer und einer Sporthalle. Exemplarisch für diese Phase ist das damalige Schulhaus am Rhein, heu­ te die Sekundarschule Theobald Baerwart (siehe Grundriss S. 14). Das Gebäude wurde 1902 nach Plänen von Gustav und Julius Kelterborn erbaut und zeigt einen dreibündigen, axialsymmetrischen Grundriss; die angegliederte Sporthalle trennt die beiden Schulhöfe für Knaben und Mädchen. Auf dem grosszügigen Bauplatz nahe dem Rheinbord sind nach allen vier Seiten Klassenzimmer angeordnet, dabei wurden die Räume an den beiden Gebäudeschmalseiten um 90 Grad gedreht. Das Innere wird strukturiert von zwei zentral lie­ genden Treppenhäusern und je zwei grossflächigen Foyers auf jeder Etage. Die Fassaden des dreigeschossigen Gebäu­ des zeigen – wie die meisten Basler Schulen aus dieser Zeit – Formen der Neorenaissance. Sandstein und Putzflächen sowie ein betürmtes Walmdach prägen das Äussere. ‹Schul­ paläste› wie dieser, in den historisierenden Architektur­stilen der Neorenaissance und später des Neobarock, gibt es in Basel in grosser Zahl, etwa das Pestalozzi-Schulhaus (1893, Architekt Heinrich Reese, heute Sekundarschule Vogesen), die Gundeldingerschule (1897, Architekten Heinrich Reese

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Schulhaus am Rhein (heute Sekundarschule Theobald Baerwart), 1. Obergeschoss, Gustav Kelterborn, Julius Kelterborn, 1902.

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Primarschule Bruderholz, Erdgeschoss, Hermann Baur, 1939 und 1961.


Bauen für die Schule

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Mädchenreal- und -sekundarschule (heute Primarschule Brunnmatt), Erdgeschoss, Walter Maria Förderer, Rolf Georg Otto, Hans Zwimpfer, 1965.

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Primarschule Volta, 1. Obergeschoss, Miller & Maranta, 2000.


und Viktor Flück) oder das Gotthelf-Schulhaus (1902, Archi­ tekten Viktor Flück und Theodor Hünerwadel). «Tatsäch­ lich beeindrucken sie auch heute noch durch ihre selbstbe­ wusste Haltung und ihre starke Präsenz im Stadtgefüge. Sie nehmen mit grosser Selbstverständlichkeit Schlüsselposi­ tionen ein als Repräsentanten eines stolzen und machtbe­ wussten Bürgertums, das mit diesen Bauten demonstrierte, was ihm die Ausbildung der nachfolgenden Generationen bedeutete und dass es bereit und imstande war, die Kosten dafür zu tragen.»20 In diese Reihe gehört auch das Steinen­ schulhaus (1877, Architekt Johann Jakob Stehlin d. J.), das 1969 als eines der wenigen historischen Basler Schulgebäude abgerissen wurde.21

Aufbruch in die Moderne

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Zu den prominentesten Basler Schulbauprojekten aus den Zwischenkriegsjahren, gehört eines, das nie zur Ausfüh­ rung kam. Der Nachfolger von Walter Gropius als Direktor des Bauhauses, Architekt Hannes Meyer, schuf mit Hans Wittwer und der Bauabteilung Bauhaus Dessau einen spek­ takulären Wettbewerbsbeitrag für den Neubau der Peters­ schule (siehe Abb. S. 17). «Der Beitrag […] wurde 1926 in der ersten Runde abgelehnt. Seine Radikalität, in der alle Ele­ mente der Neuen Sachlichkeit enthalten waren, machte ihn jedoch zum bedeutendsten aller eingesendeten Entwürfe.»22 Der Vorschlag von Meyer und seinem Team bestach durch die konsequente Loslösung von tradierter Formensprache und den Verzicht auf bis dahin übliche Grundrisslösungen. Mit viel Glas, Stahl und Stahlbeton sollte in der Basler Alt­ stadt eine transparente, lichtdurchflutete Schule entstehen, die sich in ihrer avantgardistischen Konstruktion, ihren ku­ bischen Gebäudevolumen und den eingesetzten Materialien der Gegenwart und der Zukunft gegenüber aufgeschlossen zeigt. «Das neue Schulgesetz von 1929, in dem auch die Ein­ führung von Kindergärten geregelt war, löste für die Nut­ zung bestehender und die Planung neuer Schulhausbauten starke Veränderungen aus. Neben der Verkleinerung der Klassengrössen wurde die Anzahl der Schulfächer wesent­ lich erhöht. Die Reduktion der Klassengrössen von 54 – 60 Schülern auf 30 – 44 Schüler war nach den neu strukturier­ ten Schulstufen sehr unterschiedlich festgelegt worden. Dies hatte zur Folge, dass für alle Schulstufen mehr Klassenund Fachklassenzimmer erforderlich wurden. Die Grund­ risse der bestehenden und der neuen Schulhausbauten, vor allem der mittleren und oberen Schulstufen, mussten den stark veränderten Raumprogrammen angepasst werden. Die Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden wirkte sich eben­ so auf den Schulhausbau aus.» 23 Unter den neuen Vorzeichen entstand 1939 die damals modernste Bildungseinrichtung auf Basler Boden: Hermann Baurs Primarschule Bruderholz (siehe Grundriss S. 14). Zum ersten Mal wählte hier ein Architekt in der Schweiz das Pa­ villonsystem für einen Schulbau. «Baur bediente sich dabei

einer modifizierten Architektursprache des Neuen Bauens und nahm Elemente der Nachkriegsmoderne vorweg. […] Der Typus der in die Natur eingebetteten und im Massstab dem Kind angepassten Pavillonschule entsprach den dama­ ligen Erziehungsidealen von offeneren Unterrichtsformen und hatte experimentellen Charakter.»24 Ursprünglich be­ stand das modulare Raumsystem aus drei eingeschossigen, flachgedeckten Pavillons mit je drei Klassenzimmern und einem Kindergarten. Sie wurden durch offene Hallen mit­ einander verbunden. In den Jahren 1959 bis 1961 kamen zwei weitere Pavillons und ein doppelgeschossiger Bau hinzu. Die topografisch herausgehobene Lage und die natürliche Um­ gebung am Siedlungsrand des Bruderholzes ermöglichten eine freie, kammartige Anordnung der Baukörper im Gelän­ de. Erstmals in Basel waren hier die Klassenzimmer mit Ti­ schen und Stühlen möbliert, und die Aussenräume konnten für den neuartigen Freiluftunterricht genutzt werden. Die althergebrachte Schulbank war passé. «Dass sich Basel noch vor dem Krieg dem Neuen Bauen öffnete, war massgeblich der Ausstellung ‹Das neue Schul­ haus› zu verdanken, die 1932 in Basel und Zürich gezeigt wurde und die Möglichkeit zum Vergleich einheimischer Schulbauten mit aktuellen Beispielen aus Deutschland und dem angelsächsischen Raum bot.»25 Die Bruder­holz-Schule diente auch später noch als Vorbild, zum Beispiel für die Ge­ staltung der deutlich grösseren, zweigeschossigen und für insgesamt 28 Primar- und 16 Sekundarschulklassen aus­ gelegten Wasgenring-Schulhäuser I und II (1955, erweitert 1962, Architekten Bruno und Fritz Haller). «Die architekto­ nische Gestaltung war ein klarer Bruch mit der Gestaltung der ersten Basler Schulhausbauten der Nachkriegszeit und der Beginn der schweizerischen Nachkriegsmoderne.»26

Architektur im Wettbewerb Als Weiterentwicklung von Baurs Pavillonkonzept in grösserem Massstab kann auch das Primarschulhaus Brunn­ matt, das durch seine Mehrgeschossigkeit an ein städtische­ res Umfeld angepasst ist, gelesen werden (siehe Grundriss S. 15). Es wurde zwischen 1960 und 1965 am Rande des Gun­ deldingerquartiers nach Entwürfen des Architekten und Bildhauers Walter Maria Förderer und der Architekten Rolf G. Otto und Hans Zwimpfer erbaut. Die kompakte Bauform bildet – mit ihren diagonal aneinandergekoppelten Klassen­ räumen und dem variantenreichen System von sich durch­ dringenden Funktions- und Verbindungsräumen – eine Art Raumskulptur. «Mit seinen unverwechselbaren Betonskulp­ turen wollte Förderer, dessen Einfluss weit über die Grenzen der Schweiz reichte, einen bewussten Kontrapunkt zu den damals beliebten, einem nüchternen Funktionalismus ver­ pflichteten Stahl-Glas-Konstruktionen setzen.» 27 «Aus Sicht der Schulen eine wichtige Etappe war auch der Bau des Gymnasiums Bäumlihof [1973, Architekten Vi­ scher AG], bei dem erstmals [...] neben Baufachleuten Lehr­


Bauen fĂźr die Schule

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Primarschule Peter Nicht ausgefĂźhrter Wettbewerbsentwurf. Hannes Meyer, Hans Wittwer und Bauabteilung Bauhaus Dessau, 1926.


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personen in den Planungsprozess mit einbezogen worden waren.»28 Die mit dieser Öffnung zum Dialog einhergehende Individualisierung wurde auch durch die grundlegend an­ dere Genese von Bauprojekten in Architekturwettbewerben befördert: «Anders und – zumindest auf den ersten Blick – neu hingegen erscheint die architektonische Sprache: Im Gegensatz zu den Schulbauten aus der Zeit der letzten Jahr­ hundertwende wurde jedes Gebäude von einem anderen Büro entworfen. Der Ausdruck der Bauten ist folglich auch wesentlich individueller.»29 Die Tendenz zu offeneren Un­ terrichtsformen ist in den Bauten der Nachkriegsmoderne bereits angelegt, wartet aber erst nach 1990 mit neuartigen Grundrissen in den Wettbewerben für Schulneubauten auf. Insbesondere an der neuen Dualität von Klassenzimmer und Gruppenraum ist diese neue Epoche der ‹Werkschulen› ab­ lesbar. Bauten wie die Primarschule Wasgenring (1995, Archi­ tekt Peter Zinkernagel), das Kaltbrunnen-Schulhaus (1996, Architekten Wymann & Selva, heute Primarschule Neubad) oder die Primartagesschule Ackermätteli (1996, Architekten Ackermann & Friedli) entsprechen dem neuen Konzept, das sich heute in Lernateliers manifestiert. Besonders innova­ tiv ist die Raumorganisation der Primarschule Volta (2000, Architekten Miller & Maranta) (siehe Grundriss S. 15). Jüngste Vertreter dieser nun bereits fast 150-jährigen Entwicklung sind die drei in diesem Buch separat vorgestell­ ten Neubauten: die Sekundarschule Sandgruben (2016, Stü­ cheli Architekten) sowie die Primarschulen Schoren (2017, Lorenz Architekten) und Erlenmatt (2017, Luca Selva Archi­ tekten) (siehe Grundrisse S. 212, 238 und 262). Die Primar­ stufe Hinter Gärten mit Doppelsporthalle in Riehen (2009, Marques Architekten) zählt ebenfalls dazu.

Qualität als Massstab Seit den Anfängen des Schulbaus im 19. Jahrhundert erwiesen sich – neben Neubauten – auch Umbauten und Erweiterungen bestehender Schulen als probate Mittel, um einerseits mehr Schulraum zur Verfügung zu stellen und an­ dererseits den neuen pädagogischen Impulsen den unter­ stützenden architektonischen Rahmen zu geben. «Bei der Anpassung der bestehenden Schulräume an die neuen Er­ fordernisse erwiesen sich gerade die ältesten Bauten als die anpassungsfähigsten. Ihre Massivbauweise mit den tragen­ den Aussenwänden ermöglichte eine problemlose Neuauf­ teilung der Räume. Die Klassenzimmer sind zudem so gross­ zügig und gut dimensioniert, dass sie sich leicht in die nun vorgeschriebenen Klassen- und Gruppenräume untertei­ len lassen. Auch städtebaulich bleibt die Qualität der alten Schulhäuser unangefochten. An ihrer Haltung – dass in der Stadt kompakt und mehrgeschossig gebaut wird und dass im Interesse einer starken Stadtstruktur die unterschiedlichen Aufgaben von öffentlichen und privaten Gebäuden mög­ lichst klar ablesbar sein sollten – hat sich bis heute nichts geändert.»30

Regierungsrat Heinrich Reese, zugleich Vorsteher des Bau­ departements Basel-Stadt und in dieser Funktion Urheber zahlreicher Schulneubauten, berichtete 1902 unter anderem darüber, «dass man in Basel von Anfang an dem Bau von Schulhäusern die verdiente Aufmerksamkeit schenkte und sich stetsfort bemühte, womöglich das Beste zu schaffen und mit dem anders erreichten gleichen Schritt zu halten. […] Als Ende der [18]60er, anfangs der [18]70er Jahre sich in Basel das unabweisbare Bedürfnis geltend machte, für neue Schul­ räume zu sorgen, wurden einerseits die bestehenden Schul­ gebäude und die vorhandenen zahlreichen Provisorien in Bezug auf ihre Zweckmässigkeit und Verwendbarkeit einer eingehenden Prüfung unterzogen, andererseits die Normen aufgestellt, welche für den Bau von neuen Schulräumen als Richtschnur dienen sollten.»31 Welchen Stellenwert eine hochwertige Basler Schularchitektur in dieser Epoche für die Stadt hatte und welche Qualität diese Bauten vorweisen konnten, zeigt sich am eindrucksvollsten an einem Kritik­ punkt: «Man war allerdings mit den erstellten Bauten im all­ gemeinen zufrieden; es wurde aber vielerorts gefunden, es werde in Bezug auf die Dimensionen der Haupt- und Neben­ räume und auch auf die Art der Ausstattung zu weit gegan­ gen […].» Eine eigens eingesetzte Kommission sollte prüfen, ob die Bauten nicht billiger zu haben wären. «Im grossen und ganzen gelangte aber die Kommission zu dem Endergebnis, dass an den bis zu jenem Zeitpunkt erstellten Bauten nichts Ueberflüssiges gemacht worden sei.»32 Mit Schulprovisorien, die seit den Anfängen zur kan­ tonalen Schulraumpolitik gehören, kann man kurzfristig und flexibel auf demografische Entwicklungen reagieren. Manche dieser Modulbauten – Basel unterhält aktuell rund 250 provisorische Unterrichtsräume – wurden und werden während Jahrzehnten genutzt. Während die neuen Provi­ sorien (etwa der Primarschule Lysbüchel) hohen Standards genügen, erweisen sich die älteren unter ihnen (etwa der Primarschule Christoph Merian) im Schulalltag als nur un­ zureichende Alternativen. Im Rückblick auf etwa hundertfünfzig Jahre Geschich­ te der Schularchitektur zeigt sich eine Entwicklung von den repräsentativ gestalteten, aber im Inneren eher monotonen ‹Schulpalästen› des 19. Jahrhunderts bis zu den individuell und komplex strukturierten Schulneubauten unserer Zeit. Sichtbar wird die Genese des Schulraumes, der zunehmend den Schülerinnen und Schülern als Individuen dient und ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entgegenkommt. Die­ se räumlichen Veränderungen gehen einher mit dem päda­ gogischen Wandel. Manchmal erweist sich die Pädagogik als Vorreiterin, der die Architektur folgt. In anderen Fällen eröff­ net eine neu gedachte Architektur neue pädagogische Wege. Erfolgreiche Schulkonzepte entstehen jeweils dann, wenn alle Beteiligten einen offenen Austausch über die eigenen Perspektiven pflegen. So können jene Schulen entstehen, de­ ren Erfahrungen als Orientierungspunkte für künftige päda­ gogische Konzepte und architektonische Entwürfe dienen.


Bauen für die Schule

Räume für die Schule von morgen Lernateliers Lernateliers ermöglichen den Schulen mit ihren neu strukturierten und gestalteten Räumen innovative Unter­ richtsformen, in denen Vermittlung und Erarbeitung von Wissen neue Wege gehen. Anders als in herkömmlichen Klas­ senräumen, die vor allem die Bedürfnisse des Frontalunter­ richts befriedigten, finden hier individuelle Formen des Lernens ihre Entsprechung in der Infrastruktur: Die Schüle­ rinnen und Schüler können an persönlichen Arbeitsplätzen selbstgewählte Themen im eigenen Tempo bearbeiten. Da­ bei können sie verschiedene Parameter der Lernarbeit ihren eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen anpassen: die Abfol­ ge bestimmter Lerninhalte, die Intensität der Erarbeitung, die Lerngeschwindigkeit und die Auswahl der Lernpartne­ rinnen und -partner. Die im Stundenplan festgelegten Lek­ tionen im Lernatelier werden durch Lehrkräfte begleitet. Im Mittelpunkt dieser neuen Lernkultur stehen die Schülerin­ nen und Schüler sowie die Förderung ihrer Eigeninitiative und Selbstorganisation. «Die Forderung nach einer flexiblen Raumnutzung basiert auf einem pädagogischen Argument. Es wird davon ausgegangen, dass der Unterricht mit neuen Lehr- und Lernformen wechselnde Methoden beinhaltet, in sich immer wieder verändernden Gruppenkonstellationen erfolgt und die Arbeitsorganisation der Kinder zunehmend selbständig wird.»33 Lernateliers sind Raumcluster, die mehreren (meist zwei oder drei) Schulklassen gleichzeitig zur Verfügung ste­ hen. Sie ermöglichen es den Kindern und Jugendlichen, pa­ rallel auf verschiedenen Schwierigkeitsgraden und Vertie­ fungsebenen zu lernen. Auch altersdurchmischtes Arbeiten ist hier möglich und wird an ersten Erfahrungsschulen prak­ tiziert. Diese Form des Lernens unterstützt das kooperative Miteinander von schwächeren und begabteren, jüngeren und älteren Schülerinnen und Schülern. Hier wird miteinan­ der, aber auch voneinander gelernt. «Die unterschiedlichen Leistungsvermögen behindern den Lernprozess in dieser Unterrichtskonzeption nicht, sondern liefern wichtige Im­ pulse für die Lernreflexionen und die Erweiterungen der sozial-emotionalen Kompetenzen. Das Lernatelier kann zu einem wichtigen Baustein bei der Inte­gration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen werden.»34 Für die architektonische Konzeption von Lernateliers gibt es keine starren Vorgaben. Vielmehr werden im Dia­ log mit den Lehrpersonen individuelle Raumkonzepte für jede Schule erarbeitet. Die beiden wichtigsten Merkmale für den Unterricht in Lernateliers sind der Verbund mehrerer Schulklassen und die Aufteilung verschiedener Lernformen und -phasen auf verschiedene Räume. In individuell kon­ zipierten Lernateliers können begabte Kinder und Jugend­ liche ihre Lerngebiete selbst erforschen und durch selbstge­

wählte höhere Herausforderungen ihre kognitiven Grenzen ausloten. Weniger begabten Kindern bieten diese Raum­ cluster die Möglichkeit, im eigenen Tempo und mit eigenen Schwerpunkten selbstmotiviert zu lernen, ohne überfordert zu werden, wie das im Regelunterricht geschehen kann. Mit diesen konzeptionellen Veränderungen geht einher, dass die starre Stundentafel mit Unterrichtseinheiten von 45 Minu­ ten Länge abgelöst wird von grösseren Zeitblöcken, in denen Themen vielfältig bearbeitet werden. Die klassische Schul­ glocke als Taktgeber für alle ist ein Auslaufmodell. «Mit der Schaffung von offenen, aktivierenden, der individuellen Selbstentfaltung förderlichen Lernsituationen gehen eine bewusste Betonung der Selbstorganisation und Eigenstän­ digkeit des Lernens von Kindern sowie das Zurücknehmen einer unmittelbaren Steuerung durch die Lehrpersonen her.»35 Das Hauptziel des Unterrichts ist dabei nicht mehr nur die Ansammlung und das Speichern von Wissen. Viel­ mehr sollen den Schülerinnen und Schülern jene Fähigkei­ ten vermittelt werden, die es ihnen ermöglichen, sich Infor­ mationen selbst zu beschaffen und auf Basis dieses Wissens eigene, reflektierte Gedanken zu entwickeln. In konventionellen Unterrichtsformen waren die hie­ rarchischen Rollen von Lehrenden und Lernenden schon in der ebenso stereotypen wie starren Aufteilung und Aus­ stattung des Klassenzimmers sichtbar: Auf der einen Seite waren das Pult und die Wandtafel der Lehrperson, auf der anderen Seite die Tische und Stühle der Schüler und Schü­ lerinnen. Die veränderte Rolle der Unterrichtenden führt zu neuen Raummodellen; sie instruieren nicht mehr, sondern fungieren eher als Mentorinnen und Mentoren. So erinnern die neuen Lernateliers auf den ersten Blick an Grossraumbü­ ros aus der Arbeitswelt Erwachsener, weil nicht gemeinsam, sondern allein oder in Gruppen wechselnder Grösse gelernt wird. Das Wissen wird – nach Einführungen durch die Lehr­ personen – von den Schülerinnen und Schülern selbst er­ arbeitet und vertieft und nicht im Frontalunterricht von den Lehrerinnen und Lehrern vermittelt. Diese sind vielmehr Begleiterinnen und Betreuer (‹Coaches›) beim Lernen. «[…] durch die Nutzung der Korridore und Erschliessungszonen für Unterrichtszwecke, durch das Schaffen von Lernwerk­ stätten, durch das Beleben der Raumgefüge mit Nischen, Ecken, durch das Schaffen von Medieninseln, Leseecken, Rückzugsbereichen […] entstehen Lernlandschaften [Lern­ ateliers].»36 Erste Versuche mit Raumclustern aus Klassen- und Gruppenräumen reichen an Schweizer Volksschulen bis in die 1970er-Jahre zurück. In den jüngst neu erbauten Basler Schulen – insbesondere der Sekundarschule Sandgruben und der Primarschule Schoren – sind die Lernateliers durch den frühen und intensiven Dialog zwischen den Schullei­ tungen und den Architekten entsprechend den jeweiligen

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Bedürfnissen des Schulalltags entwickelt worden. Architek­ tinnen und Architekten müssen sich mit Pädagogik beschäf­ tigen und umgekehrt die Pädagoginnen und Pädagogen mit Architektur. Ganz praktische Fragen zur Raumgrösse und -organisation, zur Möblierung, zur Farbgebung und Materia­ lität oder zur Akustik und Belichtung können nur kooperativ und mit Blick auf den zukünftigen Schulalltag beantwortet werden. In bestehenden Schulgebäuden, die im Zuge der Schulraumoffensive modernisiert und umgebaut worden sind, wurden die Lernateliers in das bestehende Raumpro­ gramm integriert oder Räume so miteinander verbunden, dass die neuen Lernformen umgesetzt werden können. Dies betrifft vor allem Sekundarschulen, so zum Beispiel die Schulhäuser Theobald Baerwart und Vogesen. Die auffälligste strukturelle Eigenheit der Lernateliers ist die Verteilung der Funktionen und Lernsituationen auf verschiedene Räume. Während der Inputraum noch stark an herkömmliche Schulzimmer erinnert (und es in den beste­ henden Schulen auch geblieben ist), können Gruppenräu­ me verschiedene Formen haben. So wird mitunter im Gang gelernt oder in der Garderobe. Solche, auch nur zeitweisen, Umwidmungen von Verkehrs- in Lernflächen stossen mitun­ ter an Grenzen, vor allem dann, wenn feuerpolizeiliche oder auch denkmalpflegerische Bestimmungen eine flexible Nut­ zung einschränken. Oft ist der Einbezug solcher Erschlies­ sungsbereiche nur möglich, wenn ausreichend Fluchtwege zur Verfügung stehen. Ortswechsel und eine sich ändernde Umgebung fördern aktives Lernen und beugen schneller Er­ müdung vor. Im Atelierraum schliesslich kommt eine Komponente zum Tragen, die es im bisherigen Schulunterricht kaum ge­ geben hat: das individuelle Lernen am Einzelarbeitsplatz. Dieser Raumtyp konnte und kann in den Schulneubauten am häufigsten angelegt werden. So entstand in Zusammen­ arbeit zwischen den Architekten, der Fachstelle Mobiliar der Abteilung Raum und Anlagen des Erziehungsdepartemen­ tes und dem Hersteller Novex für die Sekundarschule Sand­ gruben ein eigenes Möbel mit abschliessbarem Stauraum und Sichtschutz. Es steht jeder Schülerin und jedem Schüler zur persönlichen Nutzung zur Verfügung. Mit einem persön­ lichen Schreibpult zu arbeiten, soll erleichtern, konzentriert zu forschen und sich besser mit dem Lernort und den Lern­ inhalten zu identifizieren. Die clusterartige Verschränkung der verschieden cha­ rakterisierten und gestalteten Unterrichtsräume führt zu mehr Bewegung im Schulalltag, die Grenzen zwischen den Funktionen und Arbeitsabläufen verlaufen fliessend. Dank offener Räume und transparenter Begrenzungen gibt es man­ nigfaltige Blick- und Wegebeziehungen, die das Miteinander beim Lernen fördern. Zugleich lösen sich die klassischen, 20 bis 25 Schülerinnen und Schüler zählenden Klassenverbän­ de mit der Arbeit in Lernateliers auf. Dabei sind zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Tendenzen zu beobachten: Zum einen wird die soziale Gruppe grösser, weil bis zu drei Klas­

sen mit insgesamt etwa sechzig Kindern oder Jugendlichen in einem Atelierraum Platz finden. Zum anderen wird die eigentliche Bezugsgruppe kleiner, da sich vor allem in den Gruppenarbeitsräumen neue, kleinere Lerngemeinschaften etablieren können. Räumliche Varianz und Vielschichtig­ keit der Lernateliers fördern das selbstbestimmte und ent­ deckende Lernen, sie bieten dank ihrer architektonischen und organisatorischen Offenheit neue Optionen für soziale Interaktion. Im Fall der Sekundarschule Sandgruben etwa, die als Erfahrungsschule dient, ist es zudem gelungen, durch die Bündelung von Lernateliers der Anonymität einer Gross­ schule entgegenzuwirken. Hier sind die neun Lernateliers in drei Gruppen von je drei Einheiten aufgeteilt. Sie wirken im Schulneubau wie kleinere, separate Schulen. Im Pri­ marschulhaus Erlenmatt bilden die im Grundriss variabel gestaltbaren Einheiten von Klassenzimmer und Gruppen­ arbeitsraum ‹Schulstuben›, die den Aktionsraum der Kinder bewusst überschaubar halten. Im Gestaltungsprozess der neuen Schulräume ist Parti­ zipation eines der wichtigsten Prinzipien. Alle Nutzerinnen und Nutzer eines Schulgebäudes sollten sinnvoll, das heisst vor allem früh, in die Entscheidungen einbezogen werden. «Raumkonzepte, die den Aufbau einer neuen Lernkultur un­ terstützen sollen, können nicht verordnet werden, sondern sind an der Schule mit allen Beteiligten auszuhandeln. Nur so wird die Idee, die dahintersteht, mitgetragen und stimmig umgesetzt.»37 Zum selbstgesteuerten Lernen und somit zur Gestal­ tung von Lernateliers an Volksschulen liegen bisher nur wenige Erfahrungen vor, auch wenn es frühe Raumcluster von Klassen- und Gruppenräumen bereits seit Jahrzehnten gibt. Deswegen und auch, weil der Umgang mit dieser Ent­ wicklung von den unterschiedlichen Haltungen der Schul­ leitungen und Lehrpersonen abhängt, haben sich Nutzerin­ nen und Nutzer an der jeweiligen Planung der Lernateliers in ihren Schulen beteiligt.

Klassenzimmer und Gruppenräume Die heutige Volksschule unterscheidet sich in vielen As­ pekten von der Schule des ausgehenden 19. Jahrhunderts – jener Zeit, in der viele der heute noch genutzten Schulen er­ baut worden sind. War bei den damaligen ‹Schulpalästen› und ‹Bildungsburgen› schon an der äusseren Erscheinung und erst recht im Inneren ablesbar, wie die in Grösse und Ausstattung genormten Klassenzimmer neben- und überei­ nander gesetzt wurden, sind Schulen unserer Zeit oft schon in ihrer Grunddisposition ein Spiegel der veränderten Auf­ fassung von Lehren und Lernen: «Bei Neubauten springt die Andersartigkeit des Lernens über Gebäudeanlage und Ge­ bäudeausgestaltung in der Regel sofort ins Auge. Differen­ zierte Flächenschneidungen als Grundlage einer grösseren Varianz der Nutzungsmöglichkeiten fallen auf, erzeugen


Bauen für die Schule

geradezu so etwas wie Lebendigkeit und Bewegung. Das gilt auch für Altbauten dort, wo Kinder und Jugendliche mit ihren Lehrern diese Bauten mit neuen, offenen, variablen Lern- und Umgangsformen in Besitz genommen haben.»38 Der wohl gravierendste Unterschied zwischen der Schule von früher und jener von heute ist die Anzahl Schü­ lerinnen und Schüler, die pro Klasse in einem Raum unter­ richtet wurden und werden. Wo um 1900 bis zu 60 Kinder in einem Standard-Klassenraum von etwa 60 Quadratmetern Grundfläche lernten, sind es heute meist nur noch maximal 25. Die in Basel in mehreren Arbeitsgruppen formulierten Raumstandards für Klassenzimmer definieren verschiedene grundlegende Rahmenbedingungen. Die Klassenräume las­ sen verschiedene Tischanordnungen und somit verschie­ dene Lernformen zu. Sie haben grosse Fenster, breite Fens­ terbänke und Verbindungstüren und sind heute nur selten uniform nebeneinandergesetzt. Vielmehr bilden sie mit zu­ geschalteten Gruppenräumen oder auch mit weiteren Klas­ senzimmern Cluster, also Raumgruppen, in denen die ein­ zelnen Räume separate Funktionen übernehmen. Prägnante Basler Beispiele dafür sind die umgebaute Sekundarschule Theobald Baerwart und die neu gebauten Primarschulen Schoren und Erlenmatt. Zugleich hat sich in den letzten Jahren die Art und Weise des Unterrichtens grundlegend geändert. Schülerinnen und Schüler werden heute stärker denn je als Individuen ange­ sehen und entsprechend betreut. Für jede und jeden sollen die Schulräume massgeschneiderte Möglichkeiten des Ler­ nens bieten. Diesen hohen Ansprüchen der Nutzerinnen und Nutzer gerecht zu werden, liegt in der Verantwortung des kantonalen Schulraumplaners sowie der planenden Be­ hörden. «Die Vermittlung von Wissen in abgeschlossenen Fachlektionen nach festem Stundenplan wird zunehmend von fächer- und lektionenübergreifenden, selbstbestimm­ ten Lernformen abgelöst. […] Werkstattunterricht, Projekt­ lernen oder Gruppenarbeiten lösen Bewegung im Klassen­ zimmer aus und beanspruchen mehr Platz.»39 Klassenzimmer und Gruppenarbeitsräume bilden die ‹Herzkammern› der pädagogischen Einheiten. Neben den verschiedenen Lernformen findet im Klassenzimmer nach wie vor Frontalunterricht statt. Deshalb sind alle Klassen­ zimmer auch heute noch mit einer konventionellen Wand­ tafel ausgestattet. Je nach Raumstandard und Schulstufe werden diese ergänzt durch Beamer. Gruppenräume sollen das eigenverantwortliche Lernen und das Arbeiten in Teams fördern. «Das Lernen wird autonomer, Kinder arbeiten selb­ ständiger und in verschiedenen Gruppenkonstellationen. Hohe Bedeutung kommt dem selbständigen Erarbeiten in wechselnden Kleingruppen zu. Gruppenarbeiten dienen heute nicht mehr nur als Abwechslung, sondern sind eine praktikable Arbeitsform, um den Unterricht unter den he­ terogenen Voraussetzungen möglichst lernwirksam zu ge­ stalten.»40 Klassen- und Gruppenräume – die im Idealfall miteinander verbunden sind oder verbunden werden kön­

nen – sollen Lehrpersonen und Lernende zum Arbeiten und Lernen animieren, sollen als ‹Miterzieher› einen Beitrag zum Gelingen des Schulalltags leisten. Der italienische Pädago­ ge Loris Malaguzzi (1920 – 1994), Gründer der Reggio-Päda­ gogik, brachte es auf den Punkt: «Der erste Lehrer sind die Schüler, der zweite die Lehrer und der dritte die Räume!»41 De facto bedeutet das Bereitstellen eines ans Klassenzimmer gekoppelten Gruppenraumes eine markante Erhöhung der zur Verfügung stehenden Fläche pro Schülerin und Schü­ ler. Der eigentliche Gewinn liegt aber nicht nur in der ver­ grösserten Fläche. Durch die enge räumliche Verbindung von Klassenzimmer und Gruppenraum eröffnen sich neue Möglichkeiten, die Klasse zu unterteilen und den Gruppen verschiedene, voneinander unabhängige Aufgaben zu über­ tragen, ohne dass der Klassenverband aufgelöst werden muss. Als praktisch kann sich auch ein Gruppenraum erwei­ sen, der zwischen zwei Klassenzimmern liegt und wahlwei­ se dem einen oder dem anderen zugeschaltet werden kann. Dies verbessert nicht nur die Arbeit in Gruppen, sondern erlaubt darüber hinaus klassenübergreifende Unterrichts­ sequenzen. Dagegen zeigen sich in der schulischen Praxis Mankos, wenn der Gruppenarbeitsraum keine unmittelbare räumliche Verbindung zum Klassenzimmer aufweist. So­ wohl an den neu erbauten Basler Schulen als auch in den bestehenden Gebäuden hat sich dieses clusterartige, multi­ funktionale und zugleich flexible Raummodell durchgesetzt und inzwischen auch in der schulischen Praxis bewährt. Trotz verschiedener Fachunterrichtsräume wie Musik­ zimmer, Physikräume etc. bilden Klassenzimmer und Grup­ penräume das Rückgrat des Schulalltags, weil die Schüle­ rinnen und Schüler mit diesen – ihren – Schulzimmern im Laufe der Zeit besonders vertraut sind. «Ein Kind entwickelt Vertrauen in seine Umgebung, wenn es sich in ihr gut zu­ rechtfindet und wohlfühlt. Die ‹Orientierungseignung› des Raumes spielt für die Entwicklung des Selbstvertrauens eine wichtige Rolle. Da Kinder ihre Umgebung mit Vorliebe von geschützten Orten aus beobachten und sie schrittweise in Besitz nehmen, sind sie auf Rückzugsnischen einerseits und offene Zonen andererseits angewiesen. […] Die Integration der Schülerinnen und Schüler in die Schulgemeinschaft wird zudem durch eine geschickte Anordnung der Räume und der Begegnungszonen unterstützt. Umgekehrt begüns­ tigen eine abwechslungsarme und wenig stimulierende Ar­ chitektur, schlechte Ausstattung und zu kleine Räume das Störverhalten von Schülerinnen und Schülern.»42 Vertraut­ heit kann befördert werden, indem jedes Schulkind einen eigenen Arbeitsplatz im Atelierraum hat. Auch das im Un­ terricht Entstandene soll manchmal eine Zeitlang im Raum verbleiben, seien es Werkarbeiten, Zeichnungen oder Texte. Nicht unwesentlich für eine aktive Aneignung des Schul­ raums durch die Schülerinnen und Schüler ist schliesslich der Massstab, in dem gebaut und eingerichtet wird. Eine Primarschule muss zwangsläufig in anderen Dimensionen angelegt sein als ein Gymnasium.

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Auch wenn durch die aktuellen Schulreformen den Lern­ ateliers, dem selbstgesteuerten Lernen und den Fachunter­ richtsräumen eine grössere Bedeutung zukommt, so ist der Klassenraum vielerorts noch immer das ‹Wohnzimmer› der Klasse. Er fungiert als Zentrum ihrer Gemeinschaft, in das die Schülerinnen und Schüler von den verschiedenen Fach­ unterrichtsräumen immer wieder zurückkehren. In Schulen mit Lernateliers kann dieser ‹eigene Ort› sich nicht nur im gemeinsamen Raum befinden, sondern auch der einzelne Arbeitsplatz sein.

Fachunterrichtszimmer und Spezialräume

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Als Fachunterrichts- oder Spezialräume bezeichnet man jene spezifisch angelegten und ausgestatteten Schul­ zimmer, die jeweils dem Unterrichten bestimmter Fächer dienen. Dazu zählen etwa Musikzimmer, Lehrküchen für den Hauswirtschaftsunterricht, Zeichen- und Werkräume, Unterrichtsräume für die Ausbildung am Computer oder auch gemeinschaftlich genutzte Mediatheken und Biblio­ theken. In den höheren Altersstufen kommen Laborato­ rien für den Chemie- und Biologieunterricht hinzu. Mit den wachsenden Ansprüchen an eine universelle Schulbildung haben sich diese Spezialräume im Laufe der Jahrzehnte im­ mer weiter verfeinert. Während im ausgehenden 19. Jahr­ hundert vor allem die Grundlagenbildung im Mittelpunkt stand, beginnt die Bildung in musischen und naturwissen­ schaftlichen Fächern heute schon früh und setzt sich bis ans Ende der Schullaufbahn auf immer höherem Niveau fort. Heutige Spezialräume, insbesondere die Labore für die naturwissenschaftlichen Fächer der oberen Klassenstufen und Gymnasien, unterscheiden sich in ihrem Raumgefüge und in ihrer hochwertigen professionellen Ausstattung auf den ersten Blick kaum noch von Laboren etwa der Phar­ maforschung oder Life-Sciences-Branche. Die hohen Stan­ dards, die hier gesetzt werden, eröffnen völlig neue Möglich­ keiten, anspruchsvoll zu unterrichten und zu lernen. Um solche Anforderungen effizient erfüllen zu können, ziehen die Architekturbüros vermehrt Fachleute zurate, wenn es etwa darum geht, ein Chemielabor optimal anzulegen und auszustatten. Für die Planung von Hauswirtschaftsküchen und Küchen der Tagesstrukturen sind Erfahrungen aus der Gastronomie wertvoll. Im Vergleich zu den Klassenräumen sind die Spezial­ räume weniger intensiv belegt, da sie von jeder Klasse nur für einzelne Stunden oder Doppelstunden benutzt werden; zudem wird dort meist in Halbklassen unterrichtet. Sie ent­ sprechen der Grösse von Klassenzimmern und verfügen für gewöhnlich über einen zusätzlichen Materialraum. Dieser wird mitunter in den Fachunterrichtsraum integriert und lediglich durch Abtrennungen separiert, was zu mehr Raum und Flexibilität führt. Durch Vergrösserung der Material­ räume kann die Grundstruktur des Schulhauses flexibler auf künftige neue Nutzungen vorbereitet werden.

Anders als die Klassenzimmer übernehmen die Fachunter­ richtsräume nur mittelbar identifikationsstiftende Funktio­ nen für die Schülerinnen und Schüler. Hier kommt es viel­ mehr auf die technischen Möglichkeiten an, die sie bieten. In den Gymnasien ist der Schritt der Jugendlichen von der Schule ins Berufsleben zeitlich nicht mehr so weit entfernt. Je näher sich die Angebote dieser Schulstufe an den Realitä­ ten der Arbeitswelt orientieren, umso besser sind die jungen Erwachsenen vorbereitet auf den Übergang vom Gymnasi­ um zur akademischen und weiteren Bildung und von dort ins Berufsleben. Einen eigenständigen Typus des Spezialraums bilden Bibliotheken und Mediatheken. Ihnen muss aufgrund ihrer alle Nutzerinnen und Nutzer der Schule ansprechenden Funktion besondere Bedeutung beigemessen werden. Die Raumqualität von Mediatheken prädestiniert sie als Selbst­ lernzentren innerhalb des Schulhauses. Die Mediathek kann sich zum einen als zentraler Knotenpunkt des Schullebens etablieren, zum anderen kann sie die Unterrichtsräume entlasten, indem sie einen geeigneten Rahmen bietet für ausgewählte Lernsequenzen. In Bibliotheken und Media­ theken sind ruhige, konzentrierte Einzelarbeiten oder auch Gruppenarbeiten möglich. In Einzelfällen sind Schulmedia­ theken öffentlich zugänglich, wodurch sie auch für die um­ liegenden Quartiere als ‹Marktplatz der Informationen› von Bedeutung sind.

Sporthallen und Schwimmhallen Die Art der Nutzung von Sport- und Schwimmhallen dürfte sich – verglichen mit jener von Klassenzimmern oder Fachunterrichtsräumen – im historischen Verlauf des Un­ terrichtens am wenigsten verändert haben. Aber auch im Sport- und Schwimmunterricht gab und gibt es pädagogi­ sche Reformen und strukturelle Veränderungen, doch wir­ ken diese weit weniger auf den Raum und seine Ausstattung zurück, als das in den wissensorientierten und musischen Fächern der Fall ist. Die Sanierung und Neuausstattung vorhandener Sport­ hallen setzt aus pädagogischer Sicht einen Akzent auf den Bewegungsunterricht, der als Ausgleich zu den quantitativ überwiegenden kopflastigen Fächern besonders wichtig ist. Neu erbaute Sporthallen bestechen durch ihre Multifunk­ tionalität und Grösse. Sie bereichern nicht nur den Schul­ sport selbst, sondern erlauben auch eine Öffnung für den Breiten- und Leistungssport. Raumangebot und Ausstat­ tung lassen die Schule im Stadtquartier stärker als bisher zum Lebensraum Vieler werden. Sporthallen und Schwimm­ bäder zählen in der Folge zu den am intensivsten genutz­ ten Räumen einer Schule, weil sie tagsüber für den Unter­ richt und unter der Woche nahezu täglich bis in die späten Abendstunden für den Freizeitsport genutzt werden. Auch der Leistungssport findet hier dringend benötigten Raum. Die Anforderungen von Sporthallen sind entscheidend da­


Bauen für die Schule

durch geprägt, welche Sportarten dort ausgeführt werden. Die technische Ausstattung wird vor allem durch die Vor­ gaben des Bundesamts für Sport (BASPO) normiert. Aus städtebaulicher Sicht ist die Setzung grossforma­ tiger Sporthallen und Schwimmbäder im Stadtbild eine komplexe Herausforderung. Um die knappe Grundfläche zu sparen, bewährte sich bei jüngeren Schulbauten – wie etwa bei der Primarschule Volta, der Sekundarschule Sand­ gruben sowie den Primarschulen Hinter Gärten, Erlenmatt und Schoren – das Absenken des Sporthallenvolumens un­ ter das Bodenniveau. Dabei ist es in den genannten Fällen gelungen, komplett unter der Erde liegende Sporthallen zu vermeiden. Der ‹Kopf› der Sporträume ragt ins oberirdische Gebäudevolumen hinein, von wo aus interessante Einbli­ cke möglich sind. Durch die Fensterbänder im Erdgeschoss dringt Tageslicht in den Hallenraum und an den Abenden künstliches Licht von innen nach aussen. Beides trägt auf seine Weise zur Integration der Sport- und Schwimmhal­ len ins Schulgebäude und zugleich zur Verankerung dieser semi­öffentlichen Räume im Quartier bei. «Durch die oftmals versenkte Lage nach aussen wenig präsent, eröffnen sich mit der Dreifachsporthalle inklusive Zuschauerinfrastruktur im Gebäudeinneren eindrückliche Raumdimensionen. Dabei ist mit dem Wechsel der Spannweiten zwischen kleinteili­ gem Unterrichtsbereich und Sportbereich meist ein stati­ scher Kraftakt zu bewältigen.»43 In vielen Fällen müssen für ergänzende Nutzungen besondere raumorganisatorische Vorkehrungen getroffen werden, etwa wenn ein separater Zugang zu Sport- oder Schwimmhallen für den Freizeitsport erforderlich ist oder zusätzliche Umkleide-, Sanitär- und Duschanlagen benötigt werden. Ebenso sollen enge räumliche Verbindungen zwi­ schen Schulen und Sportplätzen im Freien geschaffen wer­ den. Eine eigene Aufgabe ist die Bewältigung der speziellen raumakustischen Herausforderungen in Sporthallen.

Aulen und Versammlungsräume Eine Schule dient der Gemeinschaft und benötigt folg­ lich auch Räume der Gemeinschaft. Zählte die Aula in der historischen Schularchitektur vor allem des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht zu den wichtigsten Räumen einer Schule, zeigt sich seither ein ver­ ändertes Bild. Nahezu allen Schulaulen ist das strukturelle Manko eigen, dass sie nie gross genug dimensioniert wer­ den können, um jedem denkbaren Anlass den geeigneten Rahmen zu geben. Ein Raum, der allen Lehrpersonen, sämt­ lichen Schülerinnen und Schülern und womöglich noch deren Geschwistern und Eltern zugleich Platz bietet, bliebe ob seiner schieren Grösse wohl die meiste Zeit ungenutzt. Mitunter ermöglicht eine geschickte Planung verschiedene gemeinschaftliche Nutzungen eines Raumes. Für eine sol­ che Mehrfachnutzung gibt die neu erbaute Sekundarschule Sandgruben ein probates Beispiel: Ein grosser Raum im

Erdgeschoss, der unterteilt oder als Ganzes genutzt werden kann, dient wahlweise den Tagesstrukturen oder als Aula, als Mensa oder für Veranstaltungen und Versammlungen. Zu den Kernfunktionen, die eine Aula zu erfüllen hat, gehören schuleigene kulturelle Anlässe wie Schülerauffüh­ rungen, Konzerte und Theatervorstellungen. Daneben wird dieser Raum für grössere Zusammenkünfte des Lehrkörpers oder der Elternschaft benötigt. Nicht zuletzt können Aulen auch für externe Anlässe aus dem Quartier zur Verfügung stehen. Für einige dieser Nutzungen benötigen sie eine spe­ zielle technische Ausstattung: Licht- und Tontechnik, Bea­ mer, Verdunklungstechnik, Bühnenelemente und raum­ trennende Vorhänge etc. Vor allem der Raumakustik muss hier grösste Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch hier werden Expertinnen und Experten hinzugezogen, die über praktische Erfahrungen aus der professionellen Konzert-, Theater- und Bühnentechnik verfügen.

Tagesstrukturen und Mensen Die Nachfrage nach Angeboten für die ganztägige Be­ treuung von Kindern in der Schule wächst seit Jahren. Eine Zielsetzung der Basler Schulen besteht darin, an allen Volks­ schulen für 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler ein al­ tersgerechtes Tagesstrukturangebot als integralen Bestand­ teil zu gewährleisten.44 Tagesstrukturen werden inzwischen an fast allen Primarschulen und an sämtlichen Sekundar­ schulen der Stadt Basel angeboten. «Neben dem gesellschaft­ lichen Bedürfnis nach der ausserschulischen Betreuung von Kindern gibt es aus pädagogischer Perspek­tive verschiedene Argumente, welche für die Einführung von Tagesstrukturen sprechen: erweiterter Bildungserwerb (z. B. stärkere Förde­ rung der Sozialkompetenz, der Selbsttätigkeit oder der kom­ munikativen Kompetenz), Verbesserung der Teilhabechan­ cen sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher sowie die Möglichkeit einer stärkeren Rhythmisierung des Unter­ richts.»45 Raumprogramm und Ausstattung der Tagesstrukturen sollen eine vielfältige und flexible Nutzung ermöglichen, denn ein grosser Teil der hier zu platzierenden Angebote ist kein Unterricht. Die Tagesstruktur bietet den Schülern Raum zum Lernen, für Hausaufgabenhilfe, sozialpädago­ gische Betreuung, Platz zum Spielen und Rückzugsräume. Zugleich müssen die Tagesstrukturen so angelegt und aus­ gestattet sein, dass Mittagessen und erweiterte sanitäre An­ lagen (Zahnhygiene etc.) angeboten werden können; zudem beherbergen sie verschiedene Altersstufen und verschie­ dene Kulturen. Die Abläufe innerhalb der Räume sind sehr vielfältig: Die Kinder kommen von draussen oder aus dem Unterricht, sie benötigen also eine Garderobe. Je nach Ta­ geszeit gehen einzelne von ihnen spielen, andere machen Hausaufgaben oder helfen in der Küche. Aus diesem viel­ fältigen Nutzungsprogramm, das am ehesten an Wohnge­ meinschaften erinnert, erwächst ein vergleichsweise hoher

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Raumbedarf. Diese für die Schulen neuen Nutzungen konn­ ten in die bestehenden Gebäude oder auf dem Schulareal integriert werden. In Basel betrifft dies fast alle Primar- und Sekundarschulen. In einigen wenigen Fällen hat sich eine Auslagerung der Tagesstrukturen aus Platzgründen in sepa­ rate Gebäude als notwendig erwiesen (beispielsweise Tages­ struktur Gotthelf). Im beinahe familiären Miteinander in den schulfreien Mittagsstunden und während der Nachmittage spielen ge­ meinsame Erfahrungen beim Kochen, Essen, Spielen, Ar­ beiten und Ruhen die Hauptrolle. Nicht zufällig fungiert in diesem Kontext die Küche als wichtiger Katalysator, der den Zusammenhalt in der Gemeinschaft fördert. Dabei müs­ sen in den Räumen für die Angebote der Tagesstrukturen unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen seitens der Schülerinnen und Schüler möglich sein. Sie ergeben sich aus ihrem Alter und ihren spezifischen Interessen und schuli­ schen Pflichten wie etwa dem Erledigen der Hausaufgaben. Überlagerungen der verschiedenen Altersgruppen in der Primarstufe sowie der verschiedenen Bedürfnisse zwischen laut und leise, aktiv und ruhig sind grosse Herausforderun­ gen für die Tagesstrukturen. Die Nutzung der Tagesstruk­ turräume als Gruppenräume am Morgen durch die Schule und umgekehrt der Schulräume durch die Tagesstrukturen am Nachmittag, ist ein wichtiges Indiz, dass sich die Schule zur ‹Schule als Lebensraum› entwickelt. 24

Kindergärten Ein zentraler Aspekt der Schulharmonisierung im Rah­ men von HarmoS betrifft die konzeptionelle und adminis­ trative Zusammenlegung von Kindergärten und Primarschu­ len. Beide Einrichtungen werden künftig an den einzelnen Schulstandorten gemeinsam geführt. Seit dem Beitritt des Kantons Basel-Stadt zum HarmoS-Konkordat und mit dem Inkrafttreten der neuen Schullaufbahnverordnung wird die­ ser strukturelle Wandel von zahlreichen baulichen Massnah­ men flankiert. Der Besuch des Kindergartens gehört seitdem zur obligatorischen Schulzeit. Bisher waren die 200 staat­ lichen Kindergärten nicht nur administrativ autonom, son­ dern vielfach auch in eigenständigen Räumen ausserhalb der Schule untergebracht. Die Schulraumoffensive versuchte, der neuen inhalt­ lichen Nähe auch räumlichen Ausdruck zu verleihen. Auf­ grund fehlender räumlicher Reserven und steigender Schü­ lerzahlen werden jedoch praktisch alle bisherigen Standorte weiterhin genutzt. Und was für die neue Schule gilt, ist auch für den Kindergarten von zentraler Bedeutung: «Wer einen Teil in einem System verändern will, der muss daran denken, all jene Teile mit zu verändern, die damit zusammenhängen. So erfordert auch der Umbau der Lernkultur in unseren Kin­ dergärten und Schulen eine Neukonzeption der Lernräume und deren Ausstattung.»46 Das isolierte Beantworten von Fragen zur Pädagogik und zur Architektur wird kaum Früch­

te tragen. Nur über den intensiven Austausch zwischen bei­ den Seiten lassen sich Lösungen finden, die den Schulalltag nachhaltig positiv beeinflussen. Die räumliche Nähe von Kindergarten und Primar­ schule befördert zudem die administrative und pädagogi­ sche Zusammenarbeit zwischen beiden Stufen. Mit ihrer Zusammenlegung werden an vielen Primarschulen bauli­ che Eingriffe nötig, um das räumliche und organisatorische Neben- und Miteinander zu fördern. Dies führt zum inten­ siveren Austausch zwischen den Altersgruppen. Für die Kindergartenkinder gehört die benachbarte Schule bereits früh zum Alltag und wird ihnen vertraut. «Kinder sind Ent­ decker, Denker, sind Baumeister ihrer eigenen Welt, dazu brauchen sie ein anregendes Milieu und Räume, die sich an ihrem Massstab und ihrer Perspektive orientieren und ih­ nen Möglichkeiten offerieren.» Entscheidend ist, «kindliche Proportionen bei der Planung von Kindergärten und Primar­ schulen zu berücksichtigen.»47 In den meisten Kindergärten können jeweils ein Hauptraum und ein Förderraum genutzt werden, beide können im Schulalltag multifunktional ein­ gesetzt werden. Das Nebeneinander von Kindergarten und Schule bie­ tet den Kindergarten-Kindern einerseits Nähe zur und damit Teilhabe an der Primarstufe sowie andererseits Geborgen­ heit und Autonomie. Bei der Integration eines Kindergartens in ein bestehendes Schulhaus ist eine klare räumliche Ab­ grenzung wichtig. Ein separater Eingang und nach Möglich­ keit ein eigener Pausenplatz dienen dem erhöhten Schutz­ bedürfnis dieser ersten Schulgeneration. Ein eindrücklicher Entwicklungsschritt in der Biografie der Kinder ist die Wir­ kung des räumlichen Wechsels vom Kindergarten in die Pri­ marschule.

Erschliessungsräume Neben den eigentlichen Schulräumen – Klassenzim­ mern, Gruppenräumen, Lernateliers, Fachunterrichtsräu­ men etc. – prägen hauptsächlich die Erschliessungsräume den Charakter und die Funktionalität einer Schule. Treppen­ häuser, Hallen, WCs, Garderoben und alle anderen zur Infra­ struktur zählenden Räume und Flächen bilden eine Art Ske­ lett des Schulgebäudes. Zu diesen Bereichen gehören auch die Schulhöfe und Pausenplätze, die sich im Aussenraum an­ gliedern. Diese Verkehrs- und Zirkulationsflächen erfüllen aber nicht nur den Zweck der Erschliessung, ihnen kommt auch als Raum für soziale Interaktion zunehmende Bedeu­ tung bei. Nicht zuletzt sorgt der Einbezug von Korridoren in die Unterrichtsabläufe für willkommene Abwechslung im Schulalltag. «Die wachsenden Ansprüche an die Schu­ len können in Anbetracht beschränkter finanzieller Mittel immer weniger durch spezialisierte Zusatzräume befrie­ digt werden. Mehrfachnutzungen sind daher ein wichtiges Thema. […] Gerade die Nutzungsdichte in den öffentlichen Bereichen führt zu neuen Ansprüchen an die Schulräume


Bauen für die Schule

und Pausenflächen und stellt den Schulbetrieb vor grosse Herausforderungen.» Die Schulareale werden wieder ver­ mehrt zu Identifikationspunkten im Quartier. «Neben der Funktion als Verkehrsfläche dient der Korridor auch als Arbeitsfläche, Bewegungsfläche, Spielfläche, Rennstrecke, als Ort für informelle Gespräche, Begegnungsfläche oder […] als Warteraum. Die Aktivitäten finden in sehr unterschied­ lichen Formationen statt: einzeln, in Gruppen, im Tandem, mit oder ohne Lehrpersonen, zwischen Lehrpersonen. Laute und leise Aktivitäten spielen sich in unmittelbarer Nähe zu­ einander ab.»48 Korridore bilden eine Übergangszone vom öffentlichen Aussenraum in den geschützten Innenraum, in dem die Schüler von der Freizeit oder aus der Pause kommend zum Unterricht übergehen. Mit dem pragmatischen Einbezug von Gängen oder Hallen in den Unterricht werden zusätz­ liche dezentrale Arbeitsplätze und wird damit alternativer Raum für die Klasse geschaffen. Ein Pilotprojekt in Basel fand lange vor HarmoS am Gymnasium Bäumlihof statt. Die heutige Gestaltung und Nutzung der dortigen Korridore für Schülerarbeitsplätze ist das Ergebnis von Schülerpartizipa­ tionen. Für den Schulraumplaner des Kantons Basel-Stadt bilden diese Prozesse die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung. Durch diese Mitwirkung und Raumeroberung eignen sich die Schülerinnen und Schüler nicht nur das eige­ ne Klassenzimmer, sondern das gesamte Schulhaus an, was zur Identitätsstiftung einen wertvollen Beitrag leisten kann. Nicht von ungefähr waren es gerade diese Räume, bei denen nach den Wünschen der Nutzenden gefragt wurde. Aussen­ räume und Schülerarbeitsplätze in den Gängen wurden häu­ fig nach den Ideen der Schülerinnen und Schüler gestaltet.49 Eine besondere Herausforderung bildet die Tatsache, dass eine multifunktionale Nutzung der Verkehrsräume zu einem erhöhten Lärmpegel führen kann.50 Ausserdem müs­ sen hier spezielle Bauvorschriften bezüglich der Fluchtwe­ ge und Brandabschnitte beachtet werden, die die Nutzung einschränken können. Klare Regeln helfen auch hier bei der Planung. Die Fachstelle Sicherheit der Abteilung Raum und Anlagen des Erziehungsdepartements Basel-Stadt hat des­ halb bereits vor HarmoS ein Merkblatt dazu verfasst, das als Grundlage für Korridornutzungen dient.51 «Aus der Vielfalt der Lernwege und dem Wechselspiel von individuellem und gemeinsamem Lernen ergibt sich eine räumliche Entgrenzung. […] Ein flexibles Raumange­ bot ermöglicht die Abwechslung zwischen Gruppenarbeit, Werkstattunterricht, Projektlernen und traditionellen Lernund Lehrformen, die im Innenraum des Klassenzimmers, aber mitunter auch mittels räumlicher Erweiterung durch Gruppenräume bzw. Lernstrassen und Lerninseln vor den Klassenzimmern eingelöst wird.»52 Eine jüngere architektonische Tendenz ist die Anord­ nung von Raumclustern, die in grossen Schulen über eigene und damit kleiner geschnittene Verkehrsräume erschlossen werden. Durch den Wegfall grosser Treppenhallen, wie sie

vor allem in den gründerzeitlichen Schulbauten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe waren, entste­ hen für die Schülerinnen und Schüler besser überschaubare Einheiten. «Innerhalb der Cluster werden die sozialen Be­ ziehungen gestärkt, weil sich alle kennen.»53 Jüngste Basler Beispiele sind die Neubauten der Sekundarschule Sandgru­ ben und der Primarschule Schoren oder die Bestandsbauten der Sekundarschulen Theobald Baerwart und Vogesen. Hier wurden solche Raumcluster angelegt, die sich nun im täg­ lichen Schulleben bewähren müssen.

Dachausbauten Eine weitere Massnahme zur Schaffung der dringend be­ nötigten Schulräume ist die Erschliessung der Estriche, vor allem in den gross formatierten Schulbauten vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ausbau dieser bisher nicht oder nur als Lagerraum genutzten Dachstöcke werden gleichermassen Aspekte der Schulraumoffensive und der Stadtentwicklung tangiert: Der zusätzlich gewon­ nene Raum bietet den Schulen neue und erweiterte Möglich­ keiten der Nutzung. In den meist frei teilbaren Dachstöcken kann der Bedarf an zusätzlichen Räumen individuell gedeckt werden. Sei es durch mehrere kleine oder einzelne grössere Räume. Zugleich erübrigen sich Erweiterungsneubauten in den Stadtraum hinein; das Streben nach Verdichtung im Be­ stand findet hier eine sinnvolle Entsprechung. Den zusätzlichen Dachräumen kommen Nutzungen für die handwerklichen Fächer wie Textiles Werken oder Zeich­ nen oder als Förderräume und Bibliotheken entgegen. Oft können die historischen hölzernen Dachkonstruktionen als architektonische Elemente in den Raum einbezogen wer­ den. Eine grosse Aufgabe für Planende und Architekturbü­ ros ist dabei die Anlage von Fluchtwegen, etwa über neu zu integrierende Fluchttreppenhäuser. Nicht in allen Fällen unproblematisch ist die Gewährleistung des barrierefreien Zugangs, weil Aufzüge nicht immer bis ins Dachgeschoss ge­ führt werden können. Die Dachstöcke wurden vor HarmoS oft als die letzten Raumreserven der Schulen betrachtet. De facto konnten jedoch praktisch alle Dachgeschosse als neuer Schulraum aktiviert werden. Dies wurde auch möglich, weil sich das bestehende Gebälk mehrheitlich in sehr gutem Zu­ stand befand. Einige von vielen gelungenen Beispielen sind die Dach­ ausbauten in der Primarschule St. Johann, in der Sekundar­ schule Theobald Baerwart, im Gymnasium Leonhard oder in der Dépendance der Sekundarschule Holbein.

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Neue Räume


Lernateliers


Lernateliers

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Neubau Sekundarschule Sandgruben In diesem Lernatelier lernen rund sechzig Jugendliche aus drei Klassen gemeinsam – alters- und niveaudurchmischt. Im Atelierraum hat jede Schülerin und jeder Schüler ein eigenes Arbeitspult. Durch eine gläserne Zwischenwand zum anschliessenden Inputraum bleiben die Räume optisch miteinander verbunden. Der Raumcluster erinnert an Grossraumbüros. Stücheli Architekten, Zürich, 2016.


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Neubau Sekundarschule Sandgruben Der Atelierraum des Lernateliers nimmt die rund sechzig persönlichen Arbeitstische auf – ein für diese Schule entwickeltes Modell, das nun seriell produziert wird. Daneben stehen hier auch die Schreibtische der Lehrpersonen, die die Schülerinnen und Schüler als ‹Coaches› betreuen. Stücheli Architekten, Zürich, 2016.


Lernateliers

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Neubau Sekundarschule Sandgruben Der kleinere Inputraum des Lernateliers erinnert mit seiner Möblierung und Ausstattung mit Wandtafel, Video- und Audiotechnik am ehesten noch an ein konventionelles Klassenzimmer. Er bietet sich besonders für die Stoffvermittlung und konzentrierte Arbeit in kleinen Gruppen an. Stücheli Architekten, Zürich, 2016.


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